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Pilatus aber gedachte dem Volke genug zu
tun... und überantwortete Jesum...
St. Markus. Kapitel 15, 15.
Was für ein hübscher Bursche Gabriel doch war!... Vor dem Spiegel stehend zog er sich einen geraden Scheitel mit einem Hornkamme und gab sich die größte Mühe, sein etwas rötliches Haar, das sich über seiner Stirne wölbte, in jene künstlichen Locken zu legen, mit denen der heidnische Kunstsinn der Griechen die Gestalten des Adonis und Apollo schmückte. Eitles Bemühen: die Natur siegte stets über die Kunst, und jene rebellischen Locken erhoben und kräuselten sich, als wenn sie sich darauf versessen hatten, eine Art Kissen zu bilden, das sich über jene sechzehnjährige Stirne legte, die so glatt war, als hätte niemals eine trübe Erinnerung sie gefurcht, so rein, als hätte auch niemals ein Schatten von Gewissensbissen sie getrübt. Armer Gabriel – wie hübsch er war!....
Wie fröhlich leuchteten seine roten Lippen, als lachten sie die ganze Welt an, gleich als ob sie sich nur öffnen könnten, um den Namen des Bruders oder der Mutter auszusprechen! Wie rein der Blick seiner großen braunen Augen, die sich weit auftaten wie die Pforten eines Tempels, der dahinter sein Allerheiligstes, diese reine unschuldige Seele sehen ließ, die noch keine Dornen an den Blumen, noch keinen Flecken an der Sonnenscheibe entdeckte ... Armer Gabriel ... wie hübsch war er doch!
Endlich triumphierte die Natur über die Kunst, und mit einer ungeduldigen Gebärde warf Gabriel den Kamm auf die Marmorplatte seines Tisches; er drehte mit den Händen an den Härchen seines keimenden Schnurrbartes, ... lachte laut auf, machte einen kurzen Sprung und ging zu einer anderen, ebenso wichtigen Arbeit, dem Binden der Krawatte über ... Und was für eine Krawatte! Auf seinem Bette lag jener kostbare Gegenstand, der noch niemals gebraucht war, von feinster, himmelblauer Seide mit kleinen weißen Sternchen. Gabriel ergriff die Krawatte liebevoll, mit Respekt, fast mit Verehrung, und indem er sie um seinen Hals legte, schickte er sich an, den Knoten zu schlingen ... Die Krawatte, die die Farben der Unbefleckten trug und ein Geschenk seiner Mutter war gefiel ihm außerordentlich ...
Rasch war der Knoten geschlungen, mit jener Leichtigkeit, jenem unnachahmlichen Schick, der der natürlichen, echten Eleganz die ein Dichter die Eleganz der Grazien nennt, eigen ist. Gabriel betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden. Die etwas zurückgebogenen Ecken seines Kragens ließen den männlichen und doch weichen Hals sehen, dessen Weiß durch die blaue Seide seiner Krawatte noch zarter erschien.
Wenn mich meine Mutter so sehen könnte, dachte er errötend – ohne zu wissen weshalb – würde sie sagen: Wie schön! ... Und wenn meine Kameraden aus dem Kolleg mich erblickten, würden auch sie sagen: Wie elegant!
Und ohne daß seine Eigenliebe ihm damals andere Gedanken suggerierte, noch andere Ideen in ihm erweckte, drehte Gabriel sich auf dem Hacken um und sang, indem er sich die Weste anzog:
O Maria, meine Mutter,
O Trost der Sterblichen usw.
Er war glücklich! ... Er sah sich schon nach Ablegung des Bakkalaureats als Student der Universität, frei in der großen Stadt Sevilla, absoluter Herrscher in einem Hotelzimmer, im Besitz eines Kapitals von fünfundzwanzig Talern, Herr aller phantastischen Jünglingsträume, König aller rosenfarbigen Illusionen, Eroberer aller goldenen Horizonte und frei ... frei vor allen Dingen – um ausgehen zu können, wann ei wollte, und heimzukommen, wann es ihm beliebte! an allen Schaufenstern der Straße stehen zu bleiben, alle Abende Sorbet in einem eleganten Café zu schlürfen, auf dem Wege de las Delicias sich zu Pferde zu tummeln, in einem kleinen Kahn von Triano nach San Juan de Azualfarache zu rudern, den Messen in der Kathedrale, der Parade des Regiments und – ach, unsagbares Glück! – den Stierkämpfen beizuwohnen ... Und Gabriels Wünsche stiegen höher und höher wie der von seinen Ketten befreite Adler, und beschrieben ungeheure Kreise in jener bläulichen Ebene seiner Phantasie, ohne ein verborgenes Darüberhinaus zu vermuten, das den Wahlspruch seiner Unabhängigkeit: »Freiheit ohne Furcht und Genuß ohne Reue«, zerschmettern könnte. Denn die ganze große Zahl von Vergnügungen, dieses uferlose Meer von Genüssen wollte Gabriel hinnehmen, ohne daß sein Verhältnis zu Gott dadurch eine Einbuße erlitt, vor dem er eine heiligere Scheu in seiner Brust zu empfinden glaubte als je; ohne auch nur im geringsten das Mißfallen seiner Mutter zu erregen, deren Glück auch sein Glück war, ohne im geringsten gegen die Ehre seines Namens zu verstoßen, den er selbst so geehrt hatte durch Prädikate der Auszeichnung, durch Prämien für gutes Betragen, durch den Kranz, der nach einstimmiger Wahl die ganzen sechs Jahre, die er im Jesuitenkolleg zugebracht, seine Stirn geschmückt hatte ... Es war unmöglich, daß die Universität den Gabriel, der so oft von den Patres des Kollegs mit dem stolzen Namen eines »Augustus« bezeichnet worden war, in einen »Augustulus« verwandelte.
Mit welch tiefer aufrichtiger Dankbarkeit gedachte Gabriel jener guten Patres, die ihn so sehr geliebt und sich seines Seelenheils so angenommen hatten! Wie gut hatte er seine Zeit nach dem von ihnen empfangenen Lehren, zwischen Studien, Andachtsübungen und Zerstreuungen einzuteilen gewußt! Mit welch aufrichtiger Einfachheit sprach er alle Abend kniend vor dem Bilde der Unbefleckten, deren Kongregant er gewesen war und bis zu seinem Tode zu sein hoffte, die Worte: »Siehst du, meine Mutter, wie gut ich bin ... und daß der Pater Velasco sich irrt?«
Denn in der Anstalt war ein boshafter Pater, Velasco, der für Gabriel der Schatten war, der die schwarzen Umrisse der Enttäuschungen zeichnet; die Stimme des Sklaven, der dem römischen Triumphator mitten in seinen Triumphen unaufhörlich die Worte zurief »Bedenke, daß du sterblich bist!...«
Er rief ihn eines Tages in seiner Eigenschaft als Beichtvater der Anstalt in sein Zimmer und sagte, während er ihm eine Hand auf seine Schulter legte, mit zärtlicher Traurigkeit:
»Gabriel ... du bist gut und folgsam ...«
Und Gabriels hübsche Stirne erhob sich stolz und bedeckte sich mit jener Purpurröte, die unter Luzifers Stirne erglühte, als er das erstenmal mit sich selbst zufrieden war. Doch Pater Velasco hatte ihm noch mehr zu sagen.
»Aber deine Güte,« fuhr er fort, »ist Hochmut und deine Folgsamkeit hinfällig ... Dein Hochmut wird dich in Gefahr bringen und deine Schwäche wird dich darin untergehen lassen!... Fliehe die bösen Feinde, mein Sohn! Denn das Ansehen der Menschen wird dein Verderben sein ... Gabriel, denke an Pontius Pilatus ...«
Und dieses Mal senkte Gabriel die gerötete Stirne, die mit jener anderen Purpurröte übergossen war, die einst dem stolzen Engel ins Antlitz stieg, als er seine Gedanken verraten sah. Er biß sich auf die Lippen, bis das Blut hervordrang, und schritt aus Pater Velascos Zimmer mit dem festen Entschluß, niemals dahin zurückzukehren. Der Pater aber folgte ihm überallhin und ging nie an ihm vorüber, ohne ihm zuzuflüstern!
»Denke an Pilatus!«
Eines Tages gab Gabriel ihm erregt eine schroffe, respektlose Antwort: Pater Velasco aber blickte ihn nur von oben bis unten an und setzte, ohne ein Wort zu sprechen, seinen Weg fort. Es erschien Gabriel, als hätte er die Augen voller Tränen und er machte zwei Schritte auf ihn zu, um ihn um Verzeihung zu bitten; indessen hielt ihn seine verletzte Eitelkeit doch davon zurück.
»Nein ... Donnerwetter.« murmelte er und trat heftig mit dem Fuße auf, »er soll sehen, daß der kleine Pilatus standhaft bleiben kann.«
An jenem Abend konnte Gabriel keinen Schlaf finden. Nach und nach wurden die Lichter in den Schlafsälen ausgelöscht. Diese waren jetzt nur noch durch eine einzige kleine Lampe erhellt, bei deren dürftigem Schein er schützend die weißen Flügel des Engels der Scham, der mit einem Finger auf den Lippen Schweigen gebietest, zu unterscheiden glaubte ... Plötzlich hörte er, wie die Türe seines Schlafgemaches vorsichtig geöffnet wurde, er wandte die Augen ab und stellte sich schlafend. Dann sah er, wie ein Schatten sich über ihn beugte, zuerst fühlte er, daß man ihn vorsichtig zudeckte, und daß dann eine Hand das Zeichen des Kreuzes über seiner Stirn machte ... Da öffnete Gabriel halb die Augen und sah Pater Velasco neben sich ...
Ein heftiges Schluchzen stieg ihm bis in die Kehle und er wollte aufspringen, niederknien und ihn um Verzeihung bitten. Aber wieder legte sich der Hochmut auf ihn wie eine eiserne Stange, und er schloß die Augen und tat, als ob er schliefe. Pater Velasco entfernte sich seufzend.
Seit dieser Zeit nannte der kluge Pater Gabriel nie mehr »kleiner Pilatus«. Diesen seinerseits beschämte wieder die Nähe des Paters und erst an dem Tage, als er die Anstalt für immer verlassen sollte, wagte er sich in sein Zimmer. Pater Velasco empfing ihn mit jener milden und ernsten Freundlichkeit, die sein ganzes Wesen charakterisierte, umarmte ihn zärtlich und übergab ihm zum Andenken eine große Photographie in einem Kuvert, das er zweifellos vorher für ihn zurückgelegt hatte.
Gabriel riß das Papier ab, als er das Zimmer kaum verlassen hatte, und erblickte nun eine herrliche Reproduktion des großen Tizianschen Bildes, das Pilatus darstellt, wie er Christum dem gottesmörderischen Volke überantwortet. Unter die Figur des römischen Prokonsuls hatte Pater Velasco die Worte geschrieben: » Ecce homo«.
Gabriel empfand eine Zornesaufwallung, die ihm den Blick trübte; er riß die Photographie mitten durch und war im Begriff, sie durch eine geöffnete Balkontüre hinauszuwerfen ... Aber er besann sich, – das Bild enthielt die Züge des Herrn, und das wäre eine Entweihung gewesen.
Gabriel sah auf die kostbare goldene Uhr, die ihm seine Großmutter an dem Tage geschenkt hatte, als er das Diplom des Bakkalaureats erhalten hatte, und sah, daß sie halb sechs Uhr zeigte.
»Donnerwetter!« rief er erregt aus.
Und während er den Hut und den Rohrstock mit dem fein gearbeiteten Stahlrücken ergriff, den er am Abend vorher gekauft hatte, trat er zur Türe und schwang das Stöckchen in der Luft, um seine Biegsamkeit zu prüfen. Mitten auf der Treppe blieb er stehen, schlug sich vor die Stirne und sprang, zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe wieder hinauf ... er hatte zwei Dinge vergessen: erstens kleine Münze einzustecken, die er stets für die Armen bei sich trug, und dann sich aus der Perlmutterschale, die am Kopfende seines Bettes hing, mit Weihwasser zu besprengen.
Es war der 27. Mai. Gabriel ging wie alle Abend nach der Kathedrale, wo die Blumen des Mai gefeiert wurden, mit welchem poetischen Namen an manchen Orten der feierliche Kultus der unbefleckten Jungfrau während jenes Monats bezeichnet wird, den man vorzugsweise den Monat Maria nennt.
Aber bevor Gabriel in die Kathedrale trat, kam er auf den Gedanken, in der Sterpesstraße, jenem herrlichen Garten, auf und ab zu gehen, der ihm lieber war als die verzweigten Wege des Londoner Hyde-Park, des Pariser Bois de Boulogne oder der hängenden Gärten von Babylon. Doch dies war es nicht, was Gabriel zu jenem Sammelpunkt des Lebens und Treibens von Sevilla lockte, nicht das unaufhörliche Getriebe von Menschen, die Tag und Nacht aus allen Querstraßen in die berühmte Straße fluteten, wie das Blut aus allen Adern zum Herzen fließt, noch die frische, duftende Luft, die hier im Sommer durch die Zeltdächer weht, und den Vorübergehenden Schatten gewährt, noch die Verkaufsstellen für Blumen, die sich an allen Ecken befinden und balsamische Düfte verbreiten. Das, was Gabriels Aufmerksamkeit erregte, was ihn am meisten belustigte und ihn die Straße von rechts nach links zu durchkreuzen lockte, das waren – die Schaufenster der Läden; jene ungeheure Schaustellung von allem Überflüssigen – denn das Notwendige braucht man nicht auszustellen – jene glänzenden Reklameschilder, die mit Hilfe des Luxus, der Eitelkeit, ja selbst des Lasters das Portemonnaie bedrohen, nahmen stundenlang Gabriels Aufmerksamkeit in Anspruch, und es verging kein Tag, an dem er nicht all diese Schätze der Industrie und Kunst genoß, die er sich als sein eigenstes Eigentum vorstellte und die hier nur allein zu seinem Vergnügen und seiner Unterhaltung auszuliegen schienen.
Tausendmal schon hatte er Geschenke für seine Mutter, seine Schwestern, seine Großmutter, ja selbst für die Dienstmädchen ausgesucht, verworfen und wieder gewählt. An jenem Abend aber fand er in dem Eckladen der Gallegasstraße endlich einen Gegenstand, der ihn zu Ausrufen der Bewunderung und des Entzückens hinriß. Es war eine bewegliche Puppe, durch die der Künstler die Schreckgestalt des schwarzen Mannes, des großen Katers und anderer Hilfsmittel von Müttern und Ammen darstellte, welche die Phantasie der Kinder aufregen; es war ein auf einem Stuhl sitzender Alter mit fürchterlicher Miene, riesigen Brillengläsern und einem unermeßlichen Brustkasten; zwischen seinen gespreizten Beinen hielt er einen Sack voll blonder und brünetter Kinder, die er durch einen versteckten Mechanismus mit einer Riesengabel in seiner Rechten aufspießte, worauf er riesengroß den Mund öffnete und eines nach dem anderen verschluckte, um sie unterhalb des Stuhles wieder von sich zu geben. Gabriel schüttelte sich jedesmal vor Lachen, wenn irgend ein pauspäckiger Bube in dem Rachen der Puppe verschwand. In dem Gedanken an das riesige Vergnügen das dieses Wunderwerk Luis, seinem jüngsten Bruder, bereiten würde, entschloß er sich, in den Laden zu treten und jenes Spielzeug zu jedem Preise, mochte er noch so hoch sein, zu erwerben.
Aber in demselben Augenblick legte sich eine Hand auf seine Schulter und eine fröhliche und zugleich rauhe Stimme rief zwischen zwei unverfälschten Flüchen:
»Sapperlot, Gabriel!... Du in Sevilla? Teufel nochmal!«
Gabriel drehte sich um, rot wie eine Klatschrose, mit zusammengezogenen Augenbrauen und geöffnetem Mund, und sah dicht neben sich den Kopf eines ihn umarmenden Burschen, mit einem Backenbart, einem zurückgesetzten Hut, unter dem das lockig frisierte Haar zum Vorschein kam, und einem Zigarrenstummel zwischen den Zähnen. Dem Gesicht nach schien er ein Zigeuner zu sein. Seine Kleidung ließ auf einen eleganten Herrn schließen und sein ganzes Benehmen war das eines Studenten, die sich an der Universität immatrikulieren lassen und die Kollegien mit einem Fuß im Café und mit einem andern in der Kneipe besuchen.
»Hallo, Garcia!« sagte Gabriel endlich mit seinem gewinnenden Lächeln, indem er sich aus jener Umarmung, die ihn zu erdrücken drohte, zu befreien suchte. Aber Garcia dachte an jenes: »Ich liebe dich so wie du mich,« drückte Gabriel zuerst mit großer Freude weiter, gab ihm einen Schlag auf den Rücken und schrie laut:
»Was für eine Überraschung, Junge! Potztausend! Aber wann bist du denn gekommen, du Vagabund?«
»Seit Anfang dieses Monats bin ich in Sevilla,« erklärte Gabriel, Garcia beide Hände auf die Schulter legend, um zu sehen, ob es ihm gelänge, sich teilweise loszumachen.
»Und zum Teufel, was willst du in Sevilla machen?«
»Mich prüfen lassen,« erwiderte Gabriel. »Ich habe privatim zu Hause studiert und komme, um im Mai den Vorlesungen bis zum Examen beizuwohnen,«
»Sehr schön, Kerl!... Donnerwetter, Gabrielito, wie freue ich mich, dich zu sehen! Aber zum Teufel, wo hast du denn gesteckt, daß man dich bisher nicht zu sehen bekommen hat?«
»In der Universität, auf Spaziergängen, zu Hause, auf der Straße und ...«
Gabriel wollte ganz unschuldig hinzusetzen in der Kirche, aber ein unverhoffter Hustenanfall schnitt ihm das Wort ab, und leicht errötend fragte er:
»Gehst du nicht in die Universität?... Ich habe dich dort niemals gesehen ...«
»Bei den letzten Studentenkrawallen war ich im Januar zwei Tage lang da, um zu sehen, ob ich dem Professor, der mich zweimal hat durchfallen lassen, nicht einen Schlag in die Affenschnauze geben könnte.«
Gabriel riß die Augen weit auf und beschränkte sich auf die Worte:
»Was sagst du da?« ...
»Ja, so bin ich ... Im Geldverdienen ist mir manch einer voran, aber in Brutalität kriegt mich keiner unter, und wer es tut, der büßt es mir ... Ach zum Teufel ... wie man's treibt, so geht's ... Sapperlot, man muß zu leben wissen, und hier geht es einem gut, wenn man es versteht! Du wirst sehen« setzte er hinzu, indem er ihn in die Rippen stieß, »du wirst schon sehen, wie ich dich unterweisen werde und wie du dich vergnügst, wenn du erst mit drei oder vier bemoosten Häuptern bekannt wirst ... Was unternimmst du jetzt. Kerl?«
Gabriel wurde rot wie eine Tomate, blickte sich überall um, als wolle er die Flucht ergreifen, und sagte:
»Pst ... nichts ... es ist Zeit für mich zur Universität ...«
»Laß doch die Bücher, wo der Pfeffer wächst!« erwiderte Garcia, ihm den Arm um den Hals legend ... »Komm mit mir nach Tabladas, wir wollen uns die Stiere für morgen ansehen.«
»Aber ist denn morgen ein Stierkampf?« fragte Gabriel.
»Wo lebst du denn eigentlich. Mensch? Lagartijo und Frascuelo kämpfen, und die Stiere sind aus Saltillo ... Komm, wir wollen nach Tabladas ...«
Und bei diesen Worten schleppte er den widerstrebenden Gabriel bis zu dem Platz von San Francisco.
»Ich kann nicht. Mensch ... ich kann nicht.« ... sagte Gabriel, sich frei machend, »ich muß studieren ...«
»Laß die einfältigen Bücher – zum Kuckuck! Es haben schon genug Justiniane und Triboniane studiert, um ihre Nächsten zu quälen. Warum sind sie nicht an den Pocken umgekommen, solange sie klein waren ... Komm, Kerl, wir wollen gehen. Um acht Uhr sind wir wieder zurück!«
Gabriel war es endlich gelungen, sich von seinem Freund loszumachen; im Begriff fortzugehen, sagte er, feuerrot im Gesicht und fast mit Tränen in den Augen:
»Ich kann nicht, Mensch, ich kann nicht ... Ich sage dir, daß ich nicht kann!«
»Aber, Kerl!« rief Garcia aus und hielt ihn an dem Rockschoß fest. »Fürchtest du, daß dich ein Bösewicht ködern will ... oder hast du etwas dagegen, mit mir zu gehen?«
»Nein, nein,« rief Gabriel immer ängstlicher, »wenn du das so auffaßt, zwingst du mich ja geradezu, mit dir zu gehen.«
»Natürlich fasse ich das so auf. Wenn man einen Freund so verleugnet. Junge, muß doch ein Grund vorliegen.«
»Nun, wenn du glaubst, daß ich dich verleugnen will, wollen wir gehen,« sagte Gabriel mit gesenktem Haupt.
Und verstimmt, wütend, ärgerlich auf sich selbst und auf Garcia, folgte er diesem und hielt innerlich eines jener Zwiegespräche, die die Leidenschaft öfter mit der mysteriösen Stimme hält, die sich im Innern des Menschen regt, so deutlich, so unerbittlich, so spöttisch, oft so grausam und stets so berechtigt! ...
»Ich werde gehen müssen,« sagte sich Gabriel, »was würde dieser Dummkopf sagen, wenn ich nicht ginge? ... Daß ich eine feige Memme oder ein hochmütiger Mensch bin ...«
Und die geheime Stimme antwortete ihm mit einer gewissen Ironie:
»Laß den Kerl sagen, was er will, deine gute, heilige Mutter wird sagen, daß du ein tapferer, guter Student bist«
»Und außerdem,« fuhr Gabriel fort, indem er den Tauben spielte, »tue ich ja nichts Schlechtes, wenn ich nach Tabladas gehe,«
»Nichts,« antwortete die Stimme, »absolut nichts, ... aber im Monat Maria sollst du nicht gehen.«
»Ach, der Monat Maria ist nicht obligatorisch ... Und wenn ich an einem Nachmittag fehle, kann ich ja zu Hause die Andacht nachholen.«
Gabriel hatte im Grunde recht, und die Stimme schwieg, aber sie schwieg seufzend.
Die beiden Freunde wandten sich nun nach dem Platze San Francisco, um sogleich einen Wagen zu besteigen, der sie nach Tabladas führen sollte, der berühmten Wiese, wo die Stiere ausgestellt werden, damit die Interessenten sie einen Tag vorher prüfen können. Gabriel wollte einen geschlossenen Wagen nehmen, aber Garcia zog einen geöffneten, eine sogenannte Viktoria vor, und das schwerfällige Gefährt rollte an der Kathedrale vorüber nach Tabladas. Die große Kirchentüre stand offen, im Hintergrunde sah man zur Linken das große Bild des Gekreuzigten mit einem Purpurmantel, seiner Dornenkrone, seinem Rohr in der Hand und seinem demütig und geduldig gesenkten Haupte ...
Gabriel war im Begriff, in frommer Ehrfurcht sein Haupt zu entblößen, als Garcia plötzlich ein lautes Gelächter ausstieß und, auf die Kolossalgestalt des heiligen Petrus deutend, seinem Freunde die bekannte Lüge erzählte, wie Petrus eine alte Frau dadurch getötet hätte, daß er den Schlüssel, den er in der Hand hielt, auf sie fallen ließ. Gabriels Hand blieb in der Luft, ohne daß er sein Haupt entblößte, seine Augen begegneten jenen des Gekreuzigten, und es war gleichsam, als ob jene bleichen Lippen wie im Kolleg der Pater Velasco zu ihm sprächen:
»Junger Pilatus ... Denke an Pilatus!«
Seitdem aus den spanischen Universitäten der nivellierende Mantel und der mehr oder weniger fettige Dreimaster verschwunden sind, riß auch das Band, das die Studentenschaft zusammengehalten und sie zu einer einheitlichen Körperschaft gemacht hatte. Die Studenten von heute haben keine anderen gemeinsamen Züge als die, welche durch die Gleichheit der Herkunft, der Erziehung oder der Klasse bedingt werden. Heute wie damals gründen sie Verbindungen, die unabhängig von einander sind, deren Einheit nur auf einer jener der oben erwähnten Umstände und nicht auf dem traditionellen Geist der Gemeinschaft begründet ist. Zuweilen eint der revolutionäre Ansteckungsstoff der Zeit diese verschiedenen Geister während der Wirren eines Aufruhrs, oder zur Unterzeichnung eines Protestes, aber auch dann erscheinen sie uneinig und mehr als je durch politische Meinungen, dem fruchtbarsten Keimstoff für hartnäckige Antipathien und eingefleischten Haß, entfremdet. Es gibt aristokratische Studenten, bescheidene Studenten, hergelaufene Studenten. Der vagabondierende Student ist eine Pflanze, die keimt, wächst und ebenso in dem aristokratischen Kasino wie in dem bescheidenen Café und in der gewöhnlichen Schenke wuchert.
Zu dem Kreis der vagabondierenden Studenten nun gehört auch Blas Garcia. Er war einer jener Schüler der Themis, die ihre Wirtin nicht bezahlen, die damit anfangen, ihre Bücher verkaufen, und damit enden, daß sie ihren Mantel in das Pfandhaus tragen ... Gassenläufer, Bummler, Hasardspieler, die sich für erfahrene Menschen halten und nicht anderes sind als ruchlose Gesellen. Er war ein Landsmann Gabriels und hatte acht Semester in Sevilla studiert, von denen ihm aber, wie er selbst sagte, nur zwei angerechnet werden konnten. Sein Vater betrieb einen kleinen Tuchhandel im Erdgeschoß des altererbten Hauses von Gabriels Eltern, und daher stammte die Bekanntschaft der beiden. Blas hatte stets zu seinem Nachbar aufgeblickt, indes niemals mit ihm verkehrt; aber die Entfernung von der Heimat verkürzt die Abstände und erweicht die Herzen, und als er seinen Landsmann in der Sierpesstraße traf, umarmte er ihn mit aufrichtiger Zuneigung, bereit, sich als Mentor jenes unerfahrenen Telemach aufzuwerfen, die Taschen jenes vorsichtigen Krösus zu untersuchen und sich mit seiner vornehmen Bekanntschaft zu brüsten. Diese Art Studenten, die stets demokratisch sind, lassen niemals die Gelegenheit vorübergehen, auf die Verbindungen oder Freundschaften anzuspielen, die ihnen einen aristokratischen Anstrich verleihen könnten.
Das war auch der Grund, warum Blas einen offenen Wagen wählte. In die Polster zurückgelehnt, blickte er jetzt mit jener hochmütigen und deshalb lächerlichen Miene eines Menschen, der nicht an seinem Platze ist und dies um jeden Preis verbergen möchte, überall um sich, als ob er sagen wollte: »Seht ihr mich denn nicht mit Gabriel Fonseca, dem Sohn des Majoratsherrn, dem Neffen dreier Grafen, dem Vetter zweier Herzöge und dem Patenkind eines Bischofs?«
Gabriel hingegen, der trotz seiner Unschuld jene Eitelkeit besaß, die man bei heranwachsenden jungen Menschen häufig findet, lehnte sich in die andere Ecke des Wagens zurück und richtete den Blick in das Innere des Wagens in der Annahme, daß er, da er nicht sah, auch nicht gesehen wurde, nach der Art des Vogels Strauß, der den Kopf unter die Flügel steckt und meint, der Jäger sähe ihn nicht, weil er den Jäger nicht sieht; ein seltsamer Berührungspunkt und nicht der einzige, den man zwischen dem Menschen und dem Strauß findet. Gabriel schämte sich seines Begleiters, nicht so sehr um dessentwillen, was er war, sondern um dessentwillen, was er schien, und befand sich alsbald in dem quälenden Zwiespalt: was wird Blas sagen, und was werden die Leute sagen, wenn sie mich in dieser Gesellschaft sehen?
Zum Unglück für den einen, zum Glück für den andern promenierte die elegante Welt noch nicht in den Equipagen am Ufer des Flusses, die Delicias waren noch leer, und die beiden Freunde fuhren nun hier, wo der eine sich zeigen, der andere sich verbergen wollte; sie trafen nur ein paar Gecken zu Pferde und ein paar Mietkutschen, von Krethi und Plethi benützt, die nach den Feldern von Tabladas hinausfuhren, um die Stiere anzusehen, die am folgenden Morgen in den Kampf gehen sollten.
In der Bucht, die der Guadalquivir bildet, gleich hinter den Delicias von Argona, beginnen die Tabladasschen Felder, grüne Wiesen, vom Fluß bewässert, von den Orangenbäumen der nahen Obstgärten durchduftet, und durch die obenerwähnte Sitte berühmt geworden. Hier wurden die Stiere zur Schau gestellt, die am nächsten Tage zu kämpfen hatten und hier vom Abend vor dem Kampf bis zur aufgehenden Sonne verblieben, um dann bei Tagesanbruch auf den Platz geführt, das heißt in die Ställe gesperrt zu werden.
Hierher eilten die Stierkämpfer mit ihrem Anhang, bei denen der Titel eines Granden von Kastilien mit dem eines Stierkämpfers abwechselt, um die Tiere zu prüfen, über ihre Eigenschaften zu sprechen und ihre Chancen vorauszusagen: die Fußkämpfer, beim Stierkampf kleine Satelliten, die ebensowenig der kleinen Trabanten entbehren: Kaldaunenhändler, Spitzbuben und Landstreicher, die das bunte Bild vervollständigen; Laien, Viehhändler, elegante Rowdies, kleine Zollbeamte aus Macarena, die Stutzer von Triano und die ganze Schar von Menschen, die Freude an Spiel und Tieren haben.
Als Gabriel und Garcia Tablados erreichten, bildete ein Wall von Equipagen, Reitern und Fußgängern einen großen Halbkreis, dessen Durchmesser der Fluß war. In der Mitte, in respektvoller Entfernung umringt von Seilen und Viehtreibern zu Fuß und Pferde, standen sieben herrliche Stiere, sechs kampfbereit und einer in Reserve. Die wilden Bestien grasten ruhig, ohne zu ahnen, daß ihre letzte Stunde so nahe wäre. Manchmal hob einer stolz den furchtbaren, mit einer buschigen Mähne versehenen Kopf, heftete die wilden Augen auf die Menge Neugieriger und peitschte sich die Weichen mit dem Schwanz.
Das malerische Schauspiel entzückte Gabriel; indem er im Wagen stand, mit beiden Händen auf seinen eleganten Spazierstock gestützt, glitten seine entzückten Blicke von den Stieren zu den Viehtreibern und von diesen zu der Menge, und richtete unaufhörlich Fragen an seinen Freund, die dieser mit der Fähigkeit eines Meisters und mit einer Fertigkeit zu beantworten sich beeilte, wie er sie augenscheinlich in der edlen Wissenschaft der Jurisprudenz nicht besaß. Er erklärte ihm alle ihm noch unbekannten Ausdrücke; er zeigte ihm, ohne zu schwanken, denjenigen Stier, der durch sein kampflustiges Benehmen die meisten Aussichten für ein interessantes Schauspiel bot, und prophezeite, welcher im Kampf versagen würde. Darauf zeigte er ihm einige hervorragende Stierkämpfer, die anwesend waren, und mit denen er, wie er sagte, eng befreundet war und viel im Kaiser-Café und bei dem Andalusier verkehrte.
Plötzlich stieß Garcia einen seiner Lieblingsflüche aus und rief, aus dem Wagen springend:
»Sapperlot, da ist Desperdicios! ... Ich will ihn holen und dann kann er mit uns nach Sevilla gehen ...«
Gabriel machte eine abwehrende Bewegung und wollte Garcia zurückhalten, aber dieser antwortete ihm, wahrend er davoneilte:
»Sapperlot! Kerl, Teufel noch einmal! Ja, es ist ja doch Frasquito Mimoz, der Banderillo des Gordito ... Du wirst schon sehen, wenn er herankommt... Du paßt ja gar nicht auf, Mensch, zum Donnerwetter!«
Der instinktive Widerwille, den der Name Desperdicios in Gabriel erweckte, wurde teilweise abgeschwächt durch die Nachricht, daß er einer jener Helden war, die er unter dem jubelnden Beifall der Menge, leichtfüßig und in seidene, goldgestickte Gewänder gehüllt, den Platz überschreiten sah. Bei dem Gedanken daran, daß er den Helden in der Nähe sehen, ihm die Hand drücken und mit ihm sprechen würde – o große Macht des Stierkämpferhutes und des Zöpfchens! – schlug sein Herz höher auf.
Etwas, das den edlen Stolz des spanischen Adeligen weckte, etwas, das sich mit der Erinnerung an seine Mutter einte und in seiner Seele den Klang der Orgel und den Duft des Weihrauches hervorrief, wurde so mächtig in Gabriel, daß er, ganz überwältigt davon, einen Augenblick daran dachte, sich zu entfernen. Aber wie sollte er nach Sevilla zurückkommen. wenn er jetzt den Wagen verlieh, was würde Blas sagen, wenn er sich auf solche Weise von ihm trennte?
Gabriel wehrte sich gegen das, was er seine Schüchternheit und Skrupel nannte, und die Bedenken zurückdrängend, sagte er sich: Aber vielleicht ist es weder eine schwere noch eine leichte Sünde, mit einem Stierkämpfer zu sprechen ... oder ihm die Hand zu drücken, weil er Banderillas beibringt ...
Gleich darauf kam Garcia mit einem kleinen Mann von ungefähr dreißig Jahren zurück; dieser trug festanliegende Beinkleider, eine rotwollene Schärpe, ein kurzgeschnittenes graues Jäckchen mit schwarzer Tresse besetzt und einen großen, runden Hut mit breiter und durch hölzerne Pfeile aufgespreizter Krempe. Sein Kinn war glatt rasiert, große Koteletten liefen an seinen beiden Schläfen herab, die beiden Seiten des Hutes verbargen einen geflochtenen Stierkämpferzopf. Im linken Mundwinkel hielt er beständig eine brennende Zigarre, dabei spuckte er stets nach rechts durch seine spärlichen, schmutzigen Zähne. Diese Persönlichkeit war Frasquito Mimoz alias Desperdicios, der ebensogut ein Seeräuber, ein Gehilfe im Schlachthaus oder ein Rekrut der Garnison hätte sein können, denn weit davon entfernt, einer jener Stierkämpfer von Ruf zu sein, für den ihn Garcia ausgab und die stets und überall großartig und freigebig auftreten, war er ein Gehilfe vierten oder fünften Ranges, ein groteskes Zerrbild des ersteren. Im Café und im Kreise von Bewunderern von der Sorte eines Garcia prahlte er mit verblüffenden Lügen über seine Heldentaten, die lediglich nur darin bestanden, daß er die Banderillas denen darreichte, die sie bei den Kämpfen einzustoßen hatten: er selbst betrat niemals die Mitte des Platzes, wenn der Stier nicht angekoppelt war: zuweilen steckte er in die jungen Stiere ein paar befiederte Pfeile, einen in den Unterkiefer, den andern in den Schwanz, und, auf kleinen Dörfern zum Helden geworden, nahm er dann das Tuch und den Stockdegen und griff das Tier an, bis es sich, von den Stichen lebensmüde, das Eisen eintrieb und sich so selbst den Tod gab. während der andere sich für seinen Mörder hielt.
Garcia stellte Gabriel den Helden zeremoniell vor. Gabriel lüftete errötend den Hut, streckte ihm die Hand hin und blieb mit geöffnetem Munde vor ihm stehen, denn er wußte nicht, ob er ihn Frasquito oder Mimoz oder schlechtweg Desperdicios oder Herr von Desperdicios nennen sollte. Dieser hingegen legte die Hand flüchtig an den Hut, spuckte zweimal aus, stieg würdevoll in den Wagen und setzte sich mit den Worten:
»Zu dienen, mein Freund!«
Gabriel ließ sich an seiner Seite nieder, und Garcia richtete sich, so gut es ging, auf dem schmalen Rücksitz ein. Der Kutscher schlug nun den Weg nach Sevilla ein und Desperdicios nahm das Wort, um sein kritisches Urteil über die Stiere und die Stierkämpfer abzugeben – die, nach seiner Ansicht, eine Horde Landstreicher waren, niedliche Toreros, die sich vor den Tieren fürchten und höchstens im Café den Helden herauszukehren verstehen.
»Seitdem Cuchares tot ist,« sagte er, »hat man aufgehört, den Zopf zu tragen; das war ein echter Stierkämpfer. Donnerwetter! Aber seine Beine verstand er nicht zu gebrauchen.«
Garcia horchte auf, als hörte er einen Orakelspruch und stimmte in seine Rede ein. und Gabriel hörte gleichfalls zu, schwieg aber, denn was sollte er dazu sagen?
Der Wagen hielt, als die Nacht schon hereingebrochen war, am Eingang der Ciervesstraße. Die drei steckten die Hand in die Tasche, um den Kutscher zu bezahlen, aber Garcia zog, so emsig er auch suchte, die Hand wieder leer hervor, und Desperdicios kam zu der Überzeugung, nachdem er alle seine Taschen durchsucht hatte, daß er kein kleines Geld hatte.
Also bezahlte Gabriel den Kutscher und wollte sich dann zurückziehen; aber Desperdicios, der in bezug auf Noblesse nicht übertroffen werden wollte, schlug ihm auf die Schulter und sagte:
»Donnerwetter, wenn Sie schon hier den Kutscher bezahlen, so sollen Sie wenigstens im Café noch ein Glas mit uns trinken ... wir wollen nicht schmarotzen bei Ihnen.«
Gabriel wies das zarte Anerbieten errötend zurück, aber Desperdicios beharrte darauf, und Garcia bat ihn inständig, bis Gabriel, gegen seinen Willen, verlegen und mit gesenktem Kopf den beiden Freunden ins Café folgte.
Denn was hätte sonst wohl der Herr von Desperdicios gesagt?
Das Kaiser-Café lag auf der rechten Seite der Sierpesstraße am Platze San Francisco. Es war zu jener Zeit, von der wir sprechen, ein geräumiges, aber niedriges, mit geschmacklosem, überladenem Luxus ausgestattetes Lokal, ganz übereinstimmend mit seiner gewöhnlichen Kundschaft, Leuten aus den niederen Ständen.
Die Aufregung über die Stierkämpfe macht sich in Sevilla schon am Abend vorher geltend und die Anzeigen der Kampfe kann man. ohne auf die Maueranschläge zu sehen, in den Straßen auf allen Gesichtern lesen. Das Café war gepfropft voll; es herrschte dort jene Lebhaftigkeit, jene geräuschvolle Freude, die eine Begleiterin sinnlicher Genüsse ist und sich von der ruhigen Gelassenheit, von dem Lächeln, das die tiefempfundenen reinen Freuden begleitet, so deutlich unterscheidet
Gabriel betrat das Café, indem er sowohl Desperdicios verleugnete, der mit prahlerischer Miene zwischen den Tischen umherging und auf den mit weißen Fliesen bedeckten Fußboden mit seinem derben Stock aufstieß, wie auch Blas, der sich auf der Höhe seines Ruhmes dünkte, da er sich zwischen seinem vornehmen Landsmann Gabriel und seinem berühmten Freunde Desperdicios bewegen durfte. Sie wurden von einem Tisch aus, an dem es sich mehrere Studenten vom Schlage Garcias schon bequem gemacht hatten, angerufen und setzten sich zu ihnen. Blas stellte ihnen Gabriel vor als seinen intimen Freund, erwähnte heimlich seinen Reichtum, seine Herkunft und die innige Freundschaft, die ihn mit jener vornehmen Familie verband, die ihm die Obhut über ihren Sprößling anvertraut hatte. Die Studenten empfingen Gabriel mit der derben Fröhlichkeit, die die Leute, denen cs an Zartgefühl fehlt, Herzlichkeit nennen, und unser Held, der durch seine Erziehung, seinen Charakter und sein Temperament allem Niederen und Gewöhnlichen abhold war, fühlte sich hier wie ein Hahn auf einem fremden Hühnerhof, errötete bei jedem Wort und sprach selbst nicht ein einziges. Zwei- bis dreimal hatte Garcia ihn am Rockschoß gezerrt und ihm zugeflüstert:
»Donnerwetter, Gabriel! ... Wach mal auf! Teufel noch einmal ... laß deine Feinheit, du bist hier unter Männern!«
So zwang sich der arme Gabriel dazu, sich mit seinen Gefährten auf eine Stufe zu stellen, und ließ dadurch die ungeheure Kluft, die sie trennte, nur noch deutlicher erkennen, denn für die Leute vom Schlage Garcias war schon jeder sein, der sich nicht reckte, die Beine von sich streckte und durch Schimpfen und Fluchen seinem Herzen Luft machte. Ein Zwischenfall verschlechterte die Lage des armen Burschen nur noch mehr. Desperdicios nahm kleingeschnittenen Tabak aus einem ledernen Beutel und ließ ihn im Kreise der Freunde von Hand zu Hand gehen. Gabriel überreichte ihn seinem Nachbar und erklärte, daß er nicht rauche.
»Was, Donnerwetter, du rauchst nicht?« rief Garcia aus, ihm einen Basiliskenblick zuwerfend.
Und nachdem er ihm rasch eine dicke Zigarre gedreht, steckte er sie ihm zwischen die Lippen mit den inhaltsschweren Worten:
»Sapperlot ... Ein Mann muß nach Tabak riechen und sich für Pferde interessieren.«
Gabriel versengte sich die Nase beim Anzünden, verschluckte den Rauch und fing schließlich an heftig zu husten, wobei er die glühende Asche auf Desperdicios Hand fallen ließ. Dieser stieß einen Fluch aus. Die anderen schüttelten sich vor Lachen, und der Stierkämpfer, der Gabriel wütend ansah, steckte seinen Tabaksbeutel in die Tasche und sagte laut:
»Frecher Kiebitz!«
Aber ein noch größerer Kummer harrte Gabriel; einer der Studenten zog zwei unanständige Photographien hervor, die er soeben von einem Streichholz- und Zeitungshändler, der sie schamlos feilbot, gekauft hatte, und die Unterhaltung wurde hierauf so zynisch, so ekelhaft, daß Gabriel wohl einsah, wie nötig es wäre, entweder jenen Lumpen Schweigen zu gebieten oder die Gesellschaft zu verlassen. Aber sowohl zu dem einen wie zu dem anderen fehlte ihm die Willenskraft. Er senkte die Augen, schloß die Ohren und erhob in seinem Innern sein Herz zu Gott... Aber er fürchtete den Spott, fürchtete das Gelächter, vielleicht die Frechheit des Possenreißers und rührte sich nicht von seinem Platz. Das Gewissen schlug ihm zwar energisch, gewaltig und drohend, aber Gabriel schloß einen Pakt mit ihm, indem er ängstlich in Gedanken sagte: Später, mein Gott! ... Jetzt – jetzt nicht, damit sie mich nicht auslachen ... Später ... werde ich gehen, aber unbemerkt ...
Dieser Kampf Gabriels blieb den Studenten nicht verborgen und sie blickten sich boshaft lächelnd an. Garcia kam ihm zu Hilfe, er sprach mit Desperdicios von den Stierkämpfen. Die Großtuerei und Lügen des Stierkämpfers erregten bald darauf die allgemeine Aufmerksamkeit und Gabriel atmete erleichtert auf. Nach und nach belebte sich die Unterhaltung und die Gesellschaft teilte sich in zwei Parteien, die einen Anhänger von Lagaritjo, die anderen von Courrito Cuchares, mit Desperdicios, dessen Schüler, an der Spitze.
»Rafae ist kein guter Stierkämpfer mehr,« schrie Desperdicios.
»Rafae ist ein famoser Torero.« schrie sein Gegner noch lauter: »Wann hast du jemals bei Currito zehn Minuten langes Wedeln uns bei Rafae in Cordoba gesehen, bei Triguitos Unfall? ...«
»Das sind Faseleien,« entgegnete Desperdicios. »Wenn man mit Stieren kämpfen will, muß man sich nicht an den Schwanz des Stieres stellen. Wer mich nicht gesehen hat vor einem gewaltigen Stier mit dem Stoßdegen in der Hand, wie es in Argecira mit einem Stier von Veraguas der Fall war .... Das war famos! Donnerwetter ... Dreimal warf ich den Mantel über ihn und dann stieß ich ihm den Speer hinein und zog ihn heraus und das Vieh fiel und die Zuschauer jauchzten ... Das nenn' ich Gefahr! ... Man warf mir Hüte zu und Zigarren und Trauben und Stühle und Bretter und ...«
»Und als sie nichts mehr zum Werfen hatten ... zog einer eine Pistole heraus und gab einen Schuß ab,« ... unterbrach ihn trocken der Anhänger von Lagartijo.
Diese Äußerung wirkte wie ein kaltes Bad auf den Enthusiasmus des Stierkämpfers und rief allgemeines Gelächter hervor. Empört rollte Desperdicios seine Glotzaugen, und sich auf Gabriel, den Schmächtigsten unter ihnen, stürzend, sagte er zu ihm mit der Gebärde wie: na, du kannst dein Testament machen:
»Sagen Sie mir mal, mein Bürschchen, habe ich etwas Affiges im Gesicht oder komme ich Ihnen sonstwie lächerlich vor?«
Das Lächeln erstarb auf Gabriels Lippen, das Blut drang ihm ins Gesicht und mechanisch wandte er seine Augen Garcia zu; aber unglücklicherweise sprach dieser gerade zwei Schritte davon mit einem Kaffeekellner und so antwortete der arme Bursche stotternd:
»Lieber Freund ... ich! .. es lachen doch alle.«
Desperdicios zog sich den Hut ins Gesicht, stützte seinen Ellenbogen auf den Tisch und eine Hand in die Hüfte, blickte Gabriel starr an und sagte zu ihm, nach rechts und links ausspuckend:
»Wenn auch alle lachen, ich bitte mir aus, daß Sie ernst bleiben! Verstanden?«
Gabriels Verwirrung hatte sich bis aufs äußerste gesteigert, und ohne zu wissen, was er antworten oder tun sollte, richtete er einen flehenden Blick auf seinen Freund und rief ängstlich:
Aber noch bevor dieser ihm noch zu Hilfe kommen konnte, änderte Desperdicios seinen Ton und seine Gebärde, legte Gabriel eine Hand auf den Kopf und sagte mit weicher Stimme und grotesker Augenverdrehung:
»Ach, liebe Mama... erschrecken Sie nur nicht. Es will einer Ihrem Kinde etwas tun!«
Gabriel war in seinen Stuhl zurückgesunken ... er wurde bleich wie Wachs ... dann rot wie eine Granate ... Plötzlich sprang er auf, hochaufgerichtet wie ein wildes Tier und warf dem Stierkämpfer die Tasse ins Gesicht, die er vor sich stehen hatte:
»Kanaille!« schrie er. »was denkst du dir?«
Und seine Lippen ... jene reinen Lippen, die so oft zu Maria, der Unbefleckten, gebetet hatten, befleckten sich zum erstenmal mit einem unreinen Wort...
Darauf folgte ein Augenblick der allgemeinen Verwirrung. Garcia stürzte sofort hinzu: einige Studenten hielten Gabriel zurück, der, vor Wut schnaubend, sich in einen Stuhl fallen ließ und Teller und Tassen gegen den Marmortisch schleuderte ... Desperdicos blieb wie angenagelt auf seinem Stuhl sitzen, bleich wie ein Sterbender. Das Lamm hatte sich in einen Löwen verwandelt und der Kiebitz zeigte die Klauen und den Schnabel eines Adlers.
»Ach. das war ja nur Spaß!« sagte er, Gabriel die Hand hinstreckend. Der aber stieß ihn wütend mit der Faust zurück. Da schrie Garcia:
»Gabriel! Donnerwetter! Es war ja nichts! Sapperlot! Wir sind alle Freunde!... He, Kellner! Bringen Sie Gläser, Manzanilla und Kuchen. Das ist ein Ärger, der sich mit Wein fortspülen läßt! He, Kerle! Kommt, laßt uns spielen, trinken, lustig sein!«
Nach und nach beruhigte sich Gabriel. Der Kellner brachte Pasteten, Gläser, Manzanilla, und alle bemühten sich, den Beleidigten zu beruhigen, der, ohne mit den Wimpern zu zucken, Wein trank, so oft man ihm einschenkte. Das Feuer des Weines stellte den Frieden wieder her; Gabriel trank Desperdicios zu und dieser wieder Gabriel und alle klatschten Beifall und schrien laut, indem einer den andern übertönte.
»Spielen wollen wir, spielen!« brüllte Garcia, als die Freude ihren Höhepunkt erreicht hatte ... »Meine Herren, wo können wir ein Spielchen machen?«
Sie berieten eifrigst; der Tabaksbeutel Desperdicios machte oft die Runde wie unter den Rothäuten die Friedenspfeife.
»Im Hause von Donna Joaquina!« rief eine energische Stimme.
Gabriel fragte Garcia leise, wer jene Dame wäre. Dieser schwankte einen Augenblick und sagte einfach:
»Es ist eine Witwe, die Gesellschaften gibt ... Du wirst sehen, wie lustig es dort ist...«
»Gehen wir,« rief Gabriel. Er erhob sich wie unter dem Einfluß des Weines und der Erregung als erster, warf ein Fünftalerstück auf den Tisch, um die Zeche zu bezahlen, und wandte sich murmelnd zur Türe:
»Ich gehe ... ich gehe... und wenn es eine lustige Gesellschaft ist, will ich mitgehen und wenn ich mich auch die ganze Nacht langweilen sollte. Oho, man soll mich nicht noch einmal für einen Schwächling halten ... für einen...«
Und vor Wut blieben ihm die Worte im Halse stecken, und um jene gewichtige innere Stimme zum Schweigen zu bringen, sagte er zu sich selbst: darf man denn nicht mit Leuten niederen Standes umgehen, ohne Gott zu beleidigen?
Die Gesellschaft machte sich auf den Weg, stieß die Vorübergehenden an, trat in verschiedene Läden und ging wieder heraus, indem sie die Straße mit ihrem Geschrei erfüllte und an schon geschlossene Türen klopfte. Endlich kamen sie in eine kleine Sackgasse und machten halt vor einem verfallenen Häuschen, dessen traditioneller sevillanischer Vorflur mit einem schmutzigen, rot und weiß gestreiften Vorhang verhüllt war. Die Tür öffnete sich wie von selbst, eine Alte hob den Vorhang, und Gabriel konnte dahinter verschiedene buntgekleidete Frauen entdecken, die rauchend im Hofe saßen. Die Alte öffnete die Türe von innen und sagte mit leiser Stimme:
»Nur herein, meine Kinder! ...« Und so traten sie ein, alle! ... Alle außer Gabriels Schutzengel, der, das Gesicht mit seinen Flügeln verhüllend, an der Türe stehen blieb.
Sevilla, die schöne Andalusierin, die sich im Guadalquivir wäscht und von Orangenbäumen durchduftet ist, ist ein armes, lustiges, vielleicht etwas verrücktes Mädchen, das noch immer nicht vergessen kann, daß es von frommen Eltern abstammt. Selbst in den Tagen, du sie mit halblangem Rock zu den Stierkämpfen geht, mit spitzen Stiefeln, dem Spitzentuch und dem Schildpattkamm, wecken sie Hunderte von Glocken, um sie vor Beginn des Tages zur Messe zu rufen.
Wie fröhlich, wie hell klingt das Echo des Weltalls für den, der ruhigen Gewissens den Frieden sucht und auf den liebevollen Klang: Komm, komm! lächelnd erwidert: Ich komme, ich komme!... Wie feierlich, wie erhaben, wie voll von Versprechungen klingt dieser Ruf an das Ohr dessen, der sich losreißt aus der Schlaflosigkeit des Kummers, der seine Tränen trocknet, um jener Stimme zu folgen, die da ruft: Hoffe, hoffe!... Wie schrecklich, wie entsetzlich, wie voll von Drohungen, ein Widerhall des befleckten Gewissens für den, der sich die Ohren zuhält, um nicht zu hören und zu sehen und doch die metallische Stimme hört: fürchte mich!
So sollten auch jene feierlichen Klänge in den Ohren dreier Männer widerhallen, die mit dem hereinbrechenden Tage bei dem bleichen Licht der Morgendämmerung um die Ecke eines Sackgäßchens bogen, um schweigend den Weg nach dem Platz der Stierkämpfe einzuschlagen.
Der eine war Desperdicios, der zweite Garcia und der dritte Gabriel! ... Aber kein froh lächelnder Gabriel mit der blau und weißen Krawatte, den Farben der Unbefleckten, sondern ein bleicher Gabriel, mit geröteten Augen, kopfhängerisch, mit den Händen in den Hosentaschen und hochgeklapptem Kragen. denn ihn fror, es fror ihn an Körper und Seele.
Das fahle Licht der Dämmerung fing schon an seine Leichenfarbe zu verbreiten und überraschte in den einsamen Straßen die Hunde, die in den Kehrichthaufen ihr Futter suchten, und jene fremdartigen Geschöpfe jeden Alters und Geschlechts, Typen, die am Tage unsichtbar sind, die in großen Städten nur zu Nacht aus ihren Spelunken hervorkriechen und sich dann, wie kleine Raubtiere, beim ersten Strahl der Morgensonne wieder dahin zurückziehen.
Trotz der frühen Stunde standen die Kuchenbäcker vom Tore de Triana schon in ihren Buden an den Eingängen des Stierkämpferplatzes und verabfolgten beim Schein einer Blechlaterne die herkömmlichen Kuchen und die Gläser mit Anisett an die zahllosen Gruppen von Menschen aus der Umgegend, die herbeiströmten, um dem Einsperren und dem Kampf des Branntweinstieres beizuwohnen. Diese in anderen großen Städten Andalusiens gewöhnliche Sitte ist in Sevilla nicht immer üblich: man hat sich daran gewöhnt, die Einsperrung der Stiere um Mitternacht und bei verschlossenen Türen vorzunehmen, und der traditionelle Stier, Branntweinstier genannt, weil während seines Kampfes, dem jeder beiwohnen kann, der die vier Heller Eintrittsgeld bezahlt, so viel verschwendet und getrunken wird, ist abgeschafft.
Der Platz bot in seinem Innern nicht jenen malerischen Anblick, den das Publikum bei den Stierkämpfen durch bunte Farben, Erregung, Luxus, Grazie, Leben und Bewegung zu bieten pflegt. Man sah im Gegenteil eine Menge Männer und Frauen des gemeinsten Pöbels, der alle Plätze vom Amphitheater bis zu den Logen mit jenem fürchterlichen Geschrei erfüllte, das auch am Nachmittag ertönt, das aber jetzt um vieles kreischender und greller erklang. Hunderte von Verkäufern gingen überall herum mit einem kleinen, fettigen, schmutzigen Gefäß und einer grünen Branntweinflasche, die sie mit den Worten anboten: »Wer hält es mit dem Stierkämpfer?« ... Eine bedeutsame Frage, auf welche der Inhalt der Flasche der imstande ist, Mut einzuflößen, jedem eine Antwort erteilt, der sie an die Lippen bringt.
Gabriel und seine beiden Begleiter hatten sich einen Sperrsitz dicht hinter den Planken genommen. Ein Branntweinverkäufer kam hier mit seiner grünen Flasche vorbei! Desperdicios rief ihn an und sagte zu seinen Freunden:
»He, Kameraden! Wir wollen den Kater töten.«
Und als ob der Kater, den sie im Magen hatten, eine Boaschlange wäre, goß jeder von ihnen drei Gläser hinunter, Desperdicios in einem Zuge, Garcia schnitt Gesichter und Gabriel suchte mit geschlossenen Augen die heftige Übelkeit, die dieses Getränk ihm verursachte, zu überwinden, als wolle er damit auch eine innere Herzensangst hinunterwürgen, die ihm die Brust beklemmte.
In demselben Augenblick fingen die Guindillas an hin und her zu laufen, um ganz rasch Platz zu schaffen; zugleich wurden die beiden großen Tore weit geöffnet, die, einander gegenüberliegend, den Eingang zur Arena bildeten und von denen das eine unter der Loge des Bürgermeisters und das andere an der Seite der Ställe gelegen war. Tiefstes Schweigen herrschte jetzt und aller Blicke wandten sich auf die Eingangstüre unterhalb der Bürgermeisterloge: zuerst vernahm man ein fernes Geschrei, dann die Schellen der Halter, die aus der Ferne zu hören waren, und zwei Minuten später stürmten die sieben für den Stierkampf bestimmten Stiere, in eine riesige Staubwolke gehüllt, in die Arena, begleitet von Viehtreibern. Picadores und Roués, echt andalusische Typen, die ebensowohl einen französischen Frack anziehen wie ein Schaffell umhängen und die Lanze der Stierkämpfer in die Hand nehmen. Ein Höllenlärm, der durch Schreien, Johlen und Pfeifen aus den oberen Rängen herunterdringt, veranlaßt die Stiere, erschreckt in ihrem wilden Lauf innezuhalten: indem sie die unruhigen Augen überall umherschweifen lassen, nehmen sie plötzlich Reißaus und folgen endlich dem Drängen des Leitstieres und den Schlingen der Viehtreiber, um dann truppweise, von dem Johlen der Menge und dem dichten, aufgewirbelten Staub begleitet, durch die Stalltüre zu verschwinden.
Ein einziger Stier, schwarz wie die Nacht, macht am Eingang des Stalles kehrt, kommt in die Arena zurück und stürmt wütend auf die Jacken, Tücher und Fetzen los, die ihm das Publikum mit fürchterlichem Geschrei von der Barriere aus vorhält: endlich pflanzte er sich in der Mitte der Arena auf, den stolzen Kopf erhoben, dreht seine wilden Augen nach allen Seiten, als wolle er sich aus der Bürgermeisterloge würdige Feinde erbitten, um seine Kräfte zu erproben. Die Viehtreiber zu Pferde, mit ihren Wurfspießen in der eisernen Hülse, jagen darauf eilig mit jener Schnelligkeit und Behendigkeit, die sie von den Arabern geerbt haben, einher und beschreiben langgezogene Kreise um das Tier; dann kommen die zu Fuß mit dem Knarren ihrer Lederschlingen und treiben ihn einem Leitstier zu, der rhythmisch seine heisere Schelle erklingen läßt. Darauf ergibt sich der Stier, vernünftiger als die Menschen, jenen Sendboten des Friedens, senkt das Haupt, trottet langsam auf den Leitstier zu und tritt, dicht vor ihm halt machend, in die Ställe, wie ein ungezogenes Kind, das von seiner Mutter nach Hause geführt wird.
Hinter ihnen schließt sich das weite Tor und eine Menge von Menschen und Kindern fangen nun an, von allen Seiten über die Schranken in die Arena hinunterzusteigen, mit alten Stierfechtermänteln, Fetzen, Kleidungsstücken, Knütteln und Wurfspießen ausgerüstet. Ein Trompetenstoß erklingt. Die Stalltür öffnet sich, der Branntweinstier stürzt auf den Platz und greift jene menschliche Mauer an, die nach allen Seiten auseinander stiebt, einige hier niederstürzend, andere sich dort aufrichtend, bis sie mit einem einzigen Satz über die Barriere springen, um dort Schutz zu suchen. Eine ganze Stunde dauert dieser Tumult, bei welchem das Umherwälzen auf der Erde mit Faustschlägen, Unzüchtigkeiten und Gotteslästerungen, die Grausamkeit der Menschen mit der Brutalität des wilden Tieres abwechselt, bis das arme Vieh, das schon alt und zum Kampfe nicht mehr geeignet ist, sich an der Barriere niederkauert, um Front gegen seine Feinde zu machen, die mit eisernen Stangen auf ihn losschlagen und ihm aus Lust an der Quälerei die Wurfspieße sogar ins Maul treiben. Ach, wie grausam ist der Mensch: kein König, sondern ein Tyrann aller Tiere!
Währenddessen hatte das Getränk, das die Freunde zur Beschwichtigung des Katers geleert, bei allen dreien ganz verschiedene Wirkungen hervorgebracht. Desperdicios schwatzte unaufhörlich und ließ, durch den Alkohol veranlaßt, seinen prahlerischen Neigungen freien Lauf, Garcia war auf eine Bank gesunken, versuchte sich zu erbrechen und zeigte den bejammernswerten Zustand eines regelrecht Betrunkenen, und Gabriel, der unschuldige Gabriel, mit verzerrten Zügen und außer sich, mit aufgeknöpftem Hemd, unter dem ein blaues Stapulier und eine goldene Medaille an einer Kette aus demselben Metall sichtbar wurde, schrie und schlug um sich wie ein vom Delirium Besessener.
Plötzlich jagte der Stier, dem der Spieß in der Weiche saß, über den Platz, schnell wie ein Pfeil, um an den Stangen der Barriere dicht neben Gabriel Schutz zu suchen. Der Bürgermeister gab ein Zeichen, und wieder erscholl ein Trompetenstoß, der die Leitstiere herbeirufen sollte, damit sie das unglückliche Tier fortführten, um es endlich von seinen Henkern zu befreien. Da kam ein unvermuteter Zwischenfall, wie er sich so häufig bei Stierkämpfen zuträgt, wo jede Freiheit erlaubt ist, und jede Unverschämtheit und Schamlosigkeit gutgeheißen wird. Drei der Studenten, die in der vergangenen Nacht unsere Helden begleitet hatten, lauerten von ihrem Sperrsitz aus Desperdicios auf, um dem Feinde von Lagartijo einen Streich zu spielen. Sie begannen sofort, nachdem die Treiber mit den Leitstieren auf dem Platz erschienen waren, mit Stöcken auf das Gelände zu schlagen:
»Desperdicios soll ihn töten!... Desperdicios soll ihn töten!«
Der Schrei irrte mit der Schnelligkeit eines elektrischen Funkens durch den Raum, und schon im nächsten Augenblick schrie alles zu gleicher Zeit und begleitete das Schreien mit Schlägen:
»Desperdicios soll ihn töten!... Desperdicios soll ihn töten!«
Diese wunderliche Kundgebung erbitterte den Stierkämpfer derartig, daß er schimpfend aus der Arena fliehen wollte und wutentbrannt schrie:
»Die Seuche soll ihn töten, Donnerwetter – der Blitz soll niederfahren und ihn treffen! ...«
Gabriel schrie auch, schwenkte den Hut und hielt Desperdicios am Ärmel fest; aber dieser riß sich los und brüllte, seinen Arm dem Stier entgegenstreckend, wütend:
»So geh du doch, du feige Memme ... Geh, gib ihm den Genickstoß, wenn du den Mut dazu hast!«
»Ich eine feige Memme?« schrie Gabriel außer sich.
Und schnell wie der Blitz riß er sich die Jacke ab und sprang mit einem Satz in die Arena. Garcia wollte ihn zurückhalten, es gelang ihm aber nur noch, seinen Hut zu fassen, der ihm in der Hand blieb. Taumelnd stürzte er ihm nach: aber es war zu spät. Gabriel stand vor dem Stier und mit ausgebreitetem Rockschoß trat er einen Schritt vor und lockte ihn ... Das Tier senkte den Kopf und zeigte seine blutende Zunge, drängte zurück bis gegen die Barriere, scharrte mit den Füßen, bewegte die Ohren und holte zum Stoß aus ...
Plötzlich ertönte ein entsetzlicher Schrei, einer von denen, der durch einen einzigen Mund aus tausend Kehlen zu dringen scheint.
Dann sah man Gabriel durch die Luft wirbeln und, das Gesicht nach unten, mit ausgebreiteten Armen schwer und leblos wie ein Mehlsack in die Arena fallen ...
– – – – –
Gabriel öffnete die Augen und sah sich in einem schmalen, dürftigen aber reinlichen Bette. Rechts und links hing ein weißer Vorhang und ein dritter schloß die Vorderseite des Bettes ab, ihn wie in einen Sarg von Leinen einschließend. Gabriel blickte um sich und nahm an der kahlen Wand ein Kreuz aus schwarzem Holz und darunter eine kleine Tafel wahr, auf der mit schwarzen Lettern die Nummer 33 stand. Es schien ihm, als ob er hinter dem Vorhang zur Rechten ein mühsames Atmen und zur Linken von Zeit zu Zeit einen rauhen Husten vernähme. Gabriels Bewegung beim Drehen des Kopfes verursachte ein Krachen des Bettes: bei diesem Geräusch hob sich leise der mittlere Vorhang und er sah mit Erstaunen eine Barmherzige Schwester vor sich. Als die Schwester näher trat, sank sein Kopf in die Kissen, als sähe er eine Erscheinung aus der andern Welt.
»Was wünschen Sie?« fragte die fromme Schwester, sich liebevoll über das Bett neigend.
»Wo bin ich?« murmelte Gabriel erschreckt. Die Schwester blickte ihn mit einem Ausdruck tiefster Ruhe an und sagte sanft:
»In Gottes Haus, mein Bruder.«
Gabriel setzte sich mit einem Ruck im Bette auf, und die Nonne am Ärmel fassend, fragte er mit entsetzten Augen:
»Im Hospital?«
»Aber habe ich denn nicht gesagt, in Gottes Haus, mein Bruder?« entgegnete sie, sich leise entfernend.
»Ich im Hospital ... im Hospital.« rief Gabriel erschreckt aus, und Scham und Schreck raubten ihm von neuem die Besinnung.
Gabriel befand sich wirklich im Hospital, wohin man ihn auf einer Tragbahre gebracht hatte, ohne seine Persönlichkeit feststellen zu können. Desperdicios war verschwunden; Garcia, betrunken wie ein Stier, war sich des Vorfalles nicht ganz bewußt und hatte sich endlich, als er sich allein auf dem Platz sah, in eine Loge gelegt, wo man ihn beim Beginn des Kampfes schlafend fand. Bei der Ankunft im Hospital hatte Gabriel die Besinnung noch nicht wieder erlangt: ein Arzt untersuchte ihn eingehend, dreht sich dann um und sagte:
»Bah ... ein Rausch und ein Sturz! Er soll ruhig seinen Rausch ausschlafen und dann beobachtet werden, denn der Fall könnte schwere Folgen haben.«
Gabriels elegante Kleidung, seine zarten Hände und die Vornehmheit, die sich trotz seines bejammernswerten Zustandes in seiner ganzen Persönlichkeit zeigte, bewiesen deutlich, daß er nicht derjenigen Klasse von Menschen angehörte, welche die Hospitäler zu füllen pflegen. Trotzdem legte man ihn in einen gemeinsamen Saal und eine Schwester wurde zu seiner Pflege bestimmt.
Als Gabriel von neuem ohnmächtig wurde, hielt die Schwester ihm eine Flasche mit Äther unter die Nase. Darauf öffnete er die Augen, schloß sie aber gleich wieder mit einem tiefen Seufzer.
»Nur Mut,« sagte die Schwester, »es ist nichts.«
Gabriel verharrte schweigend und lag lange mit geschlossenen Lidern, bleich und unbeweglich wie ein Toter. Plötzlich öffnete er seine schönen Augen, die voller Tränen waren, und sagte mit zitternder Stimme:
»Schwester, werde ich sterben? ...«
»Nein, mein Bruder.« rief die Nonne bewegt. »Es ist nichts ... Nur der Schrecken, weiter nichts ... Der Doktor hat nur ein paar Tage völliger Ruhe unter ärztlicher Aufsicht verordnet ...«
Und wieder schloß Gabriel die Augen und zwei dicke Tränen rannen über seine Wangen und fielen auf das Kissen herab: die Schwester sah, wie er die Lippen bewegte und etwas, was sie nicht erkennen konnte, unter der Decke gegen seine Brust drückte. Sie entfernte sich, als sie ihn ruhig liegen sah, auf den Fußspitzen und ließ ihn allein ... allein in einem Bett im Hospital ... allein mit seiner verlorenen Unschuld ...
Darauf zog Gabriel unter der Bettdecke das goldene Medaillon, hervor, das er am Halse trug und küßte es schluchzend. Es war das Medaillon von seiner ersten Kommunion, das seine Mutter eigens für ihn hatte prägen lassen. Auf der einen Seite zeigte es das Bild der unbefleckten Jungfrau, auf der anderen das Datum: 8. Dezember und die Inschrift:
» Monstra te esse matrem.«
Monstra te esse matrem,« rief Gabriel, in Tränen ausbrechend. Das Schluchzen, das bittere Schluchzen der Reue, dem die gewährte Verzeihung später eine solche unaussprechliche Linderung verleiht, schnürte ihm die Kehle zu und ihm entfuhr ein schmerzliches »Ach!«
Zwei Stunden lang dauerte jener Kummer, bei dem er tausendmal wahnsinnig zu werden fürchtete ... Gott beleidigt ... seine Mutter zur Verzweiflung gebracht ... seinen Namen entehrt... das waren die drei Gedanken, die seine erregte Wirklichkeit mit der Einbildung, das Gewisse mit dem Gefürchteten, das Demütigende mit dem Schrecklichen vermischten, um sein Herz schwer zu belasten, gleich als ob jene drei großen Schranken der Seele: Gott, Familie und Ehre, sich auf ihn stürzten, um jeden Gedanken an Trost und jeden Schein von Hoffnung unter den Trümmern der Sünde, der Undankbarkeit und der Schande zu begraben ... Der erbarmungslose Windstoß der Verzweiflung fuhr trocken und glühend heiß über seine Seele, wie der Samum der Wüste, und flößte ihm teuflische Gedanken ein, die der Arme von sich stieß, indem er das Medaillon der Jungfrau an die Brust drückte, mit der Angst eines Menschen, der sich, schon im Sturz begriffen, ängstlich festklammern will.
» Monstra te esse matrem!« rief er aus. » Monsta te esse matrem!«
Es geschieht zuweilen während starker Herzensstürme, daß die Phantasie Wellen schlägt und wie eine böse Nereide wächst, daß ein gewöhnlicher Unfall, eine einfache Beobachtung, vielleicht eine unbestimmte Sorge genügen, um dem Gedankengang eine andere Richtung zu geben, um das Gefühl in andere Bahnen zu lenken und die düsteren Schlösser zu stürzen, die jene törichte Feindin der Vernunft, die den Menschen so zu quälen vermag, errichtet hat.
Ein Geräusch von Schritten und Stimmen brachte in Gabriel diese Wirkung hervor. Jener Lärm kam näher und näher und setzte wiederholt, in kurzen Zwischenräumen, aus, endlich hörte er ihn zwei Schritte von keinem Bett hinter dem Vorhang und ein einziges Empfinden: Scham, beherrschte Gabriel völlig, alle anderen Gefühle, die in seinem Herzen lebten, zurückdrängend. Er verbarg sein Gesicht in dem Kissen und bedeckte den Kopf mit der Bettdecke, ohne sich zu rühren. Der Vorhang hob sich schließlich, und es trat der Arzt mit einem Assistenten und der Schwester an sein Bett.
Das war Gabriels große Sühne! Jenes: Was werden sie sagen – das eitle Phantom der feigen menschlichen Achtung, das ihn Schritt für Schritt auf das traurige Bett eines Hospitales geworfen hatte, erschien in deinen Augen wie eine Strafe und nahm eine so fürchterliche Färbung an, daß der Unglückliche fühlte, wie die glühende Schamröte in seinem Gesicht aufstieg und wie die bitterste Ohnmacht des Kummers sein Herz bedrückte. Er verharrte schweigend in seinem Bett, wagte weder sich zu regen noch zu atmen und hoffte, daß sie, in der Meinung, er schlafe, still vorübergehen würden.
Aber der Arzt trat ans Bett, hob den Vorhang auf und dahinter wurde Gabriels Gesicht sichtbar, blaurot, mit gesenkten Augen, aus denen Ströme von Tränen flossen, ein bebendes Bild der Verwirrung, wie sie sich wohl auf den Zügen unserer Ureltern malen mußte, da sie sich ihrer Schuld bewußt wurden. Der Arzt hatte Mitleid mit ihm. Er richtete liebevoll einige Fragen an ihn über sein Befinden, und Gabriel antwortete einsilbig, ohne die Augen zu erheben. Darauf fragte ihn der Assistent nach seinem Namen und seiner Wohnung, um ihn in die Liste aufzunehmen. Diese unerwartete Frage erschreckte Gabriel aufs äußerste; er faltete flehend die Hände und bat, in tiefstem Kummer unaufhörlich weinend, man möchte ihm diese Formalität ersparen und ihn allein und verlassen in irgend einem Winkel sterben lassen, bevor er seinen Namen entehrte, indem man ihn in der Liste eines Hospitales aufnahm, wohin ihn nicht Armut, sondern sein Wahnsinn und sein selbstverschuldetes Elend getrieben.
Gerührt legte der Arzt ihm die Hand auf die Stirne, strich ihm liebevoll die roten Locken fort, die sie bedeckten, und sagte zärtlich:
»Nun gut, mein lieber jung«r Freund, das ist nicht notwendig. Haben Sie nur Mut und Vertrauen! ... Wenn Sie die Nacht ruhig verbringen und keine inneren Beschwerden fühlen, können Sie morgen in Ihrem Hause schlafen.«
Gabriel küßte in einer raschen Aufwallung die Hand, die ihn liebkoste, und bewegt entfernten sich die drei Umstehenden endlich, indem sie den Vorhang sorgfältig niederfallen ließen.
Ach, wie deutlich sah nun Gabriel beim hellen Himmelslicht, wohin die Gottesverachtung, die unsinnige Furcht vor der Welt und der Mangel an gesundem Menschenverstand führt! Wie klug und väterlich erschienen ihm jetzt jene Ermahnungen des Paters Velasco und seine Prophezeihungen, die damals seinen Stolz so schwer kränkten. »Junger Pilatus, gedenke des Pilatus!...« Denn wie Pilatus und schlimmer noch als Pilatus hatte er Christum überliefert, weder aus Furcht vor einem wütenden Volk, noch aus Angst vor einem Cäsar, sondern aus Angst vor dem Spott – welche Schmach! – eines verkommenen Jungen Laffen und eines nichtswürdigen Prahlers ... Und um dem derben Spott jener verächtlichen Wesen zu entfliehen, hatte er selbst sich der gerechten Verachtung aller ehrbaren Menschen ausgesetzt, die ihn jetzt in dem geringen Bett eines Hospitals sahen. Noch dazu erwarteten ihn die bitteren Vorwürfe seiner Mutter und der gerechte Tadel aller, die um jenen Vorfall wußten, der ebenso schrecklich wie lächerlich, ebenso schuldvoll wie schändlich war.
»Welche Blindheit!« rief Gabriel, sich mit beiden Händen am Kopf fassend, »Welcher Wahnsinn von mir! ... Niemals werden die Meinungen der Menschen übereinstimmen, weil die Leidenschaften die Richtschnur ihres Urteils bilden und die Leidenschaften bei allen verschieden sind ... Und ist es bei der Unmöglichkeit, allen zu gefallen, nicht ein blinder Wahnsinn, eine unsinnige Dummheit, den Beifall der Bösen der Anerkennung der Guten vorzuziehen? Sich der gerechten Verachtung der Vernünftigen auszusetzen, um dem ungerechten Spott verkommener Menschen zu entgehen? Was wird diese so fromme Schwester, was dieser so liebevolle Arzt, was meine Mutter sagen? ... Meine geliebte Mutter, der das Herz bräche, wenn sie um die Schandtaten und die Schamlosigkeiten ihres armen Sohnes wüßte?«
Und hier wurde Gabriel von neuem durch Schluchzen unterbrochen, bis er endlich fortfuhr:
»Was für eine verächtliche Bosheit, was für eine lächerliche Infamie, um der Achtung der Menschen willen zu sündigen! ... Zu sündigen weder um eines verbotenen Genusses noch um der Erlangung eines verbotenen Vorteils willen, sondern nur aus Furcht vor einem höhnischen Gelächter. Sich zu erdreisten, den Zorn eines Gottes herauszufordern, weil man nicht den Mut hat, dem Spott der Menschen die Stirne zu bieten! ... Als ob der Spott der Menschen nicht das sicherste Pfand für die Gnade des Himmels wäre! Als ob man nicht in dem Augenblick, wo die Welt den Gerechten zurückweist, schon gänzlich Jesus Christus angehörte! ...«
Diese Gedanken belebten Gabriels Mut und ließen aus der bitteren Wurzel der Schuld die saftige Frucht der Besserung reifen. Jetzt kehrte er reuig zurück zu jenen guten Vätern, die seine Unschuld gehütet, seinen Fall vorausgesagt und ihm mit liebevoller Fürsorge die Mittel gezeigt hatten, sich wieder zu erheben. Die Jesuiten hatten in Sevilla eine Erziehungsanstalt; aber Gabriel war niemals darin gewesen, wußte auch nicht, ob dort ein ihm bekannter Pater wohnte.
»Und was tut das?« sagte er sich mit stets wachsender Erregung. »Rühmen sich denn nicht die Jesuiten, alle dasselbe Herz und dieselben Gedanken zu haben? ... Jedweder von ihnen wird mich liebevoll in seine Arme nehmen und mich mit Klugheit leiten ... Jedweder wird mich mit meinem Gott aussöhnen und mir helfen, meine Mutter zu trösten ... Mutter, Mutter! Meine arme Mutter! Wie wirst du leiden!«
Und der arme Bursche fuhr fort zu weinen, in der Einsamkeit zu weinen, aber er sah schon von ferne das Heilmittel, und weit öffnete sich sein Herz der Hoffnung ... Schlaf und Müdigkeit befielen ihn endlich kurz vor Anbruch des Tages; und als die Schwester ihre erste Runde machte, fand sie ihn noch schlafend mit dem Medaillon der unbefleckten Jungfrau in der Hand, zwei große Tränen in den Augen und ein leises Lächeln auf den Lippen.
Erst nach Sonnenuntergang verließ Gabriel das Hospital, denn er hatte das dringende Verlangen, sich zu verbergen, wie der Schuldige sich in Dunkel zu hüllen liebt, aus Furcht, daß man seine Gewissensbisse erraten könne.
Raschen Schrittes entfernte er sich von dem Orte, wo er angefangen hatte, seine Schuld zu büßen, und wandte sich der Erziehungsanstalt zu, in der er sie ganz zu tilgen hoffte. Aber je mehr er sich der Anstalt näherte, desto langsamer wurde sein Gang, ohne daß er wußte, weshalb; sein Mut schwand, tausend und aber tausend Zweifel erregten sein Gemüt und riefen eine gewisse Unruhe, eine gewisse Bitterkeit in ihm hervor, die seine guten Vorsätze aufsogen wie der Boden der Wüste den Saft einer Pflanze ... Wie listig ist der Geist der Finsternis und mit welch schlauer Verräterei pflegt er das gefährlichste seiner Netze der menschlichen Schwäche und Unbeständigkeit zu legen: das Hinausschieben eines guten Vorsatzes.
Es schien Gabriel weder nötig noch klug zu sein, sich ohne Zwang einem fremden Pater anzuvertrauen; schon meinte er, zu Hause seine lange Abwesenheit unter einem nichtigen Vorwand erklären und dort erforschen zu können, ob seine Mutter von dem Abenteuer gehört hätte, um dann später zu beichten, wenn er einen fremden Priester finden würde, dem er seinen Namen nicht zu nennen brauchte. Es gab deren ja so viele in Sevilla und es würde ihm so leicht werden, einen zu finden! Außerdem dachte er, den Schritt immer mehr verlangsamend. daß es bereits spät und die Anstalt geschlossen sei, und es eine Dummheit wäre, zu dieser Zeit noch zu stören.
Diese Hoffnung stimmte Gabriel vollständig um, denn sie gewahrte ihm die Möglichkeit, seinen Impuls, der ihn nach der Anstalt zog, mit dem inneren Widerstreben in Einklang zu bringen, das ihn, je näher er dem Hause kam, immer mehr beherrschte. Ein Wagen, der ihm den Weg versperrte, galt ihm als Vorwand, um einen Umweg zu machen; zwei zankende Frauen veranlaßten ihn, sich eine gute Weile aufzuhalten, da er sehen wollte, wer im Streit recht behielte; und trotz alledem befand er sich früher, als er dachte und wünschte, vor der Anstaltstür. Er fand sie weit geöffnet, ein mit Gepäck beladener Dienstmann suchte seine Last an der Ecke wieder in Ordnung zu bringen. Gabriels Füße trieben ihn, er wußte nicht wie, und anstatt in die verdeckte Vorhalle zu treten, schritt er weiter; aber in demselben Augenblick zwang ihn eine jener Episoden, die in den engen Straßen von Sevilla durchaus nichts Seltenes sind, zurückzutreten und im Portal des Hauses Zuflucht zu suchen, wenn er nicht umgerannt werden wollte. Ein Wagen, der an dem einen Ende der Straße einbog, und der Esel eines Wasserträgers, der von der anderen Seite kam, schlossen den mit Gepäck beladenen Dienstmann zwischen sich ein. Im Nu hatte sich ein dicker Menschenknäuel gebildet, aus dem das Geschrei des Kutschers, die Stimme des Eseltreibers und die Flüche des Dienstmannes ertönten. Gabriel wartete ungeduldig auf die Gelegenheit, den Fuß auf die Straße setzen zu können, als ein Greis, durch den Lärm angelockt, an der Tür der Anstalt erschien und bei Gabriels Anblick erfreut ausrief:
»Gabriel. Gott sei Dank, daß ich Sie hier sehe! ... Ihre Mutter hatte dem Pater Rektor schon Ihren Besuch angekündigt und wir haben Sie erwartet ... Kommen Sie nur näher – ich will Sie sofort anmelden
»Nein, nein, Bruder Bernardo,« rief Gabriel aufs äußerste verwirrt aus. »Es ist schon spät, und ich würde ihn nur stören ..«
»Wieso denn spät? – Es ist ja noch nicht einmal acht Uhr ... Er wird mit den Knaben in der Kapelle sein und die Marienlitanei verrichten ... Treten Sie nur ein, Gabriel, ich will ihn sofort benachrichtigen.«
Und der gute Bruder Bernardo, der Gabriel noch von der anderen Anstalt her kannte, und der hier das Amt eines Pförtners versah, führte den halb Widerstrebenden in den Empfangssaal. Gabriel setzte sich, unsicher und verwirrt, ohne recht zu wissen, was er tun sollte; das Herz klopfte ihm heftig bei jedem Geräusch, und wiederum war seine Seele von einer Bitterkeit erfüllt, die alle guten Vorsätze zunichte machte ... Da kam ihm der Gedanke, dem Pater Rektor nur einen höflichen Besuch abzustatten und sich so rasch als möglich wieder zu verabschieden.
»Es ist so am besten.« sagte er sich endlich, »vielleicht weiß meine Mutter nichts und so kann ihr auch alles verborgen bleiben .. Und was das Beichten anbetrifft ... das mache ich später ab ... ein andermal ...«
Der Pater Rektor ließ auf sich warten und die Zeit wurde Gabriel unerträglich lang. Plötzlich schlugen die Töne eines fernen Orchesters an sein Ohr, das einen heiligen Gesang präludierte ... Gabriel zitterte an allen Fibern, als er die ersten Akkorde vernahm, und seine ganze Seele schien in seinen Augen zu liegen, als würde sie durch jene sanften Töne angelockt. Das Orchester wiederholte die ersten Takte und Angst und Bitterkeit schwanden langsam aus Gabriels Seele, wie beim ersten Morgengrauen die dunklen Nachtschatten schwinden. Mehrere Knabenstimmen, rein und silberhell, wie zu einem einzigen Lichtstrahl vereint, sangen darauf:
»Kommt, o kommet all,
Mit Blumen um die Wette,
Mit Blumen für Maria,
Die du unsere Mutter bist.«
»Die du unsere Mutter bist,« wiederholte Gabriel mit leiser Stimme und ein Schluchzen entrang sich seinen Lippen, während er die Hände gegen die Brust drückte, und sein Herz sich weitete, als ob es brechen wollte. Eine andere einzelne Stimme, klarer und weicher als die anderen, sang darauf:
»Deine mächtige Hand
Beschütze uns, du liebe Frau,
Du mögest immer bei uns sein
Auf allen unseren Wegen.«
Gabriel konnte nicht länger widerstehen. Seine Angst löst sich in Tränen wie der Sturm in Regen, und indem er das Gesicht mit den Händen bedeckte, fiel er vor der Bank, auf der er gesessen, auf die Knie ... Es war der Gesang der Blumen des Mai, den er so oft vor der Jungfrau gesungen hatte, zur Zeit seines Aufenthalts in der Anstalt, in den Tagen seiner Kindheit, zur Zeit seiner Unschuld! ... Seine Lippen wollten schluchzend jene schönen Worte wiederholen, aber seine Zunge fürchtete sich, sie zu entweihen, und er blieb stumm. Die Kinder wiederholten nun gleichsam, als ob die Unschuld die Reue aufforderte, mit ihr ihre Stimme zu vereinen: »Kommt, o kommet all ... Die du unsere Mutter bist.«
»Die du unsere Mutter bist,« wiederholte Gabriel endlich und vergoß Ströme von Tränen.
»Die deine Mutter ist,« sprach eine Stimme hinter seinem Rücken, und bevor Gabriel sich umwenden konnte, umschlang ihn Pater Velasco mit beiden Armen und dem innigen Rufe:
»Mein lieber, lieber Sohn! ...«
»Ach, nennen Sie mich nicht Sohn!« rief Gabriel aus, das vor Scham errötende Gesicht an der Brust dessen bergend, der ihn so väterlich an sich drückte.
»Mein lieber Herzenssohn ... aus dem Herzen meines Herzens, das Jesu Christo geweihet ist,« erwiderte Pater Velasco, ihn sanft in das angrenzende Gemach ziehend, indem er sich dicht neben ihn setzte und ihn immer noch umschlungen hielt.
»Weine, Gabriel,« sagte er darauf zu ihm. »weine, mein Sohn, denn ich bin hier, um deine Tränen zu trocknen.«
Gabriel weinte, weinte unaufhörlich, wie die Reue weint, die die Schuld büßen will; wie die Zerknirschung weint zur Läuterung der Seelen...
Aber mit welch aufrichtiger Wonne weinte er an der Brust jenes Freundes! Mit welch heiliger Freude vereinten sich seine Tränen mit denen seines Retters! ...
»Und was soll ich jetzt tun, Pater?« fragte er endlich mit erstickter Stimme, nachdem er ihm sein ganzes Mißgeschick erzählt hatte, ohne irgend einen Vorfall zu verschweigen.
»Was du jetzt tun sollst?« erwiderte Pater Velasco. »Das, was Sankt Petrus getan hat .. Flevit amare: er weinte bitterlich. Dreimal hat er Christus verleugnet, aus Schwäche gleichwie du; um der Menschen willen wie du ... Und kennst du die Strafe, die ihm sein göttlicher Meister auferlegte? ... Er gab ihm keinen Verweis, machte ihm keinen Vorwurf ... die ganze Strafe, die er ihm auferlegte, bestand darin, daß er seine Liebe dreimal laut verkünden sollte: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe! ... So hast auch du ihn durch deine Sünde verleugnet. Gabriel ... Bekenne dich von neuem öffentlich zu ihm ... Morgen schließt der Monat Maria und wir feiern in der Kapelle die allgemeine Kommunion der Kongreganten ... Du wirst mir bei der Messe dienen und mit dem Skapulier der Unbefleckten am Halse wirst du, allen anderen voran, das Sakrament empfangen.«
Gabriel faltete die Hände und senkte den Kopf, als ob die Last von so viel Güte ihn bedrückte.
»Erscheint dir die Strafe zu hart, mein Sohn?«
»O Vater ... mein Vater,« rief Gabriel schluchzend.
»Also gut, mein geliebter Sohn ... Denke nicht mehr an das Vergangene, es sei denn um eine Lehre daraus zu gewinnen ... Und jetzt,« fuhr er, sich erhebend fort, »ruhe dich aus und richte dich zum Abendessen her, das schon im Nebenzimmer für dich bereit steht.«
»Aber haben Sie mich denn erwartet, Pater Velasco?« fragte Gabriel überrascht.
»Ja,« erwiderte der Pater. »Ich wartete auf dich und wartete auch auf andere .., Die Söhne reicher Eltern sind oft verlorene Söhne ... Deshalb ist die Türe stets geöffnet, damit sie nicht zu warten brauchen, wenn sie anklopfen ... Das Traurige, Gabriel, das Traurige ist, mein Sohn ... daß viele niemals anklopfen.«
Darauf faßte Gabriel Mut, schüchtern zu fragen:
»Und meine Mutter?« »Deine Mutter,« entgegnete Pater Velasco, »wird nicht strenger sein, als der Herr gewesen ist, ich übernehme es außerdem, diese Angelegenheit mit ihr zu ordnen ... Wann hast du ihr zum letztenmal geschrieben?«
»An demselben Tage, an dem mein Mißgeschick anfing.«
»Dann ist es wahrscheinlich, daß sie nichts davon weiß. Und dann wollen wir dafür sorgen, daß sie niemals davon erfährt ... Niemand kennt dich hier. Garcia weiß deine genaue Adresse in Sevilla nicht, und nach allem, was du mir erzählt hast, nehme ich an, daß er wohl schweigen wird ... Also nun zum Abendessen, Gabriel, ich werde deine Angelegenheit ordnen.«
Darauf rief Pater Velasco einen anderen Pater, damit er Gabriel begleite; er selbst nahm Hut und Mantel und machte sich sofort auf den Weg nach dem Gasthaus. Eine halbe Stunde hernach war er zurück und übergab Gabriel einen Brief seiner Mutter, den diese am Abend vorher geschrieben hatte. Die gute Dame schrieb vollkommen ruhig und trug ihrem Sohne auf, Pater Velasco, der vor einigen Tagen zum Rektor der Anstalt ernannt worden sei, einen Besuch zu machen.
»Herrlich,« rief er aus, als Gabriel seine Lektüre beendet hatte. »Somit und mit einem Briefchen von mir sind wir aus aller Verlegenheit ... Und wie gut, daß deine brave Wirtin noch nichts gemerkt hat, denn in Unruhe versetzt durch dein Verschwinden, war sie gerade im Begriff, bei der Polizei Anzeige zu erstatten und an deine Mutter zu schreiben ... Glücklicherweise kam ich noch zur rechten Zeit und konnte sie beruhigen.«
Gabriel erfaßte des Paters Hand und drückte sie erregt an die Lippen. Dieser stand auf und sagte mit seltsamer Betonung, indem er die Arme gegen ihn ausstreckte:
»Also ... gedenke des heiligen Petrus, liebes Peterchen.«
Gabriel warf sich schluchzend in seine Arme.
Am folgenden Tag feierte man in der Anstalt das Fest der schönen Liebe. Gabriel beichtete am Morgen beim Pater Velasco und mit dem Skapulier der Unbefleckten am Halse empfing er, allen voran, in der Kindermesse die heilige Kommunion. Nach dem Frühstück verabschiedete er sich von den Patres, um nach Hause zurückzukehren. Pater Velasco begleitete ihn bis zur Türe. Wie am letzten Tage beim Abschied aus dem Kolleg übergab er ihm eine große in einen Umschlag gehüllte Photographie. Sie stellte Sankt Peter in der Halle bei Kaiphas vor und von derselben Hand, die damals unter das Bild des Pilatus geschrieben hatte: Ecce homo, stand dieses Mal unter Sankt Peter: Flevit amare.
Gabriel bewahrt sie in einem wunderbaren Rahmen auf; er gedenkt sie seinen Söhnen zu hinterlassen und jedesmal, wenn er sie betrachtet ... weint er still.