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Während jenes lebendigen Treibens auf der Piazza San Marco lag der Überrest der Stadt still und einsam im Lichte des Mondes, der so hoch stand, daß sein Schein zwischen die Häuser fiel und hier und da auch die Oberfläche des Wassers flimmernd berührte. Zuweilen entfaltete ein Blick seines Lichtes auf die schweren Karniese eines Palastes den merkwürdigsten Kontrast finsterer Einsamkeit von innen und glänzend reicher Architektur des äußern Gebäudes. Zu einem von diesen Edelsitzen führt uns jetzt unsere Erzählung.
Eine schwerfällige Pracht herrschte in der Bauart des Hauses. Der geräumige Flur war massiv gewölbt, die marmornen Stufen breit und schwer. Die Zimmer überraschten durch Bildwerk und Vergoldung, und die Wände waren reichlich geschmückt mit unzähligen Meisterwerken der größten italienischen Künstler. Die kühlen, schönen Mosaikfußböden von den kostbarsten Marmorarten vollendeten den stolzen Stil, der Glanz und Geschmack vereinigte.
Das Gebäude, das auf zwei Seiten unmittelbar aus dem Wasser hervorstieg, hatte in der Mitte, wie gewöhnlich, einen dunkeln Hof. Den verschiedenen Seiten des Hauses folgend, konnte man durch manche zu dieser Stunde dem kühlen Zug der Seeluft geöffnete Tür in die langen Reihen der mit wahrhaft königlicher Pracht ausgestattetem Gemächer blicken, in denen umschattete Lampen ein sanftes, angenehmes Licht verbreiteten.
In der Ecke des Hauses, an dem kleineren der beiden Kanäle und ganz entfernt von dem Hauptkanale der Stadt, dem das Gebäude die Front zukehrte, befand sich eine Reihe von Zimmern, die nicht mindere Pracht als die zuvor beschriebenen verrieten, aber zugleich mehr Rücksicht auf die Bequemlichkeiten des gewöhnlichen Lebens. Die Vorhänge waren von schwerstem Sammet oder von glänzendem Seidenzeuge, die Spiegel waren groß und äußerst fein geschliffen, die Fußböden wieder von gefälligen heitern Farben und die Wände mit Kunstwerken bedeckt. Aber das Ganze zeigte doch mehr ein Bild häuslicher Behaglichkeit. Die Wandbekleidung und Vorhänge hingen in ungezwungenen Falten herab, die Betten waren zum Schlafen eingerichtet, die Gemälde waren zarte Kopien von der Hand einer jungen Liebhaberin, deren Muße sich in dieser artigen und weiblichen Beschäftigung ergötzte.
Die Schöne hatte eben in ihrem Gemach eine Unterredung mit ihrem geistlichen Ratgeber und mit einer Person ihres Geschlechts, die lange bei ihr die Stelle einer Erzieherin und Mutter vertreten hatte. Die Herrin des Palastes war noch in so zartem Alter, daß sie in nördlicherer Gegend für kaum mehr als ein Kind gegolten hätte, während in ihrem Lande das Ebenmaß und die Ausbildung ihrer Formen sowie der Ausdruck eines dunkeln, sprechenden Auges weibliche Reife in körperlicher und geistiger Hinsicht kundgaben.
»Für den guten Rat danke ich Euch, mein Vater, und meine vortreffliche Florinde wird Euch noch mehr dafür dankbar sein, denn Eure Ansicht stimmt mit der ihrigen immer so ganz überein, daß ich mich oft gewundert habe, wie die Erfahrung auf eine geheimnisvolle Art den Weisen und den Tugendhaften gleiche Gedanken eingibt, und noch dazu über einen Gegenstand von so wenigem persönlichem Interesse.«
Ein leichtes verstohlenes Lächeln umzog den Mund des Karmeliters, als er die naive Bemerkung seines freimütigen Zöglings vernahm.
»Du wirst lernen, mein Kind«, erwiderte er, »wenn dich die Zeit mit Weisheit ausgerüstet haben wird, daß wir in den Dingen, die unsere Leidenschaften und Interessen am wenigsten berühren, gerade am fähigsten sind, vorsichtig und unparteiisch zu urteilen. Wenn Donna Florinde auch noch nicht das Alter erreicht hat, in dem man endlich die Begierde unterjocht, und obgleich sie noch so vieles an die Welt fesselt, so wird sie dir doch diese Wahrheit bezeugen können.«
Obgleich der Redner, sich offenbar eben zum Fortgehen rüstend, die Kutte über den Kopf gezogen hatte und sein tiefliegendes Auge mit Wohlwollen auf dem schönen Antlitz seiner Schülerin ruhte, röteten sich doch die bleichen Wangen der mütterlichen Freundin.
»Ich darf glauben, daß Violetta dies nicht erst jetzt erfährt«, sagte Donna Florinde mit merklich weicher und zitternder Stimme.
»Es wird wenig geben, das einem so unerfahrenen Mädchen, als ich bin, gesagt werden kann, was sie mich nicht gelehrt hätte«, entgegnete schnell ihr Zögling und ergriff, ohne es selbst zu merken und ohne vom Gesicht des Karmeliters den Blick abzuwenden, die Hand ihrer treuen Führerin. »Aber warum verlangt der Senat über ein Mädchen zu verfügen, das, wie bisher, auch ferner leben möchte, glücklich in ihrer Jugend und zufrieden mit der Zurückgezogenheit, die ihrem Geschlechte geziemt?«
»Die Jahre sind unaufhaltsam, selbst ein unschuldiges Kind wie du muß einst die Versuchungen eines vorgerückten Alters fühlen. Es gibt in diesem Leben gebieterische, oft tyrannische Pflichten. Du weißt, welche Politik in einem Staate herrschen muß, der sich durch hohe Waffentaten, durch Reichtümer und weit verbreiteten Einfluß so berühmt gemacht hat wie dieser. Es gibt ein Gesetz in Venedig, das jedem, der in den Angelegenheiten der Stadt irgendeine Stelle einzunehmen berechtigt ist, verbietet, sich mit Ausländern der Art zu verbinden, daß seine Ergebenheit für die Republik dabei in Gefahr käme. So darf kein Patrizier des San-Marco in einem andern Staate Güter besitzen, keine Erbin eines so hohen und geehrten Namens wie du sich einem Ausländer von Bedeutung vermählen, es sei denn mit dem Wunsch und der Bewilligung derer, die über das Gemeinwohl zu wachen eingesetzt sind.«
»Hätte mir die Vorsehung durch die Geburt einen geringeren Stand angewiesen, so wär alles dies anders. Mich dünkt, es trägt nicht viel bei zum weiblichen Glück, dem Rate der Zehn besonders am Herzen zu liegen.«
»Du sprichst unbescheiden, und ich beklage es, sagen zu müssen, gottlos. Es ist unsere Schuldigkeit, uns den weltlichen Gesetzen zu unterwerfen, und mehr als Schuldigkeit, die Ehrfurcht gebietet uns, gegen die Vorsehung nicht zu murren. Aber die Last scheint mir auch gar so schwer nicht, gegen die du dich auflehnst, meine Tochter. Du bist jung, reicher, als ein vernünftiger Wunsch zu begehren erlaubt, von einem Adel, der einen verderblichen, weltlichen Stolz erregen könnte, und schön genug, um dir selbst der gefährlichste von allen Feinden zu werden – warum murrst du gegen ein Los, das ja doch allen deines Geschlechts und deiner Verhältnisse zuteil wird?«
»Wenn ich gegen die Vorsehung gemurrt habe, so fühle ich jetzt schon Reue darüber«, entgegnete Donna Violetta, »aber fürwahr, es würde weniger unangenehm sein für ein Mädchen von sechzehn Jahren, wenn die Väter des Landes so viel Wichtigeres zu tun hätten, daß sie des Mädchens Stand und Alter und etwa auch ihren Reichtum darüber vergäßen.«
»Es wäre eben kein Verdienst, mit einer Welt zufrieden zu sein, die wir nach unseren Grillen zugeschnitten hätten, und es ist die Frage, ob wir, wenn alles nach unserem Wunsch ginge, glücklicher wären als jetzt, wo wir uns fügen müssen in die Ordnung, wie sie einmal besteht. Den Anteil, den die Republik an deinem besonderen Wohl nimmt, meine Tochter, mußt du dir gefallen lassen und so ihr vergelten für die Sicherheit und Herrlichkeit, die sie dir gewährt. Wer in dunklerem Stande, weniger gesegnet mit Glücksgütern geboren wird, kann mehr Freiheit seines Willens haben, muß aber dafür den Glanz entbehren, der die Wohnung deiner Väter erfüllt.«
»Ich wollte, es wäre weniger Pracht und mehr Freiheit darin.«
»Die Zeit wird dich lehren, anders hierüber zu denken, dein Alter sieht alles in goldigen Farben; das Leben erscheint dann gleich zwecklos, sobald auch selbst der unbesonnenste Wunsch unerfüllt bleibt. Indessen leugne ich nicht, daß gerade dein Schicksal mit ganz besondern Umständen verbunden ist. Es herrscht eine Politik in Venedig, die viel berechnet und die mancher darum vielleicht für grausam hält.« Die Stimme des Karmeliters war gesunken, und einen Augenblick innehaltend, warf er einen unruhigen Blick unter seiner Kutte hervor. Dann fuhr er fort: »Die Vorsicht erheischt vom Senate, daß er solchen Interessen die Waage halte, die gegeneinander ankämpfen und wohl gar die des Staates selbst gefährden. Daher kommt es, wie ich sagte, daß ohne Erlaubnis und Aufsicht der Republik niemand, der zum Stande der Senatoren gehört, Grundbesitzer im Auslande sein und keine Person von Bedeutung sich mit Fremden, die einen gefährlichen Einfluß besitzen, verheiraten darf. Der letztere Fall ist der deinige; von den verschiedenen Großen des Auslandes, die um deine Hand anhalten, kann der Senat keinen begünstigen, ohne zu fürchten, daß ein Fremder hier mitten in der Stadt eine ungebührliche Macht erwerbe. Don Camillo Monforte, der Kavalier, dem du dein Leben verdankst und dessen du neulich voll Erkenntlichkeit gedachtest, hat wahrhaftig mehr Ursache, sich über die Härte dieser Beschlüsse zu beklagen, als du irgendwie haben kannst.«
»Mein Kummer«, fiel Violetta schnell ein, »würde noch größer sein, wenn ein Mann, der für mich soviel Mut bewiesen hat, Grund hätte, zu empfinden, wie gerecht dieser Kummer ist. Was hat den Herrn von Sant' Agata gerade mir zum Glücke nach Venedig gebracht, wenn es anders für ein erkenntliches Mädchen nicht unziemlich ist, so zu fragen?«
»Dein Anteil hieran ist ganz natürlich und lobenswert«, erwiderte der Karmeliter mit einer Einfalt, die seiner Kutte mehr Ehre machte als seiner Beobachtungsgabe. »Er ist jung und ohne Zweifel durch seine Reichtümer und die Leidenschaftlichkeit der Jugend zu manchem Leichtsinn geneigt. Schließ ihn in dein Gebet ein, meine Tochter. Dies ist der Dank, den du ihm abstatten magst. Das weltliche Interesse, das er hier hat, ist aber allgemein bekannt, und ich kann deine Unwissenheit darüber nur deiner zurückgezogenen Lebensweise zuschreiben.«
»Mein Pflegling hat an andere Dinge zu denken als an die Angelegenheiten eines jungen Fremden, der in Geschäften nach Venedig kommt«, bemerkte Donna Florinde sanft.
»Aber wenn ich für ihn beten soll, mein Vater, so würde mein Gebet mehr Bestimmtheit haben, wenn ich wüßte, wessen der junge Edelmann am meisten bedarf.«
»Bitte nur allein für sein geistliches Wohl. In Wahrheit, von den zeitlichen Gütern dieser Welt fehlt ihm wenig, obgleich die fleischlichen Begierden den, der am meisten hat, verführen, immer noch mehr zu verlangen. Es hat den Anschein, als ob ein Vorfahre Don Camillos vorzeiten Senator in Venedig gewesen ist, als der Tod eines Verwandten kalabrische Güter in seinen Besitz brachte. Von seinen Söhnen übernahm der jüngere diese Güter infolge eines Gesetzes, das zugunsten einer Familie, die dem Staate treu gedient hatte, ausdrücklich erlassen worden war. Auf den älteren Sohn dagegen und auf dessen Nachkommen gingen die Senatorwürde und das Familienbesitztum in Venedig über. Die ältere Linie ist nun ausgestorben, und Don Camillo bestürmt seit Jahren den Rat, ihn wieder in die Rechte einzusetzen, denen sein Ahnherr entsagt hat.«
»Können sie ihm dies verweigern?«
»Um es zu gewähren, müßten sie vom Gesetz abgehen. Wenn er seinen kalabrischen Besitzungen entsagen wollte, so würde er mehr verlieren als gewinnen. Soll er aber beides haben, so wird gegen ein Gesetz gehandelt, das man nur sehr selten suspendiert. Ich verstehe nicht viel, meine Tochter, von den Verhältnissen des Lebens, aber es gibt Feinde der Republik, die da sagen, daß sie eine schwere Knechtschaft übt und selten eine Gunst gewährt, ohne reichlichen Ersatz dafür zu fordern.«
»Ist das aber recht? Wenn Don Camillo Monforte Ansprüche hat in Venedig, betreffe es nun Paläste an den Kanälen oder Ländereien auf dem Festlande oder einen Sitz im Senat, immer sollte ihm Gerechtigkeit werden ohne Verzug, damit es nicht heiße, die Republik prahle mehr mit dieser heiligen Tugend, als sie diese selbst übe.«
»So heißt dich dein argloser Sinn reden. Es gehört zur Gebrechlichkeit des Menschen, meine Tochter, daß er seine öffentlichen Handlungen von der ängstlichen Gewissenhaftigkeit seines Tuns als Privatmann fernhält, als ob Gott, den Menschen zugleich mit Vernunft und mit dem herrlichen Trost des Christentums beschenkend, ihm zwei Seelen gegeben hätte, für deren eine nur allein zu sorgen wäre.«
»Gibt es nicht Leute, mein Vater, die es glauben, es werde nur das Böse an uns gestraft, das wir als einzelne begehen, was aber von Staats wegen geschieht, falle der Nation auch zur Last?«
»Der Stolz der menschlichen Vernunft hat manche Spitzfindigkeit ersonnen, seinen eigenen Begierden zu frönen, aber er findet an keiner unglückseligeren Täuschung, als diese ist, seine Nahrung. Die Sünde, die andere mit fortreißt in ihre Schuld oder in ihre Folgen, ist eine doppelte Sünde, und wenn es auch die Natur der Sünde ist, ihre eigene Strafe nach sich zu ziehen, sogar schon in diesem Leben, so schmeichelt der sich doch mit falscher Hoffnung, der da meint, die Größe des Vergehens werde ihm zur Entschuldigung dienen. Die größte Sicherheit für uns Menschen ist, uns von der Versuchung zurückzuziehen; der ist am meisten geborgen vor den Lockungen der Welt, der sich von ihren Lastern am meisten entfernt hält. Ich wünsche zwar, daß der edle Neapolitaner sein Recht erlange, doch kann es vielleicht um seines ewigen Heiles willen sein, daß ihm diese Vergrößerung seines Reichtums, nach der er trachtet, vorenthalten wird.«
»Ich kann mir nicht einbilden, mein Vater, daß ein Kavalier, der sich so bereitwillig zeigte, dem Unglücklichen beizuspringen, die Gaben des Glücks so leicht mißbrauchen werde.«
Der Karmeliter heftete einen unruhigen Blick auf die klaren Züge der jungen Venezianerin. Väterliche Besorgnis und Ahnung sprachen aus seinem Auge.
»Dankbarkeit für deinen Lebensretter geziemt sowohl deinem Stande als deinem Geschlechte und ist eine Schuldigkeit. Halte dies Gefühl wert, denn es ist der Verpflichtung der Menschen gegen seinen Schöpfer gar sehr verwandt.«
»Ist es denn genug, Dankbarkeit nur zu fühlen?« fragte Violetta. »Eine Person von meinem Namen und Einflusse sollte doch mehr tun. Wir können die Patrizier, die mir verwandt sind, zugunsten des Fremden bewegen, ein schnelleres Ende dieses langwierigen Prozesses herbeizuführen.«
»Ei behüte, Tochter! Der Eifer einer jungen Dame, an der die Republik so vielen Anteil nimmt, könnte dem Don Camillo eher Feinde als Freunde erwecken.«
Donna Violetta schwieg. Der Mönch und Donna Florinde betrachteten sie mit besorgter Teilnahme; der erstere brachte darauf seine Kutte in Ordnung und rüstete sich zum Aufbruch. Violetta trat dem Karmeliter näher, und ihn mit unverstelltem Zutrauen und gewohnter Ehrerbietung anschauend, bat sie um seinen Segen. Nach dieser feierlichen Handlung wandte sich der Mönch zu der Gefährtin seiner Fürsorge. Donna Florinde ließ das Seidenzeug, an dem sie nähte, in ihren Schoß fallen und saß demütig schweigend mit gebeugtem Haupt, während der Karmeliter seine Hände über sie hinstreckte. Seine Lippen bewegten sich, aber man hörte die Worte des Segens nicht. Wäre das feurige Mädchen, das ihrer beiderseitigen Sorge anvertraut war, minder mit eigenen Gefühlen beschäftigt oder mit den Interessen der Welt, in die sie erst eintreten sollte, bekannter gewesen, so hätte sie wieder einen Beweis entdeckt von jener tiefen und sanften Gemütsverwandtschaft, die sich in dem schweigenden Verständnis ihres geistlichen Vaters mit ihrer Erzieherin kundgab.
»Du wirst uns nicht vergessen, mein Vater?« sagte Violetta mit einnehmendem Ernst. »Eine Waise, mit deren Schicksal sich die klugen Herren des Staates so ernstlich beschäftigen, bedarf eines zuverlässigen Freundes.«
»Gesegnet sei dein Fürsprecher«, sagte der Mönch, »und der Friede der Unschuldigen sei mit dir.«
Er erhob seine Hand noch einmal. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Donna Florindes Auge folgte den weißen Gewändern des Karmeliters, solange sie sichtbar waren, und als es wieder auf den Seidenstoff in ihrem Schoß fiel, schloß es sich für einen Augenblick, als schaute es innen hinein auf Regungen des Gewissens.
Die junge Herrin des Palastes rief indes einen Bedienten und befahl ihm, ihrem Beichtvater bis zu seiner Gondel das Geleite zu geben. Dann begab sie sich zu dem offenen Balkon. Es folgte ein langes Schweigen, jene italienische Ruhe atmend, wie sie dieser Stadt und der Abendstunde angemessen war. Plötzlich trat Violetta bestürzt einen Schritt vom offenen Fenster zurück. »Hörst du nicht diese Töne von oben?«
»Sind die so selten auf den Kanälen, daß sie dich vom Balkon treiben können?«
»Es sind Kavaliere unter den Fenstern am Mentonipalast, die ohne Zweifel unserer Freundin Olivia ein Ständchen bringen.«
»Auch diese Galanterie ist ganz gewöhnlich. Du weißt, daß Olivia binnen kurzem ihren Verwandten heiraten wird, nun bezeigt er ihr seine Verehrung.«
»Findest du nicht, daß solch ein öffentliches Liebeszeichen lästig ist? Wollte man um mich werben, so wünschte ich, daß niemand davon hörte als eben ich.«
»Diese Gesinnung ist schlimm für eine Dame, deren Hand der Senat zu vergeben hat. Ich fürchte, ein Mädchen deines Standes muß sich dareinfinden, daß ihre Schönheit gepriesen und ihre Talente besungen werden, vielleicht bis zur Übertreibung, und zwar selbst von Mietlingen unter einem Balkon.«
»Ich wollte, es wäre aus«, rief Violetta, sich die Ohren zuhaltend.
»Geh nur wieder auf den Balkon. Die Musik hört auf.«
»Dort singen Gondolieri am Rialto; das ist eine Musik, die ich liebe. Die süßen Töne beleidigen nicht unsere heiligsten Gefühle. Willst du heut abend fahren, liebe Florinde?«
»Wo wolltest du hin?«
»Ich weiß nicht, aber der Abend ist schön, und ich hab ein Verlangen, den Glanz und die Freude da draußen zu genießen.«
»Tausende gibt es auf den Kanälen, die ein Verlangen haben, den Glanz und die Freude da innen zu genießen. So ist es immer im Leben, was wir besitzen, wird gering geachtet, und was wir nicht haben, ist uns unschätzbar.«
»Ich bin meinem Vormund einen Besuch schuldig«, sagte Violetta. »Wir wollen nach seinem Palaste fahren.«
Trotz der moralischen Predigt meinte es Donna Florinde so streng nicht. Sie warf ihre Arbeit beiseite und machte sich bereit, ihrer Pflegebefohlenen zu willfahren. Es war die gewöhnliche Stunde für Standespersonen auszufahren und die Lockung, das Freie zu suchen, so reizend, wie sie nur Italien mit seinem milden Klima, Venedig mit seinem bunten Gedränge bieten konnte. Einer Dienerin ward befohlen, das Zimmer zu hüten. Die Gondolieri wurden gerufen, die Damen nahmen ihre Mäntel und Masken und waren geschwind im Boote.