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Die Legende von Rabbi Akiba

Siehe, der Stier Jakobs ist gewaltig, wenn
er brüllt, wie die Posaune erhebt er seine
Stimme. Da zittern die Kühe und laufen, der
Hirt hört es und freut sich. Ja, der Stier
Jakobs ist gewaltig, wenn er brüllt.

Zur Zeit, da der heilige Tempel gefallen war, und die Hand der römischen Kaiser schwer auf dem Lande Judäa lag, lebte in Jerusalem ein Mann, der hieß Kalba Sabua. Er war ein großer Herr, der über viel Herden und noch mehr Land verfügte. Sein Haus war voll von Knechten und Mägden, und rings auf den Bergen um Jerusalem weideten seine Schafe und Rinder. Auf all das aber sah der Mann nicht, und es dünkte ihn nur gering, also mächtig zu sein. Eines aber machte ihn stolzer als alle Menschen, die es damals in Jerusalem gab. Das war seine Tochter Rahel, ein einziges Kind, das ihm sechzehnjährig im Hause blühte und von überaus großem Liebreiz war. Er ließ sie in einer goldenen Sänfte tragen, und zwei Knaben mußten vorauslaufen, um in den engen Straßen dem Jungfräulein Platz zu schaffen, wenn es in seiner Sänfte daherkam. Das Mägdlein selbst aber ließ es sich wohl dabei sein und lächelte sanft den Jünglingen zu, die vom Straßenrande her nach ihm hinüberschauten.

Nun war da ein Mann mit Namen Akiba ben Josef, der war ein Knecht unter den Knechten Kalba Sabuas und diente ihm schon viele Jahre ohne Murren als ein Rinderhirte. Er war hoch gewachsen, aber sein Rücken war gebeugt, denn er war schon an die vierzig und hatte allezeit schwere Arbeit getan im Hause seines Herrn. Auch waren ihm die Haare ausgegangen, und die Kinder riefen ihm »Kahlkopf! Kahlkopf!« nach. Dessen achtete er aber nicht, denn er war schwerfälligen Geistes und gänzlich unwissend, so daß er den Leuten als ein Tölpel galt.

Trotzdem war in diesem Knechte eine geheime Kraft, die es machte, daß ihm die Leute in den Bergen nachschauten, und die andern Knechte und Mägde ihn sogar fürchteten. Nicht nur, daß keiner solche Lasten zu heben wußte wie er, erzählte man sich auch von der beinahe geheimnisvollen Macht, die dieser Hirte über seine Herde hatte. Keinem gaben die Kühe so viel Milch in den Eimer wie ihm, keiner wußte wie er durch Blick und Zuruf allein den Stier der Berge zu zähmen. Kurz, er hatte vermöge seiner besonderen Natur eine große Macht über die Herde, die großäugig auf ihn schaute. Und wenn er unwissend war und weder lesen noch schreiben konnte, so machte er sich nichts daraus, sondern haßte und verachtete im Gegenteil die Menschen, die sich das Leben mit trübem Wissen beschwerten, wo er aber einen Schriftgelehrten sah, knirschte er mit den Zähnen wie ein wilder Esel. Einmal beschwerte sich ein solcher bei seinem Herrn und sagte zu Kalba Sabua: »Gib ihm ein Weib, daß er sanfter werde!« Da antwortete der mit schlauem Blinzeln: »Dieser Knecht ist tölpelhaft und dumm, aber auf seinem Herzen weidet die Herde. Die Kuh weiß es und gedeiht, und der Stier ist sanft, denn er wittert es. Ich gebe ihm kein Weib, beileibe, sonst möchten die Stiere wild und die Kühe mager werden. Laßt mir den Mann!« So sagte Kalba Sabua, aber die Tochter hörte es und merkte sich die Sache.

An einem Märzabend, als die Sonne unterging, trieb Akiba, wie gewohnt, seine Herde den Ölberg herab, und gelangte mit dem Stier voranschreitend in einen Hohlweg, wo die Herde sich zwischen den Mauern zweier Weinberge drängen mußte. Da kam ihm in der schönen Abendluft die Sänfte der jungen Rahel entgegen, umgeben von lachenden Jünglingen, die anmutige und auch gelehrte Dinge zu ihr sprachen. Wie nun auf einmal die Herde im Wege war, schlug einer der Jünglinge unwirsch mit dem Stock nach Akiba und rief: »Aus dem Wege, Knecht!« Da ließ Akiba den Stier stehen und ging geduldig auf die andere Seite. Als nun die Träger der Sänfte das starke Tier so ohne Führer sahen, ließen sie vor Schrecken die Sänfte fallen und liefen fort, und die Jünglinge taten desgleichen. Da saß das Mägdlein allein in seiner Sänfte und zitterte, wie es das Rote in den Augen des Stieres sah, der ihm schnaufend näher kam. Bebend blickte es auf Akiba, der demütig und blöde beiseite stand, und es deuchte dem Kinde mit einem Male, daß auch in dem Hirten etwas von der Natur des Stieres sei. Da es sich aber umwandte und sah, daß alle seine Begleiter weit hinten standen, glitt es behend aus der Sänfte und fragte den Hirten heimlich: »Wenn ich dich heirate, willst du dann lernen gehn?« Da erbebte der Knecht Akiba, wie der Sinai bebte, als Gott auf ihn trat, und sagte: »Ja!« Holte darauf mit zitternden Händen eine Münze aus seinem Gürtel und gab sie dem Mägdlein: »Sei mir also geheiligt nach dem Gesetze Moses und Israels!« Dann legte er den Arm auf den Nacken des Stieres, wandte sich mit seiner Herde und ging seiner Wege. Wie die Jünglinge das sahen, kehrten sie um und holten mit vielen Verbeugungen die junge Herrin ab, die schon wieder in ihrer Sänfte saß.

In diesen Tagen sprach Rahel, die Tochter Kalba Sabuas, zu ihrem Vater: »Laß mich in die Berge ziehen, Vater, denn ich liebe die Herde. Ich liebe die Lämmer, die am Felsen grasen, und den Stier, der der Stärkste ist von allen. Laß mich in die Berge ziehen, daß ich dir Nachricht bringe von deiner Herde!« Und der Vater erlaubte es ihr. Wie nun das Mädchen verzögerte, heimzukehren, sandte der Vater einen Boten aus. Und der Bote kam und meldete, daß Rahel eine Hirtin geworden sei. Sie melke die Kühe und schere die Schafe, und der Knecht Akiba belehre sie. Da lachte der Vater, denn er kannte das sonderbare Wesen seiner Tochter. Wie es aber zu lange währte, sandte er einen zweiten Boten aus. Der kam wieder und berichtete, daß die Tochter in einer Scheune wohne und im Heu auf der nackten Erde schlafe wie der Knecht Akiba. Da ging der Vater selber hinaus und fand, daß beide sich vermählt hatten, und sein Zorn kannte keine Grenzen. Mit einem schrecklichen Fluche jagte er den Knecht mitsamt der Tochter von Hof und Herde, und enterbte die Tochter aller seiner Güter, indem er harte Gelübde tat und sich mit schweren Eiden entsagte, sie jemals wiederzusehen.

So zogen Akiba und Rahel ins Elend hinaus. Sie schliefen im Heu, obgleich der Winter gekommen, die Tage trübe und die Nächte frostig waren. Jeden Morgen sammelte Akiba das Stroh aus Rahels Haaren und scherzte: »Ich werde dir noch einmal ein goldenes Jerusalem schenken.« Das junge Weib hörte es und lächelte, da aber das Elend groß war, schnitt sie sich die Flechten ab, verkaufte sie, und von dem Erlös lebten beide eine Weile.

Monde vergingen. Akiba war langsam, wie er immer war. Er konnte das junge Weib nicht verlassen, denn die Liebe lag schwer auf seiner Seele, und sie trug ein Kind unter dem Herzen. Ehe das Kind nicht geboren war, wollte Akiba Rahel nicht verlassen, und sie sagte ihm nicht, daß er sie verlassen sollte. Er schämte sich vor ihr und verdang sich in einem Steinbruch als Steinhauer. Dort hämmerte er Steine um dürftigen Lohn und brachte ihr den an jedem Abend. Von diesem Lohne stillten sie ihren Hunger, als das Geld für die Flechten vertan war.

In Stroh und Elend wurde ihnen der Sohn geboren. Sie nannten ihn Simon und freuten sich und weinten über ihm. Akiba klopfte vom Morgen bis zum Abend Steine aus dem Steinbruch und konnte sein Weib nicht verlassen. Sie schaute ihn an, wenn er abends kam, aber sie sagte ihm nichts. Akiba schämte sich. Er saß am Brunnen und schämte sich, und wie er sah, daß die Wasser den Stein am Brunnen höhlten, sprach er zu sich selber: »Wenn die weichen Wasser den Stein höhlen konnten, der so hart ist, um wieviel mehr müßte es den Worten der Thora, die schwer sind wie Eisen, gelingen, mein Herz zu überwinden, das doch nur von Fleisch und Blut ist?« So dachte Akiba, der Steinhauer, aber sein Herz war langsam und hing am Weibe.

Der Knabe Simon wuchs heran. »Er muß zum Kinderlehrer!« sagte das Weib. Nahm Akiba den Knaben bei der Hand und brachte ihn zum Kinderlehrer. Der Lehrer lehrte, und der Vater setzte sich neben das Kind und hörte es lernen. »Alef-Beth, Alef-Taw«, lehrte der Lehrer das Kind. Das Kind faßte die Tafel an der einen, der Vater an der anderen Seite, und so saßen sie beide nebeneinander. Wenn sie nach Hause kamen, setzte sich Akiba in einen Winkel, legte die Tafel auf die Kniee und schrieb und lernte: »Alef-Beth: Warum? Alef-Taw: warum?« Wie das Weib ihn so murmeln hörte, erbarmte sie's in ihrem Herzen, sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter und brach ihr Schweigen: »Geh lernen, Akiba!«

Akiba verließ seine Frau und begab sich in die Schule des weitberühmten Rabbi Elieser nach Bne Berak. Dort saß er viele Jahre unter der behenden Jugend und hörte zu und wunderte sich, daß die Jugend so leicht begriff. Die Lernenden lachten über ihn, denn er war langsam im Lernen, und kahlköpfig war er auch. Und dann fragte er immer: Warum? Zerlegte sich die Sätze in Worte, die Worte in Zeichen, wendete sie vorwärts und rückwärts und tat sich niemals Genüge, sondern grübelte mit stiller Wut. Sieben Jahre saß Akiba so bei Rabbi Elieser. Rabbi Elieser sah ihn nicht, und die Jünglinge spotteten über den ungenügsamen Steinhauer, der lernen wollte und bei den leichtesten Dingen fragte: Warum? Bis Rabbi Elieser selber ungeduldig wurde und ihm Verachtung zeigte. »Steinhauer,« sagte er eines Tages zu ihm, »was setzest du dich mit deinem Hammer auf den Berg und klopfst kleine Steine ab? Meinst du, daß du den Berg auf diese Weise abhämmern und in den Jordan werfen kannst?« –Da lachten die Schüler, und Akiba hörte zu fragen auf. Aber wenn er im Winkel saß, fragte er doch bei allem, was er hörte, sein Herz: Warum?

Am Ende des siebenten Jahres tat Akiba das erste Mal zu einer Antwort den Mund auf vor Rabbi Elieser, und die Antwort war so, daß die Schüler verstummten, und der Meister aufhorchte. Saß einer dabei, der hieß Rabbi Josua und hatte schon lange auf Rabbi Akiba geschaut, wie er so still und wild beim Lernen war. Nun lachte er laut, als das Lehrhaus verstummte, und rief: »Der Berg ist in den Jordan gefallen! Der Steinhauer hat sich unter den Felsen gesetzt, wo keiner ihn sah und hat unter dem Felsen gehämmert, bis der Berg in den Jordan fiel! Jetzt geht und streitet mit ihm!« Von diesem Tage an begann der Name Akibas groß zu werden im Lehrhause Rabbi Eliesers. –

In einer armseligen Hütte am Rande Jerusalems lebte inzwischen das Weib Akibas mit ihrem Sohn. Sie spann und wartete. An jedem Morgen sah sie die Herden ihres Vaters auf die Berge ziehen und dachte an den Gatten, der in der Ferne war. An jedem Abend sah sie die Herden heimwärts kommen und wußte nicht, wo Akiba blieb. Die Monde vergingen, und das Kind fragte: »Wo ist der Vater?« Sie erzählte ihm vom Stier der Berge, der so still und wild ist, und vom Vater, der draußen in der Welt bei den großen Lehrern Israels lernte. »Ich will lernen, Mutter!« sprach das Kind. »Warte, bis der Vater kommt!« tröstete ihn die Mutter. Da ging das Kind vor die Tür, kam wieder und lehnte den Kopf an die Schulter der Mutter: »Warum kommt er nicht?« Sie schwieg und spann.

Die Monde vergingen, und aus den Monden wurden Jahre. Rahel sah den Sohn heranwachsen, und da sie ihn sonst nichts lehren konnte, lehrte sie ihn die Lieder des Volkes, die so alt und schön waren. Der Knabe wurde ein Träumer und träumte vom Vater, der bei den großen Lehrern Israels war, und sang die Lieder des Volkes noch schöner, als die Mutter sie sang. Auch lehrte die Mutter ihn beten, und er betete abends, morgens und mittags und dachte an den Vater, der draußen in der Welt bei den großen Lehrern Israels war, und der Mutter keine Kunde gab und nach dem Sohne nicht fragte. Um Mitternacht wachte der Knabe auf und zitterte und fragte: »Warum?« –

Sieben Jahre saß Akiba bei Rabbi Elieser, bis der Berg in den Jordan fiel. Da dauerte es nur sieben Tage, daß die Schule Rabbi Eliesers übervoll wurde, weil das Licht Akibas zu leuchten begann. Stand Akiba eines Tages als Rabbi Akiba auf und verließ die Schule Eliesers, und wie er zur Tür hinausging, folgten ihm Rabbi Josua und Rabbi Jchanan und viele andere noch und faßten den Saum seines Kleides und sprachen: »Sei du unser Lehrer!« Und sprachen weiter und drängten ihn: »Wir wollen eine Schule gründen in Tiberias und wollen dort sitzen und lernen, und du sollst unser Haupt und Führer sein!« Wie sie nun nach Tiberias ritten, Akiba und viele Hundert mit ihm, kamen sie über die Berge und sahen die Herden grasen. Da gedachte Akiba seines Weibes, hieß seine Schüler in den Bergen warten und kehrte um. Zwei Tage und zwei Nächte ritt er ununterbrochen, bis er nach Jerusalem kam. Wie er sich nun der Hütte Rahels näherte und durchs Fenster blickte, stand da ein Nichtswürdiger bei seinem Weibe und sprach: »Dein Mann kommt nicht wieder. Recht tat dein Vater, denn ein einziges Kleinod warst du ihm und folgtest dem Knechte, der dich bei seinen Lebzeiten zu einer Witwe machte.«

In diesem Augenblicke fiel der Schatten Akibas in die Hütte, ohne daß er es merkte. Aber das Weib merkte es und zitterte. »Zwölf Jahre ist er mein Mann«, sprach sie zu dem Verführer, »würde er auf mich hören, so ginge er noch einmal zwölf Jahre, um weiter zu lernen!« Wie Akiba das hörte, verließ er die Hütte, wie er gekommen war und ritt zu den Freunden zurück. »Nun kommt«, sagte er, »wir wollen unser Lehrhaus eröffnen, denn wir haben ein Recht dazu.« Währenddessen lag das Weib Akibas in der Hütte auf ihrem Strohlager und starrte zur Decke, und der Sohn stand dabei und fragte: »Was ist dir, Mutter?« Da sie aber nicht antwortete, fragte er noch einmal und weinte dabei: »Was ist dir, Mutter?«

 

Das Licht der Lehre leuchtete, und der Ruhm Akibas wurde immer größer. Der Knabe wurde ein Jüngling und hörte vom Ruhme des Vaters und sehnte sich nach ihm. Er wollte hinaus nach Tiberias, um beim Vater zu lernen, aber die Mutter ließ ihn nicht ziehen, obwohl sie sah, wie er sich nach dem Vater verzehrte. Ein stummer Kampf hob an zwischen Mutter und Sohn. Mit der Kraft ihrer Liebe umwarb Rahel den Sohn, und noch war die Kraft junger Liebe in ihr und glich dem Werben einer Braut um ihren Bräutigam. Der Jüngling aber wurde mit jedem Tag schwermütiger, und die Mutter fühlte, daß das Schweigen des Vaters stärker war als ihr Reden, und daß sie erlahmen würde in ihrem Kampfe. Da sagte sie dem Sohn eines Tages: »Wenn du mir schwören willst, unerkannt seine Schule zu betreten und unerkannt zu bleiben, bis ich es dir sage, so magst du wohl ziehen!« Da schwor der Jüngling und zog seiner Wege, und die Mutter blieb ganz allein.

 

Als Simon nach Tiberias kam und das Lehrhaus seines Vaters betrat, setzte er sich an die Tür und staunte, wie vor ihm hunderte von Schülern in langen Reihen saßen und jede Stunde anderen Platz machten, die vor der Türe warteten. Oben aber saß der Vater und verkündete die Lehre, schlug immer neue Brücken von der schriftlichen zur mündlichen Lehre und führte immer neue Schüler über die Brücke. Da war kein Satz, der nicht zu wenden, kein Wort, das nicht zu zerlegen, kein Zeichen, das nicht zu deuten war. So durchwühlte Rabbi Akiba das göttliche Wort und prägte es dem Gedächtnis der Schüler ein, daß sie nicht vergäßen, was überliefert war vom Sinai, denn aufgeschrieben durfte es nicht werden. Dem Jüngling war das alles neu, und er schauderte, wie er den Vater hörte, und mußte an die Mutter denken, wie sie ihm vom Stier der Berge erzählt hatte, der so stumm und wild ist auf seinen Höhen.

Wenn das Lehrhaus geschlossen wurde, begaben sich Lehrer und Schüler zur Synagoge, und Simon folgte ihnen. Simon betete voller Inbrunst, Gott möchte das Herz seines Vaters erleuchten, daß er den Sohn erkenne, der vor ihm saß. Akiba aber achtete seiner nicht, und mit Schrecken sah der Jüngling, wie zerstreut der Vater beim Beten war und jedesmal vor der Zeit die Synagoge verließ.

Und wieder saß er im Lehrhaus und quälte sich mit seinen Gedanken. Wie still und groß sah der Vater aus, das kahle Haupt, der wilde Bart, und wie er die Augen eindrückte, wenn er dachte und sprach. Warum erkannte er, der alles erkannte, das eigene Blut nicht? –

Gedemütigt kehrte Simon heim. Er hatte gehalten, was er versprochen hatte, und saß nun wieder bei der Mutter, die glücklich war. Sie streichelte ihn und sang ihm die Lieder des Volkes, die sie lange nicht gesungen hatte, und zum ersten Male begriff der Jüngling wieder, wie schön diese Lieder waren und wie wundersam die Mär vom Propheten Elia, der unerkannt wandelte unter den Juden und einst kommen würde, sein Volk zu erlösen.

 

Endlich, nach abermals zwölf Jahren, kam Akiba. Vierundzwanzigtausend Schüler folgten ihm, als er im Frühling über die Berge Jerusalems gezogen kam. Da erbrauste die heilige Stadt, und alles Volk strömte hinaus, den großen Weisen zu begrüßen. Rahel saß in ihrer Hütte, hörte das Brausen vor ihrer Tür und zitterte. Dann ging auch sie hinaus. Die Nachbarinnen riefen: »Akiba kommt, auf, leihe dir schöne Gewänder, kleide dich, schmücke dich!« Sie sprach: »Der Gerechte kennt die Seele seines Viehes!« und fing an, im Gewande ihrer Armseligkeit ihrem Manne entgegenzugehen. Die Leute um sie herum riefen: »Akiba! Akiba!« und liefen immer schneller. Rahel ging immer langsamer und blieb weit hinter dem Volke zurück. Ganz allein kam sie vor Akiba, sank vor ihm hin und umklammerte seine Knie. Da wollten seine Schüler die fremde Frau fortstoßen. Akiba aber war bleich wie der Tod, wehrte ihnen und sprach: »Laßt sie, alles, was ihr habt, und alles, was ich habe, verdanken wir ihr!« Dann hob er sie auf und ging mit ihr in die Hütte.

Kalba Sabua war alt und hinfällig geworden. Er hatte einen Eid geschworen, seine Tochter nie wiederzusehen, inzwischen aber starb ihm das Weib, und nun war er alt und allein, und das Gelübde drückte ihn. Da hörte er das Brausen des Volkes, daß ein großer Weiser in die Stadt gekommen sei, und lief mit hinaus zu sehen, ob der ihm nicht sein Gelübde lösen und den Eid von ihm nehmen könnte. Da zeigte man ihm den Mann, und er erkannte ihn nicht. Wie er ihm nun alt und weinerlich von seinem Gelübde erzählte, fragte ihn Akiba: »Wenn jener Hirte nun ein Wissender gewesen wäre, hättest du dann auch geschworen?« –»Hätte er nur eine Zeile gewußt!« jammerte der Reiche, »hätte er nur ein Wort gewußt!« –Da gab sich ihm Akiba zu erkennen und sprach: »Ich bin es selber!« Kalba Sabua blickte ihn an, dann aber schrie er laut und rannte durch die Straßen und rief in einem fort: »Die Hälfte meiner Äcker! Die Hälfte meiner Herden! Die Hälfte meiner Häuser!« An diesem Tage schenkte Kalba Sabua sein halbes Vermögen an Rabbi Akiba und schloß Tochter und Enkel in die Arme.

Als Akiba Weib und Sohn wiedergefunden hatte und mit ihnen zusammen in das marmorne Haus Kalba Sabuas gezogen war, lief er mehrere Stunden schweigend umher, so daß alle sich verwunderten. Dann füllte er seinen Beutel mit dem Golde seines Schwähers, ging auf den Markt der Stadt, wo die Karawanen rasteten, und kaufte dort alles Schöne und Herrliche, was das Morgenland aus fernen Ländern dorthin zusammengebracht hatte. Perlen, Edelsteine, Seiden, Brokate, Elfenbein, Affen und Pfauen, alles schleppte er in das Haus Kalba Sabuas. Den Reichtum Indiens schüttete er seinem Weibe in die ergrauenden Haare, salbte den Sohn mit Persiens köstlichstem Öle, kleidete beide in Byssus und Purpur, setzte ihnen Kronen aufs Haupt und gab ihnen Wein zu trinken aus goldenen Bechern. Und das ganze Volk mußte kommen. Akiba raste. Das ganze Volk mußte kommen und sehen: »Seht da, das goldene Jerusalem für meine Frau!« Während aber das Volk sah, weinte das Weib stille Tränen.

In der kommenden Nacht sank Akiba hin und schlief einen bleiernen Schlaf. Am Morgen stand er auf, hieß seine Schüler ihre Esel besteigen und führte seine Frau in einer goldenen Sänfte nach Tiberias, wo das offene Lehrhaus seiner wartete. Immer größer wurde der Ruhm Akibas. Zu Tausenden pilgerten die Söhne Israels an den Jordansee, um einige Jahre zu Füßen des großen Weisen gesessen zu haben. Von Morgen bis Abend lehrte Akiba in seiner Schule, und selbst die Nacht war noch zum Lernen für ihn da. Am Abend kam er spät, und am Morgen ging er früh, er sah nicht seine Frau, er sah nicht seinen Sohn, er sah nur die heilige Lehre, die vor ihm lag, und war gierig, sie zu lehren, Tag und Nacht. Inzwischen saßen Mutter und Sohn zu Hause und warteten auf den Vater. Aber der Vater kam nicht, und wenn er kam, stand die Mühsal des Grübelns auf seiner Stirne, und die Frau wagte nicht, zwischen den Weisen und seine Gedanken zu treten. »Willst du nicht ins Lehrhaus gehen?« fragte die Mutter den Jüngling. Der schüttelte den Kopf und lächelte schmerzhaft. Wieder saßen Mutter und Sohn beieinander, und es war, als wäre Akiba immer noch nicht heimgekehrt, als hätten zum dritten Male zwölf Jahre begonnen.

Die Mutter liebte den Sohn und der Sohn die Mutter. Beide waren eins in ihrem Gemüte, sie klagten nicht und murrten nicht, aber es war still im Hause, und der Vater war weit weg von ihnen, wenn er auch nur drüben im Lehrhause war. Der Jüngling sah nur seine Mutter, denn er war anders als andere seines Alters, und bei den Mägden fand man ihn nicht.

Eines Tages bekam die Mutter Angst um ihren Sohn, denn der Frühling war gekommen, der Ruf der Turteltaube erscholl im Lande, und während die Knaben mit den Mädchen auf der Straße sprachen, saß der Sohn im Hause bei ihr. Da überwand sie ihr Herz und führte ihm eine Jungfrau zu, schön von Ansehen, daß er sich an ihr freue als an seiner Braut. Als der Jüngling aber einmal mit dem Mädchen die Mauer Jerusalems umwandelt hatte, legte er sich hin und wurde krank.

Die Mutter sorgte sich und schickte ins Lehrhaus nach dem Vater: »Komm, dein Sohn ist krank!« Da die Lehre aber an diesem Tage besonders stark war im Munde Rabbi Akibas, unterbrach er sich nicht, sondern sandte einen Boten aus, daß der ihm Kunde brächte von Stunde zu Stunde. »Er ist schwer krank«, meldete der Bote. »Komm!« schickte die Frau zum zweiten Male. Die Lehre aber war heiß geworden in seinem Munde, darum rief er seinen Schülern zu: »Lernt weiter!« und verwies ihnen, daß sie nach der Türe schauten, wo der Bote kam. »Er röchelt«, meldete der Bote. »Komm!« schickte die Frau zum dritten Male. Im Munde Akibas aber glühte die Lehre wie brennendes Feuer, und er wollte das Lehrhaus nicht aufheben, bis am Abend ein Bote kam und in der Tür stehen blieb. Da sah Akiba, daß der Sohn verschieden war und sprach: »Bis hierher galt die Ehre des Gesetzes, von jetzt an gilt die Ehre des Toten.« Danach stand er auf, zerriß seine Kleider und ging nach Haus.

Zu Hause saß einsam die Frau. Sie stand nicht auf und begrüßte ihn nicht, wie es für eine Frau ziemlich ist, sie führte ihn auch nicht zum Lager des Sohnes, noch hob sie die Decke von dem Toten. Bleich, starr und unbeweglich saß sie auf der Erde und redete kein Wort. Da kamen die Diener und führten Rabbi Akiba an die Leiche seines Sohnes, und die Schüler eilten, den Toten zu bestatten.

Wie nun der Tote im Grabe lag, fing Akiba zu reden an: »Meine Brüder Israel, hört mich an! Mein Sohn war ein Bräutigam, dennoch bin ich getröstet wegen der Ehre, die ihr ihm erwiesen. Nicht, weil ich ein Weiser bin, seid ihr ja gekommen –es gibt Weisere als mich. Nicht, weil ich ein Reicher bin –es gibt Reichere als mich. Die Männer des Südens kennen mich, wer kennt mich in Galiläa? Die Männer allein kennen mich, was wissen die Frauen von Rabbi Akiba? Seid ihr um Akibas willen gekommen, wie viele Akibas gibt es auf der Straße? Sondern ich weiß, nur um der Lehre willen seid ihr gekommen, und weil es ein heiliges Wirken galt. Euer Lohn wird groß sein. Ich bin getröstet. Geht heim in Frieden!«

Wie Akiba nach Hause kam, saß die Frau noch immer dort, wo sie vorher gesessen hatte. Akiba wollte sie anreden, aber er vermochte es nicht. Die Frau schwieg und ihre Augen blickten an Akiba vorbei. So vergingen sieben Tage der Trauer einer wie der andere. Am achten schickten die Schüler nach dem Lehrer, daß er der verwaisten Lehre gedenke. Akiba verließ sein Haus, aber die Schule betrat er nicht, sondern die Schüler sahen, wie er ins Gotteshaus ging und die Tür hinter sich schloß. Nach einer Stunde kehrte er nach Hause zurück und fand seine Frau an derselben Stelle, wie er sie verlassen hatte. Da begann er in der Lade seines Sohnes zu kramen, und als er dessen Gebetmantel fand, hüllte er sich ein und setzte sich dem Weibe gegenüber. Er wußte, daß sie nicht mehr mit ihm reden würde, vielleicht ihr ganzes Leben lang, dennoch wartete er damals auf ein Wort und saß ihr gegenüber stundenlang.

Inzwischen sammelten sich die Schüler vor dem Hause und jammerten: »Weh uns, was wird aus der Lehre, wenn der Meister nicht kommt?« Die ganze Nacht umlagerten die Schüler seine Tür, die ganze Nacht saß Akiba bei seinem verhärteten Weibe. Ein zweiter Tag folgte und glich dem ersten. Akiba blieb dem Lehrhause fern. Am dritten drangen die Schüler in sein Haus, faßten den Meister an der Hand und führten den Willenlosen zum Lehrhause hin. Als er über die Schwelle schreiten wollte, sahen die Schüler, daß ihn ein Schauder ergriff und seine Augen stier wurden. Da hoben sie ihn über die Schwelle und setzten ihn oben hin, daß er sie wieder lehre. Kaum aber tat Rabbi Akiba seinen Mund auf, da fiel an der Tür ein Schüler in Krämpfen zu Boden, und man eilte, ihn nach Hause zu tragen. Wie nun Ruhe eingetreten war und der Weise abermals beginnen wollte, kam schon ein Bote, daß der Jüngling gestorben sei. Noch redete dieser, da fiel schon ein zweiter hin, und Rabbi Akiba lehrte nicht weiter, sondern rief: »Hört auf! Hört auf!« und hob verstört das Lehrhaus auf, denn schon sank ein dritter zu Boden, und ein furchtbares Schülersterben hub an. Akiba eilte von Haus zu Haus, wo die Kranken und Sterbenden lagen, und schüttete den Elenden mit eigener Hand die Streu. Die Schüler flohen auseinander, aber Akiba rief sie gewaltig an: »Blut vergießt, wer Kranke nicht besucht!« und alles, was er dem Sohne nicht getan, tat er nun den Schülern, und die ganze Stadt Tiberias rief: »Sucht denn Akiba den Tod?« Aber der Rabbi wandelte heilig durch die Häuser und stellte sich vergeblich zwischen den Tod und seine Schüler. Es war aber die Zeit zwischen dem Pessach- und Wochenfeste, die Sichel ging in der Saat, und der Sang der Schnitter tönte auf dem Felde. In jenen Tagen starben zwölftausend Schülerpaare vom Hause Rabbi Akibas an der Pest, er selber aber lebte, und wie das Sterben endlich ein Ende nahm, saß Akiba bei seinem Weibe, und das Weib war verhärtet und schwieg.

Furchtbare Zeiten waren für Judäa gekommen. Der Kaiser Hadrian herrschte in Rom, und seine Hand lag schwer auf dem Lande. Auf allen Straßen Schlagbäume, in allen Toren Zölle. Bewaffnete Kohorten durchzogen das Land und plagten die Leute mit Steuern und Auflagen, und dort, wo früher der Tempel stand, pflanzte jetzt der römische Legionär seinen Adler auf. Inzwischen saß der Verleumder in Rom und flüsterte dem Kaiser böse Dinge ins Ohr, so daß eines Tages auf allen Märkten Judäas in die Posaune gestoßen wurde, und Gesetze ausgingen vom Kaiser Hadrian, daß die Juden erzitterten.

In dieser Not der Zeit verließ Akiba sein Weib und seine verödete Schule in Tiberias. Die alten Schüler waren ihm gestorben, neue gab es nicht, und die Lehre war in Gefahr verlorenzugehen. Da zog Akiba durch das Land und dachte, wie er neue Ohren finden könnte, die alten Überlieferungen zu bewahren. Aber überall, wohin er kam, stöhnten die Menschen, wie sie um der Lehre willen verfolgt wurden. Im Süden fand er Rabbi Meïr, Rabbi Jehuda, Rabbi Jose, Rabbi Simon, Rabbi Eleasar ben Schamua und manchen anderen noch. Die sammelte er um sich und eröffnete ein neues Lehrhaus mit ihnen. »Schreibt auf! Schreibt auf!« sagte er ihnen. Sie erschraken, denn es war verboten, die mündliche Lehre zu schreiben. Aber der Name Akibas war groß, die Zeiten waren schwer, und der Tod war durch Akibas Schule gegangen. »Schreibt auf! Schreibt auf!« rief er immer aufs neue, und da sie sahen, wie wild er war, wurden sie ebenso wie er und schrieben still und wild, was der Weise ihnen überlieferte im Namen der Weisen, die vor ihm waren. »Schreibt auf! Schreibt auf!« Dem damals noch jungen Rabbi Meïr rannen die Tränen, als er schrieb.

Einige Monde waren vergangen, da sandte Akiba seinen Schüler Meïr, den er vor allen anderen liebte, mit Botschaft zu seinem Weibe. Bald kam Meïr wieder und war traurig, denn die Frau hatte ihm ihr Ohr verschlossen und eine Antwort brachte er nicht mit.

Immer schlimmer wurden die Zeiten, immer wilder die Herzen. Wer hatte dem Volke erzählt, daß der Kaiser Hadrian den heiligen Tempel wieder aufbauen wollte? Auf einmal war die Kunde da, und im Nu wogten die Märkte Judäas von schreienden und fragenden Menschen. Die Legionäre grinsten und trieben mit Spießen die aufgeregten Haufen auseinander. Aber wie die Flut kam es wieder, bis das ganze Land nach seinem Tempel schrie. Schließlich hörte es der Kaiser in Rom und kam selbst auf einem Schiff nach Jerusalem gefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Dort sprach er zornige Worte auf den Trümmern des Heiligtums, und bald hallte der Tempelplatz auf sein Geheiß vom Quieken der täglichen Schweine wieder, die von nun an dort geschlachtet wurden. Die Legionäre lachten und ließen die römischen Adler in der Sonne blitzen.

Am Westrande des Tempelberges stand die letzte Mauer, die vom Heiligtum übrig war. In ihrem Schatten sammelten sich in den Nächten die Frommen, Männer und Frauen, um ihre gefallene Herrlichkeit zu beweinen. Eines Abends stand eine Bank da, und wie die Frommen kamen, war der Weg versperrt, und wer weinen wollte, mußte eine Steuer entrichten. Die Legionäre trieben mit Härte die Tränensteuer ein und klirrten mit dem Gelde in der Büchse, während das Seufzen der Klagenden erscholl.

»Geh noch einmal zu meinem Weibe, Meïr,« sprach Akiba, »und sage ihr, wie die Lehre in Gefahr ist, und wie schwer die Zeiten sind!« Der Jüngling ging zum zweiten Male nach Tiberias, kehrte nach drei Tagen zurück und, als er das Lehrhaus betrat, setzte er sich auf die letzte Bank. »Schreibt auf, schreibt auf und rettet die Lehre!« rief Akiba, und die Gelehrten saßen Tage und Nächte lang beieinander, verglichen das Überlieferte, prüften die Worte und die Sätze und schrieben auf.

Das schreiende Land war still geworden, als aber der Kaiser Hadrian über das Land ausrufen ließ, daß den Söhnen Israels von nun an der heilige Bund der Beschneidung verboten sei, wurde es totenstill.

Da sandte Akiba zum dritten und letzten Male den jungen Meïr zu seinem Weibe: »Frage sie, ob ich die Lehre verlassen soll, nur dies eine frage sie noch!« Als Meïr den dritten Tag nicht heimkehrte, lief Akiba wie wild auf den Bergen Jerusalems umher. Er verschwand plötzlich aus der Schule, keiner wußte, wo er war, und keiner wagte es, dem Meister nachzugehen, denn sie sahen wohl, wie wild er war. Längst war Meïr wieder heimgekehrt, aber er fragte nicht nach dem Lehrer, denn er hatte nichts zu berichten. Nachts streifte Akiba auf den Bergen umher, tags schlief er in den Wäldern. Die Schüler saßen indessen in der Schule, sahen sich an und flüsterten. Sie raunten sich geheimnisvolle Dinge zu, während ihre Herzen brannten. Der Meister hatte die Lehre verlassen und war verschwunden. Die ganze Stadt Jerusalem erzählte es sich und fragten einer den andern: »Warum verließ er die Lehre?« Und fragten zum andern Male: »Wohin ging er, als er die Lehre verließ?« Und erzählten sich Wundersames: Der eine wollte ihn gesehen haben, wie er mit feurigen Flügeln in den Himmel flog, der andere war ihm nachts auf dem Ölberg begegnet und war erschrocken über seine Gestalt, die riesengroß zu den Sternen ragte. »Wo ist Akiba?« fragte das ganze Land.

Am siebenten Morgen in der Dämmerung stieg Akiba von der Ostseite den Ölberg hinauf. Es war die Zeit der Lese, alle Bäume hingen voller Früchte. Die Sonne war noch nicht herauf, aber die Vögel in der Frühe schrien schon. Wie Akiba nun um eine Ecke bog, lärmte eine Rotte römischer Soldaten vor ihm her, die die Nacht gezecht hatten und nun heimwärts wollten. Plötzlich drängte ihnen zwischen den Mauern zweier Weinberge eine Rinderherde entgegen, und voran schritt ein mächtiger Stier, auf dessen Nacken der Arm des Hirten ruhte. Da kam es Rabbi Akiba vor, als hätte er dies schon einmal erlebt, und er erkannte die Stelle. Noch staunte er, da riefen die Soldaten dem Hirten zu: »Aus dem Wege, Knecht!« Der Hirte ließ den Stier stehen und trat schweigend beiseite, während der Furchtbare weiterschritt. Da erschraken die Soldaten und rannten, was sie konnten, den Hohlweg zurück. Einige kletterten vor Schrecken auf die Mauer. Hinter ihnen her aber scholl ein gewaltiges Lachen, und es war Akiba, als käme dieses Lachen aus dem Innern des Ölberges heraus. Wie er jedoch seine Augen auftat, sah er, daß es der Hirte war, der so lachte. Der Hirte aber war so stark und groß, desgleichen Akiba nie einen Menschen gesehen. Da fing er an, das Lachen des Hirten mitzulachen, und wie sie beide so lachten, ging die Sonne auf, und der Ölberg wurde glühend rot. Sie verstummten beide, und einen Augenblick später faßte Akiba des Hirten Hand: »Wie heißt du?« fragte er: Simon nannte sich der Hirte. Da sah ihn Rabbi Akiba mit seinem mächtigsten Blicke an und sagte zu ihm: »Du bist der König Messias, sei still und warte, bis ich wiederkehre!«

Rabbi Akiba blieb verschollen. Seine Schule in Jerusalem stand leer, seine Schüler waren wie eine Herde ohne Hirten. Endlich, als er wochenlang zögerte zu kommen, erschrak man, und begann, ihn in den Bergen Judäas zu suchen. Erst zogen die Schüler hinaus, schließlich suchte das ganze Volk den Meister. Man zerstreute sich über das Land, sandte Botschaften nach allen Seiten, aber keine Kunde kam. Inzwischen gingen die Römer von Ort zu Ort und von Haus zu Haus, schleppten die Treuen fort, die dem Befehle des Kaisers trotzten, und hielten furchtbares Gericht über das Land. Die Kerker füllten sich, und des Stöhnens war kein Ende. Rabbi Akiba hatte zum zweiten Male seine Welt verlassen und eine neue gesucht. Die Zeit des Lehrens war vorüber, gekommen war die Zeit der Tat.

Damals reiste Akiba durch alle Länder des Mittelmeers, von Ägypten nach Kyrene, von Kyrene nach Zypern, von Zypern nach Nisibis, und bald kam die Kunde aus Arabien, daß er lebte. Das Volk fing wieder zu hoffen an, und neue Gerüchte von großen und unerhörten Dingen beflügelten die Hoffnung. Es hieß, daß der Weise auf allen Märkten der Welt und in allen Lehrhäusern zu den Juden gesprochen hätte, daß die Zeit erfüllt und die Tage des Messias gekommen seien. Plötzlich kam nach Jerusalem die Nachricht, daß die Juden von Kyrene alle Römer niedergemetzelt hätten, gleichzeitig meldete man schwere Aufstände unter den Brüdern in Ägypten, auch auf Zypern wüteten Kämpfe. Durch alle Botschaften aber hallte der Name Akibas wieder, der bald hier, bald dort erschienen war, um die Juden zum letzten Kampfe zu rufen. Judäa fing langsam zu brennen an.

Nördlich von Jerusalem lag das feste Bitar hoch auf den Bergen. Dort erschien eines Tages ohne Boten und Meldung der lang Vermißte auf dem Markte. Er führte ein Pferd am Zügel, auf dem der Hirte Simon Barkochba, der Sternensohn, saß. Akiba aber rief vor ihm aus: »Ein Stern bricht hervor aus Jakob: Sehet den König Messias!« Drei Tage später stand das ganze Land in Flammen, und Akiba hatte es angezündet. Vergebens schickte der grausame Landpfleger Turnus Rufus seine Schergen aus, Akiba zu fangen. Akiba war bald hier, bald da, war nirgends und überall, und wo er war, da fand man ihn nicht, und wo man ihn fand, war er schon nicht mehr. Simon Barkochba war das Schwert, Akiba die Fackel, und die Fackel raste noch mehr als das Schwert. Nach abermals drei Tagen gab es keinen römischen Legionär mehr auf dem Boden Judäas. Turnus Rufus war mit seinem scheltenden Weibe, der bösen Rufina, geflohen, und als die Kunde nach Rom kam, zitterte der Kaiser.

Danach aber schickte er seinen besten Feldherrn, den Severus, aus. Der kam und schlug den Aufstand nieder. Er trat dem Sternensohn nicht in offener Feldschlacht entgegen, sondern wich ihm aus und ließ ihn sein Schwert allein durch die leere Luft schwingen. Dafür zündete er alle Dörfer des Landes an, durch die er zog, eines nach dem andern, und warf den Brand in alle Wälder Judäas. Und aus jedem Dorfe floß ein Blutbach, der sich mit andern Bächen vereinigte und zum rauchenden Strome wurde, daß der Jordan sich rötete und das Tote Meer zu dampfen begann. Furchtbar war die Rache Roms. Schließlich fiel an einem Tage auch das feste Bitar, und vor ihm lag im Kampfe erschlagen über das Blachfeld gestreckt der Sternensohn. Immer stiller wurde es nun, totenstill im Lande Judäa.

Über den leeren Markt von Tiberias schritt Rabbi Akiba. Die Menschen saßen zitternd in ihren Häusern und hielten die Türen verschlossen, als Rabbi Akiba heimkehrte zu seinem Weibe. Alt und gebeugt empfing sie den Mann und schwieg. Er ging in sein Lehrhaus hinüber. Das Lehrhaus war verschlossen, das Schloß verrostet, öde standen die Wände. Er kehrte in sein Haus zurück. Dort war gerade ein Bote eingetroffen, der den Fall Bitars und das Ende Barkochbas meldete. Akiba zerriß seine Kleider, setzte sich in den Staub und streute sich Asche auf das Haupt. So saß er einen Tag, da erschien ein anderer Bote, der berichtete, daß die heilige Stadt ihren heiligen Namen nicht mehr tragen und das heilige Volk die Stätte nicht mehr betreten dürfte. Der Kaiser hätte ihr den römischen Namen Aelia Capitolina gegeben, und auf der Höhe des Zionberges erhübe sich jetzt ein marmornes Haus, das dem Römergotte geweiht sei. Noch redete dieser, da schlich heimlich ein dritter Bote herein und erzählte, daß nun alles vom Kaiser verboten sei, das Beten, das Lesen, das Lernen, das Lehren, und daß der Tod darauf stünde. Akiba hörte es und schwieg. Der Bote sah ihn an, sah das Weib an, und indem er die Tür schon wieder in die Hand nahm, flüsterte er: »Flieh, Akiba!« und verschwand.

Da fing Akiba zu seinem Weibe zu reden an: »Erinnerst du dich, Rahel, wie ich ein roher Hirte war und dich in der goldenen Sänfte fand?« Nach einer Weile fuhr er fort: »Und erinnerst du dich, wie ich um der Lehre willen dich darben ließ und selber darbte viele Jahre lang?« Und nach abermals einer Weile fing er laut zu stöhnen an: »O weh, mein Sohn, du hast gemacht, daß ich die Lehre verließ!« Bei alledem wandte sich das Weib nicht zu ihm hin, sondern ihr Herz blieb verschlossen.

Da stand Akiba auf und stieß die Tür seines Hauses auf. Dabei war es ihm, als öffne sich die letzte aller Welten vor seinem Schritt. Es war der Schritt des Bergstieres, mit dem er zum letzten Male auf die Gasse von Tiberias trat, und mit dem Brüllen des Stieres schrie er über den Markt: »Kommt alle, die ihr lernen wollt. Akiba lehrt euch die Lehre!« Scheu wichen die Leute zur Seite und schlüpften in die nächste Gasse, er aber trat mitten auf den Markt und rief noch einmal: »Kommt alle, Akiba, lehrt euch die Lehre!« War da ein Jüngling mit Namen Pappus, der trat näher und sprach: »Akiba, der Tod steht darauf!« –»Ich will dir ein Gleichnis sagen,« antwortete Akiba: »Der Fuchs rief den Fischen im Waldbach zu: Vor wem flieht ihr denn so, ihr Eiligen?« –Sprachen die Fische: »Vor den Angeln und Netzen«. –Sagte der Fuchs: »So kommt ans Ufer, ich rette euch!« –Da lachten die Fische und spotteten sein: »Sind wir schon nicht sicher«, sagten sie, »im Wasser, das unser Element, um wieviel weniger werden wir es am Strande sein, der unser Element nicht ist? Fisch, verlasse das Wasser nicht, Israel nicht deine Lehre!« So rief Akiba und begann das Volk zu lehren auf offenem Markte.

Als man das seinem Weibe berichtete, befahl sie zum ersten Male wieder den Mägden, das Lehrhaus zu öffnen und zu reinigen. Aber Akiba ging nicht ins Lehrhaus, sondern holte die Leute aus den Häusern, schlug auf dem Markte eine Bank auf und verkündete vor aller Ohren die heilige Lehre. Da kam seinem Weibe die Nachricht, daß der Sieger Severus das Land verlassen hätte, und der grausame Rufus mit seiner Rufina zurückgekehrt sei. An diesem Tage verließ sie zum ersten Male wieder das Haus, und alles Volk rief: »Sieh, Akiba, dein Weib ist auf dem Markte!« Sie trat an den Weisen heran und sprach: »Hör auf zu lehren, Rufus steht vor den Toren!« Er aber hörte nicht auf sie, sondern lehrte weiter, wie es geboten war. Seine greisen Arme fuhren beim Sprechen wild durch die Luft, seine Augen waren blutig wie das Auge des Stieres, und über die Gewalt seiner Stimme erbebten die Schüler, denn es war, als riefe er »Rufus! Rufus!« in einem fort. Da fing die Frau laut zu schreien an: »Heißt ihn schweigen, ihr Leute! Einmal hat er mich zur Witwe gemacht, ließ den Sohn mir sterben als eine Waise! Nun will er mich zum zweiten Mal zur Witwe machen! Heißt ihn schweigen!« Sie jammerte so, daß es auf dem Markte von Tiberias einen Aufruhr gab, und sieh, da klirrten schon Waffen, und an der Spitze seiner Legionäre erschien Rufus. Alles Volk verstummte und lief auseinander, der greise Akiba stand zuletzt allein auf dem Markte, nur sein Weib war bei ihm, und da die Schüler entlaufen waren, rief er Himmel und Erde an: »Horche, o Himmel! Merke auf, o Erde! Vernimm, o Welt, die Lehre deines Gottes!«

Da faßten ihn die Häscher und führten ihn gefangen fort. Wie sie nun vor die Kerkertür kamen, wurde von der andern Seite in Ketten jener Pappus gebracht, der Akiba gewarnt hatte. Akiba erkannte ihn und fragte: »Du aber, Pappus, wie kommst du hierher?« Da fing der Jüngling zu weinen an und rief: »Heil dir, Akiba, daß du um der Lehre willen leiden darfst! Weh mir selber, daß ich leide um eitler Dinge willen!« So betraten beide den Kerker.

Rabbi Akiba war heiter und still. Der Kerkermeister quälte ihn, wie er konnte, aber Akiba blieb sanft und lächelte den ganzen Tag. Sein Schüler Josua aus Gerasa bediente ihn und brachte ihm jeden Tag sein Maß voll Wasser. Eines Tages traf ihn der Kerkermeister, nahm ihm den Krug fort und goß die Hälfte auf die Erde. Spät und traurig erschien Josua vor Akiba. Da sagte der Meister zu ihm: »Josua, warum kommst du heute so spät? Weißt du nicht, daß ich alt bin und mein Leben an deinem hängt?« Wie er aber das wenige Wasser sah und hörte, was war, sagte er: »Gieße es mir über die Hände, daß ich mich wasche und beten kann!« Sprach der Jüngling: »Zum Trinken reicht es nicht, soll es zum Waschen sein?« und Akiba antwortete: »Gieße, mein Sohn! Besser, ich verschmachte nach Wasser, als die Thora verschmachtet nach mir!«

Der grausame Rufus kam oft zu Akiba und bedrängte ihn mit Worten. Es machte ihn lüstern, mit dem Manne zu reden, den er morgen töten würde. Auch war etwas an dem Manne selbst, was ihn lüstern machte, mit ihm zu sprechen. Hatte er gesprochen, so ging er nach Hause und erzählte seinem Weibe. Und kam wieder und redete aufs neue und kam schließlich jeden Tag.

»Höre, Akiba,« fragte er ihn einmal, »warum haßt der Gott Israels uns Römer so? Steht doch geschrieben: Den Esau hasse ich!?« –Lächelte Akiba und sprach: »Komm morgen wieder, so will ich dir die Antwort sagen!« Am nächsten Morgen fragte ihn der Grausame: »Nun, was träumtest du heute Nacht?« –»Ich träumte von zwei Hunden, der eine hieß Rufus, der andere Rufina.« –»Morgen werde ich dich töten!« schrie Rufus, »wie kannst du mich und mein Weib mit Hunden vergleichen?« –»Du zürnst?« fragte Akiba, »wo aber ist ein Unterschied zwischen euch? Du issest und trinkst wie sie, du buhlst wie sie, und du wirst auch sterben wie sie. Dennoch zürnst du, da ich dem Hunde deinen Namen gab. Gott aber, der Himmel und Erde gemacht hat, der da tötet und belebt, sollte dir nicht zürnen, da du einen Klotz nimmst und ihm seinen Namen gibst?«

Da ging Rufus hinaus und sein Gesicht brannte. Als er zu seinem Weibe, der Rufina, kam, fragte sie: »Warum brennt dein Gesicht heute so?« Antwortete der Grausame: »Wegen Rabbi Akiba!« und erzählte ihr die Sache. Da wurde das böse Weib ebenfalls lüstern und tröstete den Mann: »Ich werde zu ihm gehen und glaube mir, ich bringe ihn zu Falle!« Und ging hin und kleidete sich in ihre schönsten Gewänder, daß sie in ihrem Schmucke einer Kaiserin glich. Rufina war aber ein schönes Weib, so schön wie frech, und so machte sie, daß ihr Bein sichtbar und ihr Busen verführerisch war. Also trat sie in den Kerker zu Rabbi Akiba. Es war aber der Vorabend des großen Sühnetages gekommen, und Rufus hatte gemacht, daß an diesem Tage Akiba sterben sollte.

Wie nun das schlimme Weib also verführerisch vor Akiba trat, stand er auf und spie vor ihr aus. Da preßte sie sich vor Wut die Faust in die Zähne, aber noch ehe sie zu schelten begann, fing Akiba heftig zu weinen an. Er weinte so laut, daß sie ganz bestürzt wurde und nicht wußte, wie sie ihn fragen sollte. Plötzlich aber hörte er auf zu weinen und schaute sie mit einem Lächeln an so voller Macht und Liebe, daß die Grausame erschrak und mit zitternden Händen ihren freien Busen bedeckte.

»Warum spieest du aus?« fragte sie, »warum weintest du so? Warum lächelst du nun?« Sprach Akiba: »Drei Fragen, zwei davon sage ich dir, die dritte sage ich nicht: Ich spie aus, weil du aus einem eklen Tropfen kamst, ich weinte, weil du so wunderschön bist und dennoch modern wirst. Und nun lächle ich dir zu und sage dir nicht, warum!« Da hielt das Weib sich daran: »Warum lächelst du so? Ich muß wissen, warum du so lächelst mit mir? Sag mir, warum?« –»Drei Fragen,« wiederholte Akiba, »und die dritte sage ich dir nicht!«

Noch stöhnte das Weib vor ihm, da öffnete sich die Kerkertür, und Akibas Gattin trat herein. Ihr Haar war weiß geworden über Nacht, denn sie hatte gehört, daß Akiba heute sterben sollte. Nun kam sie, die letzte Stunde mit ihm zu teilen. Wie Akiba sie sah, nahm er sein Lächeln von der Rufina weg und schenkte es seinem Weibe.

»Sage mir, warum du lächelst?« schrie die Rufina weiter. »Man wird dir mit eisernen Kämmen die Haut abschinden. Ich will es verhindern, nur sage mir, warum du so gelächelt hast, daß mein Herz erschrak?«

Aber schon sah Akiba sie nicht mehr, sondern nur sein Weib sah er, schloß sie in seine Arme und weinte und lachte durcheinander.

»Akiba, warum lachst du so?« flüsterte sie, »und warum weinst du denn so, Akiba?«

Da sagte Akiba: »Ich habe den Rindern meiner Herde Genüge getan, darum lache ich. Ich habe meinem Weibe nicht Genüge getan, darum weine ich, Rahel. Ich habe meinem Volke Genüge getan, darum lache ich. Ich habe meinem Sohne nicht Genüge getan, darum weine ich, Rahel. Ich habe der Lehre Genüge getan, denn ich habe sie vielen Tausenden verkündet, und ich habe ihr nicht Genüge getan, denn ich habe sie meinen einzigen Sohn nicht gelehrt, darum lache und weine ich zusammen und muß nun Gott Genüge tun und sterben.«

Und fuhr weiter fort und sprach: »Als ich die Herde hatte, fehlte mir die Liebe. Als ich die Liebe fand, fehlte mir die Lehre. Als ich die Lehre hatte, fehlte mir wieder die Liebe. Warum konnte ich nicht die Liebe zur Lehre bringen, warum nicht die Lehre zur Liebe? Nun habe ich die Lehre, die Liebe und den Tod.«

Als die Rufina solche Worte hörte und mit ansah, wie die beiden aneinander weinten und lachten, zerriß sie ihr Prachtgewand von oben bis unten und schlug mit der Stirn gegen die Mauer des Kerkers. »Gibt es keine Buße?« weinte sie bitterlich, »gibt es denn keine Buße für mich?«

Wie Akiba sie so weinen hörte, legte er die Hand auf ihre Schulter und sagte: »Ja!« Da ging die Rufina aus dem Kerker, verließ in derselben Stunde ihren Mann und bekehrte sich in der Stille zum Gotte Israels, denn nun wußte sie, warum der Weise im Kerker so prophetisch und liebereich zu ihr gelächelt hatte.

Rufus hieß das Weib Akibas aus dem Kerker führen, und die Knechte begannen den Weisen zu schinden. Sie gingen ihm mit ihren eisernen Kämmen an den Leib, und die Haut ging in Blut und Fetzen von ihm ab. Akiba gab keinen Laut von sich und lächelte nur. Als die Zeit des Schmagebetes kam, fing er zu beten an. Er betete laut, und sein Lächeln wurde überirdisch, während die Knechte an ihm wüteten. Die Schüler sahen es und weinten: »Rabbi, wie betest du noch?« Er antwortete: »Steht nicht geschrieben: Du sollst ihn lieben mit ganzer Seele? Habe ich nicht gedeutet: Selbst wenn er dir die Seele nimmt? Jetzt nimmt er sie, so kann ich ihm zeigen, wie sehr ich ihn liebe!« und fuhr fort, das Schma zu beten. Als er aber an die Stelle kam: »Und du sollst sie einschärfen deinen Kindern«, schrie er jammervoll auf und konnte nicht weiter. Dann fing er wieder von vorn an und sprach das hochheilige Bekenntnis immer von neuem, bis es wie Jubel klang, und den Knechten vor diesem Manne graute. Die Schüler hielten seinen zerfetzten Leib in den Armen und benetzten ihn mit Tränen. Um die Abendzeit sprach Akiba das Bekenntnis noch einmal, indem er mit den letzten Worten seinen letzten Atemzug tat. Dann sank er zurück und war tot. In diesem Augenblick ging ein Beben durch das Haus, daß die Kerkerwand riß, und Schüler und Henker mit Schrecken flohen. Vor Gottes Thron aber zitterten in dieser Stunde die Engel und riefen: »Herr der Welt! Ist das die Lehre und dies ihr Lohn?« Und eine Stimme tönte durch den Himmel: »Heil dir, Akiba, du gingest ein zum ewigen Licht!«

 

Die Nacht des Sühnetages war gekommen. Alle Schüler waren auseinandergegangen. Auch Rabbi Josua schlich im Dunkeln nach Hause. Wartete da ein Fremder vor seiner Tür und grüßte ihn in der Nacht: »Friede sei mit dir!« –»Was willst du?« fragte Josua. Antwortete jener: »Ich bin ein Priester und frage dich, ob du mit mir gehen willst, deinen Lehrer zu bestatten?« Josua folgte ihm, und wie sie zum Kerker kamen, stand das Tor offen, und die Wächter schliefen. Sie traten ein, und Josua wollte den toten Lehrer auf eine Bahre legen. Der Fremde aber hob ihn schnell auf seine Schulter und ging voran. So schritten sie beide mehrere Stunden durch die Sühnenacht, bis sie nach Antifras kamen, das in den Bergen lag. Dort öffnete sich ihnen eine Höhle, da ging es drei Stufen hinab und drei Stufen hinauf, und sie befanden sich in einer Grotte, wo ein Bett, ein Tisch und ein Leuchter standen. Alsbald bettete der Fremde den Toten auf das Ruhelager, legte den Finger auf den Mund und gebot Josua durch ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie verließen den Raum schweigend, wie sie gekommen waren. Als Josua aber zurückblickte, sah er noch, wie die Kerze sich von selbst entzündete, und die Grotte sich langsam schloß. Voll Staunen folgte er dem Fremden, der schnell und immer schneller durch die Nacht voranschritt. Da hielt ihn Josua auf und fragte: »Rabbi, du nanntest dich einen Priester, wie durftest du dich an dem Toten entweihen?« »Sei still, Josua, mein Sohn!« sagte der Fremde. »Dieser war einer, und kein anderer war neben ihm!« Wie er das sagte, verschwand der Mann, und aus dem Dunkel ertönte eine Stimme: »Heil euch, ihr Liebenden! Heil euch, ihr Lernenden! Heil euch, ihr Gottesfürchtigen!«

Da sah Josua, daß es der Prophet Elia war und sank hin im Walde und weinte die ganze Nacht.


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