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Personen
Vergnügungsreisende verschiedener Nationalität, die Teilnehmer einer der täglich von Cook und anderen Gesellschaften veranstalteten Autocar-Expeditionen zum Besuch der Schlachtfelder an der Marne, in den Argonnen, um Verdun. Darunter:
Amerikaner: Smith Jackson |
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Engländer: Sharpe Marshall Miß Greeley Dorothy Violet |
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Franzosen: Verron Mme. Verron Remusat Lerat Mme. Lerat Mme. Duvernois Dr. Paetz |
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Deutsche: Frau Paetz von Henkel Frau von Henkel Fritzchen Brohl Spärlich Heydner |
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Pillwein, Österreicher | |
Alter Italiener | |
Junger Italiener | |
Alter Japaner | |
Junger Japaner | |
Erster Pfarrer | |
Zweiter Pfarrer | |
Mazas, Expeditionsführer | |
Vernier, Friedhofswärter |
Waldblöße in den Argonnen: Ein kleiner Soldatenfriedhof
Den Hintergrund – ein weites Gräberfeld – durchschneidet, sich nach rechts und links verlierend, eine mit Gräbern besäumte Allee.
In der Mitte eine eingezäunte Rasenfläche, die ein steinernes Kreuz auf nahezu mannshohem Sockel trägt: Ein Massengrab.
Beiderseits des Massengrabes, zu dem gekieste Wege führen, gleichfalls Gräberreihen.
Die Gräber rechts haben Kreuze aus lichtem, die links solche aus schwarz gestrichenem Holz.
Im Vordergrund eine Allee. In der Mitte ein eiserner Ständer mit der Tafel: »Guide – Fremdenführer«. Eine Bank, etliche Stühle.
Das Tor (unsichtbar) in der Vordergrundallee links. Hier befindet sich auch die (unsichtbare) Pförtnerwohnung.
August 1939 – fünfundzwanzig Jahre nach Ausbruch des Weltkrieges.
*
Die Gräber sind mit Blumen geschmückt. Auf dem Sockel des steinernen Kreuzes liegen zwei mächtige Kränze mit Schleifen in den deutschen Reichsfarben und in denen der Trikolore.
Im Hintergrund arbeiten einige Gärtner in Hemdärmeln. Sie gießen die Blumen und kehren die Wege.
Vernier, der invalide Friedhofswärter, Stock, verwittertes Käppi, inspiziert die Gräber und überwacht die Arbeit.
Am Tor, in der Vordergrundallee links, wird kräftig die Schelle gezogen.
Mazas (Anfang der Dreißig, hübsch, schlank, Vorstadtelegant, in Dreß, Mütze mit den goldgestickten Initialen »D. & Cie.«, ruft, unsichtbar bleibend, von links): Alloh! Alloh! Vernier! Alloh!
Mehrere (unsichtbar bleibend, manche davon mit englischem Akzent): Hallo! Alloh! Aufmachen! Öffnen! (Sie rütteln am Gittertor und ziehen heftig und anhaltend die Schelle.)
Vernier (knurrend): Hol euch der Teufel! (Er stapft dem Tor entgegen.) Wer ist dort?
Mazas: Ich, Mazas! Reisegesellschaft von Durmont et Compagnie. Hatten einen Radbruch. Mach auf, Vernier!
Vernier (im Hingehn): Wozu bist du noch gekommen, Mazas? Weißt du nicht, um wieviel Uhr geschlossen wird? Kein Einlaß mehr! Fahr nach Hause, Mazas!
Viele (unsichtbar): Was? Wie? Was sagt er? Kein Einlaß? Warum nicht? Wieso nicht? Aufmachen! Aufmachen! (Sie rütteln am Tor.)
Vernier (ist links verschwunden): Ladies and gentlemen, ich bedaure es sehr, aber es ist längst geschlossen. Auch Cook kam zu spät und mußte wieder fort, ohne besichtigt zu haben.
Viele: Was redet er da? Was geht uns Cook an? Wir haben bezahlt! Aufmachen! Aufmachen!
Greeley (hagere, vertrocknete Institutsvorsteherin, entrüstet): O–hh! Wir wollen sehen diesen Friedhof! Wir haben bezahlt einen sehr guten Preis!
Mazas: Sprich nicht lang herum, Vernier, und mach auf. Die Damen und Herren werden sich erkenntlich zeigen . . .
Vernier: Also – für zehn Minuten, meine Damen und Herren. For ten minutes, ladies and gentlemen. (Ein Schlüssel knirscht im Schloß, ein Tor kreischt in den Angeln. Die Reisegesellschaft tritt ein. Viele sind in Sportkleidung und haben Feldstecher oder photographische Apparate umgehängt.)
Jackson (derber Kaufmannstyp, erbost): Wir haben gar keinen Grund, uns erkenntlich zu zeigen diesem old boy; denn wir haben uns schon sehr erkenntlich gezeigt Ihrer verdammten Gesellschaft!
Die Ausflugsteilnehmer, nach Nationen in Gruppen geteilt, beginnen, sich über den Friedhof zu zerstreuen.
Man tritt an die Gräber, versucht die Kreuzinschriften zu entziffern, studiert den Baedeker und Karten oder rüstet zu einem kurzen Picknick. Die Mehrzahl schart sich um die Tafel »Guide – Fremdenführer« und wartet.
Heydner, ein hochgewachsener Mann, Mitte der Vierzig, mit geistigem Gesicht, hält sich abseits. Er ist in den Anblick des Friedhofes versunken. Später begibt er sich zum Massengrab und läßt sich, mit dem Rücken zu den andern, auf einer Bank davor nieder. Er bleibt dort allein.
Verron und Mme. Verron, ein altes Ehepaar, sind damit beschäftigt, auf einem Grab mit lichtem Kreuz die Blumen zu ordnen.
Der junge Italiener versucht, sich Violet zu nähern, was Violet mit lebhaftem Interesse, Miß Greeley mit eisiger Abwehr beobachtet.
Pillwein bummelt von einer Gruppe zur andern und wird überall freundlich aufgenommen.
Greeley (hält Mazas einen Prospekt unter die Nase): Da! In Ihrem schönen Prospekt steht gedruckt, daß man wird einnehmen in diesem Ort im Hotel eine kleine Erfrischung nach Wahl. Aber Ihr Prospekt lügt! Ich habe mich gefreut die ganze Fahrt auf die kleine Erfrischung nach Wahl. Ich wollte einnehmen eine Eiscreme. Aber wir sind vorbeigefahren bei dem einzigen Hotel, ohne zu halten für die Eiscreme.
Mazas: Madame muß das entschuldigen. Aber morgen wird auch hier die Heldengedenkfeier abgehalten, Fünfundzwanzig Jahre seit Kriegsausbruch . . . Das Hotel ist für die deutschen und französischen Regierungsdelegationen reserviert. Der deutsche und der französische Kriegsminister sind darin abgestiegen . . . Sogar die Zufahrt ist abgesperrt. Ich wundere mich, daß wir bis hierher gekommen sind. Und es ist eine Chance, daß man uns noch eingelassen hat . . .
Jackson: Chance? Haben wir bezahlt unsere Ticketts oder nicht? Yes, wir haben bezahlt. Wieso also Chance? Ich nenne Chance, wenn wir nichts hätten bezahlt und man hätte uns eingelassen (Beifall bei den Amerikanern.)
Pillwein (ist herangebummelt): Ah, entschuldigen schon. So ist das nicht. Er hat recht. Eine Chance ist da schon dabei . . .
Mazas (dankbar): Nicht wahr, mein Herr? Der österreichische Herr hat Einsicht! Die Österreicher sind eine sehr liebenswürdige Nation. Was immer man ihnen sagt – sie sehen es ein.
Pillwein (zeigt auf Mazas): Eine Chance nämlich für ihn. Er erspart sich heut die Eiscreme. (Bummelt weiter.)
Vernier (tritt in die Mitte der Wartenden. Nach und nach finden sich auch die andern – mit Ausnahme Heydners – ein): Ladies and gentlemen! Sie befinden sich hier in der Ortschaft »Petit-Cimetière« in den Argonnen. Hier fanden, besonders in den Jahren 1916 und 17, äußerst schwere und verlustreiche Kämpfe statt.
Jackson (Notizbuch in der Hand): Stop. Wieviel Soldaten sind hier gefallen?
Vernier: Das läßt sich nicht genau sagen, mein Herr . . . Ich denke, es werden zehntausend gewesen sein . . . Vielleicht sogar fünfzehntausend! Es waren jedenfalls sehr verlustreiche Kämpfe, mein Herr.
Jackson: Zehntausend, fünfzehntausend. So. (Pause.) Im vorigen Jahr, wir waren in Flandern. Dort hat man uns gezeigt Schlachtfelder, wo gefallen sind – vierhunderttausend! Sechshunderttausend! In einem einzigen Jahr!
Remusat (und die andern Franzosen blicken sich um)
Lerat (etwa Fünfzig, Offizierstyp, scharf): Fahren Sie doch fort!
Remusat (im gleichen Alter, mittelgroß, schlank): Warum lassen Sie sich denn unterbrechen?
Vernier: Vor dem Kriege existierte dieser Ort nicht. Er hat sich erst nach und nach um diesen Friedhof gebildet und besteht nun aus einer Kirche, einer Anzahl von Gehöften und aus dem Hotel. Das Hotel, ladies and gentlemen, ist mit dem modernsten Komfort eingerichtet und bildet seiner zentralen Lage wegen den Mittelpunkt für die Friedhofsexkursionen in den Argonnen und um Verdun . . . Deswegen sind auch der Herr deutsche und der Herr französische Kriegsminister, die zur morgigen Heldengedenkfeier erschienen sind, darin abgestiegen. Meine Damen und Herren! Sie haben sicherlich schon viele Soldatenfriedhöfe gesehen. Aber kaum einen wie diesen . . .
Jackson: Stop. Wieviel Gräber hat Ihr Friedhof?
Vernier: Etwa zweitausend, mein Herr.
Jackson (grimmig): Zehntausend Gefallene, zweitausend Gräber – aber zweihundert francs français.
Vernier: Bitte?
Mazas: Was meint der Herr damit?
Jackson (erbost): Ich meine damit, daß Ihre Gesellschaft verdammt teuer ist und für sehr viel Geld sehr wenig zeigt.
Smith (alter Amerikaner, entrüstet): Das finde ich auch! In Flandern, wir haben ganz andere Friedhöfe gesehen! Wir haben gesehen Friedhöfe mit fünfzehntausend Gräbern!
Greeley: Jawohl, wir haben gesehen einen Friedhof mit zwanzigtausend Gräbern unbekannter deutscher Soldaten. Nicht ein Name ist bekannt!
Jackson: Dabei – wir haben bloß bezahlt zweihundert francs belges!
Greeley: Und wir haben bekommen Lunch und Dinner!
Smith: Und Sie zeigen Friedhöfe mit sechstausend Gräbern, mit fünftausend Gräbern oder auch nur mit zweitausend Gräbern!
Jackson: Aber dafür Sie nehmen zweihundert francs français!
Greeley (haßerfüllt): Das ist Frankreich! Das ist Frankreich!
(Die Franzosen kehren sich fast gleichzeitig um. Das Folgende sehr rasch.)
Remusat: Oh, das ist eine Infamie!
Mme. Lerat (hübsch, jung, elegant): Warum haben Sie denn die billigste Tour gewählt?
Lerat: Für dreihundertfünfzig Francs bekommen Sie bei uns Schlachtfelder zu sehen, wo nicht Vierhunderttausend oder Sechshunderttausend gefallen sind, sondern – eine Million!
Remusat: Und Friedhöfe mit dreißig- und vierzigtausend Gräbern!
Mme. Duvernois (Anfang der Zwanzig, mondän, sehr reizvoll): Aber Sie sind geizig! Sie sitzen auf Ihrem Geld. Sie riskieren höchstens fünf Dollar!
Mme. Lerat: Aber dafür wollen Sie Schlachtfelder sehen mit drei Millionen Gefallenen und Friedhöfe mit fünfhunderttausend Gräbern!
Remusat: Wozu kommen Sie denn überhaupt her?
Mme. Duvernois: Mit Ihren Pfunden und Dollars verteuern Sie uns bloß unsere Kleider – und Ihnen stehn sie doch nicht!
Greeley: O–hh! Ich glaube, man beleidigt uns?
Lerat: Wer, zum Henker, hat Sie denn herübergerufen? Wären Sie doch zu Hause geblieben und hätten Sie sich Ihre eigenen Schlachtfelder angesehen, wenn Ihnen die unseren nicht passen!
Sharpe (hoher, schlanker Engländer mit schlohweißem Haar und großer Würde): Wir sind hier auf unseren Schlachtfeldern, meine Herren.
Marshall (alter Engländer): Dieser Boden ist mit englischem und amerikanischem Blut für Sie zurückerobert worden, da Sie allein – es nicht vermochten.
Franzosen (stoßen einen Wutschrei aus).
Jackson: Jawohl! Hätten wir nicht für euch geblutet, dann hätte euch der Teufel geholt! Jawohl! Und das ist mein letztes Wort in dieser Sache.
Franzosen (brechen in ein empörtes Lachen aus): Ihr habt für – uns geblutet? Ihr –??
Remusat: Für euer Geschäft habt ihr geblutet!
Jackson: Verdammt! Amerika hätte euch doch keinen Mann herübergeschickt, wenn ihr es nicht verstanden hättet, uns einzureden, daß es um die Rettung der Kultur gehe!
Remusat: Ah – und deshalb seid ihr herübergekommen? (Hohngelächter.)
Jackson: Zum Teufel, Mann! Wofür denn sonst??
Remusat: Ja, wofür bloß? Denn um eure Kriegskredite und Kriegsprofite hattet ihr ja keine Sorgen? (Gelächter.)
Smith: Das ist der Dank dafür, daß wir euch gerettet haben!
Sharpe: Genug davon. Was wir gehört haben, werden wir uns merken.
Marshall: Wir werden es uns merken.
Jackson: Also! Da hört ihr es! Und wenn ihr das nächste Mal wieder mit den Deutschen zu tun bekommt, könnt ihr es allein mit ihnen ausmachen.
Smith: Und dann wird euch schon der Teufel mit aller Sicherheit holen.
Greeley: O–hh, ganz bestimmt. Er wird sie holen. Ganz bestimmt.
Jackson: Und das ist unser letztes Wort in dieser Sache.
Mme. Duvernois: Vorsicht! Die Boches hören zu! (Die Gruppen kehren einander den Rücken.)
Vernier: Ladies and gentlemen, wie ich eben hörte, haben Sie schon sehr viele Friedhöfe besichtigt. Größere und schönere . . . Dennoch, meine Damen und Herren, ich versichere Ihnen: ein solcher Friedhof wie dieser war kaum darunter . . . Denn, ladies and gentlemen, dieser Friedhof ist nicht etwa ein American cemetery oder ein English cemetery, ein Belgian cemetery, ein French cemetery oder ein German cemetery . . . . Dieser Friedhof, messieurs, 'dames, ist ein Friedhof, in dem Franzosen und Deutsche nebeneinander ruhen . . .
(Ausrufe des Erstaunens.)
Jackson: Hallo! Das haben wir noch nicht gesehn!
Mazas (mit Genugtuung): Jetzt werden die Damen und Herren auch begreifen, warum er in den Reiseführern mit drei Sternchen bezeichnet ist!
Vernier: Ladies and gentlemen! Im Kriege wurden die Soldaten meist dort bestattet, wo sie gerade fielen. Aber als Friede wurde, als die Bauern wieder zu pflügen anfingen, stießen sie beim Furchenziehen sehr oft auf die Überreste der Gefallenen . . . Es war nicht möglich, sie dort zu belassen. Man legte also große Friedhöfe an und bettete die Toten um. Die französischen Toten, meine Damen und Herren, erhielten Kreuze aus lichtem Holz, die deutschen aus dunklem. Und so sehen Sie hier, ladies and gentlemen: Rechts die Franzosen, links die Deutschen . . .
Die Gesellschaft gruppiert sich instinktiv derart, daß die Franzosen rechts, die Deutschen links, die übrigen in der Mitte zu stehen kommen.
Brohl (klein, dick, Bart und Goldbrille): Schwarz und weiß! Großartig! Der Gegensatz kommt darin genial zum Ausdruck!
Mazas (geschmeichelt): Jawohl, mein Herr! Die Damen und Herren sehen auch, wie sorgsam der Friedhof gepflegt wird. Man tut wirklich für die Gefallenen, was man nur kann!
Jackson: Wäre auch verdammt dumm, diese Friedhöfe zu vernachlässigen!
Smith: Eure Fremdenindustrie würde zurückgehen, und eure Handelsbilanz sähe dann noch schlechter aus!
Mazas (geschmeidig): Es ist ein sehr glücklicher Umstand, mein Herr, daß die Pietät, die man den Gefallenen schuldet, sich auch als Vorteil für die Lebenden erweist.
Jackson: Was »Vorteil«! »Vorteil«! Sie können ruhig sagen: als ein Geschäft! Als ein verdammt gutes Geschäft!
Smith: Wovon würden Sie denn leben, wenn die nicht gefallen wären?
Jackson: Und wovon würde Ihre Gesellschaft Dividenden bezahlen, wenn die nicht hier lägen, he –?
Marshall (weist mit seinem Stock gegen die Mitte): Und was ist das dort?
Vernier: Das, mein Herr, ist ein Massengrab. (Ausrufe der Überraschung.)
Henkel (Mitte der Vierzig, hohe, straffe Erscheinung): Ausgezeichnet. Massengrab. Das haben wir noch nicht. (Er stellt seinen photographischen Apparat ein.) Mutter, Fritzchen! Stellt euch dazu, damit ihr auch draufkommt! (Fritzchen läuft zum Sockel; Henkel knipst. Auch andere photographieren.)
Sharpe: Und wer ruht in diesem Massengrab?
Marshall: Franzosen oder Deutsche?
Vernier: In diesem Massengrab, ladies and gentlemen, ruhen . . . Franzosen und Deutsche.
(Ausrufe der Betroffenheit.)
Greeley (indigniert): Franzosen und Deutsche in einem Grab? O-hh!
Mazas: Vernier, erzähl, was du darüber weißt.
Vernier: Meine Damen und Herren! Hier, wo Sie jetzt stehen, befanden sich die französischen und die deutschen Gräben. Man lag einander auf kaum hundert Meter gegenüber. (Pause.) Es steht nicht fest, wer beim Endkampf den ersten Angriff gemacht hat . . .
Remusat: Wie, es steht nicht fest? Was heißt das?
Vernier: Daß man es nicht mehr weiß, mein Herr!
Lerat: Waren Sie französischer Soldat?
Vernier (zeigt auf sein lahmes Bein): Jawohl, mein Herr!
Lerat (scharf): Dann sollte das aber für Sie feststehen, zum Teufel!
Vernier (legt salutierend die Hand an sein Käppi): Wie der Herr befiehlt! Den ersten Angriff machten also (leichte Verneigung gegen die Franzosen) die Franzosen. Sie eroberten den deutschen Graben und machten die Deutschen zu Gefangenen . . . Aber sie konnten sie leider nicht nach rückwärts schaffen, denn man funkte mit schweren Brocken, es gab dicke Luft . . .
Mazas (nachsichtig): Er meint: es gab Trommelfeuer.
Vernier: Dann aber machten die Deutschen (bedauernde Handbewegung gegen die Franzosen) einen Gegenstoß. Er ging über den Graben hinaus, und jetzt waren die Franzosen im Graben die Gefangenen ihrer Gefangenen . . . Aber auch die Deutschen im Graben konnten die Franzosen nicht nach hinten schaffen, denn die dicke Luft hielt an . . . Dann stießen wieder die Franzosen von rückwärts vor und dann wieder die Deutschen . . . Und so ging das hin und her, mehrere Tage lang.
Marshall: Und was geschah inzwischen im Graben?
Greeley: Sie haben sich gegenseitig umgebracht, die Deutschen und die Franzosen?
Vernier: O no, Madame, wir haben . . . sie haben miteinander Karten gespielt.
Alle: Wie –? Was –? Gespielt? Sie haben miteinander Karten gespielt? Oh!
Vernier: O yes, ladies and gentlemen. Wenn es nicht gerade zu arg zuging.
Pillwein (zum erstenmal lebhaft bewegt): Was haben s' denn g'spielt? Tarock? Bridge? Poker?
Greeley (empört): Aber es war doch Krieg! Sie mußten doch miteinander kämpfen! Sie mußten einander doch töten! Sie waren doch Feinde!
Vernier: O no, Madame. Ich glaube, nur am Anfang. Dann aber . . . Wir lagen . . . Sie lagen beisammen im selben Graben. Von beiden Seiten schoß man auf sie. Sie mußten sich aneinander drängen, um Deckung zu suchen. Die gleichen Einschläge haben sie verwundet oder getötet. Sie mußten einander die Wunden verbinden, das Trinkwasser teilen, die Vorräte, die Zigaretten, die Gasmasken . . .
Lerat: Und wer hat schließlich die Gefangenen gemacht?
Vernier: Es gab keine Gefangenen, mein Herr. Die rückwärts wollten einander den Graben nicht lassen und schossen ihn in Trümmer. (Pause.) Weil man aber dann die französischen Toten nicht von den deutschen unterscheiden konnte, hat man alle in diesem Massengrab bestattet.
Sharpe: Woher weiß man denn das alles?
Vernier: Es . . . gab einen französischen Sergeanten in diesem Graben. Der war nicht tot, bloß schwer verwundet. Er kam auf, und er – hat es mir erzählt. Es soll übrigens auch ein Deutscher davongekommen sein . . . Noch eine Frage, ladies and gentlemen?
Greeley (deutet mit ihrer Schirmspitze): Wer ruht in diesem Grab?
Vernier: Baron Vaudemont, der Kapitän. Dort André Verron, sein Leutnant.
Greeley: André Verron? Der junge Dichter?
Vernier: Yes, Madame.
Dorothy (liest ab): 1896–1916. Zwanzig Jahre. (Sie legt eine Blume auf sein Grab.)
Vernier: Der Tambour Roubeau. Er war sehr tapfer. Man hat ihm bei der Umbettung ehrenhalber eine Trommel ins Grab gegeben.
Greeley: Eine Trommel! Oh, das ist romantisch! Wie in einem Gedicht!
Vernier (weist auf die der französischen Abteilung zugekehrte Sockelseite): Morel. Ein hübscher, freundlicher, sanfter Junge. Schuster in einem Dorf an der Suippe. . . Herr Baillard, ein reicher Mann, war Bankier in Paris. Dubois, ein Bauer aus einem Dorf an der Marne . . .
Brohl (ruft aus der deutschen Abteilung herüber): Ich lese hier: Christian Hessel.
Vernier: Gewiß, mein Herr. Liegt hier schon bald fünfundzwanzig Jahre.
Brohl: Wissen Sie, wer das war?
Vernier: Ein kriegsfreiwilliger Student, mein Herr.
Brohl: Es gibt einen jungen Biologen dieses Namens, der als Kriegsfreiwilliger fiel. Seine Arbeiten sind inzwischen berühmt geworden.
Vernier: Mir unbekannt, mein Herr . . . Neben Hessels Grab ist das Grab des Schauspielers Sonneborn. Gegenüber liegt der deutsche Hauptmann Wittekind. Er war ein großer, stattlicher und sehr gutmütiger Herr. Die Namen der deutschen Toten des Massengrabes finden Sie hier . . . (weist auf die der deutschen Abteilung zugekehrte Sockelseite) Lehmann, ein Buchhalter. Weber, ein Arbeiter. Schröder, ein Rechtsanwalt. Schmidt, ein Straßenbahnschaffner. Müller, ein . . .
Mazas: Genug, Vernier, genug! Er nennt Ihnen Namen, messieurs, 'dames, die Ihnen nichts bedeuten und sie bloß ermüden. Hier oder drüben – ein Grab wie das andere, ein Poilu wie der andere . . . Hundert, tausend, zweitausend Gräber Ihnen unbekannter Soldaten, viel weniger schön als das Grab mit der ewig lodernden Flamme, das Sie gütigerweise in den Hauptstädten dem »Unbekannten Soldaten« errichtet haben . . . Hier gibt es nichts Interessantes mehr für Sie . . . Darf ich bitten, sich jetzt nach rechts rückwärts zu begeben? Dort werden Sie noch Sehenswertes finden . . . To the right, ladies and gentlemen . . . (Die Ausflügler, geführt von Mazas, gehen nach rechts rückwärts ab.)
Vernier (im Begriff, ihnen als letzter nachzuhumpeln, stößt auf Heydner, der gänzlich abwesend, noch immer in den Anblick des Friedhofes und des Massengrabes versunken, dasitzt. Vernier geht um ihn herum, und da Heydner ihn nicht zu bemerken scheint, spricht er ihn an): Ein schöner Friedhof, mein Herr? Nicht wahr?
Heydner (schreckt auf, sieht Vernier lange an): Ja.
Vernier: Die vielen Blumen zieren ihn sehr. Leider werden sie die morgige Gedenkfeier nicht lange überleben.
Heydner (abwesend): Leider.
Vernier: Unsere Feier findet bereits zeitlich am Morgen statt. Die Regierungsdelegationen kommen zuerst zu uns. Dann erst fahren sie von einem Friedhof zum andern. Ein sehr anstrengender Tag für die hohen Herren! Wahrscheinlich werden sie kaum vor Abend im Hotel zurück sein . . .
Heydner: Wahrscheinlich.
Vernier: Der Herr wird der Feier in Paris beiwohnen?
Heydner: Kaum.
Vernier: Oh, das wäre sehr schade, mein Herr. Es wird eine große Sehenswürdigkeit werden! Der Herr Ministerpräsident Delcampe wird sprechen . . . Ich hörte, daß man heute für einen Tribünensitz bereits tausend Francs und für einen Balkon – fünftausend Francs bietet! (Pause.) Übrigens, in Berlin dürfte es nicht weniger großartig zugehen. Nicht wahr, mein Herr?
Heydner: Sicherlich nicht.
Vernier: Dort wird wohl der Herr Reichskanzler sprechen?
Heydner: Vermutlich.
Vernier: Aber einem Festgottesdienst wird der Herr doch wenigstens beiwohnen? Vielleicht dem in Notre-Dame?
Heydner (langsam): Gedenkfeiern . . . Festgottesdienste . . . (Stille.) Um was, Friedhofswärter, wird man denn beten?
Rufe (von rechts rückwärts): Guide! Führer! Alloh! Vernier!
Vernier (ruft zurück): Ich komme! (Zu Heydner): Man ruft mich . . . Wie meinte der Herr?
Heydner (mehr zu sich als zu Vernier): Was will man denn für die da unten? Und um was wird man denn morgen in allen Kirchen und Tempeln beten für Wittekind und Hessel. Für Weber und Schröder. Für Vaudemont, Morel, Verron – und all die andern . . . ?
Vernier (nach einer Pause): Der Herr frägt sehr sonderbar . . . (Stille.) Ich denke für die Ruhe ihrer Seelen? Für ihre Erquickung . . . ? (Pause.) Vor allem wohl: Um ihre herrliche Auferstehung! Darum wohl vor allem!
Rufe (verstärken sich): Vernier! Guide! Führer! Alloh! Halloh! Wo bleiben Sie denn?
Vernier: Der Herr wird entschuldigen, aber ich muß leider gehn. Man wird schon ungeduldig. Kommt der Herr nicht mit?
Heydner (schweigt und blickt in die Weite).
Vernier: Es ist nur, weil ich dann gleich den Friedhof schließen muß . . . (Pause.) Der Herr wird dann nicht mehr die Möglichkeit haben, die übrigen Teile des Friedhofes zu besichtigen . . .
Heydner (schweigt).
Rufe (sehr heftig): Guide! Führer! Gottverdammt! Vernier! Vernier! Wo bleibst du denn? Vernier!!!
Vernier (erschreckt, ruft): Ich komme! Ich komme! Ladies and gentlemen, ich komme! (Er wirft noch einen Blick auf Heydner, bemerkt dessen Abwesenheit, zuckt die Achseln und humpelt eilig nach rechts rückwärts ab. Der Friedhof liegt ganz still. Auch die Gärtner sind verschwunden.)
Heydner (nach einer Weile leise, stark): – – um eure Auferstehung!! (Er sitzt regungslos. Es ist, als ob er in Weites, Fernes, Unwirkliches blickte.)
Die Bühne verdunkelt sich.