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1. Kapitel.
Was Joseph Bodger sah.

Ein rauher Märzwind strich über den Forst von Rookfield. Die Sonne war etwa seit einer Stunde untergegangen, als Joseph Bodger am Rande des nachtstillen Waldpfades auftauchte. Obwohl schlank von Gestalt und kaum mehr als 26 Jahre zählend, hatte er ein verwelktes, alt aussehendes Gesicht, mit kleinen, schmalen Augen, welche die natürliche Neigung verrieten, in schräger Linie über die lange, spitzige Nase hinwegzuschauen. Ein verblichenes, blaues Tuch war in losem Knoten um den dünnen Hals geschlungen, und wenige Schillinge hätten genügt, ihm den Anzug abzukaufen, der nachlässig auf seinem abgemagerten Leibe hing.

Als er die Grenze des Waldes erreicht hatte, verließ er den ausgetretenen Weg, kreuzte ein Stück freier Wiese, setzte sich am Rande des Grabens nieder und tastete nach seiner Pfeife. Nachdem er diese gestopft und angezündet, streckte er sich ins Gras, zog die Beine herauf und entschlummerte friedlich wie ein neugeborenes Kind.

Mehrere Stunden lag er in tiefem Schlafe. Sein erster Gedanke nach dem Erwachen galt der mittlerweile ins feuchte Gras gefallenen Pfeife – er hob sie auf, zündete sie frisch an, schüttelte sich gleich einem nassen Hunde, und zur Straße zurückschlendernd, verfolgte er sie bis zum Ende des Waldes, den Hügel hinan, auf dessen Höhe das Dorf Rookfield malerisch hingebettet lag.

Der Himmel war trübe, mit Wolken umzogen; die kleinen Häuser und Kaufläden lagen in tiefer Dunkelheit, die wenigen Straßenlaternen brannten spärlich und düster. Joseph beschleunigte seine Schritte, ließ den Kreuzungspunkt von vier zusammenlaufenden Straßen, welcher das Herz des Dorfes bildete, hinter sich und erreichte bald eine zur Rechten gelegene Mauer.

Hier führte ein Gitterthor nach dem westlichen Eingange der Kirche von Rookfield, einem massiven Steinbau, dessen östlicher Flügel kürzlich neu hergestellt worden war, während der schlanke Turm aus dem Mittelalter stammte und weder zu dem ehrwürdigen Hauptschiff, noch zu dem modernen Chor paßte. Vermutlich enthielt derselbe auch eine Uhr – die herrschende Dunkelheit gestattete keine nähere Unterscheidung – denn als Joseph durch das Gitterthor den die Kirche umgebenden Friedhof betreten hatte, hörte er zwei aufeinanderfolgende Schläge.

Welche halbe Stunde kündigten sie an? Es konnte halb zwölf, halb eins, auch halb zwei sein; darüber Gewißheit zu erlangen, war unmöglich, bevor er nicht die Stunde schlagen hörte.

Grabsteine umringten ihn – gebrochene Säulen, ein paar stattliche Denkmäler, eiserne und hölzerne Kreuze, Gräber, die wie kleine wohlgepflegte Gärtchen prangten, andere in Wildheit verkommend, Ruhestätten mit einem schmucklosen Stein und dann wieder Hügel, auf denen nur Gras wucherte. In geringer Entfernung von dem mittleren Kirchhofwege stand ein hohler Eibenbaum von ungewöhnlichem Umfange; dicht verwachsene Gebüsche umrankten den Stamm, so daß Baum und Busch eine natürliche Wand gegen die Straße bildeten. Joseph ließ sich den Vorteil dieser Deckung nicht entgehen.

»Oho!« flüsterte er »das sieht nach einem frischen Grabe aus!«

Die Turmuhr schlug dreiviertel.

Dem sich aufmerksam umschauenden Manne fiel der Glanz weißer Seidenbänder in die Augen, daneben Kreuze, aus Blumen geformt, Gewinde mannigfacher Art, zudem unterschied er deutlich den fauligen Geruch verwelkter Veilchen und Maiblumen.

Er trat näher, sein Fuß stieß gegen einige starke, verstaubte Bretter, die von Kränzen bedeckt, über ein noch offen stehendes Gruftgewölbe gelegt waren.

Die Turmuhr verkündete Mitternacht. Hastig verließ Joseph den Kirchhof, schlug den Weg zur Rechten ein, ging an einigen Kaufläden und Landhäusern vorbei und blieb endlich vor einem Gitter, dem letzten in der Dorfstraße, stehen.

Vorsichtig, jedes Geräusch beim Aufklinken des Thores vermeidend, öffnete er und flüchtete mit raschem Sprunge in das nächste, stark verwachsene Gebüsch; dort kauerte er auf dem nassen Boden nieder, zog die Stiefel aus und kroch leise längs der Hecke des Gartens hin, bis er das große, im regelrechten Vierecke gebaute Haus erreichte.

Sein ohnehin blasses Antlitz hatte jede Farbe verloren; dicke Schweißtropfen hingen ihm an der Stirne, mehr noch aus Furcht vor Hunden als vor Menschen. An die Büsche gedrückt, in Angst erschauernd, schlich er vorwärts dem Hause zu; erst als er sich diesem gegenüber befand, wagte er sich ins Freie, um die Hinterfenster zu untersuchen. Ein Messer durch einen der Fensterrahmen keilen, den Riegel ausheben, hineinspringen, die steingepflasterte Vorratskammer durchschreiten und deren Innenthür mit einer kurzen Brechstange öffnen war das Werk weniger Minuten; es blieb ihm nur übrig, leise zum Speisezimmer zu schleichen, dessen Thür aufzuschließen und einzutreten.

Dort angelangt gebrauchte Joseph zuerst die Vorsicht, den Riegel von innen vorzuschieben und gleichzeitig ein Fenster zu öffnen, um sich für den Fall unwillkommener Ueberraschung die Mittel zur Flucht zu sichern. So geräuschlos wie möglich brannte er ein Streichhölzchen an, entzündete die Lampe, die auf dem Tische vor ihm stand, und steckte so viel von dem dort aufgestellten, mit dem Löwenwappen verzierten Silbergeräte zu sich, als der Leinensack, den er zu diesem Zwecke unter seiner Weste verborgen trug, zu fassen im stande war.

Als die Uhr auf dem Kaminsimse von Oberst Askews Landhaus die erste Stunde nach Mitternacht schlug, dünkte es Joseph hohe Zeit, den Rückzug anzutreten, da noch ein weiter Weg vor ihm lag. Er schnürte den Sack fest zu, warf ihn über die Achsel, blies die Lampe aus, schwang sich auf die Brüstung des Fensters und sprang leicht und geschickt in ein unter demselben befindliches Blumenbeet.

Der Horizont hatte sich aufgehellt, blauer Aether schimmerte zwischen den weißen Lämmerwölkchen hindurch, und während Joseph im Gebüsche die Stiefel anzog, verfluchte er zwar leise, doch recht herzhaft den Mond, der goldig über seinem Haupte glänzte.

In gebückter Stellung, gedeckt durch das Gesträuch, faßte er den Sack und wollte eben nach dem Gitterthor zurück, als er Fußtritte vernahm und besorgt stille stand.

Die Ruhe der Natur, die leichten, segelnden Wolken schienen die tiefe Stille um ihn und neben ihm noch fühlbarer zu machen; nur die Schatten des wandernden Gewölkes glitten geisterhaft über den mondbeleuchteten Kiesweg. Als die Schritte näher kamen, kroch Joseph bis an die Gartenmauer, zog die Tuchmütze tief über sein kurz geschnittenes Haar und lugte vorsichtig hinüber ins Freie.

Der Schatten einer Gestalt schwankte über die Straße, verlängerte sich zu riesenhafter Größe und erwies sich als Vorläufer eines mittelgroßen, stark gebauten Mannes, welcher, rasch vorübergehend, die Richtung nach dem Kirchhofe einschlug. Sein Bart ragte aus dem aufgeschlagenen Rockkragen hervor, die Augen waren zu Boden gesenkt. Joseph hielt den Atem an, bis der nächtliche Wanderer außer Sehweite war.

Nun galt es, keine Zeit mehr zu verlieren; er drückte den Sack fest an sich und wollte endlich seinen Schlupfwinkel verlassen, als der Schall erneuter Fußtritte an sein lauschendes Ohr schlug.

»Merkwürdige Stunde für Spaziergänger – ganz merkwürdig gewählte Zeit!« brummte er vor sich hin. Nochmals mußte Joseph den Schutz der hohen Lorbeerstauden suchen, wobei er nur ab und zu einen Blick über die Gartenmauer zu werfen wagte. »Der Henker soll mich holen, wenn es diesmal nicht ein Weib ist!« stammelte er im nächsten Augenblicke.

Sie war von Kopf bis zu Fuß in Schwarz gekleidet und außergewöhnlich groß, um mehrere Zoll höher als der Mann, welcher zuerst vorübergegangen. Mit langen, schwebenden Schritten wandelte sie einher; ihr Gesicht war durch einen dichten, dunklen Schleier vollkommen verhüllt, während die große, weiße Hand unbehandschuht zur Seite niederhing. Starr vor sich hinblickend, folgte diese unheimliche Erscheinung des Mannes Fußstapfen, als wären beide losgelöste Schatten eines mitternächtigen Geisterzuges.

Josephs Hände zitterten derart, daß der Inhalt seines Sackes zu klirren begann; er legte ihn auf den Boden und wartete, bis auch die Frau den Gesichtskreis von Oberst Askews Haus verlassen hatte; dann schlich er, ohne noch eine Minute zu verlieren, in entgegengesetzter Richtung davon.

Zur Linken war die Straße häuserfrei, doch wenige Meter entfernt zur Rechten zitterte ein trübes Licht zwischen den blätterlosen Zweigen einer Reihe von Lindenbäumen hindurch. Hinter diesen Linden und einem Garten von beträchtlicher Ausdehnung stand das unter dem Namen ›Waldaussicht‹ bekannte Landhaus.

Von hier aus lief eine Hecke längs der Straße weiter, bis jenseits derselben in geringer Entfernung ein zweites Haus, ›das Krähennest‹ auftauchte. Es war das letzte im Dorfe, und als Joseph auch dieses im Rücken hatte, setzte er seinen Weg mit erleichtertem Herzen rüstig fort.


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