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Nun sahen sie ein, daß sie eine wirkliche Prinzessin war, weil sie durch die zwanzig Eiderdunenbetten hindurch die Erbse verspürt hatte. So empfindlich konnte niemand sein als eine wirkliche Prinzessin.
Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin besitze, und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn niemand sie gestohlen hat.
Sieh, das ist eine wahre Geschichte.« – –
»Aber du hörst ja nicht zu, du!«
»Ja, – ja freilich, Ernst, ich habe alles gehört.«
»Nein, du hast geschlafen, du hast tatsächlich geschlafen.«
»Unsinn, ich war ganz wach; ich hockte nur so da, weil ich müde war.«
»Ah, bah Blech! Ich hab's doch gesehen! 306 Dann sag' mir nur gleich, um was es sich gehandelt hat.«
»Um das Märchen von der, die im Regen vor dem Stadttor stand und sagte, sie sei eine Prinzessin.«
»Und? –«
»Was?«
»Was noch? – Weiter, weiter!«
»Herein wollte sie und wollte ein Bett, weil sie's fror und – und –«
»Ja, das ist der Anfang, da hattest du deine Augen noch offen, ich weiß es ganz genau. Aber jetzt weißt du sicher nicht mehr weiter, du Erzschwindlerin!«
»Jawohl, jawohl! Aber du läßt einen ja gar nicht ausreden, nicht besinnen –«
»Also ich werde mich ganz stumm verhalten wie ein Karthäuser.«
»Ach nein, du, das kannst du nicht, nein, nein! Und was ist das, ein Karthäuser?«
»Ein Karthäuser ist derjenige, welcher –«
»Du mußt doch stumm sein!«
»Wenn du einen aber frägst und so idiotisch bist!«
»Idiotisch! Das merkt der Mensch gar nicht! Ich wollte dich eben zum Reden bringen!«
»Damit du deine Geschichte nicht zu erzählen brauchst! Das kennt man! Also?« –
307 »Wenn du immerfort redest, vergesse ich natürlich alles!«
»Unglaublich! Frauenzimmer, Frauenzimmer, ich sag' dir – – bemogeln gilt durchaus nicht; so willst du dich aus der Schlinge ziehen!«
»Nein, das gilt nicht, das gilt nicht! Du darfst einmal nichts sagen, du hast zu schweigen.«
»Und du zu reden.«
»Ich wette, du kannst nicht ruhig sein.«
»Oho! – Und ich, du kannst nichts erzählen. Um was wetten wir, Maus?«
»Still sein, sag' ich, jetzt komm ich –«
»Sag' nur nicht: »sagt der Hanswurst!« Denn das hast du sagen wollen, gewiß, gewiß! Oh, ich weiß es totsicher. Ich kann das nun einmal nicht leiden, und immer wieder kommst du damit. Unausstehlich! Du weißt doch, daß ich diese Sachen hasse, daß sie mir in den Tod zuwider sind, warum nur –«
»Jetzt mag ich auch nichts mehr erzählen.«
»Wissen wir. Dann gewinne ich eben die Wette, meine artige Gnädige, weiter nichts.«
»Wie wenn wir überhaupt gewettet hätten, so richtig. Und dann hast du sie doch schon lange verloren, du Schaf!«
»Nun sollst du sie eben auch verlieren, ich möchte das zu gern, kleine Maus! Weißt du danach – das ist dann immer so schön – –«
308 »Also wo war ich?«
»Gelt, du weißt's nimmer!? So schlag' doch los!«
»Ja, hm! etsch! Ich weiß es! Wo die Person, die Prinzessin, windelweich war vor Regen und herein wollte und der alte König aufmachte. Und weiter weiß ich auch noch. Es war recht dumm. Denn ein König macht die Stadttore nicht auf und schon gar nicht, wenn es regnet. Lach' doch nicht so, – so eigen, es ist doch dumm, und es ist dumm. Weil eine Königin nicht die zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderbetten«
»Eiderdunenbetten sagt man –«
»Ach Gott! – also Eiderdunenbetten selbst herrichtet, weil solch ein Bett so hoch wird, daß man den Kopf an die Decke stößt, da kann doch kein Mensch schlafen! Und daß die verweichte Prinzessin auch noch die Erbse durchgespürt hat, das ist doch zu dumm, erzdumm ist's, das gibt's einfach nicht! Und der Prinz hat sie deswegen zur Frau genommen, – so, so, so dumm! – Hab' ich's jetzt gewußt oder nicht? Jetzt will ich dir's aber auch sagen, daß ich doch beinahe eingeschlafen wäre, weil es wirklich zu langweilig war. Warum liest du mir auch das Zeug vor? Ich bin doch kein kleines Kind, ich glaub' doch nicht daran!«
»Warum ich es dir vorlese? Damit du es 309 nicht verstehst, das ist eben der Witz. Ich werde mich hüten in Zukunft, dich dermaßen zu überschätzen!«
»Aber Schatz, aber Schatz, warum bist du denn jetzt böse? – Schau mich nicht so an, deine Augen tun mir weh. Ich hab' doch nichts getan? – Weißt du, wenn dir die Märchen gut gefallen, lies sie nur wieder, ich schlafe dann gewiß nicht, Herzensschatz, nein, ganz gewiß nicht. Du wirst sehen, ich kann sie alle nacherzählen.«
»Oh, wie ein Papagei, das kann die Gnädige.«
»Was hab' ich denn nur getan, warum bist du auf einmal so zornig, ich weiß nicht – –«
»Das ist's eben, daß du's nicht weißt.«
»Vielleicht wenn du mir ein bißchen helfen wolltest, mir alles erklären, ich hab' doch am Ende nicht Recht, und es ist gar nicht so arg dumm.«
»Hör' auf jetzt! Ich kann dein Gerede nicht haben.«
»Sag' mir nur, warum du so bös auf mich bist. Sei wieder lieb!«
»Warum bist du bös, sei wieder lieb! das ist zum Rasendwerden! Ich hab's satt, genug, genug bis daher. Rühr' mich nicht an, ich will nichts wissen jetzt, gar, gar nichts wissen.«
Da war er schon fort, hinaus in die Dämmerung. Wie es regnete! Die Tropfen knatterten 310 ordentlich gegen die Scheiben, und die Dachrinne spie und plätscherte heute schon stundenlang. Ohne Regenschirm. Oh, es war schrecklich! und wie zornig er war! Wenn sie ihm nachlief und den Schirm brachte? Elisabeth schüttelte den Kopf. Nein, nein, sie wußte, wie das wieder wurde, wenn er in dieser Stimmung war; er war imstande und schlug ihn ihr aus der Hand. Was er nur wieder hatte! Mit was sie ihn nur so erzürnte! Traurig ging sie zum Fenster und hob den Vorhang von den kleinen Scheiben. Draußen war's beinahe ganz dunkel, aber sie sah ihn noch den Berg hinaufrennen gegen das Dorf droben, gegen Margreten zu.
Was hatte sie nur wieder getan!? Das tat so weh da drinnen, daß sie gar nicht wußte und ratlos suchen mußte, was ihn so hart gegen sie gemacht. Wie gern wollte sie ihm nachlaufen, stundenweit, und ihn bitten: sei mir wieder gut, sag' mir, was ich getan, wenn er sie nur wieder ansah mit den lieben Augen – –. Es fing an, sie in der Kehle zu drücken, und die Tränen kamen langsam, dann immer schneller, und sie tastete sich vom Fenster weg durch das dämmernde Zimmer nach dem Divan; in die Ecke gekauert, schluchzte sie und ließ sich willig von ihrem Schmerz stoßen. Er tat ihr wirklich unrecht; warum kam er denn oft ganz plötzlich in Wut und 311 behandelte sie dann ungerecht? Oh, er war garstig, recht garstig mit ihr! Sie streichelte sich förmlich selbst vor Mitleiden; sie waren doch erst so kurz verheiratet, kaum ein paar Monate! Sogar im Anfang schon war er einige Male furchtbar zornig gewesen, noch in der Stadt drinnen, als Freunde bei ihnen waren. Da heraußen auf dem Lande war es ja besser, nur manchmal, wie vorhin, packte es ihn auf einmal wieder. –
Wenn das so fort ging! Was für ein Leben für sie! Warum hatte er sie denn nicht lieber bei den Verwandten gelassen, auf dem Gut? Besser hätte er sie gar nicht geheiratet, sie hatte ihm doch gesagt, daß sie nichts von der Stadt wisse und nichts von seinen gelehrten Sachen!
»Du kleine, dumme Maus, was brauchst du denn das zu wissen? Du sollst mir doch nicht denken helfen! Lieb sollst du mich haben, recht, recht lieb, oh, es wird so schön werden!«
Genau das hatte er zu ihr gesagt, und jetzt war sie ihm doch nicht recht so, wie sie war.
Alles wollte sie ja für ihn tun, wenn er sie nur lieb hatte; nur ein wenig, nicht so arg wie sie ihn gern hatte, das konnte er nicht, das war ja gar nicht möglich!
Die Dunkelheit kam schnell an diesem stürmischen Märzabend, kaum unterschied man noch die Gegenstände im Zimmer in verschwommenen 312 Umrissen. Breit, wie schläfrige Ungetüme hockten die Kommode in der Ecke und der Schreibtisch am Fenster. Nur die weißen Dielen schimmerten hell und der lichte Maueranstrich; durch die Scheiben sah man die Bäume vor dem Hause wie im Zorn in der Luft herumfuchteln und es platschte und platschte immerzu. Kühl wurde es auch im Zimmer, Elisabeth fröstelte in ihrer Ecke; wenn der Wind an den Fenstern riß und am Scheunentor knarrte, jagte es ihr eiskalte Schauder über den Rücken.
Die Bäuerin, das Nannei, hätte wohl nachschauen können, ob sie kein Feuer brauche. Selbst wollte sie keines machen, nein, es war doch alles gleich, denn ganz gewiß liebte er sie nicht mehr, ganz gewiß.
Warum hatte er sie denn überhaupt geheiratet? Sie setzte sich aufrecht, halb knieend starrte sie mit aufgerissenen Augen in das Dunkel.
Warum? Warum?
Sie hatte sich so sehr gefreut, mit ihm bei den Bauern zu wohnen, bei seinen alten Freunden, dem Ani und seinem Nannei, und nicht mehr in der großen Stadt, wo sie seine Bekannten alle anstarrten, wo alles dumpf und eng war, keine Bäume, keine Blumen –
Ach der Tag, an dem sie kamen! Ein ganz warmer, sonniger Märznachmittag, staubig, die 313 Berge dunkelblau, das Tal hell und wie frisch gewaschen. An der Bahn war der alte Ani mit der grünen, feiertägigen Pfeife und der Spitz Romano, der Ernst gleich bis an den Hals sprang vor Wiedersehensfreude. Und das ganze, kleine, wohlige, warme Bauernhaus mit der Holzaltane und dem breiten Dach war festlich geputzt vom Nannei. Da durfte sie nun ihre zwei netten Stuben einrichten! Die blitzblanke Freude am Neuen kam ihr wieder, das sie mit vollen Armen umschloß und an sich drückte – heimlich schlich sich leis pochende Sehnsucht ein. Oh, wieder so reich, so sorglos sein, voll dankender Liebe, voll strahlenden, kaum zu umfassenden Glückes! O erste Tage voll verschwiegener Zärtlichkeit, voll heimlichen Jubels, geborgen in den niederen Bauernzimmern.
Elisabeth kam ins schaukelnde Fahrwasser der Wehmut. Von der »Stubn« drunten tönte Anis Zither herauf, wie eine beschwichtigende Begleitung zu ihren Gedanken. Was sie nur hatte! Es war ja noch alles da! Drunten saßen sie um den großen Tisch, Ani und die Nachbarburschen, rauchten und spielten dazu, das Herdfeuer prasselte, und Nannei kochte – wie immer. Die würden sie schön auslachen, daß sie im Finstern saß und heulte! Schnell stand sie auf und zündete die Lampe an. Alles sah anders aus, sowie sie Licht 314 hatte. Die Bauern-Kommode mit den blinkenden Griffen, Ernst's großer Schreibtisch mit den vielen Büchern und Heften und Photographien, ganz behaglich und stolz dabei reckten sie sich jetzt in der Stube, das Ticktack der Wanduhr klang halb spottend: na – na – na! Sie schämte sich wirklich. Wenn Ernst zurückkäme! Herrgott! kein Feuer im Ofen, kein Tisch gedeckt, kein Abendbrot! – Schnell, schnell jetzt! Sie war wirklich albern gewesen. Warum sollte Ernst nicht einmal verstimmt sein? Den ganzen Tag war er nicht aus dem Hause gekommen, kein Brief kam, keine Zeitung. Er mußte nun auch anfangen zu arbeiten, nicht immer Unsinn mit ihr machen und sich herumtreiben. Sie kannte wohl die Wichtigkeit, seine Doktorarbeit! Mit Ehrfurcht ging sie um die schon lange hergerichteten Bogen herum, fast hätte sie ihnen eine Verbeugung gemacht. Da kam ihr der Stolz. Was er alles wußte und hatte so ein dummes, kleines Mädel lieb! Sie! Ja, sie hatte er lieb! Das schlich sich nun auf leisen Sohlen heran, begehrte Einlaß und machte sie glücklich, ja übermütig. Beinahe hätte sie das Nannei umarmt, das mit einem Arm voll Tannenästen zum Feuermachen kam. Er mag mich doch! Das sang und klang und tanzte in ihr zur Zither, zum summenden Teewasser und dem Geknatter im Ofen. Sie freute sich ordentlich, daß es 315 draußen noch stürmte und goß, um so behaglicher würde Ernst es bei ihr finden.
Der Tisch war schön in Ordnung, die Speisen lecker und appetitlich, sie stellte sich mit gerecktem Halse, um alles zu übersehen. Wenn etwas fehlte: »Leichtsinn!«,wenn etwas krumm oder verkehrt lag »Rustica«, wenn es nicht gut zubereitet war »Kameel«. Und sie ging um den Tisch herum, sagte sich die drei Lieblingswörter vor, ganz so gewichtig, wie Ernst sie aussprach, und tippte sich dabei mit dem Finger auf die Stirne, gerade wie er es machte. Besonders beim Kameel verweilte sie, weil das seine Spezialität war, dies innige Ruhen auf dem »m« in »Kammmmmeel«. Nein, ganz so schön brachte sie es nicht fertig. Er mußte es ihr heute noch sagen, wenn auch alles gut war, zur Belohnung.
Wenn er nur endlich käme! Der Tee wurde ja schlecht, dunkel und herb, es war wirklich schon spät, er konnte doch unmöglich in der Nacht noch so allein herumlaufen! Nun wurde sie schon wieder unruhig; sie hörte die jungen Nachbarburschen weggehen, die beiden Alten in die Kammer tappen, und nun war nichts mehr laut als der Wind und Romano, der knurrend und zankend sein Strohlager zurechtkratzte.
Wo er nur blieb! Warum ließ er sie so allein sitzen, sie konnte ja gar nichts essen! Aber tapfer 316 schluckte sie ihre Sorgen hinunter. Sie wollte lesen und gerade das, was er ihr heute gelesen. Vielleicht verstand sie's, wenn sie es recht oft und recht langsam las.
Einmal. – Elisabeth schüttelte den Kopf und las wieder, schüttelte ihn abermals, aber viel, viel langsamer, legte sich im Stuhl zurück, mit dem Finger fortwährend eine Locke an den Schläfen drehend, die Augen halb zugekniffen.
Plötzlich machte sie sie weit auf und wurde ganz rot im Gesichte, dann kamen Tränen, hilflos legte sie den Kopf auf die Arme und weinte und weinte.
Da! hörte sie nicht Schritte durch den Wind? Erschreckt flog sie auf, er sollte sie nicht so finden! Sie rannte nach dem Schlafzimmer, da hörte sie ihn schon auf der Treppe, geschwind riß sie die Kleider herunter und kroch unter die Decke. Das Herz pochte ihr wie als Kind, wenn sie unrecht getan und auf Strafe wartete – er war im Zimmer. Eine Weile blieb er stehen, dann hörte sie, wie er ein paar Schritte machte, unschlüssig stehen blieb – horchte er? Kam er zu ihr? Setzte er sich zum Essen? Sie hörte gar nichts mehr, weil ihr Herz so viel Lärm machte. Nun schob sie sich vorsichtig ans Fußende ihres Bettes, von da aus konnte sie den Tisch sehen, durch die halb offene Türe, wenn sie sich nur recht weit vorbog.
317 Richtig, da saß er mit dem Rücken gegen das Schlafzimmer und hatte den Kopf in den beiden Händen vergraben. Sie mußte an sich halten, um nicht hinauszuspringen, ihm an den Hals, weil er so mutlos und müde dasaß.
Ernst konnte nichts essen, es hätte ihn gewürgt. Wie gut war er ihr wieder gewesen, wie hatte er sich nach ihr gesehnt! Den ganzen Weg zurück hatte er nur ihre Augen vor sich gesehen, diese scheuen Kinderaugen, in denen tief das Weib schlummerte, ihr langes, knisterndes Haar hatte er geküßt und ihre Lippen, die so zaghaft wiederküßten. Und nun? – Es war ihr wohl nicht der Mühe wert gewesen, wegen ihm aufzubleiben? Die Geschichte von vorhin war ihr natürlich leid, weil sie sich gekränkt fühlte, ein paar Tränlein hatte sie wohl geweint und war dann ins Bett gekrochen, es schlief sich so wohl darauf wie immer. Diese verdammte Oberflächlichkeit, was sie ihm schon für Schmerzen gemacht hatte! Konnte er denn je etwas Ernsthaftes mit ihr reden? Etwa von seinen Sorgen? Sie würde sehr erstaunt sein und ihn zuletzt auslachen! Sie war kindisch, sie war oberflächlich und sorglos. Da war er ja genau wieder auf demselben Punkt wie vorhin. Nicht der Streit hatte ihn fortgetrieben, der kleine Aerger: Sie wurde nie das, was er erwartet hatte. Keine Ernsthaftigkeit fand er, 318 kein großes warmes Mitempfinden, sie wurde kein Weib. – Und doch, und doch! Sie war am Ende nur scheu und schamhaft. Warum lag denn in ihren hastigen, fast eckigen Kinderliebkosungen so viel Glut und Wärme, so viel zurückgedrängtes Sehnen? Und dabei doch dies Unreife, Naseweise, das ihn hart und grausam machte; oh, er mußte an all ihre warmumschließende, zaghafte Liebe denken, an ihre ganze demütige Zärtlichkeit, um sie nicht zu hassen!
Vielleicht hatte er ihr ein Unrecht zugefügt, indem er sie von der Heimat weggenommen, sie fand sich bei ihm und in seinem Leben nicht zurecht. Oder hatte er ein Unrecht gegen sich begangen, weil er sie an sich gebunden, die ihn hemmte? Jetzt, wo er so viel mit sich zu tun hatte, mit seinem Werden, hätte er eine Verstehende, Helfende gebraucht. Sie, die andere, bei der er den Glauben an sich gefunden, ihr hätte er all seine Sorgen klagen können, niemals aber diesem Kinde.
Bis zwölf saß er auf, ohne sich zu regen.
Elisabeth kniete ebensolange starr vor Kälte auf ihrem Bett; erst als er aufstand, kroch sie zurück.
Ernst zog sich im Dunkel aus. Elisabeth hörte, wie er noch lange ruhig stand, ehe er sich niederlegte. Ihr Herz war voll Trauer und Angst. Was litt er? – – Er litt durch sie. In Demut 319 wollte sie vor ihm niederknien und ihn bitten, daß er es ihr sage. Aber sie fand den Mut nicht dazu, denn dann kam gleich dies Angstgefühl, dies Fürchten vor seiner Antwort. – Schlief er? Er rührte sich nicht. Endlich hörte sie ein Knistern.
»Gut' Nacht, Schatz,« sagte sie zaghaft. Keine Antwort, er schlief wohl.
Ernst lag auf dem Rücken und horchte auf das Knarren der Bäume und das Aechzen des Hauses.
Der Regen hatte aufgehört und ein blasser Mond flog durch zerrissenes Gewölke. Er sah danach; dies Jagen und Rennen und Hasten und Streiten bannte ihn.
Da schob sich etwas zwischen ihn und das kleine Viereck des unruhigen Nachthimmels.
Sachte Schritte kamen auf sein Bett zu, es tastete sich eine Hand auf die Decke, die seine suchend. Elisabeth. Ihre kalte Wange legte sich auf seine Finger, die gelösten Haare fielen darüber, sie kniete vor seinem Bett. Kein Wort fiel, sie schwiegen beide.
Da fing ihre Hand an, sich fester um die seine zu schließen, ihr Kopf hob sich.
»Ich verstehe es jetzt, Ernst.«
Ganz anders, tiefer, tonloser klang ihre Stimme. Ernst fühlte, wie seine Schläfen hämmerten, wie es ihn würgte, er wollte reden –
Da übermannte sie ihr Leid. Sie sprang auf, 320 umschlang ihn mit beiden Armen und unter Küssen stammelte sie:
»Ich weiß, ich weiß, du bist ein wirklicher Prinz und ich bin keine wirkliche Prinzessin und du hättest mich nicht heiraten sollen. Aber ich hab dich so lieb, so arg, arg lieb, behalt mich, behalt mich bei dir!«
Wortlos zog er die vor Kälte und Aufregung Zitternde an sich, schlang die Decke um sie und konnte nichts sagen als:
»O du Kameel, ich hab dich doch gern,« und vor Rührung schrie er es ganz laut.
Ein paar Wochen später hatte Elisabeth schon am frühen Morgen den Kaffeetisch gerichtet und wartete ungeduldig, daß Ernst aufwache. Gerade heute schlief er so lange, und es war doch solch ein wunderbarer Tag! Der Wind ging noch kühl, alle Wiesen waren glitzernd vor Tau, die lange Kette der Berge stand rein und umrißscharf am blauenden Himmel. Und überall Blüten und Blumen und Sonne, wie man da nur schlafen konnte! Ein paarmal schon hatte sie die Spiritusflamme angezündet und wieder ausgelöscht vor lauter Ungeduld, ein paarmal schon hatte sie unter der Schlafzimmertüre gestanden, ein paarmal schon vor seinem Bette, hatte ihn fest angeschaut und lebhaft gewünscht, daß er aufwachen möge. 321 Umsonst, ganz umsonst, er schnarchte weiter. Auch mit den Tassen und Stühlen machte sie Lärm, weil es doch nicht hübsch ist, jemanden so direkt aus dem Schlafe zu wecken, nun öffnete sie alle Fenster des Wohnzimmers weit, daß die kühle Morgenluft mit lustigem Heben von Nanneis weißen Vorhängen hereinstürmte, und riß die Türe der Schlafstube auf. Das half.
»Aber Maus, es zieht ja schauderhaft! Wie kühl, hu!«
»O du Langschläfer, stehst du gleich auf, es ist zu prachtvoll draußen, wir müssen fortgehen.«
»Komm zu mir, ›Morgen‹ sagen!«
»Nein, dann stehst du erst recht nicht auf. Ich möchte wohl, bleibe aber standhaft draußen, mache das Frühstück, und du springst schnell, schnell aus dem Bette.«
Pumps, da hatte sie die Türe zu und es war wieder pechdunkel, weil die dicken Vorhänge noch heruntergelassen waren.
»Es gefällt mir so gut in meinem warmen Nest, wenn du die Türe aufmachst. Dann sehe ich dich und das Zimmer und die Apfelbäume vor den Fenstern und das Stück Wiese, geh Maus, mach auf!«
»Wenn du in deinem Nest bleibst, so bleib nur auch in der Dunkelheit.«
322 »Also bleib ich im dunklen Erdteil und du im sonnnigen.«
»Nein! bitte wandere aus!«
»Fällt mir nicht ein, ich lege mich jetzt aufs linke Ohr und verlasse meinen Wigwam nicht.«
»Dann bekommst du kein Frühstück, und ich gehe allein fort. Hörst du? Das Wasser siedet schon!«
»Wenn du fortgehst, nehme ich deinen Erdteil in Besitz, usurpiere ihn – merk' dir das Wort! – und wenn du zurückkehren willst, schlage ich dich siegreich.«
»O du, das weißt du noch gar nicht. Ich nehme alle Waffen mit!«
Und seinen alten Schläger, seinen Stock und ein Messer schwingend, stand sie auf der Schwelle zwischen den zwei Zimmern in ihrem hochroten faltigen Morgenkleide und den langen gelösten Haaren, von der Frühlingssonne umflammt.
»Weiche, Kriegsfurie!« schrie Ernst und versteckte sich zähneklappernd unter die Decke. Elisabeth aber riß die Vorhänge der drei Fenster zurück, und fing an, an der Decke zu zerren, in die Ernst sich fest gewickelt hatte. Wenn sie an einem Ende Siegerin war, zog er schnell das Eroberte wieder an sich. So balgten sie sich lachend eine zeitlang, bis Elisabeth ganz rot wurde und sich keuchend auf die Bettkante setzen mußte.
323 »Frieden im Land!« rief sie bittend.
Wie schön sie aussah in der Fülle von Licht, das von allen Seiten einströmte! So jung, so frisch, Leben und Liebe begehrend, so frühlingstrunken mit den glänzenden Augen und dem halb geöffneten Munde!
Nichts war an ihr, was ihm weh tat, ihn störte. Nichts Kleinliches, Unbeholfenes, Unsicheres, wie eine Verkünderin der Freude, des Lebens, der Liebe, des Frühlings stand sie vor ihm; es lag in der Haltung des Kopfes, bebte in den schlanken Händen, es sprühte aus ihren Augen, aus dem ganzen jungen Leibe – –
»Weib! Weib!« flüsterte Ernst, nahm ihre Hände von seinen Schultern und drückte lange sein Gesicht hinein.
Dann war der Taumel wieder vorbei. Er schob sie dem Wohnzimmer zu, verriegelte die Türe und schrie übermütig:
»Die Erdteile sind geschieden auf immerdar, der dunkle bleibt für sich.«
»Schaf, das ist doch kein dunkler mehr, ich habe ihm Erleuchtung, Zivilisation gebracht.«
»Schau, schau, die Maus wird gelehrt!«
»Wofür war ich denn im Institut?«
»Im Kindergarten meinst du!«
»Du Unkultivierter,« schrie Elisabeth und schlug mit den Fäusten gegen die Türe.
324 »Du! Du! Das Wasser! Gewiß, es ist übergekocht?! Leichtsinn! Ich habe es gehört; wart' nur, gleich komme ich als wilder Mann aus dem erleuchteten Erdteil.«
»Ich werde dich schon zähmen!«
»Mit was?«
»Ah – ich weiß nicht, brülle nicht immer und wasche dich.«
»Nein, du mußt es sagen. Mit was?«
»Mit – Blumen bekränzen!«
»Du, aber das hilft nichts, wenn man ein Wilder ist! Du hast auch keine.«
»Weißt du's? – Oder Feuertrank reichen« –
»Das eher.«
»Oder – dir etwas sagen, oh, ich weiß was!«
»Was? – – Na?! – Du!! – was?«
»Nichts, gar nichts!«
»Jetzt gleich sagst du's.«
»Es war Spaß, ich weiß nichts, woher soll ich denn etwas wissen?«
»Jawohl weißt du was. Gleich sagst du's. Vorwärts! ich will's wissen, gewiß sind Briefe da oder gar Bücher! So rühr' dich doch!«
»Der wilde Mann ist neugierig! O gar kein Brief und kein Buch. – So–o. Der Kaffee ist gleich fertig und ich habe so schöne frische Eier von den ›Gackei‹ und dicken, dicken Rahm, und 325 Honig von Anis Bienen und von Nannei ganz frisch gerührten Butter!«
»Gerührte Butter sagt man, daß du dir« –
»das nicht merkst, und ich habe es dir schon so oft gesagt, und du weißt, daß ich das nicht leiden kann, und immer wieder sagst du's – so wolltest du sagen, nicht Ernst?«
Da war er schnell heraus und hielt ihr den Mund zu und küßte sie auf das Braunhaar, das in dem weichen Morgenlichte in goldigen und violetten Reflexen flimmerte.
»Und die Blumen? Und die Neuigkeit?«
»Die Blumen sind hier, ein ganz großer Strauß, noch voll Tau.«
»Von wem?«
»Nannei brachte sie mir, ehe sie aufs Feld ging.«
»Dir bringt doch alles Blumen und hat dich gern, um mich scheren sie sich den Teufel, seit ich dich mitgebracht habe.«
»Die wissen, daß ich alles lieb habe, was draußen wächst, und sie mögen mich auch nicht mehr wie dich, nur trauen sie sich nicht so, du bist eben – der Prinz und ich keine –«
»Still und zwar gleich, Elisabeth, sonst ist mir der Tag verdorben. Ich will nicht wieder davon hören, ich will nie mehr daran erinnert werden.«
326 Nannei stand in ihrem »Gartl«, hielt die Hand vor die Augen und schaute den Staren zu; kaum sah man sie in der Pracht der Apfelblüten, die kleinen, schwarzen, glucksenden Vögel. Ringsum blühten die Obstbäume, wie riesige Sträuße sahen sie von oben aus, blaßrot und weiß, die Landstraßen leuchteten weithin aus Saatfeldern und Wiesen heraus mit den Umzäunungen der Blütenbäume, die Dörfer ringsum waren untergetaucht, verschwunden unter der Fülle der blühenden Pracht, weithin prahlten die Wiesen, strotzend grün und mit bunten, gelben und roten und weißen Flecken.
»Aber Nannei, heute ist es schön!« rief Elisabeth, »schau nur, schau die Bienen!« und jauchzend lief sie den Heckenweg weiter im dichten Grase. Nannei zeigte Ernst den Staren, der die brütende Stärin zärtlich fütterte. »Da geit's bald Junge, siehgst'n?« meinte sie lachend und zwinkerte mit den Augen.
Elisabeth rannte noch immer an der Hecke hin, streichelte die Blätter, bückte sich zu den Blumen, schaute in die blühenden Baumkronen, breitete lachend die Arme aus und lief Ernst wieder entgegen:
»O wie glücklich, wie glücklich ich bin!«
Das Nannei drohte mit dem Finger und deutete schmunzelnd nach dem »Starl«.
327 »Du bist ja, wie wenn du einen Rausch hättest, Kleine, ich hab dich noch nie so gesehen.«
»Einen Frühlingsrausch, ja, wahrscheinlich! Als ob du wüßtest, wie gern ich das alles habe! Noch viel lieber wie früher, weil ich inzwischen in der Stadt eingesperrt war.«
»Du hast drinnen aber nie etwas gesagt.«
»Wozu denn? Ich war einmal mit dir gegangen und –« sie hielt inne, weil Ernst immerfort den Kopf schüttelte.
»Was ist los? War das dumm?«
»Nein, ich weiß nicht, du bist ganz anders, so fremd, deine Augen glänzen und man meint, du möchtest tanzen vor Vergnügen.«
»Weil alles so wunder wunderschön ist, spürst du's denn nicht da drin? Ich möchte ja singen und schwätzen und lachen immer, immer, und springen und laufen, weil's gar so schön ist! Ich kann's ja nicht so recht sagen, aber alles freut mich, und ich möchte die Bäume umarmen und die jungen Blätter küssen, die Blumen streicheln, daß sie da sind, und die Sonne möchte ich auffangen und bei mir behalten, es tut beinahe weh – weißt du, fest an mich drücken möchte ich alles, alles. – Ach Gott, es ist ja nicht so! Wenn ich dir's erklären will, wird's ganz anders; denn es ist nicht lustig eigentlich, weil mir die Tränen 328 dabei kommen und doch, ich glaube, alles kommt davon, daß ich dich so gern habe.«
Sie nahm seine Hand und schaute ihn an.
Er sah ja fast aus, wie wenn er zornig wäre! Die tiefen Längsfalten, die einen ganzen Wulst zwischen den Augenbrauen vorschoben –
Ernst war auch wirklich verdrießlich; er wußte selbst nicht warum. Es tat ihm beinahe weh, daß sie so fröhlich war, so für sich fröhlich, ohne ihn, ohne daß er etwas dazu getan, ohne daß er ihr das Glück gegeben. Sie kam ihm förmlich fremd vor, er konnte ihre Freude nicht mitfühlen.
Und doch hätte er froh sein sollen, sie so überglücklich zu sehen, er wollte sie ja so, gequält hatte er sie nun genug. Er hatte sich's doch ganz fest versprochen, in jener Nacht, als sie so arm zu ihm ans Bett gekommen war, er hatte sich's versprochen, sie solle glücklich werden, er hätte ja ein Untier sein müssen, wenn –
Er legte den Arm fest um sie und sah sie bittend an. Wie ängstlich ihre Augen auf seine Augen warteten!
»Nein, Maus, nein,« sagte er zärtlich, da war sie schon wieder zufrieden.
Als sie oben bei der alten Kirche standen, packte auch ihn die Frühjahrstrunkenheit. Das ganze weite Tal war voll Licht und Blüten. Wie ein Taumel des sich Entfaltens, ein süßes 329 Geheimnis des Werdens stieg es auf, ein Gottesdienst der Schönheit, des Genießens, ein Jubel ohne Ende.
»Siehst du's, Ernst?«
»Was denn?«
»Das Haus drunten, unser Haus. Ganz allein liegt's, wie eine Einöde. Gelt wir brauchen auch niemanden, wir wollen nichts wissen von den Leuten und du, du denkst auch nimmer daran.«
»Woran?«
»An sie! Du hast viel von ihr erzählt. Weißt du, die du so arg gern gehabt hast und sie hat nichts gemerkt.«
»Nein, Herz, ich habe ja dich.«
»Und wir bleiben beisammen, immer, immer?«
Ernst drückte sie fest an sich.
Wie liebte er sie, wenn sie so ernst war!
Da fing sie plötzlich zu lachen an.
»Jetzt kichert sie auf einmal wieder. Unbegreiflich! – Leichtsinn!«
»Halt wegen dem.«
»›Halt‹ wegen was?«
»Wegen dem, was du nicht weißt.«
»Ah, die Neuigkeit! das wird was sein!«
»Dann sag' ich's eben nicht.«
»Laß es nur gehen.«
»Aber du sollst's wissen.«
»Ich bin gar nicht neugierig.«
»Geh, rat' Schatz!«
330 »Ich bin zu faul!«
»Aber du mußt es wissen.«
»Ich will gar nicht.«
»O du, jetzt sag' ich's grad!«
Sie faßte ihn beim Rockärmel und rieb sich immerfort ihre Nase an dem rauhen Stoff, dunkelrot im Gesicht.
»Es ist – – weil, – nun – im Herbst eben, es ist zu komisch – da kann ich nicht mit dir da herauf gehen, weil – – Nun sag's doch weiter, weißt du's denn nicht? – weil – weil du ein Kind kriegst!«
Und im Nu war sie über den Hügel hinunter und unter den grünen Hecken verschwunden.
»Du –! – Du! Kamel!« mit den Armen fuchtelnd und den Mund wie zum Pfeifen spitzend lief ihr Ernst nach.
»Kammmeel!« rief sie ihm aus ihrem Versteck entgegen, und er zog sie an beiden Händen heraus. Da standen sie nun und schauten sich an und schnell wieder zu Boden, lächelten sich mit fremdem Lachen zu und wußten nicht was beginnen.
»Aber Mädel, Mädel!«
»Ich habe doch nichts Dummes gesagt?«
»Nein, das Gescheitste was du bis jetzt in deinem Leben gesagt hast!« Ernst küßte ihre Stirne, dann erst ihren Mund, aber ganz zögernd, ganz 331 scheu, und strich ihr über die Haare, seine Fingerspitzen zitterten.
»Freut's dich?«
Da nahm er sie auf den Arm und trug sie über die Wiese in den Wald; die Aeste rissen an ihren Haaren und die Blätter schlugen ihr ins Gesicht. Er merkte es nicht und sie hielt ganz still ihren Kopf an den seinen gedrückt, bis sie in die Lichtung kamen, wo man das Haus drunten liegen sah. Kaum hatte er sie auf die Füße gestellt, da war sie fort, hinunter, den Feldweg, zwischen den Hecken, heim. Er schloß die Augen und sah sie vor sich in ihrem hellen Kleide, immerfort über den grünen Hang fliegen, hinunter – hinunter, hinunter, immerfort im Sonnenschein, immerfort mit diesen glücklichen Augen, immerfort in der jungen Frühlingsherrlichkeit, wie wenn sich alles um sie dränge, ihr schmeichle, sie liebkose, wegen ihr da sei. – – –
Zu Hause fand er Briefe. Auf einen stürzte er sofort los, Elisabeth sah es gleich. Auch, daß er rot wurde, rot bis unter die Haare, und daß er wieder die Falten auf der Stirne zog, sie kannte sie schon, wenn er ratlos war oder ärgerlich. Fragen mochte sie nicht, und er sagte kein Wort; er kramte nur so in den anderen Briefen herum, machte einen auf, las ihn zur Hälfte, legte ihn 332 wieder hin und nahm einen andern. Zuletzt ließ er alle liegen und ging hinaus, den ersten aber hatte er mitgenommen. Und der war von einer Frau. Sie hatte es an der Handschrift gesehen, ganz deutlich.
Wie wenn ihr plötzlich etwas genommen würde, war's ihr auf einmal und sie war so überglücklich heute gewesen! –
»Frau von Tilgner wird nächstens hierherkommen,« sagte Ernst eintretend, kurz und mürrisch schien es ihr. Elisabeth stellte erschreckt den Maiblumenstrauß weg, den sie ordnen wollte.
»Die, die will kommen? und vorhin haben wir erst von ihr gesprochen – nein, Ernst, mach' keine schlechten Witze.«
»Doch, sie kommt.«
»Ach geh! Sie soll wegbleiben, schreib' ihr nur.«
»Unsinn! ich kann's ihr nicht wehren; sie wohnt ja nicht bei uns.«
»Aber ich will nicht, ich weiß wie das wird, ich mag sie nicht haben, gerade jetzt nicht, wo wir so glücklich sind!«
»Sei doch vernünftig, wenn es nicht anders sein kann! Kann denn nicht jedermann hierher aufs Land kommen?«
»Ja gewiß. Aber – hast du ihr denn geschrieben –?«
333 »Daß sie kommen soll? Ist mir nicht eingefallen!«
»Nein, ob du ihr überhaupt geschrieben hast, du hast nie etwas davon zu mir gesagt.«
»Muß ich denn alles sagen? Geh, geh, das ist kindisch; du weißt ganz genau, daß ich an alle möglichen Menschen schreibe, ohne dir's vorher anzukündigen. Es fällt dir auch gar nicht ein zu fragen. Aber, da auf einmal,« er riß zornig an seinem Schnurrbart, »ist denn das etwas anderes wie Eifersucht? Jetzt weiß ich auch, wie's wird!«
»Sie soll fortbleiben, ich will sie nicht hier haben! Weißt du nicht, was wir vorhin sagten, Ernst? Bitte, laß sie nicht hierher.«
»Aber das sind ja Dummheiten! Ich kann ihr doch nicht schreiben, daß sie wegbleiben soll, weil du nicht willst, sei doch vernünftig!«
»Du wirst sehen, Ernst, dann ist alles aus. Und nein, und nein, ich will sie nicht haben!«
»Das ist doch großartig! Ob es dir nun recht ist oder nicht, ich sage dir einfach, sie kommt und damit basta. Ich weiß sicher, es ist nur dumme kindische Eifersucht wegen früher, hätte ich dir nichts erzählt, wäre alles anders. Und wenn sie da ist, nimm dich zusammen, darin verstehe ich keinen Spaß, ich will mich nicht mit dir schämen! Ja, schau mich nur an, sie ist Dame bis in die Fingerspitzen, die, ja die ist eine wirkliche 334 Prinzessin! – Das bitte ich mir aus, geheult wird jetzt nicht, sonst will ich gar nichts mehr von dir wissen heute. Nein, nein, sag lieber nichts, ich habe schon genug, ich will nichts weiter hören.«
Jetzt war es ihm recht, daß die andere kam, gerade wegen Elisabeth. Das war doch zu verrückt, einen solchen Radau deshalb zu machen! Im Anfang hatte es ihn ja selbst gewurmt, daß sie so hereinschneien wollte. Es erschien ihm wie eine Indiskretion, wie eine häßliche Neugierde. Nun war es doch gut so, Elisabeth sollte sich nur daran gewöhnen, daß er auch mit andern verkehrte, er konnte doch nicht immer nur bei ihr hocken und keinen Menschen außer ihr zum Verkehr haben? Und Aussprache war jetzt für ihn notwendig, er mußte sich aussprechen können, mit Elisabeth konnte er doch nicht über diese Dinge reden, aber mit Frau von Tilgner schon. Wochenlang saß er jetzt hier außen, keinen Strich hatte er an seiner Arbeit getan, und jeden Tag wurde der Ekel daran größer. Elisabeth fiel es gar nicht ein, ihn danach zu fragen, bei ihr würde es das erste Wort sein, das wußte er! Und darum war es gut, ja, darum war es gut, daß sie kam.
Aber dennoch blieb es eine dumme Geschichte, denn sie würde sein Glück mit Elisabeth nie 335 verstehen, vielleicht daran herummäkeln, spötteln, ihm alles verderben.
Den ganzen Tag war er mürrisch, schlurfte und knurrte im Hause herum. Immer beobachtete er Elisabeth, immer mußte er sie mit den Augen der anderen anschauen und fand da so manches, was sie belächeln und bespötteln würde. Er ärgerte sich über sie, über sich, über Elisabeth. Wie blöd sie herumging, förmlich stier nachdenklich! Zu albern, solche Aufregung wegen einer Bagatelle! Dann tat sie ihm doch wieder leid, und als sie abends still auf dem Sofa saß, ging er zu ihr hin, faßte sie am Handgelenk, sie ein wenig schüttelnd, weil er noch immer ärgerlich war: »Warum sagst du denn gar nichts? Bist du etwa gekränkt? Kannst du heute nicht »Nacht« sagen?«
Da saß sie gleich in der Höhe.
»O ja Lieber. Nacht, Nacht, Nächtlein! Ich wollte nur still sein, weil du zornig warst und aufgeregt.«
»O du Dummes! Aber du siehst bleich aus, bist du denn wohl?«
»O ja.«
»Auch nicht traurig?«
»Ein ganz klein, klein wenig, du hast mich doch noch lieb?«
»Du dumme Maus, ja!«
»Gewiß?«
336 »Gewiß, du Kind!«
»Schatz war ein bisl bös mit mir heut'!«
»Ja, das war ich. Du mußt mir verzeihen, ich war so wütend über deinen Eigensinn, das reizt mich eben immer. Schau, mir war's ja auch nicht recht im Anfang, ich hatte ihr doch nur einmal geschrieben, und nun kommt sie gleich an! Und dann siehst du, ich kann nicht arbeiten, ich bin so abgespannt eben, das bedrückt mich und sonst noch vieles andere, ich muß mit jemandem darüber reden, darum ist es doch vielleicht gut, wenn sie kommt!«
Nach einer Pause legte ihm Elisabeth die Hand auf die Schulter.
»Kannst du mir nichts von deinen Sorgen sagen?«
Ernst hörte nicht darauf. »Du wirst ihr auch nicht gefallen.«
»Ist das ein Unglück?«
»Ich will aber haben, daß du ihr gefällst!«
»Ich will mir alle Mühe geben.«
»Und dann deine Eifersucht!«
»Ich bin nicht eifersüchtig, gewiß nicht. Es ist doch so einfach. Ich bin ja deine Frau, aber wenn du sie etwa lieber hättest, oder wieder lieb hättest – so – das war's, warum ich mich sorgte!«
»Geh, geh, die Tragik!«
Ernst lachte gezwungen. »Gott, Maus, das 337 ist alles so unnütz und so dumm, wir haben uns doch lieb! Ich weiß ja, ich bin ekelhaft und könnte oft den ganzen Tag an dir herumnörgeln, ich verstehe gar nicht, was es ist, besonders heute, wenn ich an sie denke. Dann möchte ich dich anders haben und weiß doch nicht wie, und möchte dich wieder nicht anders haben. Es ist ja häßlich von mir, dich so zu plagen, besonders jetzt, wo ich doch weiß – ich muß krank sein!«
»Ja, Schatz, das hat mir weh getan, daß du es ganz vergessen hast, – das, weißt du – – was ich dir gesagt habe!«
»Nein, nein, mein Herz, ich habe es nicht vergessen.«
Er nahm ihre Hand und küßte sie langsam, scheu. Langsam drückte er den Kopf an ihre Brust, langsam sank er ihm auf ihren Schoß. Seine Arme legten sich um ihre Hüften, er küßte zaghaft, ehrfürchtig ihren Leib. Und es quoll auf in ihm, heiß und mächtig die große Scheu vor diesem ewigen Wunder, das Beben vor dem Unbegriffenen, das Sichbeugen vor dem geheimnisvollen »Es werde«, der Schauer vor der Natur. Alles versank und es blieb nur das Weib, das in seinem Schoße das Heilige barg.
»Du, ich bin so arg neugierig.«
»Auf was, Elisabeth?«
338 Auf dem Wege zur Bahn war es, sie wollten Frau von Tilgner abholen.
»Was es wohl werden wird, ein Prinz oder eine Prinzessin. So wie im Märchen gelt? Ein wirklicher Prinz oder eine wirkliche Prinzessin, oder so wie du oder wie ich, keine wirkliche« – – sie schielte nach ihm, es hatte ihn schon geärgert, aber sie konnte es nicht mehr lassen.
»Ich zähle es manchmal an den Knöpfen ab, oder an den Schritten, bis da oder dahin, grad oder ungrad. Ich freu' mich so! Wenn es nur ein Prinz wäre, wie du, ein wirklicher!« –
»Schäm dich lieber, so kindisch zu sein! Du ahnst gar nicht, was mit dir vorgeht. Immer und immer und immer derselbe Leichtsinn! Eine Sünde ist es beinahe, daß so ein Geschöpf, ein solches Kind Mutter werden soll.«
»Ernst, ich kehre lieber um, du warst vorhin schon einmal so aufgeregt, es ist besser, ich bin nicht dabei.«
»Nein, du gehst mit!«
Vorhin hatten sie schon gestritten.
Nichts war ihm recht. Nicht recht frisiert, nicht recht angezogen, zu geputzt, zu absichtlich schön, dann ging sie nicht recht und dies und jenes, er trippelte fortwährend vor Ungeduld.
»Heit hot's'n aber wieder,« meinte das Nannei im Vorübergehen halblaut zu Elisabeth. Aber 339 Ernst hatte es doch gehört, und nun brach das Schimpfen los über die Bauernwirtschaft, das Hocken auf dem Land, das Versimpeln da heraußen. Was für eine Dummheit, für so lange einzumieten, immer mit denselben idiotischen Bauerngesichtern zusammensein, immer das schlechte Bier trinken zu müssen! Und die Kühe brüllten zu laut, und der Herd rauchte zu oft, und das Nannei und der Ani kümmerten sich viel zu viel um sie, alles, alles war nicht recht, selbst Romano, der freudebellend nachsprang, bekam einen regelrechten Fußtritt. Und wie hatte ihn Elisabeth geärgert! Durchaus wollte sie zuerst nicht mit zur Bahn.
»Was tu' ich dabei? Du hast ja selbst schon gesagt, daß sie sich nichts aus mir machen wird!«
Ja, das tat sie auch und er meinte selbst, Elisabeth wäre besser zu Hause geblieben. Sie war ja lieb mit ihr, aber da war so viel Protegierendes bei der Begrüßung, so viel Hinabneigen zu ihr, und so viel, so viel Uebersehen!
»Oh, sie ist ja sehr hübsch!« sagte sie ganz laut zu Ernst, »eine allerliebste kleine Frau,« aber zu ihr selbst nicht viel weiter. Elisabeth mußte stumm neben den beiden hergehen. Die hatten sich so viel zu sagen von früher, von gemeinsamen Freunden, von allerlei gelehrten Sachen, die sie nicht verstand, Ernst hatte ganz vergessen, daß sie 340 auch da war. Nicht weil sie ihn geärgert hatte, er dachte wirklich nicht mehr daran. Nicht mehr, wie sie aussah, nicht mehr, wie sie sich benahm, nicht mehr, daß er gewollt, sie solle schön aussehen und glücklich! Der Kopf wirbelte ihm. Das brauchte er, Anregung, geistigen Verkehr, Verständnis! Er hatte ja in einer Oede bis setzt gelebt, und nun war ganz plötzlich ein Tumult in ihm, aus allen Ecken flatterte es auf, in allen Winkeln streckte es sich! Ja, er hatte geschlafen, und sie rüttelte ihn auf, nicht absichtlich, nicht merkbar, das brachte sie so mit, das war ihre Atmosphäre. Nun würde er Mut kriegen . . . Vertrauen, ihr konnte er alles sagen, wie war er froh, daß sie da war! – –
»Nun natürlich bist du eifersüchtig, Kleine! Die ist eine Dame, Herrgott! Du dürftest froh sein – nur den zehnten Teil – von ihr zu lernen! Sperr deine Augen auf Rustica, lerne, lerne!«
»Ich will nichts von ihr lernen, ich kann auch nicht. Wenn du mich gern haben willst, mußt du mich gern haben, wie ich bin. Ich werde nicht anders, wenigstens nicht wie die, ich bin eben keine wirkliche Prinzessin.«
»Blech, Blech, komm' doch nicht mit dem alten, albernen Spruch! Und immer die, die! Habe die Güte und drücke dich anständig aus, ich will 341 es. Frau von Tilgner ist eine alte Freundin von mir, wie du weißt.«
Elisabeth schwieg. Jetzt war wieder gar nichts recht, seit er zu Hause war; natürlich machte sie auch alles verkehrt, weil er immer dasaß und ihr zuschaute. Auf einmal sollte sie alles anders machen, sollte ganz von Grund aus anders werden. Und sie hatte gar nicht den Willen, ihm irgend etwas zu Gefallen zu tun, wenn ihr immer die »Dame bis auf die Fingerspitzen« als Muster vorgestellt wurde. Sie konnte sie nicht leiden, wenn sie auch lieb war mit ihr, das sah sie an ihren Augen.
»Aber ihre Augen sind doch nicht schön?« sagte sie plötzlich und in einem Ton, wie wenn Ernst schon widersprochen hätte, »so hart und grau sind sie, und lauern tun sie auch; sie schaut dich manchmal so von der Seite an –«
Ernst tippte an die Stirne, zog die Augenbrauen hoch in die Höhe, lachte und sagte gar nichts darauf. –
Am nächsten Morgen saß Elisabeth vor dem Hause und sah den beiden nach; sie wäre auch gern mitgegangen, in den sonnigen Frühling hinein.
»Wir wollen sehr weit gehen und das ist nichts für dich,« belehrte sie Ernst, ganz väterlich tat er.
342 Er hatte ihr flüchtig Adieu gesagt, voll Hast, Frau von Tilgner nachzukommen.
Da gingen sie nun in der Sonne, am Bache hin, schräg über die Wiese gegen den Wald; immer kleiner wurden sie. Der rote Sonnenschirm leuchtete wie ein winziger, neckender Fleck aus all dem Grün, tanzte vor dem Berge hin und her, tauchte auf, verschwand wieder, wurde immer kleiner und war zuletzt unter den Bäumen verschwunden. –
»Nun sagen Sie mir, wie sind Sie eigentlich zu dieser kleinen Frau gekommen?« Frau von Tilgner fragte das plötzlich, mitten aus einem anderen Gespräch heraus.
»Wie? – Ja, sie gefiel mir eben.«
»Das kann ich mir wohl denken, daß das das einzige Motiv war, aber wo und wann, das ging ja so schnell, ich war ganz baff.«
»Wo? Ich lernte sie bei ihren Verwandten auf dem Lande kennen, wann? – ja, nachdem ich, nein, nachdem Sie abgereist waren.«
»Ah – so!« Frau von Tilgner lächelte. Ein ganz eigentümliches Lächeln war's, das in den Mundwinkeln stecken blieb und gar nicht bis an die Augen kam, sie warf einen blitzschnellen Blick nach Ernst.
»Natürlich haben Sie jetzt riesig gearbeitet. Nein? – Was??! Gar nichts! Wie ist das 343 möglich! Wie kann das sein! Sie müssen doch weiterkommen! Wenn ich nicht wüßte, was in Ihnen steckt! – Gerade das schätzte ich doch so sehr an Ihnen, Ihre Energie, Ihre Tatkraft, und nun?«
Ja, nun wollte er nimmer. Er konnte nicht arbeiten, er sah es ein, er taugte nicht zum Gelehrten, er mußte heraus aus dem Krame, oh, er wollte etwas ganz anderes! Künstler werden, frei sein, frei schaffen. Aber da war die kleine Frau – er hatte sie doch nicht geheiratet, um sie vielleicht darben zu lassen – eine zeitlang ging es ja noch ganz gut – –
»Sie weiß natürlich darum?«
»Keine Idee! Was soll ich sie damit plagen und ihr Sorgen machen!« –
»Ja, wenn Sie das nicht mit Ihrer Frau besprechen können – müssen Sie eben allein fertig werden, oder jemand anderem die Rechte geben – –«
Beim Abschiednehmen faßte sie seine Hand fest, hielt sie lange in der ihren und sah ihn unverwandt an.
»Ich möchte Ihnen gern etwas sagen, als alte Freundin. Ich hoffe, daß Sie mich nicht mißverstehen. Es mag kalt klingen – grausam, unmöglich, vielleicht hassen Sie mich dann, wenn ich es sage, es wird mich furchtbar traurig machen, aber ich muß es Ihnen sagen. Ich sehe so klar, Sie 344 hätten nicht heiraten sollen, nicht diese Frau heiraten! Sie hängt ja wie ein Gewicht an Ihnen, sie hemmt Sie. Derartige Ehen können doch nichts taugen für Naturen wie die ihrige. Sie sind verändert, zerfahren, und ich glaube nicht, daß Sie noch stark genug sind, um mit ihr – trotz ihr – weiterzukommen. Und Künstler? Sie? – Es gibt nur eines für Sie, ob Sie den Mut haben? – Aber um Gottes willen kommen Sie nur jetzt nicht auf die absurde Idee, daß ich etwa hetzen will oder, daß ich mich in Ihr Leben eindrängen möchte!«
So! – Und danach stelzte sie mit gleichmäßigen, bewußten Schritten davon, ohne Erregung, während er sie hätte würgen können vor Wut. So, so das war ihr Verstehen, damit half sie ihm? Und hetzen wollte sie auch nicht? Was denn sonst? – Aber nein! nein! warum sollte sie das tun?
Je mehr er darüber nachdachte, je näher er dem Hause kam – hatte er denn nicht oft schon Aehnliches gefühlt, und aus Feigheit unterdrückt? Allerdings nur ganz leis, nicht so schroff, so kantig herausgehauen. Konnte er je mit Elisabeth etwas Ernsthaftes reden? Hatte sie nur einen Schein von Interesse für seine Arbeiten gezeigt, oder sich jemals um seine, um ihre Zukunft gekümmert? Jawohl, Maul auf! und die Gebratenen flogen hinein! Woher sie kamen, und ob es immer sofort 345 ging, scherte sie wenig. Aber er hatte es auch nicht verlangt von ihr, nichts hatte er verlangt, nur glücklich sollte sie ihn machen. Glücklich! bornierter Idealist, der er war! –
Dann sah er sie wieder droben auf dem Berge im goldgrünen, lenzjungen Buchenwald, trug sie fest an sich gepreßt, und es war ihm, als müsse er ihr eine Schmach abbitten. Sentimentalität! würde Frau von Tilgner sagen, ganz genau hörte er den scharfen Ton ihrer Stimme. Ja, sie bog keinen kleinen Finger, ehe sie sich nicht von ihrem Kopfe die Erlaubnis dazu geholt! – Verfluchter Wirrwarr! er war auch gegen sie ungerecht. Es war doch nur Teilnahme für ihn, sie kannte Elisabeth nicht, oder es war wirklich ihre Ueberzeugung –
Von nichts wollte er mehr wissen, Ruhe wollte er haben, eine halbe Ewigkeit schlafen und beim Erwachen ein anderer Kerl sein, frei, ganz frei, es war mit keiner von den zweien etwas!! –
»Gehst du heute wieder mit Frau von Tilgner fort?«
»Wir haben nichts bestimmt. Ich bleibe bei dir.«
»Gehen wir dann zusammen fort?«
»Meinetwegen.« Wie unlustig und finster er war, mochte nichts reden, nichts essen. Stocherte 346 nur so in den Speisen herum: »Hast du dich etwa gestern mit ihr gezankt?«
»Schwätz' doch nicht so dummes Zeug! mit ihr zankt man sich nicht herum wie mit dir.«
Aber doch war er verstimmt heimgekommen, war wortkarg und zornig geblieben. Die halbe Nacht warf er sich herum, sie hatte es wohl gehört. Nicht ein einziges Mal schalt er sie heute, und sie machte viel nicht recht, sogar absichtlich, er hatte gar nicht darauf geachtet. Immer saß er da mit dem Kopf in den Händen und den Fingern in den Haaren wie eben jetzt. Er hörte nicht einmal, daß Ani an die Türe klopfte mit drei Knöcheln zugleich, was bei ihm der Ausdruck großer Höflichkeit war. Nur wenn der »Herr« da war, tat er es.
»Unti kemma sollst, Herr Dokder, die Herrisch' is drunt'« – er nahm die Pfeife vor Erstaunen aus dem Munde, weil Ernst ganz plötzlich in die Höhe fuhr.
»Wo ist mein anderer Rock, mein Hut, schnell, schnell! Ich kann sie doch nicht warten lassen!« –
»Sie könnte ja auch heraufkommen.« –
»Ach was, Papperlapapp, wenn sie nicht mag!«
»Und ich? Was soll ich machen?«
»Und du? Ich weiß nicht, geh spazieren, tu, was du willst, ich hab jetzt keine Zeit.«
347 Ernst war mit ein paar Sätzen über die Treppe hinunter, Frau von Tilgner grüßte und winkte von fern zu ihr herauf, er sah sich nicht einmal um.
»Sakrisch is d'r z'sam g'richt und a sauwers, schneidig's Weiwets is,« meinte Ani und kratzte sich mit dem Pfeifenstiel in seinen grauen Borsten. Elisabeth nickte. Das fand Ernst wahrscheinlich auch; aber ganz einverstanden schien der alte Ani nicht.
»Tu, was du willst, ich habe jetzt keine Zeit.«
Wie oft sagte sie sich das die nächsten Wochen vor! Sie war jetzt fast immer allein; wenn Ernst einmal zu Hause blieb, war er unruhig, empfindlich und gereizt, so daß es ihr lieber war, er ging zu ihr.
Hinter allem, was sie sagte, suchte er etwas, fand überall Anspielungen heraus, daß sie zuletzt ganz unsicher wurde und schwieg. Sie frug ihn gar nicht mehr nach ihr, traute sich kaum ihren Namen auszusprechen; aber einmal, als er wieder zu Hause geblieben, und Frau von Tilgner abermals gekommen war, um ihn abzuholen, riß ihr endlich doch die Geduld. Bebend vor Zorn sagte sie: »Und du willst noch behaupten, daß die nicht gewußt hat, daß du sie geliebt hast? – Die weiß auch genau, warum sie hierherkam! – Geh nur, geh mit deiner Prinzessin.«
348 Ernst schaute sie nur an mit seinen großen Augen, die ganz hart und dunkel wurden vor Zorn, sprach kein Wort und war fort, ohne ihr adieu zu sagen, zum erstenmal.
Und nun war sie allein, immer allein. Ganz still war es um sie, sie horchte nur, wie ihre Sehnsucht rief, sie langte immer nach ihm und konnte ihn nicht mehr erreichen. Er war so fremd jetzt, so verschlossen und kalt, sie fürchtete sich vor ihm. Wenn er sie einmal umfaßte, küssen wollte oder sie anschaute, war's wie ein Geständnis, ein Flehen, ein Drängen, – sie bangte davor, Gott, o Gott, sie konnte ihn nicht lassen! nein, nein! sie hatte doch das Kind, sie wollte nichts von ihm hören, sie drängte ihn von sich! Das Kind, das war das einzige, was sie hielt. Mit zitterndem Sehnen dachte sie daran, wünschte es herbei, wie ein lebendiges Wesen war es jetzt schon für sie, ein Wesen, das ihren Kummer verstand, ihn mitfühlte, das aber nur ihr, ganz allein ihr gehörte, das ihr niemand streitig machen konnte, auch er nicht. Ein Wesen, dem sie alles gab, alles sein mußte und das ihr alles gab. –
Wie war sie anders geworden! Ernst hatte Szenen erwartet, Vorwürfe, kindische Quälereien, Zornausbrüche, aber nicht dies stille Zuschauen. Im Anfang war sie wohl trotzig geworden und hatte auch mit ihm auf dem neuen Weg 349 laufen wollen, hatte sich an ihn gehängt, dann erst war dies Nachschauen und Zaudern gekommen – und nun schien sie einen Weg für sich gefunden zu haben, einen stillen, sichern Weg, ein eigenes Leben, ein Leben in die Zukunft, ein Leben mit dem Kinde, das sie trug, ein Leben, das mit ihm nichts zu tun hatte, das ihn zur Seite schob. Er fand sie oft wie im Halbschlaf, ruhend, lächelnd, leise flüsternd allein, und sie erwachte erst, wenn er zu ihr sprach. Und der unruhige Wunsch regte sich in ihm, sie wieder so zu sehen wie früher, nicht ernst und wehmütig und ihm so fern. Er hatte sie ja wieder lieb, er sehnte sich nach ihr, nur aus trotzigem Eigensinn lief er noch jeden Tag mit Frau von Tilgner. Das war auch wieder nur ein Idealismus gewesen, daß er von ihr erwartete, sie würde ihm sein eigenstes Wesen erschließen können! Sie würde ihm helfen, seine Unrast mildern, alles glätten können! Im Anfang, ja, hatte es ihm wohlgetan, sich viel vom Herzen reden zu können, das hatte erfrischt, diese Vernunft, ihr verständiges Sichhineinleben zu spüren. Aber ihre Teilnahme hielt nicht lange, sie wurde bald müde und ungeduldig, sie wollte ihn anders haben, er langweilte sie, weil er nicht der war, den sie sich vorgestellt, weil er nicht sofort tat, was sie wollte. Und sie hatte etwas gewollt von ihm von Anfang an, und wenn es nur der Reiz war, sein 350 Schicksal zu dirigieren, wenn es sie nur prickelte, mit seiner Zukunft zu spielen und die Vergangenheit heraufzubeschwören. Ihm paßte auf die Dauer die geistige Seiltänzerei nicht, die sie liebte, dies ewige Stehen auf einem Bein vor lauter Geistreichsein, dies witzig sein Müssen und gelehrt um jeden Preis, dazu war er zu ungelenk, es blendete ihn auch nicht mehr, hier, allein mit ihr. In ihren Salon paßte es, ja, aber hier bei den Bauern war es stillos. Er war reifer geworden. Und noch eins. Am letzten Tage kam es heraus. Sie hatte ganz unerwartet von ihrer Abreise zu sprechen angefangen, sie wollte am nächsten Tage fort. Es war spät am Abend und stürmisches, regnerisches Wetter geworden, als er sie nach Hause brachte. Unter ihrer Türe blieb sie stehen, wartete eine Zeitlang, dann fragte sie zögernd, und er glaubte, ihre Blicke zu fühlen, spürte ihren Atem ganz nah: »Wollen Sie mir, weil ich morgen abreise, nicht doch noch zuletzt ganz offen sagen, warum Sie eigentlich Ihre Frau geheiratet haben?« Sie hatte nie mehr von Elisabeth gesprochen, ihren Namen nicht mehr genannt.
»Ich hatte gar keinen anderen Grund als den, den ich Ihnen schon sagte, weil sie mir gefiel.«
Er stand noch eine Weile neben ihr, dann streckte er ihr kalt die Hand hin. Sie nahm sie flüchtig und ihr Lebewohl klang kühl. Ernst ging 351 erbittert und doch traurig weg. Es tat ihm weh, daß es so schal zu Ende gegangen war, und er hatte einen dumpfen Widerwillen gegen diese Frau, die er nun kannte, er sehnte sich wieder nach der, die er früher so sehr geliebt. – Alles um ihn war öde, dunkel und schwer, wie die Nacht ringsum. Jetzt sollte er zu Elisabeth und ihr sagen, ich kann mein Versprechen nicht halten, dir nicht das Leben bieten, das du gehofft? Hast du auch den Mut, mit mir ins Ungewisse zu gehen? –
Ganz plötzlich und ganz grundlos überkam ihn auf einmal eine fürchterliche Angst. Wenn ihr etwas passiert wäre! Es war ihm, wie wenn er sie nicht mehr träfe, wenn er heimkäme, weil er so lang, lang von ihr fortgeblieben! Eine schmerzende fieberische Unruhe trieb ihn, wie die Ahnung von etwas Schwerem, Fürchterlichem lag's auf ihm, wie wenn er Unglück mit sich zu tragen hätte, unter einer Schuld keuchen müsse.– Voll Schweiß und zitternd vor Erregung kam er vor dem Hause an. Still lag es und dunkel, nur aus dem Schlafzimmer kam ein müdes stummes Licht. »Wie ein Totenlicht« durchfuhr es ihn. So weiß und still lag Elisabeth auch in den Kissen, wie eine Tote, das kleine zage Licht mit dem bläulichen Schein ihr zu Häupten. Die ganze Nacht träumte er davon, sah sie im Totenkleide, 352 hielt sie mit grauenhafter Angst umklammert, weil die schwarzen Männer kamen und sie fortnehmen wollten. Dann sah er sie in der Erde liegen, sah Schaufel nach Schaufel auf ihren Leib fallen – Sie war doch lebendig! Immer höher stieg die Erde, bis an ihr Herz, bis an ihren Mund und ihre Augen, und er war gebunden und mußte hören, wie sie um Hilfe bettelte und schrie. So gingen die Fieberträume fort die ganze Nacht. Als er am Morgen erwachte, war niemand im Zimmer; er rief, niemand hörte ihn, da ging das wirre Drehen und Kreisen von neuem an. Ein paarmal war ihm, als höre er Elisabeths Stimme, aber ganz leis, kaum bewußt, nebelhaft verklang der Ton, dann flüsterte man, ein vorsichtiges Tappen war um ihn, hohl klang der Schall, wie aus weiter Ferne, er fühlte eine harte Kälte auf der Stirne; dann wurde er gedreht, immer im Wirbel gedreht, immer schneller, es sauste um ihn wie ein mächtiger Wasserfall, dann stürzte er in eine schwindelnde Tiefe, dann schnellte es ihn hoch, hoch mit zischendem Pfeifen und wieder lag er gelähmt, regungslos und Bild um Bild zog mit rasender Schnelligkeit an ihm vorbei, ehe er es nur erfassen konnte. Er wollte rufen, wollte anhalten, schreien – umsonst! –
Zuletzt wurde es ringsum ihn totenstill, dunkel und erstorben war alles, er lag in einer 353 endlosen, hallenden Weite und fühlte, wie sein Leben verrann. Langsam sickerte das Blut aus seinem Körper, und er sank und sank und sank. Endlich hielt ihn jemand; er öffnete die Augen – Elisabeth. Sie hatte den Arm unter sein Kissen gelegt, er sah ihr weißes Gesicht dicht vor sich, wollte sprechen, wollte sie fassen – da war er schon wieder eingeschlafen. Nach ein paar Stunden war er abermals wach, und sah sie deutlich neben sich, den Kopf vorgeneigt und die Augen voller Tränen. Er wollte reden, aber sie winkte nur, daß er still sei. Sie streichelte ihn, fuhr ihm über das Haar, mit weichen und sanften Fingern, sie neigte sich über ihn, und ihm war's, als müsse nun Ruhe für ihn kommen, Genesung und Stärke. Und siehe! da fielen Tränen in sein Gesicht, immer mehr, ein starkes Schluchzen packte Elisabeth, sie legte ihre nasse Wange an die seine und stieß stockend heraus: »Ernst, muß es denn sein? Hast du sie lieber? Ich kann dich nicht verlassen – bleib' bei mir – das Kind –« mehr verstand er nicht, gurgelnd war alles in Stöhnen übergegangen. Er versuchte den Kopf zu heben und die kleine Frau anzuschauen, aber es ging nicht, und er mußte gerade in die Luft hinaussagen, stockend und schwerfällig: »O du – Kammeel – ich – hab' doch dich –«
»lieb!« schrie Elisabeth mit zuckenden Lippen. 354 Sie wollte auf ihn zu und ihn an sich drücken, doch besann sie sich noch. Sanft nur legte sie die Lippen auf die seinen, den Kopf an seine Brust, küßte seine Finger; es war ein stiller Jubel in ihren Küssen, und ein stilles Leuchten in ihren Augen. Leise Worte sagte sie ihm, törichtes, unzusammenhängendes Zeug, stammelnde Sehnsucht, lallendes Glück. – Ihre Wange lag neben der seinen auf dem Kissen. Immer zögernder kamen die Worte, lösten sich immer langsamer los, zuletzt ruhte sie ganz still neben ihm, das Glück und die Genesung nicht zu scheuchen, und auch ihre Lider schlossen sich; so blieb sie regungslos neben Ernst liegen, während er einschlummerte.
Nun kamen für ihn die Tage der Genesung. Ein stilles, müdes, glückliches Ruhen mit der matten Schwäche im Körper, lauschend auf das tappende Nahen der Gesundheit, auf das leise Schwellen und Wachsen der Kräfte. Wie eine Pflanze war er. Erschauernd fühlte er die Sorgfalt und Liebe und Hingebung über sich rieseln, trank lächelnd die Sonne, die Wärme.
Die Sonne, die Wärme war für ihn Elisabeth. Er sah nur sie, fühlte nur sie, und durch sie das Leben um ihn, das Leben in dem kleinen Hause, das Leben draußen. Von ihr kam ihm Freude, Genesungsmut, Stärke, aus ihren Händen, ihrem frischen Munde, ihren geflüsterten Worten. An 355 einem warmen Juniabend saß er zum erstenmal wieder aufrecht in den Kissen und sah hinaus auf die reifenden Felder, die Wiesen, strotzend im satten Fastgrün. Elisabeth hatte alle Fenster geöffnet, und der süßherbe Kraftgeruch des allerersten Heues kam schwer und würzig in breiten Schwaden herein.
»Ani und Nannei haben es heute gemäht, die erste Wiese. Jetzt wenden sie's. Siehst du, dort, ganz in der Ecke unter dem Riesenkopf, siehst du sie? Ani mit den weißen Hemdärmeln und Nannei mit dem gelben Tüchel und Romano, schau, er ist auch dabei! Kannst du das sehen, tut's dir nicht weh in den Augen? Gelt wie blau, wie veilchenblau der Riesenkopf heute aussieht, und wie schön das gelbe Getreide davor und die vielen, vielen Mohnblumen, wie die leuchten, das freut dich doch, Ernst?«
»Und dich, Lieb! Was wirst du machen, arme Haut, wenn wir im Winter in der Stadt sind! Du wirst viel, viel Heimweh haben!«
»Ich? Aber Ernst! Ich hab' doch das Kind! Ich kann ja gar nicht warten, bis es Winter ist, und wir drinnen sind, mitten im Schnee, und es ist heimlich warm bei uns, und es ist da, es ist bei uns. Gar nicht ausdenken kann ich's. Denk' nur! Das ist du und ich und nicht du und ich und doch wir zwei, ein Stück von mir und von dir und doch 356 etwas für sich. Und ich hab's, ich darf ihm alles geben, in mir ist es, Ernst, in mir! Gar nicht begreifen kann man das, nicht? Ich könnte oft weinen, weil ich es nicht glauben kann – du bist ja arm gegen mich, du dauerst mich oft deshalb!«
»Oh, mein Weib, liebe, liebe, kleine Frau! Aber dann hast du mich nicht mehr so lieb!«
»O schon, schon! Ich hab' nur so viel an das Kind zu denken, ich freu' mich, oh, wie freu' ich mich! – Was hast du Ernst, bist du traurig?«
»Nur ein wenig. Ich hab' dir viel, arg viel zu sagen, ich fürchte mich davor, es quält mich, ich trau mich nicht, aber ich werde nicht ganz gesund, bis es herunter ist vom Herzen. Lieb, ich kann meinen Doktor nicht machen, ich kann nicht! Ich tauge nicht zu einem verknöcherten Gelehrten.«
»Ist das alles? Das habe ich ja schon lange gemerkt. Du hast doch nicht arbeiten können!«
»Ja, aber – du weißt nicht, was das heißt –«
»Doch. Daß wir mit dem Wenigen auskommen müssen, das wir haben.«
»Ja, – und jetzt, wo das Kind kommt – –«
»Sei doch still! Ich fürchte mich nicht. Es wird schon was aus dir, – ist ja gleich was –«
»Weißt du das?«
»Jawohl weiß ich's. Das fühl' ich doch! 357 Verhungern tun wir deshalb nicht, ich kann auch arbeiten, wenn's fehlt. Glaubst du, daß ich dich weniger lieb habe nun? –«
»Ja, siehst du, Maus, ich bin eben kein wirklicher Prinz!«
»Und ich keine wirkliche Prinzessin,« jubelte Elisabeth, »dann passen wir erst recht zusammen jetzt, ich bin so froh, so froh, Ernst! –«
»Nein, Herz, du bist eine wirkliche Prinzessin, nur nicht die aus dem Märchen, eine ganz andere, meine Prinzessin. Wie heißt es in dem Märchen? »Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wußte er, daß er eine wirkliche Prinzessin besitze . . .« Siehe, das ist eine wahre Geschichte. – Einen Kuß, meine Prinzessin, noch einen – und noch einen, ich fürchte mich nun nicht mehr!« 358