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Sechstes Kapitel.

Das zitternd Jahr ist jetzt noch nicht gesichert,
Der Winter ruft am Schluß noch oft den Sturm,
Vereis't den blassen Morgen und läßt Schnee
Den schönen Tag entstellen.

Thomson.

Das Horn Pierre Dumont's wurde mit der Dämmerung unter den Fenstern des Wirthshauses von Martigny laut. Nun zeigten sich schlaftrunkene Diener, widerwillige Maulthiere wurden gesattelt und das Gepäcke aufgeladen. Einige Minuten später war die kleine Karawane versammelt – denn diesen Namen konnte man dem berittenen Zuge geben – und man setzte sich in Bewegung, die Alpen zu übersteigen.

Die Reisenden verließen jetzt das Rhonethal, um sich inmitten jener nebelumwogten wirren Gebirgsmassen zu begraben, welche den Hintergrund des Gemäldes bildeten, das sie vom Schlosse Blonay und dem Leman aus gesehen hatten. Sie kamen bald in eine Thalschlucht und, dem Laufe eines brausenden Bergstromes folgend, erreichten sie allmählig und durch viele Windungen die rauhen, hochgelegenen Triften, wo die Einwohner sich vorzüglich durch Sennerei, einen knappen Lebensunterhalt verschaffen.

Wenige Stunden über Martigny trennten sich die Wege wieder, und der eine wandte sich links dem hohen Thale entgegen, das seitdem in den Erzählungen dieser wilden Gegend durch die Bildung eines kleinen Sees an einem Gletscher berühmt geworden ist, welcher, auf seine Grundlage zu sehr drückend, seinen Eiswall durchbrach und aus einer Entfernung von mehreren Stunden in einem Wasserberg der Rhone zuströmte, auf seinem Wege jede Spur des Anbaues vernichtend und an manchen Orten die Gegend fast unkenntlich machend. Nun wurde die glänzende Kuppe von Vélan sichtbar, und obgleich dem Auge hier viel näher als von Vevay aus, war sie doch noch eine ferne schimmernde Masse, groß in ihrer geheimnißvollen Einsamkeit, auf welcher das Auge gern verweilte, wie es die reinen und fleckenlosen Säume einer schläfrigen Wolke betrachtet.

Es ist schon gesagt worden, daß, mit Ausnahme gelegentlicher Anhöhen und Schluchten, der Aufsteig des großen St. Bernhard nirgends sehr steil ist, als an der Stelle, wo der letzte Felsenwall überstiegen werden muß. Der Weg führt, im Gegentheil, manchmal Stundenlang durch ziemlich ebene Thäler, obgleich die allgemeine Richtung nothwendig aufwärts geht, und größtentheils durch eine Gegend, welche den Anbau zuläßt, obgleich die Magerkeit des Bodens und die Kürze der günstigen Jahreszeit die Mühen des Landbebauers nur knapp belohnt. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von den meisten andern Alpenpässen; wenn er aber der Abwechselung der Wildheit und Erhabenheit des Splügen, des St. Gotthard, des Gemmi und des Simplon auch entbehrt, bietet er doch einen prachtvollen Anblick dar, und der Reisende sieht sich gleichsam unbemerkt in einer Höhe, welche stufenweise alles ändert, was er mit den Dingen in der untern Welt gewöhnlich in Verbindung setzt.

Wie am vorigen Tage ritten Melchior von Willading und Signor Grimaldi von dem Augenblicke, wo sie das Wirthshaus verließen, bis zum ersten Halte, in Gesellschaft. Diese alten Freunde hatten sich vieles in vertraulichem Gespräche mitzutheilen, an dessen freier Besprechung die Gegenwart Roger von Blonay's und die Zudringlichkeit des Landvogts sie bisher gehindert hatte. Beide hatten auch über Adelheid, ihre Hoffnungen und ihr künftiges Glück reiflich nachgedacht, und sich geäußert, wie zwei alte Adelige jener Zeit, welche nicht ohne lebhaftes Gefühl für ihresgleichen waren, während sie zu viel Erfahrung hatten, um die Welt und ihre Bande zu übersehen, über einen so zarten Gegenstand sich aussprechen konnten.

»Mich überkam ein Gefühl des Schmerzes, und wenn ich es bei seinem rechten Namen nennen soll, des Neides,« bemerkte der Genueser im Verfolge eines Gegenstandes, welcher ihre Zeit und ihre Gedanken am meisten in Anspruch nahm, während die Zügel ihrer Maulthiere los niederhingen – »mich überkam ein Gefühl des Schmerzes, als ich das schöne Wesen zuerst sah, das dich Vater nennt, Melchior. Gott hat in manchen Dingen, welche die Menschen glücklich machen, mich gnädig bedacht; aber er hat meine Ehe unselig gemacht, wenn nicht in ihrer Knospe, doch in ihrer Frucht. Dein Kind ist gehorsam und liebevoll, wie nur ein Vater es wünschen kann; und doch muß diese ungewöhnliche Neigung deine schönen und gerechten Hoffnungen für ihre Wohlfahrt trüben, wenn nicht vernichten! Dies ist keine gewöhnliche Sache, welcher einige Drohungen mit Einsperren und ein Wechsel des Aufenthaltes abhelfen, sondern eine eingewurzelte Leidenschaft, welche nur zu fest auf Achtung gegründet ist. Bei San Francesko! Mir kömmt es manchmal vor, als thätest du am besten, die Heirath zuzugeben.«

»Wenn es der Zufall fügt, daß wir mit dem flüchtenden Jacques Colis zu Turin zusammen treffen, möchte er uns einen andern Rath geben,« antwortete der alte Freiherr trocken.

»Dies stellt sich unsern Wünschen furchtbar entgegen! Wäre der Jüngling nur nicht eines Scharfrichters Sohn! Du würdest gewiß nichts einzuwenden haben, Melchior, wäre er blos der Sohn eines Knechtes oder irgend eines gewöhnlichen Dieners deiner Familie.«

»Es wäre weit besser, er stammte von jemand unseres Standes ab, Gaetano. Ich lasse mich nicht viel über die Lehren dieser oder jener politischen Partei aus, aber ich fühle und denke in dieser Sache wie der Vater eines einzigen Kindes. Alle unsere Gewohnheiten und Ansichten, in denen wir aufgewachsen sind, mein Freund, bilden eben so viele Bestandtheile unseres Glückes, sie mögen nun albern oder weise, gerecht oder unbillig sein, und obgleich ich meinen Mitgeschöpfen gern ihr Recht widerfahren lassen würde, muß ich doch wünschen, die Neuerung eher mit jedem anderen, als mit meiner Tochter anzufangen. Mögen die, welche der Philosophie und Gerechtigkeit und den Menschenrechten so lebhaft das Wort reden, anfangen, uns mit gutem Beispiel voranzugehen.«

»Das ist der Stein des Anstoßes, an welchem tausend der besten Plane für die Verbesserung der Welt zerschellen, ehrlicher Melchior. Könnten wir mit Anderer Hände arbeiten, mit Anderer Seufzer Opfer bringen, und mit Anderer Schätzen bezahlen, so würde unseres Fleißes, unserer Uneigennützigkeit und unserer Freigebigkeit kein Ende sein – und doch wäre es ein Jammer, wenn ein so holdes Mädchen und ein so edler Jüngling nicht unter Ein Joch kämen.«

»Es würde in der That für eine Tochter aus dem Hause von Willading ein Joch sein,« versetzte der ernstere Vater mit Nachdruck. »Ich habe diesen Gegenstand von jeder Seite, die mir ziemt, betrachtet, Gaetano, und obgleich ich einen Mann, der mein Leben gerettet hat, nicht rauh verletzen möchte, indem ich ihn in einem Augenblicke, wo selbst Fremde sich zu gemeinschaftlicher Hülfe und Unterstützung vereinigen, aus meiner Gesellschaft stoße, so müssen wir zu Turin uns doch für immer trennen.«

»Ich kann dir weder beistimmen, noch dich tadeln, guter Melchior! Es war eine traurige Scene, als Balthasar's Tochter in Gegenwart von so vielen Tausenden verschmäht wurde.«

»Ich betrachte sie als eine glückliche und gütige Warnung vor einem Abgrund, in welchen eine thörichte Zärtlichkeit uns beide führte, mein Freund!«

»Du magst recht haben; und doch wünsche ich, du wärst in einem größern Irrthum, als je eine Christenseele war. Es sind dies rauhe Berge hier, Melchior, und sind sie überschritten, läßt es sich so einrichten, daß der junge Mann die Schweiz für immer vergißt. Er kann ein Genueser werden; siehst du, wenn dies geschieht, nicht die Mittel, einen Theil der jetzigen Schwierigkeiten zu besiegen?«

»Ist die Erbin meines Hauses eine Landstreicherin, Signor Grimaldi, daß sie ihr Vaterland und ihre Geburt vergessen soll?«

»Ich bin kinderlos, obgleich ich einen Sohn habe; und wenn der Wille und die Mittel da sind, kann auch der Erfolg nicht fehlen. Sprechen wir davon unter der wärmern italienischen Sonne, welche, wie es heißt, die Herzen erweicht.«

»Die Herzen der Jugendlichen und Verliebten, guter Gaetano; aber wenn sie sich nicht in der neuern Zeit bedeutend geändert hat, verhärtet sie wohl die der Alten, so wie jede Sonne, die ich kenne,« erwiederte der Freiherr kopfschüttelnd, aber es überstieg seine Kräfte weit, über seinen Scherz zu lächeln, während er von einem so peinlichen Gegenstand redete: »du weißt, daß ich hierin nur an das Wohl meiner Tochter denke, nicht an mich, und es würde sich mit der Ehre eines Freiherrn von einem alten Hause schlecht vertragen, der Großvater von Kindern zu werden, welche von einer Scharfrichterfamilie abstammen.«

Es wurde Signor Grimaldi leichter zu lächeln, als seinem Freunde; denn, da er daran gewöhnt war, in die Tiefen des menschlichen Gefühls niederzusteigen, entdeckte er sehr schnell das Gemisch von Triebfedern, welche ihren lange geltenden Einfluß auf das Herz seines wirklich gutgesinnten Freundes still ausübten.

»So lange du von der Klugheit, die Ansichten der Menschen zu ehren, und von der Gefahr redest, durch das Anstreben wider den Strom derselben, deiner Tochter Glück zu zertrümmern, stimme ich dir vollkommen bei; mir aber scheint es möglich, die Sache so zu stellen, daß die Welt glaubt, Alles sei in der Regel und folglich schicklich. Wenn wir uns selbst bewältigen können, Melchior, fürchte ich keine große Schwierigkeit, Andere zu blenden.«

Das Haupt des Berners sank auf seine Brust und er ritt eine große Strecke in dieser Stellung, über den Weg nachdenkend, den er am passendsten einschlagen könnte, und mit den verwirrenden Gedanken kämpfend, die seinen geraden, aber von Vorurtheilen befangenen Geist beunruhigten. Da sein Freund die Natur dieses innern Kampfes kannte, hörte er auf zu sprechen und ein langes Schweigen folgte diesem Gespräche.

Anders war es bei denen, welche folgten. Obgleich lange daran gewöhnt, auf ihre heimathlichen Berge aus der Entfernung zu blicken, war es das erste Mal, daß Adelheid und ihre Gefährtin wirklich in ihre Schluchten eindrangen und ihre gebrochenen und wechselnden Höhen bereisten. Der Weg auf den St. Bernhard hatte daher den ganzen Reiz der Neuheit, und ihre jungen und warmen Herzen waren bald dem Nachdenken über ihr unglückliches Loos entrissen und der Bewunderung der erhabenen Werke der Natur geöffnet. Besonders entdeckte Adelheid's gebildeter Geschmack schnell jene Schönheiten höherer Art, welche dem weniger Unterrichteten leicht entgehen, und sie fand ein erhöhtes Vergnügen darin, die einfache und staunende Christine darauf hinzuweisen, welche diesen ihren ersten Unterricht in jener großen Vereinigung mit der Natur erhielt, die so viele unverfälschte Freuden gewährt, mit Dankbarkeit und einer Schnelligkeit der Auffassung, welche ihre Lehrerin reichlich belohnte. Sigismund hörte aufmerksam und entzückt der Unterhaltung zu, obgleich Jemand, der die Berge zu oft überschritten und sie auf ihrer wärmern und sonnigern Seite so lange gesehen hatte, selbst von einer so geschickten und anziehenden Lehrerin wenig lernen konnte.

Wie sie höher stiegen, wurde die Luft reiner und mit der Feuchtigkeit ihrer untern Strömungen weniger getränkt, während sie die Farben und das Aussehen jedes Gegenstandes, der sich dem Auge darbot, veränderte. Eine ausgedehnte Bergseite wärmte sich in der Sonne, welche auf den gerundeten Erhöhungen hundert lange Streifen von Getreidefeldern in jeder Abstufung der Grüne beleuchtete, dem zartesten Sammt vergleichbar, welchen der Zufall in den mannigfaltigsten Lagen dem Lichte darbietet; während die Schatten von diesem Lichtpunkte des Gemäldes in dunkelrothen und braunen Abstufungen abliefen, bis die »Colonne de vigueur« in dem tiefen Schwarz erreicht wurde, das die überhängenden Zweige eines Lerchenwaldes in die Tiefe der Schluchten warfen, in welche das Auge nur mühsam eindrang. Dies waren die Schönheiten, bei welchen Adelheid am liebsten verweilte, denn diese Reize ziehen stets den ächten Bewunderer der Natur am ersten an, wenn er sich über die niedrigen und weniger reinen Luftschichten in die Regionen strahlenderen Lichtes und Glanzes erhoben sieht. So hebt sich die körperliche wie die geistige Sehkraft über die Unreinigkeiten, welche dieser niedern Welt ankleben, und wir erreichen, wie wir emporsteigen, einen Theil jener fleckenlosen und erhabenen Empfindung, durch welche wir den Wahrheiten der Schöpfung näher gebracht werden; ein poetisches Bild der größern und reinern Wonne, welche wir fühlen, wie wir geistig uns von der Erde entfernen, und dem Himmel näher kommen.

Die Gesellschaft ruhte mehrere Stunden wie gewöhnlich, in dem kleinen Gebirgsdorf Liddes. Reisende pflegen in der neuern Zeit häufig mittelst der Fuhrwerke, welche auf diesem Theile des Weges anwendbar sind, an demselben Tag den Berg zu besteigen und nach Martigny zurückzukehren. Besonders ist der Rückweg, wenn man das eben genannte Dorf erreicht hat, schnell zurückgelegt. Allein in der Zeit, in welche unsere Erzählung fällt, war etwas der Art, wenn es ja vorkam, eine große Seltenheit. Die Ermüdung, welche ein Ritt von so vielen Stunden erzeugte, zwang unsere Gesellschaft, viel länger als dies jetzt der Fall ist, in dem Wirthshaus zu bleiben; und das Höchste, was sie hoffen konnten, war, das Hospiz zu erreichen, ehe die letzten Strahlen der Sonne die glänzende Kuppe des Vélan zu beleuchten aufhörte.

Auch fand hier ein unerwarteter Aufenthalt durch Christine statt, welche sich, bald nachdem man das Wirthshaus erreicht hatte, mit Sigismund entfernte und nicht eher wieder zur Gesellschaft zurückkam, als bis die Ungeduld des Führers sich mehr denn einmal in solchen Klagen kund gethan hatte, wie Jemand in seiner Lage sich dergleichen wohl erlauben darf. Adelheid sah, als ihre Freundin endlich wieder zu ihnen kam, mit Kummer, daß sie bitterlich geweint hatte; da sie aber zu zart fühlte, um eine Erklärung über einen Gegenstand, welchen Bruder und Schwester sichtbar ihr nicht anzuvertrauen wünschten, herbeiführen zu wollen, ließ sie nur den Bedienten wissen, daß sie zur Abreise bereit seien, ohne über die Veränderung in Christinens Aussehen oder die unerwartete Verzögerung, welche sie verursacht hatte, die geringste Bemerkung zu machen.

Pierre murmelte ein danksagendes Ave, daß der lange Halt geendigt war. Er bekreuzigte sich dann mit der einen Hand und mit der andern schwang er unter einem Haufen gaffender Buben und geifernden Cretins seine Peitsche, um denen, die er führte, Raum zu machen. Die Gesellschaft, welche ihm folgte, war im Ganzen von verschiedener Gemüthsstimmung. Wenn Reisende das Gasthaus zu oft hungrig und zur Unzufriedenheit gestimmt erreichen, so verlassen sie dasselbe gewöhnlich gut gelaunt und glücklich. Die Erholung, welche mittelst der Speisekammer und des Ausruhens der müden Glieder bewirkt wird, theilt sich gewöhnlich dem Geiste mit, und es muß eine mürrische Laune oder eine außerordentlich schlechte Kost sein, welche die Rückkehr zu einem ruhigen Zustande des Geistes verhindern. Die Gesellschaft, welche Pierre anführte, machte keine Ausnahme von der Regel. Die zwei alten Herrn hatten den Gegenstand ihrer Morgenunterhaltung so weit vergessen, daß sie scherzhaft zu werden anfingen, und es dauerte nicht lange, so zeigten sich selbst ihre schönen Reisegefährtinnen gestimmt, trotz des schweren Kummers, der auf beiden so unaufhörlich und drückend lastete, über ihre muntern Einfälle zu lachen. Kurz, die Wunderlichkeit unserer Gefühle ist so groß und es ist so schwer, immer glücklich, so gut wie immer traurig zu sein, daß die sehr zufriedene Wirthin, welcher ein sehr unbedeutendes Essen reichlich vergütet worden war, als sie auf ihrer schmutzigen Hausschwelle ihre Danksagungsknixe machte, keinen Anstand nahm, zu behaupten, eine fröhlichere Gesellschaft habe nie ihr Haus verlassen.

»Wir werden in den Fässern der guten Augustiner heute Abend unsere Rache für das sauere Getränk dieses Wirthshauses suchen; ist es nicht so, ehrlicher Pierre?« fragte der Genueser, sich in dem Sattel zurecht setzend, während sie sich aus den Steinen, Krümmungen, vorspringenden Dächern, und dem Schmutz des Dorfes wieder in die angenehmen Windungen des gewöhnlichen Weges versetzt sahen. – »Unser Freund, der Schlüsselmeister, weiß von unserm Besuche, und da wir bereits mit einander Angenehmes und Unangenehmes versucht haben, erwarte ich von seiner Freundschaft einige Vergeltung für das spärliche Mahl, das uns eben zu Theil ward.«

»Vater Xavier ist ein gastfreundlicher und frohsinniger Geistlicher, Signore, und jeder Maulthiertreiber, Führer oder Pilger, der über den Col kömmt, betet zu den Heiligen, daß sie die Klosterschlüssel recht lange in seinen Händen lassen. Ich wünschte, wir stiegen die rauhen Stufen in diesem Augenblicke schon hinan, auf welchen wir den letzten Fels des Berges zu erklimmen haben, Messieurs, und der ganze übrige Weg wäre so glücklich überstanden, wie der, den wir ohne weiteren Unfall zurückgelegt haben.«

»Fürchtest du auf Schwierigkeiten zu stoßen, Freund?« fragte der Italiener, indem er sich auf seinen Sattelbogen vorlehnte; denn seinem lebendigen Auge war der prüfende Blick nicht entgangen, den der Führer ringsum auf den Himmel geworfen hatte.

»Schwierigkeit ist etwas, das von einem Gebirgsbewohner nicht leicht zugegeben wird, Signore, und ich bin einer der Letzten, welche daran denken, oder es fürchten. Dennoch sind wir am Ende der guten Jahreszeit und diese Berge sind hoch und rauh, und die, welche uns folgen, sind zarte Blumen für eine stürmische Heide. Mühen sind stets angenehmer in der Erinnerung als in der Erwartung – ich meine nicht mehr, wenn ich das meine.«

Pierre blieb stehen, als er zu sprechen aufhörte. Er stand auf einer kleinen Erhöhung des Weges, wo er, wenn er zurückblickte, die Oeffnung der Berge übersehen konnte, welche die Lage des Rhonethals andeutet. Er blickte lange und kundigen Auges hin, dann wandte er sich und setzte seinen Weg mit dem geschäftigen Wesen eines Mannes fort, der eher geneigt ist zu handeln, als über die Zukunft zu grübeln. Ohne die wenigen, ihm eben entschlüpften Worte hätte die natürliche Eile keine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, auch bemerkte sie Niemand als Signor Grimaldi, welcher selbst wenig Wichtigkeit auf das Ganze gelegt hätte, wenn der Führer bei seinem gewöhnlichen Schritte geblieben wäre.

Wie es in den Alpen gewöhnlich ist, ging der Führer unserer Reisenden zu Fuß und gab so der ganzen Gesellschaft den Schritt an, welchen er für Menschen und Thiere räthlich erachtete. Bisher war Pierre ziemlich gemächlich gegangen und hatte die Nachfolgenden genöthigt, dieselbe Mäßigung zu beobachten; jetzt griff sein Fuß aber merklich rascher aus, und häufig so rasch, daß die Maulthiere sich in einen leichten Trab setzen mußten, wenn sie in ihrer Reihe bleiben wollten. Alles das wurde jedoch von der Mehrzahl der Gesellschaft der Art des Bodens zugeschrieben; denn wenn man Liddes hinter sich hat, kommt eine lange Strecke Wegs, welche man in den obern Alpen vergleichungsweise eben nennen kann. Auch glaubte man diese Eile doppelt nothwendig, um die in dem Wirthshause verlorne Zeit wieder einzubringen; denn die Sonne neigte sich schon der westlichen Grenze des beschränkten Himmels über ihnen zu und die Luft verkündigte, wenn nicht einen raschen Wechsel des Wetters, doch das schleunige Herannahen des Abends.

»Wir wandern auf einem sehr alten Pfade,« bemerkte Signor Grimaldi, als seine Gedanken vom Nachdenken über die Eile des Führers zu den Umständen ihrer jetzigen Lage zurückkehrten, – »einen sehr ehrwürdigen Pfad möchte ich ihn nennen, aus Achtung vor den verdienten Geistlichen, welche so viel thun, seine Gefahren zu mindern, und wegen seines großen Alterthums. Die Geschichte nennt manche Feldherrn, welche ihn benutzt haben, denn er war lange die gewöhnliche Straße für die, welche zwischen dem Norden und dem Süden reis'ten, sei es nun in feindseligen oder freundlichen Absichten. Zu Kaiser August's Zeit führte er meistens die römischen Legionen nach Helvetien und Gallien; Cecinna's Schaaren eilten durch diese Schluchten dem Angriffe Otto's entgegen, und die Lombarden machten fünfhundert Jahre später denselben Gebrauch davon. Ich erinnere mich gehört zu haben, eine Schaar ungläubiger Seeräuber sei vom mittelländischen Meere dieses Weges gekommen und habe sich, in der Absicht zu plündern, der Brücke von St. Maurice bemächtigt. Da wir nicht die ersten sind, so ist es wahrscheinlich, daß wir auch nicht die letzten sein werden, welche sich, ihrem Zweck, sei er nun Liebe oder Haß, folgend, diesen Regionen der obern Luft anvertrauen.«

»Signore,« bemerkte Pierre ehrerbietig, als der Genueser schwieg, »wenn Eure Excellenz weniger gelehrt und mehr in jenen bekannten Worten reden wollte, welche sich bei einer raschen Bewegung sagen lassen, so möchte es der Zeit und der großen Nothwendigkeit, Eile anzuwenden, angemessener sein.«

»Fürchtest du Gefahr? Haben wir uns verspätet? Rede, denn Verheimlichung mißfällt mir.«

»Gefahr hat einen ausgedehnten Sinn in dem Munde eines Gebirgsbewohners, Signore; denn was Sicherheit auf diesem Pfade ist, könnte tiefer unten in den Thälern für beunruhigend angesehen werden; ich sage es daher nicht. Aber die Sonne berührt die Felsen, wie ihr seht, und wir nähern uns Stellen, wo uns der Fehltritt eines Maulthiers theuer zu stehen kommen könnte. Ich wünsche, daß alle, so lange es möglich ist, das Tageslicht eifrig benützen.«

Der Genueser antwortete nicht, aber er trieb sein Maulthier wieder zu einem Schritte an, welcher mit den Wünschen Pierre's mehr in Uebereinstimmung war. Die Uebrigen folgten von selbst dieser Bewegung und die ganze Gesellschaft war nun wieder in einem leichten Trab, der jedoch nicht einmal hinreichend stark war, um es den langen, ungeduldigen und raschen Schritten Pierre's gleich zu thun, der seiner Jahre ungeachtet mit einer Leichtigkeit, welche ihn keine Anstrengung kostete, dahin eilte. Bisher war die Hitze nicht gering gewesen und ihre ganze Kraft wurde in dieser reinern Atmosphäre, während der Zeit gefühlt, wo die Sonnenstrahlen in das Thal fielen; sobald sie aber von einem neidischen braunen Berggipfel aufgefangen wurden, folgte ihrem belebenden Einfluß eine Kühle, welche hinreichend bewieß, wie nothwendig die Gegenwart jenes Lichtkörpers zur Behaglichkeit derer sei, welche in einer so großen Höhe leben. Der weibliche Theil der Gesellschaft suchte, sobald dem strahlenden Lichte der gewöhnliche Schatten folgte, ihre Mäntel; und es währte nicht lange, so hüllten sich die bejahrteren Männer in ihre Obergewänder, sich mit der gebräuchlichen Vorsicht gegen die Wirkung der Abendluft schützend.

Der Leser darf jedoch nicht glauben, daß alle diese kleinen Vorfälle auf dem Wege sich in einer so kurzen Zeit begeben hätten, wie die, welche wir zu ihrer Erzählung brauchten. Eine lange Strecke Wegs war zurückgelegt, ehe Signor Grimaldi und sein Freund sich in ihre Mäntel hüllten, und man war nach und nach an verschiedenen Dörfern und Weilern vorübergekommen. Der Uebergang von der Wärme des Tages zur Kühle des Abends war auch von dem entsprechenden Wechsel in dem Aussehen der Gegenstände begleitet, an welcher sie vorüberkamen. St. Pierre, eine Gruppe von Hütten mit Steindächern, welche alle Merkmale der unwirthlichen Gegend an sich trugen, für welche sie gebaut worden, war das letzte Dorf; weiter oben, an der Brücke von Hudri zeigte sich noch ein Weiler, aus einigen traurigen Wohnungen bestehend und gleichsam das Verbindungsglied zwischen den Wohnungen der Menschen und den Höhlen der Thiere abgebend. Das Pflanzenleben war schon lange magerer geworden und verlor sich nun schnell in auffallendern Spuren der Unfruchtbarkeit, wie die Schatten eines Gemäldes durch ihre verschiedenen Farbenübergänge in dem Dunkel des Hintergrundes verschmelzen. Die Lerchen und Cedern wurden allmählig kleiner und seltener, bis der sich sträubende und zurückgehaltene Baum zum Busch wurde, und dieser endlich in der Gestalt eines Büschels blassen Grüns verschwand, der wie Moos an einer Felsenritze hing. Selbst das Berggras, um deßwillen die Schweiz mit so vielem Recht berühmt ist, wurde dünn und starr, und als die Reisenden das runde Becken am Fuße der Vélan-Kuppe erreichten, das man La Plaine de Prou nennt, sah man in der günstigsten Zeit des Jahres, und dann nur an vereinzelten Stellen zwischen den Felsen, hinreichende Nahrung für den Unterhalt einer kleinen Heerde waghalsiger, benagender und hungriger Ziegen.

Das eben genannte Becken ist eine Oeffnung zwischen hohen Felsklippen und fast ganz von nackten und rauhen Felsen umgeben. Immer auf einer geneigten Fläche empor gehend, führte der Weg durch die Mitte des Beckens und verschwand in einer engen Schlucht um den Gipfel einer überhängenden Klippe. Pierre zeigte auf diesen Paß als den gefährlichsten auf dieser Seite des Col, indem zur Zeit des schmelzenden Schnees häufig Lawinen von seiner Höhe niederrollten. In diesem Augenblicke war jedoch kein Grund vorhanden, diese wohlbekannte Alpen-Erscheinung zu fürchten; denn mit Ausnahme des Mont-Vélan lag alles über ihnen und rund um sie in demselben düstern, öden Gewande. Es würde in der That der Einbildungskraft nicht leicht sein, sich ein sprechenderes Bild der Verödung zu denken als das, welchem die Blicke unserer Reisenden begegneten, als sie dem Wasser, das durch die Mitte des unwirthlichen Thales rieselte, das sichere Merkmal der allgemeinen Richtung ihres Weges, folgend, den Mittelpunkt des Thalbeckens erreichten.

Es war nun die Zeit der ersten Dämmerung; aber die düstere Färbung der gestreiften und durch die Eisenfarbe, mit welcher die Zeit ihre Seiten bekleidet hatte, ehrwürdig aussehenden Felsen, und die Tiefe des Beckens verbreitete ein schwermüthiges Dunkel, welches das Grau der Dämmerstunde weit übertraf. Andererseits ruhte das Licht glänzend und glorreich auf dem schneeigen Gipfel des Vélan, noch viele tausend Fuß über ihnen, obgleich vollkommen sichtbar und anscheinend ganz nahe; während reiche Strahlenlichter der untergehenden Sonne, auf mehreren der braunen natürlichen Zinnen der Alpen glänzten, welche in erhabener Verwirrung dem ewigen Kampfe der Stürme ausgesetzt, in schwindelnder Höhe vor ihnen lagen. Das blaue, alles überragende Gewölbe hatte jenes Aussehen ferner Glorie und großer Ruhe, das dem Auge dessen, der die hohen Thäler und die eingebetteten Seen der Schweiz bereis't, so oft begegnet und seinen Geist so mächtig ergreift. Der Gletscher von Valsorey stieg von der obern Region fast bis zum Rande des Thals herab, klar und funkelnd, und sein unterer Saum von dem Getrümmer der überhängenden Felsen gestreift und beschmutzt, als sei er dem Loose alles dessen verfallen, was auf Erden ist – nämlich ihre Unreinigkeiten theilen zu müssen.

Es war nun keine menschliche Wohnung mehr zwischen dem Punkte, welchen die Reisenden jetzt erreicht hatten und dem Kloster, obgleich der spätere Unternehmungsgeist, in dieser Zeit der Neugier und Rastlosigkeit, es veranlaßte, daß man eine Art Wirthshaus an der eben beschriebenen Stelle in der Hoffnung erbaute, von denen einen spärlichen Gewinn zu ziehen, welche nicht mehr zeitig genug anlangten, um an der Gastfreundschaft der Mönche Theil zu nehmen. Die Kälte der Luft stieg schneller als der natürliche Wechsel der Stunde zu rechtfertigen schien, und es gab Augenblicke, wo der träge Ton des Windes ihr Ohr traf, obgleich kein Lufthauch das verwelkte und fast einsame Grasblatt zu ihren Füßen regte. Ein oder zwei Mal trieben große dunkle Wolken an der Oeffnung über ihnen hin, schwerbeflügelten Geiern ähnlich, die, ehe sie auf ihre Beute niederstürzen, in dem Luftraume dahin segeln.



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