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Syme setzte den Feldstecher ab. Totenblaß vor Angst und – vor Erlösung.
»Der Präsident – immerhin – ist nicht darunter«, sagte er und schneuzte sich.
»Aber – gewiß sind sie augenblicklich erst am Horizont«, sagte der bestürzte Colonel und blinzelte. Er hatte sich erst halb von Bulls hastiger, wenn auch höflicher Erklärung erholt. »Ist es denn möglich, daß Sie Ihren Präsidenten unter all diesen Leuten herauskennen?«
»Wärs nicht auch möglich, daß ich unter all diesen Leuten einen weißen Elefanten herauszukennen vermöchte?« versetzte Syme etwas gereizt. »Sie haben ganz recht, wenn Sie sagen, daß sie augenblicklich erst am Horizont sind. Aber wenn Er dort unter ihnen wäre . . . bei Gott! Die Erde hier würde erzittern!«
Nach einer kleinen Stille behauptete der neue Mann namens Ratcliffe mit viel Düsterheit:
»Selbstverständlich ist der Präsident nicht darunter. Aber ich wünschte, ich wünschte – er wäre darunter. Sehr wahrscheinlich reitet der Präsident augenblicklich im Triumph durch Paris oder sitzt auf den Ruinen von St. Pauls Cathedral.«
»Das ist doch absurd!« sagte Syme. »Irgend etwas mag während unserer Abwesenheit geschehen sein. Aber so auf einmal hat er die Welt denn doch nicht bemeistert. Es ist ja wahr«, setzte er hinzu und blickte besorgt über die Felder weit bis zur kleinen Station hin, »es ist sicherlich wahr, daß da irgendein Pöbel auf uns her zu kommen scheint. Aber der ist doch nicht die Armee, die Sie aus ihm machen wollen.«
»Oh, die da?« sprach der neue Detektiv verächtlich, »nein – die sind keine sehr schätzbare Streitmacht. Aber lassen Sie mich Ihnen geradaus erzählen, daß sie präzis gegen unser bescheidenes Vermögen taxiert sind. Wir sind so winzig wenig, mein lieber Junge, in Sonntags Universum. Er hält alle Kabel und Telegraphenlinien besetzt. Den Allerhöchsten Rat aber umzuwerfen, das ist ihm dagegen eine so triviale Sache wie eine Korrespondenzkarte. Das überläßt er ruhig seinem Privatsekretär –« und er spuckte ins Gras.
Dann wandte er sich an alle und meinte ziemlich säuerlich:
»Wir sind höchstwahrscheinlich samt und sonders futsch. Aber wer von Ihnen sich noch etwa für das Gegenteil zu erwärmen vermag – dem rate ich schleunigst mir zu folgen.«
Und mit diesen Worten wandte er seinen breiten Rücken und sprach nicht ein Wort mehr, sondern machte lange energische Schritte gegen den Wald zu. Und da warfen all die übrigen noch einen Blick scheel über die Achsel zurück und sahen, wie die schwarze Wolke all der Männer sich von der Station da drüben loslöste und mit einer mysteriösen Disziplin über die Ebene herstrebte. Und sahen noch, mit unbewaffnetem Auge, schwarze Flecken auf den vordersten Gesichtern – und das waren die Masken, die sie aufhatten. Und . . . wandten sich dann gleichfalls und folgten ihrem Führer, der den Wald fast erreicht hatte . . . und verschwanden unter dem blitzenden Laub.
Die Sonne über dem Gras war trocken und heiß. Wie sie in den Wald eintauchten, tauchten sie in kühlen Schatten ein, so wie ein Taucher in dunkles Wasser. Der Wald war angefüllt mit zersprengtem Sonnenlicht und irrendem Schatten. Es war als wie ein erzitternder Schleier – wie das Flimmern und Flirren und Flattern eines Kinematographen. Sogar die Gestalten, die mit Syme hinschritten, waren kaum mehr zu unterscheiden vor dem Lichtgepladder und Schattengewirbel. Jetzt – jetzt eben war der Kopf irgendeines der Herren angeleuchtet wie mit Rembrandtschem Licht und alles übrige wie ausradiert; jetzt wieder hatte einer ganz ganz weiße Hände und das Gesicht dabei von einem Schwarzen. Der Ex-Marquis hatte seinen alten Strohhut über die Augen herabgezogen und der schwarze Schatten der Krempe schnitt sein Gesicht so winkelrecht ab, als trüge er so wie seine Verfolger eine schwarze Halbmaske. Das war Futter für Symes längst schon überheizte Nerven. Trug jener eine Maske? Trug jeder eine Maske? War jeder irgendwer? . . . Dieser Zauberwald, in dem die Gesichter abwechselnd schwarz und weiß wurden, in dem die Gestalten im Sonnenlicht anschwollen und dann wieder in formlose Nacht sich auflösten, dieses chaotische Helldunkel (nach der Prügelsonne von draußen) schien Syme ein erschöpfendes Symbol für die Welt, in der er seit drei Tagen schon hin und her geworfen wurde, für die Welt, darin Männer ihre Bärte oder Brillen oder Nasen abnahmen und sich in ganz andere Menschen verwandelten. Das tragische Selbstvertrauen, das ihn erfüllte, als er glaubte, daß der Marquis ein Teufel sei, war seltsamlich geschwunden nun, da er wußte, daß der Marquis ein Freund war. Und er hätte am liebsten nach all den Entsetzensszenen nun gefragt: was denn eigentlich ein Freund sei und was ein Feind. War da irgend etwas, das gar nicht das war, was es schien? Der Marquis hatte nur seine Nase abgenommen – und schon war er ein Detektiv gewesen. Konnte er nicht gerad so gut jetzt seinen Kopf abnehmen – und ein Kobold sein? War nicht jedes Ding am Ende so wie dieser Irrgarten von einem Wald, wie dieser Tanz von Dunkel und Licht? Jedes Ding nur ein flüchtiger Schimmer und Schein, und jeder Schimmer unvorhergesehen und jeder Schein danach vergessen . . .
Gabriel Syme hatte im Herzen dieses sonndurchsprengten Waldes gefunden, was manche moderne Maler drin gefunden haben. Das, was die modernen Menschen Impressionismus nennen, was nur ein anderer Name für den endgültigen Skeptizismus ist, der gefunden zu haben behauptet – das Universum sei bodenlos . . .
Wie ein Mensch, der einen schlimmen Traum hat, sich heftig anstrengt, laut aufzuschreien und zu erwachen, strengte sich Syme ganz plötzlich mächtig an, diese letzte und schlimmste von all seinen Wahnvorstellungen abzuschütteln. Mit zwei ungestümen Schritten holte er den Mann mit dem Strohhut des Marquis ein, den Mann, den er mit Ratcliffe anreden sollte. Und schrie übertrieben laut und heiter – um nur endlich mit dem bodenlosen Schweigen aufzuräumen und eine Konversation in Gang zu bringen.
»Darf ich fragen«, schrie er, »wohin in aller Welt das führen soll?«
So wahr waren die Zweifel in seiner Seele gewesen, daß er nun überglücklich wurde, wie sein Kollege mit einer fließenden menschlichen Stimme antwortete:
»Wir müssen durch die Stadt Lancy an die See«, sprach er. »Die Gegend scheint mir in bezug auf jene noch am günstigsten für uns.«
»Ja, aber was wollen Sie denn eigentlich?« rief Syme. »Die werden uns doch nicht durch die halbe Welt nachlaufen. Es können doch nicht sämtliche Handwerker Anarchisten sein, und wenn sie es ja wären, so kann so ein Pöbel doch nicht gegen moderne Waffen und Polizei an.«
»Pöbel, Pöbel, Pöbel!« versetzte sein neuer Freund und lachte laut und höhnisch auf. »Sie sprechen vom Pöbel und den arbeitenden Klassen, als ob die überhaupt in Frage kämen. Sie sind einer von den vielzuvielen, die da idiotisch genug glauben: wenn der Anarchismus je auskäme, käme er von den Armen her. Wieso denn? Die armen Leute, die sind wohl dann und wann rebellisch geworden – aber Anarchisten waren sie nie; die haben mehr Interesse als jeder andere sonst – daß eine leidliche Regierung da ist. Der arme Mann hat in der Tat ein Interesse am Wohlergehen des Landes. Der reiche Mann nicht – der kann heute eher als morgen in seiner Yacht nach Neu-Guinea. Der arme Mann hat zuweilen beklagt, daß er schlecht regiert worden ist; der Reiche beklagts, daß er überhaupt regiert wird. Die Aristokraten, die waren und waren noch allemal die Anarchisten; denken Sie nur an die Kriege der Adelsgeschlechter.«
»Das würde sich alles«, sprach Syme, »recht hübsch in einem Vortrag über englische Geschichte für die Kleinen anhören. Aber die Moral von der Geschicht – die hab ich noch nicht so recht kapiert.«
»Die Moral von der Geschichte ist«, sprach sein Instruktor, »daß die rechte Hand sozusagen unseres alten Sonntags sich aus lauter südafrikanischen und amerikanischen Millionären zusammensetzt. Deshalb hat er sich aller Verkehrslinien bemächtigt; und deshalb laufen die vier letzten Kämpen der antianarchistischen Polizeigewalt wie die Kaninchen durch diesen Wald.«
»Millionäre – das will mir einleuchten«, sprach Syme gedankenvoll. »Die sind alle, alle nahebei verrückt. Für ein paar verruchte alte Tatteriche hübsche Steckenpferde zu liefern und sie so selber im Zaum zu halten, das ist ne Sache. Aber ganze große christliche Nationen zu übertölpeln, das ist ein ganz ander Ding. Ich setze diese meine Nase (verzeihen Sie die Anspielung) gegen nichts, daß Syme total außerstande ist, irgendwie einen auch nur einigermaßen gesunden und vernünftigen Durchschnittsmenschen zu sich zu bekehren.«
»Das hinge«, sprach der andere, »das hinge davon ab, was für einen Menschen Sie meinen.«
»Nun – hm – beispielsweise«, sprach Syme, »den dort! Den, wett ich, könnten wir nie und nimmer bekehren!« und er deutete in schnurgerade Linie voraus.
Sie waren auf eine Lichtung herausgekommen. Und Syme war es, als ob mit dieser Lichtung ihm sein gesunder Menschenverstand endgültig zurückgekehrt wäre. Und mitten in dieser Waldlichtung, da stand eine Gestalt, die sich unter diesen besonderen Umständen geradezu scheußlich aktuell ausnahm. Sonnverbrannt und knallrot vor Schwitzen, von jener unergründlichen Gravität wie nur je einer, der kaum die nötigsten Lappen am Leibe hat, stand da ein mächtiger französischer Bauer und hackte Holz mit seiner Hacke. Sein Karren stand eine Strecke weit ab, schon halb vollgeladen mit Holz. Und der Gaul, der Gras ausrupfte, war, wie sein Herr, herzhaft, wenn auch nicht allzu verwegen. Er war gerad, wie sein Herr, wohl gediehen, aber nunmehr nahezu satt. Der Mann war ein Normanne, größer als der Durchschnittsfranzose und äußerst eckig. Und sein geschwärztes Gesicht stand schwarz gegen die gelbe Sonne, fast wie eine allegorische Freskenfigur »Arbeit« auf goldiertem Grund.
»Mr. Syme behauptet«, rief Rathcliffe zu dem französischen Colonel hinüber, »daß dieser Mann zumindest nie ein Anarchist werden wird.«
»Da hat Mr. Syme mehr als recht«, antwortete Colonel Ducroix unter Lachen, »schon aus diesem Grunde, weil der eine ganze Menge Hab und Gut zu verteidigen hat. Aber ich vergaß, Sie in Ihrem Lande sind es nicht gewöhnt, einen Bauersmann wohlhabend zu wissen.«
»Der sieht aber arm aus«, sprach Dr. Bull bezweifelnd.
»Sehr richtig!« sprach der Colonel, »weil er reich ist.«
»Ich habe eine Idee!« schrie Dr. Bull dann plötzlich. »Wieviel würde der wohl verlangen, wenn er uns auf seinen Karren aufsitzen ließe? Die Hunde da hinten, die sind doch zu Fuß . . . da würden wir sie sehr hinter uns lassen.«
»Geben Sie ihm irgendeine Summe!« sprach Syme voller Eifer. »Ich habe blödsinnig Geld bei mir.«
»Das nützt gar nichts«, sagte der Colonel. »Der hat keinen Respekt vor Ihnen – außer Sie feilschen mit ihm.«
»Oh, wenn er lange handelt!« begann Bull mit Ungeduld.
»Er handelt – weil er ein freier Mann ist«, sprach der andere. »Das verstehen Sie nicht. Der würde Generosität ganz falsch verstehen. Der nähm ein Trinkgeld gar krumm auf.«
Und während sie das wuchtige Anstampfen ihrer unerbittlichen Verfolger schon zu hören vermeinten, mußten sie stehen und »Boden treten«, dieweil der französische Colonel mit dem französischen Holzhauer all die müßige Tändelei, den friedlichen Zank und Hader eines Markttages vor ihnen aufführte. Nach Verlauf von etwa vier Minuten indessen sahen sie, daß der Colonel die Sache geschoben hatte: denn der Holzhauer ging auf ihren Plan ein, nicht mit der vagen Servilität zwar eines überzahlten Hausknechts, sondern mit der Ernsthaftigkeit eines Bewerbers, der bei dem Handel just auf seine Kosten kam. Er sagte ihnen, daß das beste Ding, das sie machen könnten, dieses wäre: den Weg hinab – auf das kleine Wirtshaus auf der Anhöhe vor Lancy zu nehmen, wo der Wirt, ein alter Soldat, der auf seine alten Tage dévot geworden wäre, gewiß mit ihnen sympathisieren und sogar das Risiko auf sich nehmen und ihnen helfen würde. Also bestieg die ganze Gesellschaft den Holzstoß – und fuhr schaukelnd und schwankend auf dem holperigen Karren die eine steilere Seite des Waldlands hinunter. So plump und wackelig das Vehikel war, gings doch lustig genug voran – und bald war der allgemein erheiternde Eindruck der, daß man jene allesamt, die – wer immer sie sein mochten – da hinterher waren, mählich sehr distanzierte. Aber schließlich und endlich war das Rätsel, wie die Anarchisten diese Verfolgerbande aufgebracht hatten, bei weitem noch nicht gelöst. Eines einzigen Menschen Auftauchen hätte genügt – sie wären beim ersten Anblick des deformierten Lächelns des Sekretärs samt und sonders ausgerissen . . . Syme lugte hie und da über die Achsel weg zurück – auf den Schwarm dahinten auf ihrer Spur . . .
Wie der Wald dann dünner und dünner wurde, konnte Syme die sonnigen Flächen rückwärts hinan und vorwärts hinab übersehen, und da hinten, da oben kroch der breite schwarze Mob – mitten in Sonne – wie ein ungeheures Käfertier daher. In der scharfen Helle und mit seinen scharfen Augen, die schier teleskopisch waren, vermochte Syme die Masse Leute ganz deutlich zu unterscheiden. Er konnte jeden einzelnen unterscheiden . . . aber das verblüffte ihn zunehmends mehr: wie sie wie ein Mann heranrückten. Sie schienen dunkel angezogen und ganz gewöhnliche Kopfbedeckungen aufzuhaben so wie irgendein Gewimmel Leute auf einer Straße. Aber sie zerstreuten sich nicht und schwärmten nicht aus, so wie zu einer Attacke und wie man es von einem solchen Pöbelhaufen doch vermutet hätte. Sondern rückten mit einer schrecklichen, verruchten – Hölzernheit an, gerade als wie eine starre Armee von aufgezogenen Gliederpuppen – von Automaten.
Und Syme erzählte Ratcliffe davon.
»Tjaja«, erwiderte der Polizeiinspektor, »das heißt Disziplin. Das heißt – sonntäglich. Sonntag? Der ist vielleicht fünfhundert Meilen fern, aber die Furcht vor ihm ist in allen ihnen – so wie der Finger Gottes. Tjajaja, die marschieren Ihnen regulär; und Sie können getrost Ihre Stiefel wetten, daß sie auch regulär parlieren – und tjawoll! daß sie ebenso regulär denken. Aber das Wichtige für uns ist ja, daß sie regulär – verschwinden!«
Syme nickte. Tatsächlich schrumpfte der schwarze Klex der Verfolger in dem Maße ein, in dem der Bauer sein Roß versohlte.
Diese sonnenerhellte Höhe, die gleichwohl an sich Flachland war, fiel weiterhin hügelig, dünig gegen die See ab, nicht unähnlich den niedrigeren Böschungen der Sussexdünungen. Der Unterschied war nur der, daß in Sussex der Weg vielfach gebrochen und winkelig wie ein Bach gewesen wäre, wohingegen die freundliche französische Straße steil wie ein Wasserfall hinabschoß. Also klapperte die Karre in einem beträchtlichen Winkel geradeaus hinab, und ein paar Minuten später, wies steiler und noch immer steiler abfiel, sahst du unter dir den kleinen Hafen von Lancy und einen mächtigen blauen Bogen von der See. Die wandernde Wolke des Feindes aber, die verschwand ganz und gar unterm Horizont.
Roß und Karre nahmen eine scharfe Ecke um eine Rüstergruppe, und die Nase des Pferdes stieß fast ins Gesicht eines alten Herrn, der auf einer der Bänke vor dem kleinen Kaffeehaus »Le Soleil d'Or« saß. Der Bauer brummte eine Entschuldigung und stieg von seinem Sitz herunter; und die übrigen kletterten einer nach dem andern gleichfalls herab und traktierten den alten Herrn mit fragmentarischen Höflichkeitsphrasen, dessen Umfang zur Evidenz zeigte, daß er der Eigentümer der kleinen Taverne war.
Und das war ein weißhaariger, rot- und pausbackiger alter Knabe, mit schläfrigen Augen und einem grauen Schnurrbart. Fleischig, seßhaft und außerordentlich unschuldig, von einem Typ, den man in Frankreich öfters anfinden mag, der aber eigentlich im katholischen Deutschland zu Hause ist. Ein jedes Ding um ihn herum, seine Pfeife, sein Biertopf, seine Blumen und sein Bienenstock, atmeten altangestammten Frieden aus; nur – wie seine Gäste dann ins Gastzimmer eintraten und dabei aufsahen, sahen sie einen Säbel an der Wand.
Der Colonel, der den Cafétier wie einen alten Kameraden begrüßte, trat als erster und eilends in das Gastzimmer ein, setzte sich und bestellte irgendeine herkömmliche Erfrischung. Aber die militärische Strammheit, mit der er solches tat, interessierte Syme; und also nahm er dicht bei ihm Platz und benutzte, wie der Cafétier hinausging, die Gelegenheit, seine Neugierde zu befriedigen.
»Darf man fragen, Colonel«, sprach er leise, »warum Sie hierhergekommen sind?«
Colonel Ducroix lächelte hinter seinem borstigen, weißen Schnauzbart.
»Aus zwei Gründen, Herr«, sprach er. »Und ich will Ihnen erst, nicht den wichtigsten, aber den utilitarischsten mitteilen. Wir sind hierhergekommen, weil dieses in einem Umkreis von zwanzig Meilen der einzige Platz ist, wo Sie Pferde haben können.«
»Pferde!« stotterte Syme nach und sah jäh auf.
»Jawohl«, versetzte der andere, »Pferde! Wenn ihr Leute eure Feinde euch wirksam vom Leibe halten wollt, so tuns nur Pferde und sonst gar nichts – außer natürlich, ihr habt Fahrräder oder Motorwagen in der Tasche.«
»Und was raten Sie uns, daß wir dann machen sollen?« fragte Syme unsicher.
»Außer aller Frage«, versetzte der Colonel, »täten Sie am besten, so schnell wie möglich nach der Polizeistation draußen vor der Stadt zu gelangen. Mein Freund, dem ich unter einigermaßen trügerischen Umständen sekundierte, scheint mir die Möglichkeiten eines Generalaufstandes denn doch sehr zu übertreiben; aber sogar er, glaube ich, dürfte nicht allzu lange mehr aufrecht erhalten, daß Sie mit Gendarmen nicht sicherer wären.«
Syme nickte sehr; dann fragte er plötzlich: »Und Ihr anderer Grund – warum Sie hierherkamen?«
»Mein anderer Grund, warum ich hierherkam«, sprach Ducroix gedämpft: »ist der: daß es wohltut, einen guten Menschen oder zwei zu sehen, wenn man ziemlich wahrscheinlich dem Tode nah ist.«
Syme sah die Wand empor. Und sah ein roh gemaltes, aufgeblasen religiöses Bild. Dann sagte er: »Sie haben recht . . .« – und unmittelbar nachher – »Hat sich irgendwer nach Pferden umgesehen?«
»Jawohl«, antwortete Ducroix. »Sie können ganz beruhigt sein. Ich gab den Moment, in dem ich eintrat, die Order. Jene Ihre Feinde machten mir zwar nicht den Eindruck, als ob sies allzu eilig hätten, aber dafür manövrierten sie wirklich wundervoll aufgeschlossen, wie eine bestgedrillte Armee. Ich hatte keine Ahnung, daß Anarchisten soviel Disziplin im Leibe haben würden. Sie dürfen keinen Augenblick zögern.«
Während er noch redete, kam der alte Cafétier mit den blauen Augen und dem weißen Haar hereingetänzelt und meldete, draußen wären sechs Pferde gesattelt.
Auf Ducroix' Rat equipierten sich die fünf anderen mit transportablem Essen und Wein und rasselten, indem sie die Duelldegen als die einzigen aufzutreibenden Waffen schwangen, die steile, weiße Straße hinab. Die zwei Diener, die das Gepäck des Marquis, als er noch Marquis war, getragen hatten, wurden mit absoluter Stimmenmehrheit – und nicht sehr ohne ihre eigene Zustimmung – kaffeetrinkender Weise zurückgelassen.
Um diese Zeit neigte sich die Nachmittagssonne gen Westen, und in ihren Strahlen sah Syme die handfeste Gestalt des alten Kaffeewirts kleiner und kleiner werden, und sah ihn aber immer noch stehn und ihnen nachschauen, viel Abendsonne in seinem Silberhaar. Syme hatte dabei die fixe, abergläubische Idee, die ihm die zufällige Phrase des Colonel eingegeben hatte: daß dies vielleicht in der Tat der letzte ehrbare Fremde war, den er auf Erden gesehen hatte . . .
Und er sah sich immer noch und immer wieder nach der verschwindenden Gestalt um – als ein grauer Fleck (mit einer weißen Flamme zuhöchst) über der großen grünen Wand der steilen Düne hinter ihm auftauchte. Und wie er weiter hinstarrte, auf die Spitze der Düne hinter dem Kaffeewirt, da wars ein Haufen schwarz gekleideter – marschierender Männer. Und die hingen über dem guten Mann und seinem Hause wie eine schwarze Wolke Heuschrecken . . . Die Pferde waren mithin gar nicht viel zu früh gesattelt worden.