James Fenimore Cooper
Der Bravo
James Fenimore Cooper

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Einunddreißigstes Kapitel

Wieder rief der Morgen die Venezianer an ihr Tagewerk. Agenten der Polizei hatten geschäftig die Stimmung des Volkes bearbeitet, und sobald die Sonne über dem Meere emporstieg, fingen die Plätze an, sich zu füllen. Da fand sich der neugierige Bürger ein in Mantel und Mütze, da gafften verwundert barfüßige Arbeitsleute, da kam der vorsichtige, bärtige Hebräer in seinem weiten Rock, Edelleute zeigten sich in Masken und manche aufmerksame Fremde, von den Tausenden, die diese Stadt noch immer besuchten, obgleich der Glanz ihres Handels im Abnehmen war. Man erzählte einander, daß eine Handlung der vergeltenden Gerechtigkeit für die Ruhe der Stadt und die Sicherheit der Bürger gehandhabt werden sollte.

Die Dalmatier waren unfern des Meeres dergestalt aufmarschiert, daß sie die beiden Granitsäulen der Piazetta umgaben. Ihre ernsten soldatischen Gesichter waren nach ihnen, den afrikanischen Säulen, jenen wohlbekannten Grenzzeichen des Todes, zugekehrt. Einige grimmige Krieger von höherem Range durchschritten den Raum vor den Truppen, während sich ein dichtgedrängter Haufe hinter diesen anschloß. Aus besonderer Gunst hatte man über hundert Fischern vergönnt, sich innerhalb des bewaffneten Kreises aufzustellen, damit sie sehen sollten, wie ihr Stand gerächt würde. Zwischen den hohen Fußgestellen des heiligen Theodor und des Flügellöwen befanden sich Block und Axt, ein Tragekorb und Sägespäne, die damals üblichen Gerätschaften bei Hinrichtungen. Neben diesen stand der Scharfrichter.

Eine Bewegung in der Menge lenkte endlich jedes Auge nach dem Tore des Palastes. Ein Gemurmel erhob sich, die Menge wallte hin und her, und eine kleine Schar Sbirren wurde sichtbar. Ihr Schritt war schnell, wie der Gang des Geschicks. Die Reihe der Dalmatier öffnete sich zur Aufnahme dieser Handlanger des Schicksals und schloß sich wieder hinter ihnen, als verschlössen sie mit dem Verurteilten die Welt mit allen ihren Hoffnungen. Als sie bei dem Blocke zwischen den Säulen ankamen, teilten sich die Sbirren in Reihen und zogen sich ein wenig zurück, Jacopo blieb allein vor den Todeswerkzeugen mit seinem geistlichen Ratgeber, dem Karmeliter, der gaffenden Menge sichtbar.

Vater Anselmo war in der gewöhnlichen Ordenskleidung der Barfüßermönche. Die Kapuze des heiligen Mannes war zurückgeschlagen und zeigte den Umstehenden seine kasteiten Züge. Sein Gesicht war ein Bild verworrener Ungewißheit; oft blitzten Funken von Hoffnung fieberhaft darin auf. Während sich seine Lippen betend bewegten, schweifte sein Blick unwillkürlich von einem Fenster des Dogenpalastes zum andern. Er stellte sich indessen neben den Verurteilten hin und bekreuzigte sich dreimal mit innigem Eifer.

Jacopo stand in ruhiger Haltung vor dem Block. Sein Kopf war entblößt, seine Wange farblos, Hals und Nacken bis zu den Schultern unbedeckt, sein Oberleib war mit dem Hemd und sein übriger Körper nach Brauch der Gondolieri bekleidet. Er kniete nieder, das Gesicht dem Blocke zuwendend, und betete; dann stand er auf und überschaute die Menge mit Würde und Fassung. Während sein Auge über die Reihe menschlicher Gesichter langsam hinschweifte, überflog eine flüchtige Glut sein Antlitz; denn keines von allen verriet Gefühl für sein Leiden. Seine Brust hob sich, und die zunächst standen, bildeten sich ein, nunmehr verlasse den Unglücklichen seine Selbstbeherrschung. Aber so geschah es nicht. Er schauderte wohl zusammen, dann aber gewann er wieder die vorige Ruhe.

»Du hast dich vergeblich unter der Menge nach einem wohlwollenden Auge umgesehen!« sagte der Karmeliter, dem die konvulsivische Bewegung nicht entgangen war.

»Für einen Mörder hat hier keiner Mitleid.«

»Denk an deinen Erlöser, Sohn. Er litt Schmach und Tod für ein Geschlecht, das seine Gottheit leugnete und seine Qual verhöhnte.«

Jacopo bekreuzigte sich und beugte ehrfurchtsvoll sein Haupt.

»Hast du noch mehr zu beten, Vater?« fragte der Oberste der Sbirren, dem die Aufsicht über die ganze Handlung übertragen war. »Obgleich die erlauchten Räte unerschütterlich sind in der Gerechtigkeit, so haben sie doch mit den Seelen der Sünder Erbarmen.«

»Hast du auch bestimmte Befehle?« fragte der Mönch, indem er ungewiß sein Auge wiederum auf die Fenster des Palastes heftete. »Ist es gewiß, daß der Gefangene sterben muß?«

Der Offizier lächelte über die Einfalt der Frage. Mit der Fühllosigkeit eines Mannes, der zu vertraut ist mit menschlichen Leiden, um Mitleid zu haben, fügte er hinzu: »Es ist das Schicksal aller Menschen, ehrwürdiger Mönch, und namentlich derer, über die das Gericht des heiligen Markus ergangen ist. Es wäre besser, Euer Beichtling dächt an seine Seele.«

»Du hast doch auch gewiß besonderen und ausdrücklichen Befehl? Man hat dir doch die Zeit zur Vollführung des blutigen Werkes genau bestimmt?«

»Jawohl, heiliger Karmeliter. Die Zeit wird nicht langsam sein, und Ihr tätet gut, sie Euch zunutze zu machen, wofern Ihr nicht schon mit dem Seelenzustand des Gefangenen zufrieden seid.«

So sprechend, warf der Offizier einen Blick auf die Sonnenuhr des Platzes und ging kaltblütig fort, den Priester und den Gefangenen zwischen den Säulen wieder allein lassend. Der erstere von diesen konnte offenbar noch immer nicht an die wirkliche Vollstreckung des Urteils glauben.

»Hast du Hoffnung, Jacopo?« fragte er.

»Karmeliter, auf meinen Gott!«

»Sie können dies Unrecht nicht begehen! Ich war des Antonio Beichtiger – ich war Zeuge von seinem Tode, und das weiß der Fürst!«

»Was ist ein Fürst und seine Gerechtigkeit, wo die Selbstsucht einiger weniger regiert. Vater, du bist ein Neuling im Dienste des Senats.«

»Ich vermesse mich freilich nicht, vorauszusetzen, daß Gott die Verüber dieser Tat niederdonnern wird, denn die Geheimnisse seiner Weisheit sind unerforschlich. Dies Leben und alles, was diese Welt bieten kann, ist nur ein Punkt vor seinem allumfassenden Auge, und was uns als Übel erscheint, mag des Guten voll sein. Hast du Glauben an deinen Erlöser, Jacopo?«

Der Gefangene legte seine Hand auf das Herz und lächelte mit der stillen Zuversicht, die nur denen innewohnt, die solchen Trost haben.

»Wir wollen noch einmal beten, Sohn!«

Der Karmeliter und Jacopo knieten nebeneinander, und der letztere beugte seinen Kopf dem Blocke zu, während der Mönch schließlich die göttliche Gnade für ihn erflehte. Der Karmeliter stand auf, als der andere noch betend dalag. Der Mönch war so voll von heiligen Gedanken, daß er, seines früheren Wunsches vergessend, jetzt fast mit Zufriedenheit daran dachte, wie der Gefangene nunmehr in den Genuß der Seligkeit eingehen sollte, deren Hoffnung ihn selbst so freudig erhob. Der Offizier und der Scharfrichter traten näher; ersterer stieß Vater Anselmo an und deutete auf die entfernte Uhr.

»Der Augenblick ist da«, sprach er, mehr aus Gewohnheit als aus Schonung für den Gefangenen flüsternd.

Instinktmäßig wendete der Karmeliter sein Auge nach dem Palaste, in der plötzlichen Aufregung nur seines Begriffs von irdischer Gerechtigkeit eingedenk. Es zeigten sich Gestalten an den Fenstern, und er bildete sich ein, es sollte ein Signal gegeben werden, um den entscheidenden Schlag zu hemmen.

»Halt!« rief er. »Um die Liebe der Heiligen Jungfrau, hemmet Eure Hast!«

Sein Ausruf wurde von einer durchdringenden Weiberstimme wiederholt, und in demselben Augenblicke durchbrach Gelsomina, trotz aller Bemühung, sie zurückzuhalten, die Reihe der Dalmatier und erreichte die Gruppe zwischen den Granitsäulen. Erstaunen und Neugier ergriff die Menge, und ein dumpfes Gemurmel durchlief den Platz.

»Es ist eine Wahnsinnige!« schrie einer.

»Ein Opfer seiner Kunstgriffe«, sagte ein anderer, denn wenn jemand im Rufe eines besonderen Lasters steht, unterläßt die Welt gewöhnlich nicht, ihm alle übrigen gleichfalls beizumessen.

Gelsomina ergriff Jacopos Bande und machte wahnsinnige Anstrengungen, seine Arme zu befreien.

»Ich hoffte, du würdest dir diesen Anblick sparen, arme Gessina«, sagte der Verurteilte.

»Sei nicht besorgt«, erwiderte sie atemlos. »Es ist nur Neckerei – es ist nur eine List von ihnen, um zu berücken – aber sie können nicht – nein, sie dürfen kein Haar von deinem Haupte krümmen, Carlo!«

»Teuerste Gelsomina!«

»Nein, halte mich nicht. Ich will mit den Bürgern sprechen, und du wirst sehen, ich kann gut mit ihnen sprechen und ihnen dreist die Wahrheit bekanntmachen. Mir fehlt nur der Atem.«

»Geliebte! Du hast eine Mutter – einen Vater, denen deine Zärtlichkeit gehört. Deine kindliche Pflicht gegen sie wird dich beglücken.«

»Jetzt kann ich sprechen, und du sollst sehen, wie ich deinen Namen rechtfertigen will.«

Sie riß sich aus den Armen des Geliebten, der sie seiner Bande ungeachtet fest umschlungen hielt. Es wurde ihm schwerer, ihre zarte Gestalt aus seinen Armen zu lassen, als vom Leben zu scheiden. Jetzt schien der Kampf in Jacopos Seele vorüber. Geduldig legte er sein Haupt auf den Block, vor dem er kniete, und seine gefalteten Hände ließen vermuten, daß er für sie betete, die ihn eben verlassen hatte. Gelsomina aber, mit beiden Händen ihr Haar von der blendend reinen Stirn nach den Seiten streichend, trat zu den Fischern, die sie an den roten Mützen und nackten Beinen erkannte. Sie lächelte, wie man sich denken kann, daß Selige lächeln in ihrer Liebe.

»Venezianer«, sagte sie, »ich kann euch nicht tadeln. Ihr seid hier, um Zeugen zu sein vom Tode eines Mannes, der nach eurer Meinung nicht zu leben verdient.«

»Dessen, der den alten Antonio gemordet hat«, murmelte es durch den Haufen.

»Ja, des Mörders dieses alten, herrlichen Mannes. Aber wenn ihr erfahrt, daß ihr den für einen Mörder haltet, der ein frommer Sohn gewesen ist, ein treuer Diener der Republik, ein gewandter Gondoliere, ein aufrichtiges Gemüt, so werdet ihr nach Gerechtigkeit Verlangen tragen.«

Ein allgemeines Murren übertönte ihre Stimme, die schon so zitternd und leise war, daß man nur bei der größten Stille ihre Worte vernehmen konnte. Der Karmeliter war an ihre Seite getreten und bat durch ein Zeichen angelegentlich um Stille.

»Höret sie, Männer der Lagunen«, sagte er, »sie spricht heilige Wahrheit.«

»Dieser ehrwürdige, fromme Mönch und der Himmel sind meine Zeugen. Wenn ihr Carlo besser kennen und seine Geschichte gehört haben werdet, dann werdet ihr von selbst schreien, daß man ihn losgebe. Ich sage euch dies, damit ihr, wenn der Doge dort am Fenster das Zeichen der Begnadigung gibt, nicht ärgerlich werdet und glaubt, euerm Stande geschehe Unrecht. Der arme Carlo –«

»Das Mädchen rast!« unterbrachen sie die mürrischen Fischer.

Gelsomina lächelte in der Sicherheit ihrer Unschuld und fuhr fort, sobald sie wieder zu Atem kam, doch die heftige Aufregung störte noch ihre Rede.

»Der arme Carlo –«

»Ha! Ein Zeichen vom Palast!« rief der Karmeliter laut und streckte beide Arme dorthin aus, als wollte er ein Gnadengeschenk hinnehmen. In demselben Augenblick tönten die Trompeten, und von neuem wallte die Menge durcheinander. Gelsomina stieß ein Freudengeschrei aus und wandte sich schnell, um sich an die Brust des Geretteten zu werfen, da blitzte die Axt vor ihren Augen nieder, und Jacopos Kopf rollte auf dem Pflaster dahin, als suchte er sie. Eine allgemeine Bewegung unter der Menge verriet, daß alles vorbei sei.

Die Dalmatier schwenkten in Kolonnen. Die Sbirren drängten das Volk beiseite, um heimzugelangen; Wasser aus der Bucht wurde auf die Fliesen gegossen, die blutigen Sägespäne wurden zusammengerafft, und Kopf und Rumpf, Block, Tragekorb, Beil und Scharfrichter verschwanden. Der Haufe des Volkes ging um den verhängnisvollen Fleck herum.

Während dieses fürchterlichen Augenblicks standen Vater Anselmo und Gelsomina regungslos. Alles war vorüber, und noch schien der ganze Vorfall Täuschung.

»Schafft diese Verrückte fort!« sagte ein Polizeibeamter und deutete auf Gelsomina. Man gehorchte ihm mit venezianischer Bereitwilligkeit. Der Karmeliter atmete kaum. Er starrte die bewegliche Menge, er starrte die Fenster des Palastes und starrte die Sonne an, die so herrlich am Himmel strahlte.

»Du bist verloren in dieser Menge«, sprach eine Stimme neben ihm leise. »Ehrwürdiger Karmeliter, du wirst wohltun, mir zu folgen.«

Der Mönch war zu tief gebeugt, um sich zu besinnen. Sein Führer brachte ihn durch manche verborgene Straße bis zu einem Kai, wo er sogleich eine Gondel bestieg, die nach dem Festlande fuhr. Ehe die Sonne im Mittage stand, war der in Gedanken versunkene, zitternde Mönch auf dem Wege nach dem Kirchenstaate und in kurzem im Schlosse Sant' Agata wohnhaft.

Zur gewöhnlichen Stunde ging die Sonne hinter den Tiroler Bergen unter, und der Mond kam über den Lido herauf. Die engen Straßen Venedigs ergossen ihre Tausende wiederum auf die Plätze. Das sanfte Licht streifte die seltsame Architektur und den schwindlig hohen Turm und warf einen betrüglichen Glanz auf die Inselstadt.

Die Portikus erglänzten vom Scheine der Lampen. Die Fröhlichen lachten, die Unbekümmerten tändelten, die Maskierten verfolgten ihre versteckten Zwecke; die Balladensänger und Spaßmacher übten ihre Streiche, und Unzählige gaben sich dem leeren Ergötzen hin, wie es gedankenlose, müßige Leute lieben. Jeder lebte für sich, und die Staatsmaschine Venedigs behielt nach wie vor ihren lastenvollen Gang, der durch das verwegene Trugspiel, das er mit heiligen Grundsätzen trieb, die in der Wahrheit und im natürlichen Rechte ihre Wurzel haben, Regierer und Regierte entwürdigte und endlich ins Verderben stürzte.

 


 


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