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Nichts rührt sich in dem hochgelegenen weltfernen Gebirgsnest an diesem schwülen Nachmittag. Im nächsten Dorf feiern sie ein Fest, und wen nicht Alter oder Krankheit hindert, der ist schon am frühen Morgen hinüber. Ein Fest läßt sich kein Tiroler und läßt sich noch weniger der von allem abgeschlossene Hochgebirgsbauer entgehen. Von Zeit zu Zeit hört man von drüben die Böller krachen, bumbum rollt's an den Felswänden weiter, bis es grollend verhallt. Niemand ist im Hause als die uralte Wirtin, ihr Enkel, der schwer krank liegt, und ich.
Die Luft ist dick und gewitterschwanger, ein graues Licht steht im Tal, wie Spinnweben hängts über den Bergen, die etwas Verblasenes, Verwischtes haben, am Himmel schiebt sich träg eine niedrig liegende Wolkendecke vorwärts. Auch heroben bei uns ist alles wie mit Staub erfüllt, daß die Dörfer und Kirchen, die Felder und Weinberge über dem Tal drüben finster aussehen, nur die Matten und die jungen 382 Getreidefelder, die unbewegt stehen, leuchten matt, wie Stücke weichen hell- und dunkelgrünen Samtes.
Wäre das ununterbrochene Zirpen von hunderten von Grillen an den Rainen und in den Weinbergen nicht gewesen und die Schwüle, die einen kaum atmen ließ, man hätte an einen düstern Herbsttag denken können, so grau und trostlos sah die Ferne aus.
Die Berge schoben sich dunkel und drohend näher, wie unerbittliche Gegner, die uns umzirken wollen; eine einzige hohe Pappel starrte schwarz wie eine Zypresse über die Weinbergsmauer in den Himmel.
In der niederen zirbengetäfelten Stube saß die alte, alte Wirtin allein, während nebenan ihr Enkel in bleischwerer Betäubung lag. Sie saß mit dem Rücken gegen die tiefe Fensternische, und ihr weißes Haar leuchtete vor dem schweren Wolkenhimmel. Mit ihrem unbewegten, unheimlichen Raubvogelgesicht sah sie aus wie von einer andern Welt, unberührt durch die lastende Gewitterstimmung und ungerührt von dem Schicksal ihres einzigen Enkels, dem vor kurzem bei einer Rauferei der Kopf fast zerschmettert worden war. Seit drei Tagen lag er ohne Bewußtsein, röchelte nur leise.
Das Schicksal dieses blühenden Lebens und die dumpfe, gespannte Stille meines Zimmers 383 hatten mich derart übermannt, daß ich zu der Alten geflüchtet war. Hager, kerzengerade aufgerichtet, ein Gebetbuch zwischen den mageren Fingern, sitzt sie vor mir. Sie liest nicht, sie betet nicht, sie blättert nur und schaut das Gebetbuch an wie ein Bilderbuch, einen illustrierten Roman etwa, den sie zwar gut kennt, aber immer wieder gern durchgeht. Zwischen den Blättern des großgedruckten und vergriffenen Buches stecken überall Bilder, die sie in die Hand nimmt und vor ihre Brille bringt. Sie lächelt dabei, sie schüttelt den Kopf, sie nickt und legt die Bilder, leise vor sich hinsprechend, wieder an ihren Platz. Sterbebilder sinds, Totenbilder, – – die Alte liest die Geschichte ihrer Familie. Sie liest sie wie ein Unbeteiligter, Ueberlegener, mit lautlosem Kichern, mit einer unheimlich kalten, durch nichts berührten Sicherheit, und dennoch fortgerissen von den Begebenheiten.
Meine Anwesenheit beirrt sie nicht; sie beginnt sogar halblaut, dann laut die Namen zu lesen und allmählich stockend und abgehackt zu erzählen, beinahe zu erklären, wie ein Führer in einem Wachsfigurenkabinett, mit eintöniger, etwas rauher Stimme.
Ich hörte beklommen, fast atemlos zu. Die Stube füllt sich mit Gestalten, aus allen Ecken kommen sie hervor, schleichen zu den Türen herein, 384 sachte, unstät und huschend, oder polternd und schwer und gebieterisch. Um Tische und Bänke schleichen sie, setzen sich raschelnd, wie ein Hauch, oder lärmend neben uns, oder stapfen über Diele und Stiege, Schritte hallen über unsern Köpfen.
Die Luft wird dick, trägt schwer an der schwangeren Stille um die grauen Schemen. Von Zeit zu Zeit zeigt die Alte steif, wie erläuternd, nach einem der verblaßten Daguerreotypbilder, die in den Fensternischen hängen, verwischte Gestalten mit gläsernen Blicken, starr und tot. Sie steigen setzt alle aus ihren Rahmen, marschieren auf – ich getraue mich nicht nach der Wand zu sehen, sicher, daß die leeren Rahmen auf mich niederschauen würden.
Eintönig höre ich immerfort und quälend die Stimme der harten alten Frau:
»Josef Ladinser. Das ist mein erster Mann gewest. Grad ein armer Bursch, der das Seinige in einem Kommodkasten mitgebracht hat, aber sauber und fleißig und jung ist er gewest und hat mir gefallen, weil ich jung war. Das Geschäft und das Geld hab ich gehabt, und wie er so über alles hat können, hat er gemeint, die Gulden nehmen kein End, und ist ganz rebellisch worden im Kopf darüber. Auf alle Märkt hat er rumgeschrien, in alle Wirtshäuser ist er gehockt und hat den Geldbeutel hergezeigt. Allerhand 385 Neues hat er schnell vorgehabt, das Haus und die Wirtschaft waren ihm lang net nobel genug. Aber ich bin net rausgerückt mit'm Geld, hab ihm seinen Willen nicht getun, da ist er bald hinters Trinken kommen; nix hat 'n gefreut mehr, kein Arbeit und nix, mir haben nimmer gut geschaffen. Er ist im Haus rumgangen wie ein fremder Mensch und hat net gewußt, was er soll, und was er mag. Zuletzt ist er noch lang bettlägerig worden und mit vierzig Jahren gestorben. Herr schenk ihm die ewige Ruh! Gut, daß ich noch jung und rüstig gewest bin, acht Kinder hab ich freilich haben müssen.«
»Anton Obwexer« höre ich sie eintönig weiterlesen; »seller ist mein zweiter Mann; alleinig hab ich die Wirtschaft net führen können. War ein guter Wirt, alles hat er verstanden, aber zornig! Sein Willen wenn er net kriegt hat! ich hab noch ein' Denkzettel –« sie deutet auf eine Narbe an der Stirne – »vier Wochen bin ich gelegen, und der Doktor hat jeden Tag bereits auffer müssen vom Stadtl; aber der Mann ist decht net besser worden, alleweil letzer, voraus mit die Kinder. Er hat ein paar gewachsene Kinder mit in die Eh bracht, alle Tag hat es Unfrieden geben, die seinigen hat er verzogen und die meinigen peiniget. Zug'schlagen hat er, wohin er troffen hat, alle Dienstboten sein rebellisch worden, und 386 die Kinder haben sich verkrochen und zittert vor ihm und seine groben Madeln und Buben. Die Madeln sein liederlich gewest und die Buben waren die gleiche Gatting; Geld ist abgangen und net nur oamal. Da hat unser Herrgott ein Einsehen gehabt – ein Baum hat ihn erschlagen im Wald oben.«
»Und seine Kinder?«
Sie schaut mich über die Brille an. »Ich weiß nicht von ihnen, mag sein, sie leben noch, einer war vor a Jahrer vier da umanander.«
Und wieder blättert sie weiter: »Maria Fischnaller, das ist meine Schwester, tröst sie Gott! Ist ledig g'storben, siebzig alt, in einem klein' Häusel in Villnöß drein, hoach oben. Es hat es niemand gemerkt, wie sie ist zum Sterben kommen; ist ihr niemand zugangen, sie hat niemand gerufen. Nie hat sie eppes von einem andern Menschen verlangt und alleweil herg'schenkt; so viel a gutes Mensch ist sie gewest.«
Ich drehe den Kopf mechanisch nach den blassen Photographien.
Die Alte lacht belustigt: »Nana, da ist sie net dabei! Wie wär des Mensch dazu kemmen! Die hat vom Abphotographieren nie nix gewußt!« Und sie blättert wieder weiter, das heißt, es scheint, als blättere das Buch selber weiter; es ist so voller Bilder, daß sie Blatt um Blatt des 387 alten zerlesenen Gebetbuches weiter schieben. »A so, das ist der Josef Ladinser, mein Sohn, der Aeltest, er heißt wie sein Vater. Ein braver Bub und gut gelernt, aber schtad, nix für ein' Wirt, er ist durch, wenn er Leut gesehen hat. Als ein kleines Bübel ist er immer in die Ecken rumg'sessen, weil er sein Stiefvater so g'fürcht hat; aber die meisten Schläg hat doch er kriegt, weil er grad studieren hat wollen. Sein Stiefvater hat einmal im Zorn ein' Ofen z'sammg'rissen, weil ich gesagt hab: so ischt der Bub auch für niacht, laß ihn studier'n! Er ist der Aeltigst, hat er g'schrien, er muß Lamplwirt wer'n, i will koan Tintenschlecker, koan armseligen, in mein' Haus! Nachher haben aber der Seppl, der Bua, und sein Schwester – die hat Kellnerin g'macht – z'sammengeholfen. Auf einmal fehlt Geld, und der Seppl ist fort. Heim hat er nimmer kemmen dürfen; was ist er worden? A Hungerleider, a Schulmeister. In lauter kloane Oerteln ist er g'hockt, und seine Frau, a schwache Person, und die Kinder sein ihm schnell gestorben. Als a Kranker ist er zu mir ober kemmen, von Latzfons, gestorben ist er bei mir; sein Stiefvater war schon lang tot, ist halt so umeinanderg'hockt wie er's als a Bübel gemacht hat.«
»Thomas Ladinser« buchstabiert sie unbeholfen, etwa wie Schulkinder Gedrucktes lesen. 388 »Thomas Ladinser, Wirt zum Lamm, geboren 1850, gestorben Anno 1898; er ist der zweit und Lamplwirt worden, weil der Sepp net gemöcht hat. Ein guter Wirt, ein guter Bub, arbeiten mögen und sauber und lustig! Aber das Karteln und die Gitschen! Zuerst hat er's heimlich trieben, und ich bin viele Nächt' aufgesessen und hab' gewartet auf ihn. Später hat er sich an ein Weiwets gehängt, eine Kellnerin und hat ihm nicht wehren lassen. Da hab' ich gegreint mit ihm Tag und Nacht und hab' gekopfet und gekopfet, war alles für niacht. Da hab' ich ihm alles gelassen, das ganze Lampl, und bin in die Krone, wo wir jetzt sein, selbigs fremds Mensch hat sich grad einisetzen dürfen. Ich hab' dem Thomasle net feind sein können, er ist so viel a lieber Bub gewest, und gleich gesehen hat er sein Vater, wie er jung war« – sie blättert sehr rasch um und liest: »Barbara Ladinser« –
»Und was war's mit dem Thomasle seiner Heirat?« Die Alte zieht die Brauen zusammen und bläht ihre großen Nasenlöcher auf, die geschwungen sind, wie die eines Raubvogels, atmet heftig, fährt aber in gelassenem Ton weiter: »Die Kellnerin ist das Mensch blieben: Spitzelen und Bandelen und schönes Gewand und halt die Mannderleut! Wie er das gemerkt hat, ist er ans 389 Saufen kemmen, alles war ihm gleich. Alleweil das Haus voller Gäst und gejubelt und gepraßt damit, die Dienstboten haben alleins gewirtschaftet. Nachher haben sie angehebt verkaufen, den Wald zuerst, nachher Felder, einen Rebgarten, ein Roß – nachher sind's zwei und drei worden. No ja, so ist es weiter gangen, auf einmal war die Versteigerung da, und der Toni«, sie deutet flüchtig nach der Kammer, »hat keine Heimat mehr gehabt. Das Bübel haben sie zu mir getun, und sei'm Vater ist es recht zu Herzen gangen, daß er in eine fremde Hütten hat kriechen müssen – g'schwind hat er eine hitzige Krankheit kriegt, und schnell ist er gestorben.«
»Und dem Toni seine Mutter?«
»G'schwind ist sie fort aus Buchenstein, ins Krautwälsche und g'heiratet gleich. Ich hab' sie nimmer gesehen, tot ist sie seit fünf Jahren scheint mir.«
Lacht die Alte, oder täuschen mich die Schatten, ist ihr Gesicht verzerrt? Die Wolken werden immer niedriger, das Zimmer immer dunkler. Eine beklemmende Luft preßt mir die Brust und doch ist mir's, als wehe mich kühlfeuchter Atem an, wie in einem Friedhof.
»Barbara Ladinser. Das ist meine Tochter. Schad für das Warwele! Jetzt könnt' ich sie notwendig brauchen. Eine feste Gitsch und fleißig! 390 In Seis ist sie gewest am Schlern, und das Kochen und das Bedienen hat sie können! Ist ihr alles aus der Hand gangen. Am Ausfahrtstag haben wir ein Fest gehabt, und sie rennt und lauft und hetzt sich und geht wieder in den Keller und verkühlt sich. Stirbt mir mit 23 Jahren an der galoppierenden Schwindsucht.«
Ein dumpfes Rollen, das näher zu kommen scheint und unwillig an den Felswänden fortkollert. Ich schrecke auf; drohend schwarz recken die Dolomiten ihre sonst roten Türme über unser armes Dörflein.
»Sein lei die Böller,« meint die Alte gleichmütig und fährt fort: »Philomena Rabanser. Das war eine Schwestertochter. Sie ist im Haus gewest, wie das Warwele tot war. Ein bißl schwermütig, ganz schtad, immer kränklich, alleweil fleißig; hat sich um kein Burschen gekümmert, die Gedanken beim Haus gehabt. Auf einmal fallt ihr ein, hängt sich an ein' Holzknecht, der grad ihr Geld will, und laßt net von ihm. Ich grein' und grein' und will sie fortjagen, aber es ist schon zu spät, sie hat heiraten müssen. Weit droben am Berg haben sie ein Häusel gehabt, und sterben hat sie müssen, wie das Kind kemmen ist. Hefamm ist keine gewest, vier Stunden weit war zu gehen, und bis die kemmen ist, war sie schon ausgeloschen.«
391 Leben, Schicksale, Aengste, Lieben, Leiden, Todesschreie, alles preßt sich in dem niederen Zimmer zusammen – –
»Da ist noch das Nannele. Eine feine Gitsch. Mit zwanzig Jahren hat sie nach Meran geheiratet. Ist alles gut und recht gewest. Der Hof groß und schön, keine Schulden, sie haben gut geschaffen, vier Jahr, fünf Jahr – aber keine Kinder net. Da ist er unfein worden mit ihr, wie die Mannderleut sein, und sie hat sich's zu Herzen genommen, und gestritten haben sie jeden Tag. Er ist in die Wirtshäuser rumgesessen, und bald haben sie ihr zugetragen, er hat eine in Partschins, wie's so geaht. Er hat das Handeln angefangen und ist in der Welt gereist, derweil hat sein Bruder den Schaffer gemacht auf dem Hof.« Einen Augenblick setzt die Alte aus. »Wie's geaht. Das Nannele hat auf einmal ein Kind kriegt, und der Bauer hat wie rasend getun, wie er zurückkemmen ist. Der Bruder ist ihm aus'm Weg gangen, aber wie's sein will, in der Antlaßnacht sein sie zu streiten kemmen, und der Bauer ersticht den Bruder. Er ist im Gefängnis blieben, und das Nannele hat sich nimmer heim trauen zu mir. Im vorigen Jahr ist die Gitsch erst gestorben, elendig und allein.«
»Und das Kind?« frag' ich beklommen.
»Hat net leben mögen, desselbig elendig 392 Würmerl; keine zehn Wochen ist es alt worden.«
»Und Ihre andern Kinder?« frag' ich wieder.
»Fünf sind gewachsener gestorben, drei kleiner. Zwei sein miteinander kemmen und miteinander gleich wieder gangen. Des ander ist sieben Wochen alt worden, ist kein Schaden gewest; was hätt' ich mit die Kinder all angefangen?«
Und immer blättert sie noch, wie wenn sie nach etwas suche. So liest sie jeden Sonntag in diesem Buche des Schreckens und der Trauer die Geschichte ihrer vernichteten Familie. Wie aus Eisen sitzt sie da, die Ueberlebende, die Zeitlose.
Kein Zug ihres Gesichtes zuckt, als sie zum letzten Sterbebild kommt.
»Der Guschtel war der Jüngste; er ist Rosser gewest in Völs drüben, sieben Jahr in ein Hotel, bis ihn, am Weihnachtsabend ist es gewest, die Roß zu Tod' –«
Da! war das ein Donnerschlag? Oder krachte die schwere Haustüre zu? Ich springe auf und unterdrücke nur mit Mühe einen Schrei. Etwas ist geschehen, irgendetwas ist geschehen! Da stürzt schon eine junge Magd atemlos aus der Kammer, in der der Schwerverletzte liegt, und wimmert: »Frau kemmen's g'schwind, der Toni verdreht so g'spaßig die Augen! Grad bin i heimkemmen!« Schluchzend fällt sie auf die Ofenbank und schaut zwischen den vorgehaltenen Fingern 393 nach der Alten, die das Gebetbuch ruhig aus der Hand legt und ohne ein Wort nach der Kammer des Jungen geht. Sie beeilt sich nicht einmal. Das Buch, das sie aus der Hand gelegt hat, bleibt still offen auf dem Tisch liegen, als warte es auf das nächste Sterbebild, das die Alte zwischen seine Seiten legen würde.
»Anton Ladinser. Das ist mein Enkel – –«