Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als der Wagen des Abbé Moulin bei dem in der Nähe des Monceauparks, am Boulevard Malesherbes gelegenen Hotel des Marquis von Capdecamp anlangte, mußte er Queue machen, denn bei dem Marquis war heute großer Empfang und vor dem Portal staute sich eine Reihe eleganter Coupés und Landauer.
Auf der Schwelle des Hotels, das von Blumen und Lichterglanz strahlte, dessen Treppe mit kostbaren türkischen Teppichen bedeckt war, stand ein stattlicher Lakai in prachtvoller Livree mit gepudertem Haar, weißen Seidestrümpfen und Kniehosen, der den Wagenschlag öffnete.
Beim Anblick des Geistlichen, der mit seinem alten Hut, dem abgetragenen Rock mit schäbigem Kragen wenig in diese Gesellschaft paßte, prallte der prachtvolle Diener trotz seines professionellen Gleichmuts erstaunt, ja fast erschrocken zurück.
Allein der Abbé hatte sich während des langen Wartens in seinem Wagen mit Zuversicht gewappnet. Es war dies sein letzter Besuch und er wollte nicht im Hafen scheitern.
»Ich muß den Herrn Marquis in dringender Angelegenheit durchaus einen Augenblick sprechen,« sagte er zu dem Lakaien.
»Aber ... ich weiß nicht ... ob der Herr Marquis Sie empfangen kann,« antwortete der Mann in den Seidestrümpfen. »Dort steht der Kammerdiener des Herrn Marquis, wenden Sie sich an diesen ...«
Bevor er die Stufen der Treppe hinaufschritt, wandte sich der Priester, den die Gegenwart von fünf andern gepuderten und galonnierten Herren nicht im mindesten einschüchterte, an den Kammerdiener, der seinerseits schwarzseidene Strümpfe, weiße Hemdkrause und Manschetten trug, und wiederholte ihm sein Anliegen.
Zunächst schien auch dieser ganz entrüstet: »Was? den Herrn Marquis stören! ... in einem solchen Augenblick, wenn er in seinen Salons dreihundert Personen zu begrüßen hat!«
Der Priester bestand jedoch fest auf seinem Gesuch, und schließlich blieb der Zauber der Soutane doch nicht ohne Eindruck auf Herrn August – das war der Name dieser wichtigen Persönlichkeit –, und er erklärte sich bereit, seinen Herrn zu benachrichtigen. Der Abbé, der sich in der prachtvollen Vorhalle doch etwas unbehaglich fühlte, versteckte sich einstweilen, so gut es eben ging, hinter zwei blühenden Azaleenbäumen.
Er mußte lange warten. Gerade sich gegenüber sah er mehrere elegante Damen aus ihren herrlichen Pelzmänteln schlüpfen und zum erstenmal in seinem Leben bot sich ihm das Schauspiel nackter Weiberarme, Nacken und Schultern, das dem Gesellschaftsmenschen von heute schon so vertraut ist, als seine Tasche. Aber der alte Herr blieb bei diesem Anblick so kalt als der heilige Antonius, und nur die Geschmeide und Edelsteine, die das alles erst ins rechte Licht setzten, erregten die Aufmerksamkeit und das Mißfallen dieses bis zum Uebermaß mitleidigen Greises, der sich aus christlicher Liebe für die Armen förmlich aufopferte.
»Sicherlich«, dachte er mit einer Gebärde der Mißbilligung bei sich, »thun sie mit ihren Brillanten des Guten etwas zu viel, und wenn ich an meine armen Teufel von Lumpensammlern denke, die bei dieser Kälte gezwungen sind, ihre Matratzen und warmen Decken ins Pfandhaus zu tragen, so komme ich zu dem Schluß, daß, man mag's nehmen, wie man will, die Dinge in dieser Welt im allgemeinen doch recht schlecht eingerichtet sind.«
Herrn Augusts Rückkehr riß ihn aus diesen Betrachtungen.
»Wenn der Herr Abbé sich die Mühe geben wollte, mir zu folgen?« sagte der Lakai höflich.
Der Priesterrock hatte wieder einmal seine Schuldigkeit gethan.
Und nachdem der Abbé hinter seinem Führer drein eine Seitentreppe emporgeklettert war, wurde er im ersten Stock in ein großes Zimmer geführt. Eine holländische Gaskrone beleuchtete matt eine Bibliothek, und in dem alten, monumentalen Kamin brannten ein paar riesige Holzscheite.
»Der Herr Marquis läßt den Herrn Abbé bitten, hier einige Augenblicke auf ihn zu warten,« sagte der Diener sich zurückziehend.
Eine Minute nach der andern verstrich. Zunächst betrachtete der Abbé das über dem großen Kamin hängende, sehr komplizierte Familienwappen des Marquis, ohne in diesem Anblick eine interessante Zerstreuung zu finden. Denn die edle Wissenschaft der Heraldik war ihm ein dunkles Geheimnis und er vermochte daher die Schönheiten dieses in vier Felder geteilten Wappens, auf dem Türme, ähnlich denjenigen des Schachspiels, ein rotes Kreuz, wie man es auf Absinthflaschen, Muscheln, wie man sie vor der Thüre eines Austernkellers sieht, und ein Löwe, der mit seiner ausgestreckten Zunge einem dressierten Jahrmarktspudel glich, abgebildet waren, nicht nach Verdienst zu würdigen. Ja, der stolze Wahlspruch der Capdecamps: » Toujours en teste!« (Immer an der Spitze!) erschien ihm sogar vom christlichen Standpunkt etwas unbescheiden.
Uebrigens vernahm er schon, seit er das Zimmer betreten hatte, ganz in seiner Nähe, hinter einer schweren dunkeln Sammetportiere ein gedämpftes Geräusch wie von Stimmen und Schritten.
Dort, hinter dieser Portiere, befand sich die »Welt«, von der der Abbé so oft in seinen Bußpredigten gesprochen hatte, ohne sie zu kennen, jene »Welt«, vor deren Gefahren und Versuchungen er seine kleinen Beichtkinder so eindringlich warnte, obwohl er davon nicht viel mehr wußte, als diese selbst, deren höchster Wunsch in dem Besitz eines Soustücks gipfelte, um sich damit eine Zuckerpfeife, eine Drahtpuppe oder einen Bilderbogen mit Soldaten kaufen zu können.
Diese geheimnisvolle »Welt«, gegen die der arme Prediger so oft gedonnert, gegen die er eine Menge alter Kirchenväter ins Feld geführt hatte, diese »Welt« war da, zwei Schritt von ihm entfernt. Der Abbé brauchte nur einen Finger zwischen diese beiden schwer drapierten Sammetvorhänge zu stecken, sie etwas zurückzuschlagen, und erkannte diese famose »Welt« mitten in ihrem verderblichen Freudentaumel überraschen. Und der fromme Mann konnte dieser Versuchung auch in der That nicht widerstehen, die sündhafte Neugierde siegte. Er blickte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen und es war ein außergewöhnliches Schauspiel, das sich ihm da bot.
In dem von Lichterglanz funkelnden Saal erblickte er die entblößten Nacken von etwa zweihundert Damen, die, zusammengedrängt wie Sardinen, auf vergoldeten Stühlen saßen und ihm den Rücken zuwandten. Rechts und links an den Wänden und in den Thürnischen stand eine größere Anzahl von Herren mit weißer Hemdbrust und müden, abgelebten Gesichtern, wie die Heringe aneinander gepreßt. Und dort, ganz hinten, vor dem Kamin, darauf die herrliche Marmorbüste der Marschallin von Capdecamp, die am Hof Ludwigs XV. eine bedeutende Rolle gespielt und deren Gemahl von Friedrich dem Großen so fürchterliche Prügel bekommen hatte, dort stand ein einzelner Mann, häßlicher als die andern, mit glattrasiertem, schweißtriefendem Gesicht, der seine Glieder wie ein Betrunkener verrenkte und mit den Gesten eines Hühneraugenoperateurs irgend etwas zum besten gab, das lustig sein sollte und worin von betrogenen Ehemännern und bösen Schwiegermüttern die Rede war.
Alle diese Unglücklichen hörten einem humoristischen Vortrag zu!
Der Abbé Moulin war ein schlichter, einfältiger Mann, aber ein Dummkopf war er nicht. Diese dichtgedrängte Menge, in der die beiden Geschlechter wie bei der Katechismuslehre getrennt waren, dieser ekelhafte Geruch von Parfümerieen und verwelkenden Blumen, besonders aber die Verrenkungen und Grimassen des Gauklers dort hinten erfüllten ihn mit Abscheu. Er zog seinen Finger zurück und die beiden Vorhänge schlossen sich wieder.
Wie aber würde sich der brave Mann erst verwundert haben, wenn man ihm gesagt hätte, daß all die Leute, die sich in jenem Saal drängten, sich gegenseitig in dem Maße widerwärtig und langweilig waren, daß sie den Vortrag dieses Gauklers noch immer ihrer eigenen Unterhaltung vorzogen, und daß der Hanswurst, der von seinem Theater schon eine hübsche Gage bezog, damit nicht zufrieden, sich auch diesen Gesellschaftsvortrag mit einer bedeutenden Summe bezahlen ließ und noch dazu alle möglichen Aufmerksamkeiten beanspruchte!
Ja, wenn man ihm das gesagt hätte, da wäre der Abbé noch ganz anders entrüstet gewesen und hätte es unwürdig gefunden, daß man das Geld so zum Fenster hinauswarf, während seine armen Lumpensammler Hunger litten.
In diesem Augenblick wurde eine Thüre geöffnet und der Abbé befand sich dem Marquis von Capdecamp gegenüber.
Ein stattlicher Mann, der Marquis, trotz seiner fünfzig Jahre! Ein bißchen geschminkt wohl, die Haarfarbe nicht ganz echt, unter den Augen ein paar Fettpolster – aber welche Haltung, welch vornehme Haltung! Ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle! Die Nase von Franz I., genau so, wie sie Tizian auf seinem berühmten Gemälde im Louvre gemalt hat! Und die gestickte Hemdbrust, steif wie ein Küraß, der reinste Gletscher, ein sibirisches Schneefeld, von einer schwarzen Monocleschnur durchkreuzt! Ein Meisterwerk der Plättekunst, vor dem man die Augen schloß, um nicht schneeblind zu werden!
Nach einem leichten, kaum bemerkbaren Kopfnicken – wahrscheinlich um seine blendende Hemdbrust nicht zu zerknittern – fragte der Marquis in näselndem, impertinentem Ton: »Sie wünschen, Herr Abbé?«
Aufrichtig gesagt, mißfiel dieser Edelmann dem Abbé Moulin gründlich. Man hatte ihn schon zu lange warten lassen und er wollte sich nicht verspäten. Darum machte er mit dem vornehmen Herrn nicht viel Umstände, sondern ging direkt auf sein Ziel los: »Renaudel,« sagte er, »Ihr ehemaliger Bankier ... bezahlt alles zurück ... Hier der Wechsel ... Eine Million etc. etc. ... Und nun meine Quittung, wenn's beliebt, Herr Marquis.«
Obwohl Herr von Capdecamp gleich bei den ersten Worten bis hinter die Ohren errötet war, bemühte er sich doch, ruhig zu bleiben und der plebejischen Rücksichtslosigkeit des Geistlichen die Kaltblütigkeit des vornehmen Mannes entgegenzusetzen. Er schob sein Monocle ins linke Auge, prüfte genau den Wechsel, um sich zu überzeugen, daß er auch richtig sei, faltete ihn dann zusammen, steckte ihn in seine Westentasche, unterschrieb auf der Tischdecke die Quittung und reichte diese mit zwei Fingerspitzen dem Abbé hin.
Der Geistliche verbeugte sich und stand im Begriff, sich zurückzuziehen, als der Weltmann plötzlich, erschöpft von der Anstrengung, unfähig, seine Erregung länger zu bemeistern, in einen Lehnstuhl sank und, die Ellenbogen auf die Kniee, die Stirn auf beide Hände gestützt, mit von Schluchzen erstickter Stimme die Worte hervorstieß: »Zu spät! ... Zu spät! ...«
»Mein Gott, Herr Marquis, was ist Ihnen?« fragte der Abbé ganz bestürzt.
Herr von Capdecamp sprang jedoch sofort wieder in die Höhe, und indem er, das Gesicht von Zorn gerötet, wie ein Rasender mit großen Schritten das Zimmer durchmaß, kam es wie bitterer Hohn von seinen Lippen: »Also wirklich, er gibt seine Beute zurück, der Dieb! Er entschädigt seine Opfer, der Schuft, der Fälscher! ... Und mit Zinseszinsen! ... denn ich erinnere mich, daß die Summe, um die er mich bestohlen, weit geringer war ... Und Sie, mein Herr, der Sie seine Aufträge besorgen, Sie erwarten ohne Zweifel, daß ich Sie bitte, diesem Herrn Renaudel meine Komplimente für den schönen Zug auszurichten ... Verzichten Sie auf diese Hoffnung, sagen Sie im Gegenteil diesem Gauner, daß man nicht so leicht, als er zu glauben scheint, seine Schuld abträgt, daß er, was mich betrifft, nichts von dem Uebel, das er angerichtet, wieder gut gemacht hat, daß ich ihn immer wie den erbärmlichsten aller Schurken betrachten werde, daß ich für ihn nur Haß und Verachtung empfinde!«
Schäumend vor Wut trat er auf den Abbé zu, der erschrocken bis an die Wand zurückwich.
»Eine Million!« schrie der Marquis, dem Geistlichen gerade in die Augen blickend. »Was mache ich mir jetzt noch aus einer Million! ... Ich besitze deren zwölf! ... Die Millionen des Fräulein Mardock, das heißt der Frau Marquise von Capdecamp, die heute abend ein entzückendes Fest gibt, und deren Toilette morgen in zwanzig Zeitungen beschrieben sein wird! ... Und das Geld meiner Frau, begreifen Sie das, ist wie das von Renaudel – es ist gestohlenes Geld! ... Eine Million! ... Was will er, daß ich mit seiner Million mache? ... Kann ich meine Ehre damit zurückkaufen? ...«
Jetzt war er nicht mehr der tadellose Weltmann von vorhin, jetzt achtete er nicht mehr auf die fein geplättete Hemdbrust, die seine bebenden Hände zerknitterten.
»Nicht wahr, meine Aufrichtigkeit erstaunt Sie? ... Aber ich kann nicht anders! ... Es liegt mir schon zu lange auf dem Herzen, einmal muß es heraus! ... Nein, dieser Renaudel, dieser elende Gauner, der mir mein Geld zurückgibt und sich damit quitt glaubt! ... Das ist doch ein bißchen zu stark! ... Natürlich habe ich bis zu jenem Tage, an dem dieser schändliche Dieb mich bestohlen, nicht wie ein einfältiger Tropf gelebt – Verschwendung, Ausschweifung nennen Sie das? ... Wir nennen es Lebenskunst, Standespflicht! Laster der guten Gesellschaft, galante Launen sind es, für die Sie, Herr Abbé, und Ihre Kollegen uns einmal im Jahr Absolution zu erteilen haben ... Ich war freigebig, wie es sich für einen Mann meines Standes ziemt, das ist alles ... Und dieses Bummelleben mit seinen Vergnügungen fing zudem eben an, mir überdrüssig zu werden, ich hatte genug davon, ich dachte vom Schauplatz zu verschwinden und meine Tage in Ruhe und Mäßigkeit zu beschließen. Es blieben mir noch einige hunderttausend Franken, genug um meine letzten Schulden zu bezahlen und mich mit einer Pfeife und einer Flinte auf mein kleines, in der Mayenne gelegenes Landgut zurückzuziehen ... Ich stand im Begriff, meinen Vorsatz auszuführen, als ... als dieser Renaudel durchbrannte und mich gänzlich mittellos mit einer Meute von Gläubigern auf dem Hals zurückließ ... Was thun? Mit siebenundvierzig Jahren läßt man sich nicht mehr zur Kolonialtruppe anwerben. Arbeiten! Pfui doch! ... Und was auch? ... Was hätte ich beginnen können? ... Ich war feige ... Ich forschte, ob ich nicht noch etwas zu verkaufen hätte, ob ich nicht noch irgend einen Gegenstand als Pfand für die Wucherer auftreiben könne. Und ich fand ihn auch sofort, diesen Gegenstand, dieses Pfand.
»Dies hier blieb mir,« fuhr Herr von Capdecamp, mit der Hand auf sein Familienwappen deutend, fort. – »Und ich gab diese Marquiskrone, die Devise, den Löwen, die Türme, Muscheln und was sonst noch drum und dran hängt, für die Millionen einer Jüdin hin! ... Ich wurde der Schwiegersohn jenes Mardock, der in seiner Jugend ein Spielhaus hielt; jenes Mardock, der mit seiner famosen ländlichen Kreditbank die wollenen Socken der Bauern und Arbeiter leerte, die Armen bestahl; jenes Mardock, der, wenn Gesetz und Recht kein Possenspiel wären, samt Ihrem Renaudel im Zuchthaus sitzen und mit ihm aus demselben Napf Bohnen essen müßte! ... Sagen Sie ihm das nur, Ihrem Herrn mit den verspäteten Gewissensbissen, ja, sagen Sie ihm, daß das sein Werk war! ...
»Und er soll nicht mit den Achseln zucken, nicht etwa sagen: ›Dieser arme Marquis, er wird sich schon drein finden!‹ ... Seit vier Jahren bin ich verheiratet, und noch immer habe ich den bittern Nachgeschmack meiner Schande auf den Lippen. Andre, o gewiß viele andre haben gerade so gehandelt wie ich und schlafen ruhig auf demselben Kissen mit der Tochter eines Diebs ... Dort, in jenem Saal, hinter diesem Vorhang, unter den Bekannten meiner Frau finden Sie verschiedene von dieser Art ... Aber auch andre, die ihren Namen niemals verkauft haben, deren Wappen fleckenlos ist, sind meiner Einladung für den Abend gefolgt; angezogen von der Macht des Goldes, der Pracht der Ausstattung, kriechend vor dem Mammon, sind sie aus ihren vornehmen Quartieren hierhergekommen, und diese haben das Recht, mich zu verachten, verloren, mindestens dürfen sie ihre Verachtung nicht laut aussprechen ... aber was liegt mir an ihrer Meinung? Was die Leute von Ehre von mir denken, das ist mir die Hauptsache, und darüber bin ich leider nicht im Zweifel.«
Der Marquis hatte sich niedergesetzt und der Abbé betrachtete ihn mitleidig.
»Eine Million!« hub jener wieder voll beißender Ironie an. »Ja, mit einer Million kann man sich manche Laune befriedigen ... Ich kenne in dem Departement der Yonne ein historisches Schloß, das öffentlich versteigert werden soll ... o, ein Schloß im größten und vornehmsten Stil! ... Frau von Capdecamp, die einen feinen Geschmack hat, möchte es gewiß gern besitzen; für achtmalhunderttausend Franken kann ich es erwerben ... Nicht wahr, es wäre höchst galant von mir, der Marquise dieses königliche Geschenk anzubieten? ... Aber sie ist für sich schon reich genug. Ich aber besitze nur diese armselige Million ... es wird mir gestattet sein, auch einmal an mich zu denken ... Unglücklicherweise gibt es aber nur eine einzige Sache, die mir Vergnügen machen würde, und die läßt sich nicht erkaufen.«
Und nach einer kurzen Pause, in der er seine Augen abermals auf den Geistlichen richtete, fuhr er fort: »Hören Sie auch das noch, Herr Abbé: Während des Krieges von 1870 diente ich mit meinem um fünfzehn Jahre älteren Vetter, dem Baron Louis von Capdecamp, bei den Zuaven. Er gehört einem sehr armen Zweig unsrer Familie an. Ich habe wenige so tapfere Ehrenmänner gekannt. Immer heiter und mutig ... Als wir bei Patay zum letzten verzweifelten Angriff vorgingen, rief er mir noch mit lachender Stimme zu: ›Capdecamp, immer an der Spitze!‹ Einen Augenblick darauf sank er mit zerschmettertem Arm zu Boden. Man mußte ihm den Arm amputieren, er erhielt die Militärverdienstmedaille, von der er aus Bescheidenheit nicht einmal das Band trägt; denn er ist sehr fromm ... Louis ist jetzt fünfundsechzig Jahre alt. Er lebt von seinen dreitausend Franken Leibrente und ist so stolz, daß niemand von der Familie es wagt, ihm die geringste Unterstützung anzubieten. Er bewohnt in der Rue Jacob ein kleines Zimmer im fünften Stock, und obgleich verstümmelt, besorgt er selbst seinen Haushalt und seine Küche, um noch dann und wann ein Fünffrankenstück für die Armen übrig zu haben, die er aufsucht ... Und wenn Sie ihm des Morgens um acht Uhr, wenn er zur Messe nach der Kirche Saint-Germain-des-Près geht, begegneten, in seinem bescheidenen Anzug, den leeren Aermel seines Rocks unter der Achsel aufgesteckt, mit dem feurigen Blick und dem weißen Schnurrbart, so würden Sie ausrufen: ... ›Das ist die Ehre selbst, die da vorübergeht!‹ ... Drei Monate nach meiner Hochzeit, die ihm keinen Anlaß zu irgend welchem Lebenszeichen gegeben, traf ich Louis auf der Place de la Concorde und schritt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er blieb stehen, wich einen Schritt zurück, warf mir einen fürchterlichen Blick zu, der aber zugleich etwas Tieftrauriges hatte, steckte seine einzige Hand in die Tasche und ging mit abgewandtem Kopf an mir vorüber. Nun, Herr Abbé,« – die Stimme des Marquis zitterte von verhaltenem Schluchzen – »das einzige, was mir Vergnügen bereiten würde und was mir alle Millionen der Welt nicht verschaffen können, das ist der Händedruck meines Vetters Louis.«
Und der Unglückliche verbarg seinen Kopf in seinen Händen.
Vor diesem Schmerz – denn jetzt handelte es sich nicht mehr um vornehme Haltung, um ein gut geplättetes Hemd, der stolze Marquis war nur noch ein armer Mensch, der heiße Thränen vergoß –, vor diesem Schmerz empfand der Abbé Moulin eine tiefe Rührung.
Aber was sollte er dazu sagen, da ja doch nichts mehr zu ändern war?
Nach einigen Minuten indes faßte sich der Marquis wieder, er zog sein Taschentuch, trocknete sich die Augen, und sich erhebend, sagte er: »Ich habe Ihnen da ein recht lächerliches Schauspiel geboten. Entschuldigen Sie mich, Herr Abbé. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst Diskretion anzuempfehlen, denn sie gehört zu den selbstverständlichen Tugenden Ihres Berufes ... Uebrigens hatte ich unrecht, so wie ich es gethan, von diesem Renaudel zu sprechen. Ich war zu streng. Schließlich ist es ja nicht seine Schuld, daß ich Fräulein Mardock geheiratet habe ... ich beneide ihn fast um das Glück, daß er sein Gewissen mit Geld reinigen kann ... Sagen Sie ihm, bitte, daß ich ihm nichts nachtrage und daß ich ihm guten Erfolg wünsche ... August wird Ihnen den Weg zeigen.« Und der Marquis griff nervös nach dem Glockenzug.
Wie man sich denken kann, hatte sich der Abbé, als er diesem Mann eine Million brachte, auch auf ein schönes Almosen für seine Armen gefaßt gemacht. Er hatte jedoch nicht den Mut, darum zu bitten. Ja es schien ihm fast, als ob dieses Geld hier seinen Armen Unglück bringen müsse.
Seinen Rücken dem Kaminfeuer zugekehrt, aufrecht unter seinem verkauften Familienwappen, stand der Marquis von Capdecamp unbeweglich mit niedergeschlagenen Augen, als schämte er sich seiner Schwäche von vorhin.
Der Abbé grüßte ihn stumm und folgte dem Kammerdiener.