G. K. Chesterton
Der Mann, der Donnerstag war
G. K. Chesterton

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Das sechste Kapitel

Entlarvt

Das waren die sechs Männer, die geschworen hatten, die Welt auszurotten. Oft und oft mußte Syme all seinen gesunden Menschenverstand aufbieten, um ihn nicht wohl für ewig zu riskieren. Dann wieder sah er freilich für Augenblicke ein: all seine Wahrnehmungen wären höchst subjektiv – all das waren ganz alltägliche Menschen, von denen der eine steinalt, der andere hypernervös und der dritte schier mit Blindheit geschlagen war. Zuletzt aber symbolisierte er doch wieder auf das unnatürlichste – und konnte gar nicht anders. Jede Gestalt schien ihm zuweilen an die äußerste Grenze des Irdischmöglichen hinausgerückt, so wie ihre Theorie an der äußersten Grenze des Möglichdenkbaren stand. Ihm war: ein jeder von diesen Menschen stand am extremen Ende sozusagen eines wilden Weges der Raison. Es war ihm gerad, wie in einem sehr alten Märchen, so sehr wunderlich: daß, wenn einer westlich ging und immer westlicher, wohl bis ans Ende der Welt, er da etwas finden würde – sagen wir einen Baum – der mehr oder weniger denn ein Baum war, ein Baum, besessen von einem Dämon . . . und daß wenn er östlich ging und immer östlicher, wohl bis ans Ende der Welt, er da etwas anderes finden würde, das nicht ganz es selber wäre – sagen wir einen Turm, einen verruchten Turm . . . So schienen die Gestalten unsagbar grell gegen einen allerletzten Horizont zu stehen – Visionen alles Raums . . . Die Enden der Welt drin eingeschlossen . . .

Die Unterhaltung ging unentwegt weiter – auch nachdem er auf diesem Schauplatz erschienen war. Und von all den Konstrasten dieses unheimlichen Frühstückstisches war der zwischen dem behaglichen gemächlichen Gesprächston und seinem fürchterlichen Inhalt nicht der geringste. Man war tief in der Diskussion eines aktuellen unverzüglichen Komplotts. Der Kellner eine Treppe tiefer hatte ganz und gar recht gehabt, wie er sagte: daß die Herren oben von Bomben und Königen sprächen. Drei Tage später sollte der Zar den Präsidenten der französischen Republik in Paris besuchen, und bei Schinken mit Ei auf ihrem sonnigen Balkon hatte die fröhliche Kumpanei ausgeknobelt, wie die beiden des Todes sein sollten. Sogar das Werkzeug dazu war schon gewählt: der schwarzbebartete Marquis, schiens, sollte die Bombe werfen.

In jedem andern Fall würde die unmittelbare Nähe dieses positiven und objektiven Verbrechens Syme ernüchtert und von seinen mystischeren Schauern kuriert haben. Und er würde an nichts anderes mehr als an die eine Notwendigkeit gedacht haben: die beiden Menschenleiber zu erretten, eh sie mit Eisen und hundswütigem Dynamitgas in tausend Stücke zerschleudert werden. Aber das war Tatsache, daß ihn in diesem Augenblick eine nochmal neue – eine dritte Art Furcht ergriff, eine eindringlichere – praktikablere, als seine früheren Moral- und sozialen Fürchte und Ängstlichkeiten. Und das war ganz einfach: er konnte keine Furcht mehr für den französischen Präsidenten oder den Zaren aufsparen – er gebrauchte sie all-alle für . . . sich selber. Die meisten der Sprecher nahmen sich ein wenig in acht vor ihm und steckten beim Debattieren ihre Köpfe ein bißchen näher zusammen, und einer nach dem andern setzte eine schier ernsthafte Miene auf – mit Ausnahme des Sekretärs, dem alle Augenblick sein Lächeln in zwei Fortsetzungen quer übers Gesicht fuhr so wie das schartige Licht hoch oben über den Himmel hin. Und dann war da eins, das Syme erst verstörte und ihn zuletzt rasend folterte: Der Präsident sah alleweil – sah unausgesetzt zu ihm her, mit einem forschenden Blick, der einen aus der Haut fahren machen konnte. Der ungeheure Mann war ganz ruhig – und nur seine blauen Augen, die staken ihm aus dem Kopfe. Und taten nichts und nichts als Syme fixieren . . .

Bis Syme zumute wurde: gerad als müßte er zum Balkon hinabspringen. Ihm war unter des Häuptlings Blicken – als sei er durch und durch aus Glas. Hatte der Häuptling nicht auf irgendeine geheime außerordentliche Weise schon herausgefunden, daß er ein Spion . . . Syme sah weg und sah zum Balkon hinab: und da unten, gerad da unten stand ein Policeman und starrte auf das lichte Geländer und in das sonnenlichterfüllte Laub – – –.

Und dann überkam ihn jene große Versuchung, die ihn tagelang martern sollte. Angesichts dieser gewaltigen und schrecklichen Männer, dieser Fürsten des Anarchismus, hatte er sich der phantastischen, schwächlichen Figur des Dichters Gregory, des rein ästhetischen Anarchisten fast gar nicht mehr erinnert. Gedachte seiner nicht mehr als freundlich und zugeneigt – so als ob sie zusammen gespielt hätten, als sie noch Kinder waren. Aber nun auf einmal fiel ihm ein: daß er ja Gregory verpflichtet war – durch ein heilig Versprechen. Durch das heilige Versprechen: dieses nie zu tun – das er eben im Begriffe war zu tun. Er hatte zugeschworen, niemals über diesen Balkon hinabzuspringen und dann drunten was dem Schutzmann zu sagen. Er nahm seine kalte Hand fort von der kalten Steinbalustrade, Schwindelig war ihm um die Seele vor lauter moralischer Unentschlossenheit. Er brauchte mit einem einzigen Riß nur den Faden eines einer Schurkenbande tollkühn geleisteten Versprechens abzureißen – und sein Leben lag so frei und sonnig vor ihm wie der Platz da unten. Andererseits brauchte er einem veralteten Ehrenstandpunkt nachzuhängen – und er überlieferte sich Zoll für Zoll mit seinem ganzen Leibe der Gewalt dieses großen Feindes der Menschheit, dessen ganzes Gehirn eine einzige Folterkammer war. So oft Syme auf den Platz hinabsah, sah er den trostbietenden Blauen da unten: eine Säule des Gemeinsinns und -wohls. Und so oft er sich nach der Frühstückstafel umdrehte, sah er, wie der Häuptling ihn mit seinen riesigen, unausstehlichen Augen in aller Ruhe visitierte.

Und bei all den widerstreitendsten Gedanken fielen ihm zwei Dinge nie und nimmer ein. Erstlich – es wollte ihm nimmer beifallen, daß der Präsident und seine Räte ihn auslöschen konnten, wenn er sich länger noch so abseits verhielt. Wohl wars ein öffentlicher Platz – wohl schien solches Projekt unausführbar. Aber Sonntag war nicht so leicht der Mann, der nicht irgendwie und irgendwo eine unerbittliche Schlinge gelegt oder eine tödliche Falle aufgestellt hätte. Durch ein geheimes Gift entweder oder einen plötzlichen Straßenunfall, durch Hypnotismus oder höllisch Feuer konnte ihn Sonntag gewißlich zu einem sichern Tod verurteilen. Wenn der Präsident was argwohnte, war Syme ein toter Mann und wurde entweder hier gleich in seinem Stuhl kalt gemacht oder lange nachher als wie durch eine selbstverschuldete Krankheit. Wenn er nun eilends die Polizei herbeirief, jedermann verhaftete, alles erzählte und die ganze Energie Englands gegen sie aufbot, dann mochte er entkommen – anders auf keinen Fall. Das war ein Balkon voller Herren, die auf einen lichten geschäftigen Platz hinaussahen; und doch war er seines Lebens nicht sicherer unter ihnen als mitten in einem Boot voll bewaffneter Piraten auf weiter verlassener See . . .

Und da war ein zweites Ding, das ihm nicht einfiel. Nämlich: es wollte ihm nie und nimmer beifallen, daß er dem Feind geistig unterlegen sein konnte. Viele Moderne, an blinde Verehrung des Intellekts und der Kraft gewöhnt, wären in ihrer Ergebenheit unter diesem niederschmetternden Eindruck einer großen Persönlichkeit erzittert. Sie hätten Sonntag, mag sein, den Übermenschen genannt. Falls solch Wesen überhaupt zu begreifen ist, dann sah er ja in der Tat nach einem solchen aus – mit seiner erderschütternden Erhebung, wie er gleich einer steinernen Statue einherschritt. Die hätten ihn, mag sein, einen Übermenschen genannt – um seiner Riesenpläne willen, die zu öffentlich waren, als daß man sie geheim überwacht hätte, und um seines Riesengesichts willen, das zu offenbar, als daß man es verstanden hätte. Aber das war eine Art moderner Niedrigkeit, in die Syme eben aus einer extremen Kränklichkeit nicht verfallen konnte. Wie irgendeiner war er feig genug, große Kraft zu fürchten. Aber er war nicht ganz feig genug, sie zu bewundern . . .

So wie sie sprachen, die Herren, so aßen sie auch. Und sogar darin waren sie typisch. Dr. Bull und der Marquis, die aßen gelegentlich und wie sies gewöhnt waren, von den besten Dingen der Tafel – kalten Fasan oder Straßburger Pastete. Der Sekretär aber, der war Vegetarianer und setzte sich bei einer rohen Tomate und drei Quart lauwarmen Wassers ernstlich über den projektierten Mord auseinander. Der steinalte Professor sabberte derart, daß dir das Ekelhafte seiner zweiten Kinderzeit bis zum Erbrechen klar wurde. Und selbst darin bewährte Präsident Sonntag seine kuriose Vorherrschaft über die Massen. Er aß . . . für zwanzig. Er aß unglaublich. Mit einem gräßlich nimmermüden Appetit. Fraß, fraß, fraß, fraß. Aber immer wieder, so nach einem Dutzend Kuchen oder einem halben Liter Kaffee starrte er aus seinem schiefgeneigten Riesenkopf von einer Seite her . . . Syme an.

»Ich habe mich oft schon gefragt«, sprach der Marquis und nahm eine große Marmeladenschnitte, »ob es nicht besser wäre, wenn ich es mit einem Messer täte. Die besten Dinge sind mit einem Messer vollbracht worden. Und das müßte ein ganz neues Gefühl sein, einem französischen Präsidenten so etwas wie ein Messer hineinzurennen und das drinnen ein paarmal umzudrehen.

»Sie sind im Irrtum«, sprach der Sekretär und zog seine schwarzen Brauen zusammen, »das Messer, das drückt altmodisch genug nur einen persönlichen Streit mit einem persönlichen Tyrannen aus. Dynamit aber – das ist nicht bloß unser bestes Instrument: es ist auch unser bestes Symbol. Es ist ein so vollkommenes Symbol unserer selbst wie Weihrauch für die Gebete der Christenheit. Es ist expansiv; es zerstört nur, weil es sich ausbreitet. Genau so wie der Gedanke zerstört, weil er sich ausbreitet. Eines Menschen Gehirn ist eine Bombe«, rief er aus, sein seltsam verhaltenes Wesen plötzlich aufgebend und seinen eigenen Schädel mit wütenden Püffen traktierend, »mein Gehirn fühlt wie eine Bombe, Tag und Nacht! Es muß sich ausbreiten – und wenn das Universum dabei in Stücke geht!«

»Ich möchte nicht, daß das Universum nun eben jetzt in Stücke ginge«, dehnte der Marquis seine Worte. »Ich will noch eine große Menge tierischer – bestialischer Dinge tun, bevor ich sterbe. Ich dachte den gestrigen Tag im Bett noch darüber nach.«

»Nein. Wenn das letzte Ende eines Dings nichts ist«, sagte Dr. Bull mit seinem sphinx-gleichen Lächeln, »so scheint es mir kaum wert, daß man es tut.«

Der steinalte Professor starrte mit tollen Augen zum Mauerverputz hinauf und sprach:

»Ein jeder Mensch weiß in seinem Herzen, daß nichts wert ist, daß man es tut.«

Da war ein Schweigen. Und dann sagte der Sekretär:

»Wir sind etwas vom eigentlichen Thema abgekommen. Die Frage ist einzig die, wie Mittwoch den Coup ausführen will. Ich denke, wir sollten alle wie bisher für die Bombe sein. Was die Vorbereitungen dazu angeht, möchte ich vorschlagen, daß er morgen früh zu allererst . . .«

Da losch die erleuchtete Rede ein ungeheuerer Schatten aus: – Präsident Sonntag war aufgestanden, den Himmel verfinsternd.

»Bevor wir das verhandeln«, sagte er still und gemächlich, »wollen wir uns in ein Extrazimmer verfügen. Ich habe etwas sehr – sehr Wichtiges zu sagen.«

Syme war vor allen andern in der Höhe. Nun war der Augenblick gekommen. Die Pistole auf ihn gespannt. Auf dem Pflaster unten hörte er den Blauen müßig stapfen und stampfen, denn der Morgen, obwohl sonnig, war kalt . . .

Fing mit einemmal mit einer heiteren Weise eine Drehorgel auf der Straße zu singen an. Und Syme stand stramm – als wär das ein Signal vor der Schlacht. Er kam sich vor: angefüllt mit einem übernatürlichen Mut, der von nirgendwo kam. Jene klingelnde Musik schien erfüllt von der Lebenskraft und Roheit und sinnlosen Tapferkeit der Armen, die in all jenen schmutzigen Straßen sich all anklammerten an die Güte und die Nächstenliebe der Christenheit. Sein Jungenstreich, ein Polizeimann zu sein, war aus seinem Gedächtnis ausgewischt; er war gar nicht mehr der Vertreter jenes Gentlemenkorps von lauter verdrehten Konstablern, er dachte gar nicht mehr an den alten Verrückten in der Dunkelkammer . . . er fühlte sich nur noch als der Ambassadeur all jener armen Werkeltagsleute auf den Straßen, die Tag für Tag zu den Klängen der Drehorgel in den Kampf marschierten. Und dieser edle Stolz, ein Mensch zu sein, erhöhte ihn königlich, erhob ihn in unendliche Höhen – unsagbar hoch über all die monströsen Männer da um ihn herum. Für einen Augenblick einmal geruhte er vom Sternengipfel seines schlichten Menschseins und nichts als Menschseins herabzuschauen auf ihre krampfhaft zuckenden, kriechenden, zappelnden, krabbelnden Exzentrizitäten. Er fühlte sich ihnen gegenüber so unbewußt und elementar überlegen wie ein tapferer Mann gegenüber reißenden Tieren oder ein Weiser wütigen Narren. Er wußte es wohl: er war weder von der geistigen, noch von der Körperkraft des Präsidenten Sonntag; aber in diesen Augenblicken sollte es ihn so wenig bekümmern wie etwa die Tatsache, daß er nicht die Muskeln eines Tigers oder ein Horn auf seiner Nase so wie ein Rhinozeros hatte. Er bestand quasi nur noch aus einer allerletzten Gewißheit, daß der Präsident unrecht hatte und die Drehorgel recht. In seiner Seele sang jene unwiderlegbare alles niedersiegende Wahrheit aus dem Rolandlied – »Païens ont tort et Chrétiens ont droit«, die im alten nasalen Französisch das Getöse und Klirren von Eisen hatte. Diese Befreiung seines Geistes von der Last aller Schwachheit löste den unerschütterlichen Entschluß in ihm aus, den Tod zu umarmen. Wenn die Armeen hinter der Drehorgel standhaft in ihrem uralten Versprechen waren, so wollte auch er es sein. Es beseelte ihn mit ungemeinem Stolz, sein Wort zu halten, weil er es Ungläubigen, Heiden und Schurken und Verbrechern hielt. Sein höchster Trumpf über diese Tollhäusler war, ihnen in ihr dunkelstes Dunkel zu folgen und für etwas den Tod zu leiden, das sie nie begreifen konnten. Sang nicht die Drehorgel den Takt zum Heroenmarsch als wie ein ganzes Orchester? Drummte es nicht tief unter all den Drommeten stolz-stolzen Lebens als wie die Trommel stolzesten Tods?

Die Verschwörer verfügten sich alle durch das Tür-Fenster in die zurückliegenden Räumlichkeiten. Syme ging als letzter nach – verwegen bis aufs äußerste – aber ein lautes, hörbares Klopfen romantischer Rhythmen durchs ganze Blut hinauf bis ins höchste Gehirn. Der Präsident führte sie eine Nebentreppe, einen Aufgang für Dienstboten, hinab – in einen düsteren, kalten, kahlen Raum, mit einem Tisch und Bänken, als wie ein früheres Schulzimmer. Als sie alle darinnen waren, schloß und verschloß er die Tür.

Der erste, der redete, war Gogol. Der Unversöhnliche. Der zu platzen schien vor unartikulierter Not.

»Ssso, ssso, ssso, ssso!« schrie er, derart (du wußtest nicht warum) aufgeregt, daß sein schwerpolnischer Akzent fast unerforschlich wurde. »Ssie sssaggen, Ssie verrrstecken sich nicht. Ssie sssaggen, Ssie zzzeiggen sich. Nn – nichts ist das alles. Wenn Sie wass Wichtigess zu sprrrechen haben, verrrstecken Sie sich in eine Zzigarrenkiste!«

Der Präsident schien des Ausländers inkohärente Satire mit Humor aufzufassen.

»Das können Sie doch nicht gut behaupten, Gogol«, sprach er – väterlich. »Wer immer uns zuhörte, wie wir auf dem Balkon unsern Stuß daherredeten, der schaut uns nicht im geringsten nach, wohin wir jetzt etwa gehen. Wenn wir aber zuerst hierhergekommen wären, hätten wir die ganze Polizei am Schlüsselloch. Sie haben eben keine Ahnung von den Leuten.«

»Ich sterrbe fürrr sie«, schrie der Pole ungeheuer aufgebracht. »Und ich verrnichte ihrre Errrpresser. Ich verrstecke mich nicht. Ich werrfe auf den Tyrannen auf dem offenen Platz.«

»Ja ja ja ja«, sagte der Präsident und nickte wohlwollend und nahm am Kopfende der Tafel seinen Sitz ein, »erst sterben Sie für die Menschheit und dann vernichten Sie ihre Erpresser. Sehr richtig. Und nun möchte ich Sie bitten, Ihre schönen Sentiments zu kontrollieren und mit den andern Herren an diesem Tische Platz zu nehmen. Es ist das erstemal heute morgen, daß etwas Vernünftiges geredet werden soll.«

Syme setzte sich mit jener voreiligen Bereitwilligkeit, die er schon bei allen früheren Aufforderungen gezeigt – zuerst. Gogol – als Letzter; indem er etwas wie »Ggombrommiß« in seinen braunen Bart nuschelte. Keiner – Syme ausgenommen – schien auch nur die leiseste Ahnung zu haben von dem, was nun kam. Und Syme selber, der fühlte nicht viel mehr als wie ein Mensch, der aufs Gerüst steigt, um eine gute Rede zu reden – um jeden Preis . . .

»Kameraden«, sprach der Präsident, und war mit einem Male aufgesprungen, »wir haben diese Farce nun lang genug ausgesponnen. Ich habe Sie hierher zusammenberufen, Ihnen etwas so Einfaches – so Ungeheuerliches zu sagen, daß sogar die Kellner oben im Hause (die doch längst gegen unsere Litaneien abgehärtet sind) – daß sogar die etwas Neues, etwas Ernsthafteres aus meiner Stimme heraushören würden. Kameraden! Wir haben da Pläne diskutiert und Plätze mit Namen genannt. Ich beantrage, daß in dieser unserer heutigen Versammlung keine Silbe mehr über all die Pläne und Plätze weiter beraten wird, sondern daß alles dieses in die Gewalt eines zuverlässigen Mitglieds aus uns gegeben wird . . . eines zuverlässigen Mitglieds – ich schlage vor: Kamerad Samstag, Dr. Bull . . .«

Alle starrten ihn an. Und dann starrten alle von ihren Plätzen aus den nächsten Worten entgegen, die, wenn auch nicht laut, so doch von einer wilden sensationellen Emphase waren. Sonntag schlug mächtig auf den Tisch.

»Keine Silbe mehr über die Pläne und Plätze in dieser unserer heutigen Versammlung! Nicht die einzelste Einzelheit mehr über alles, das wir meinen, daß wir tun müssen! Nicht die einzelste Einzelheit mehr fortab in dieser Gesellschaft!« Sonntag hatte sein Leben darangesetzt, seine Gefährten bestürzt zu machen. Es war gerad, als ob er sie niemals, nie bis jetzt bis zu einem solchen Grad von Bestürzung hinaufzutreiben vermocht hätte. In Fiebern warfen sie sich alle auf ihren Plätzen hin und her. Nur Syme nicht. Nur der nicht. Der saß vielmehr ganz steif da, die Hand in der Tasche und am Kolben seines geladenen Revolvers. So wie der Handel nun losging, wollte er sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Und nicht zuletzt wollte er ausfindig machen, ob der Präsident – sterblich war.

Sonntag sprach leichthinfließender:

»Sie werden wahrscheinlich alle verstehen, daß da ein guter Grund sein muß, um zu verbieten, daß in dieser Freiheitsversammlung noch ein freies Wort gesprochen wird. Wenn uns Fremde hören, macht das gar nichts. Die meinen höchstens, wir machen einen Jux. Aber was etwas machen würde, was bis auf den Tod etwas machen würde, das ist: wenn gegenwärtig unter uns hier einer wäre, der keiner von uns wäre, der teil hätte an unsern schweren Plänen und sie aber nicht teilt, der . . .«

Da schrie der Sekretär wie ein Weibsstück auf: »Das kann nicht sein, das kann nicht sein!« schrie er – und hopste und hopste. »Hier kann keiner . . .«

Der Präsident schlug mit der flachen Hand auf den Tisch als wie mit der Flosse eines Riesenfisches.

»Ja«, sagte er langsam, »es befindet sich ein Spion hier im Zimmer. Es ist ein Verräter hier an diesem Tisch. Ich will gar keine Worte mehr verlieren. Sein Name ist . . .«

Syme sprang halb auf, den Finger am Drücker – »Sein Name ist Gogol«, sprach der Präsident. »Der haarige Humbug, der vorgibt ein Pole zu sein.«

Gogol sprang auf – eine Pistole in jeder Hand. Im selbigen Augenblick aber hatten ihn drei Männer bei der Gurgel. Sogar der Professor hatte einen Anlauf genommen, aufzuspringen . . . Nur Syme sah wenig von der Szene. Der war wie erblindet – von einem barmherzigen Dunkel. Der war schaudernd auf seinen Sitz zurückgesunken. Wie von einem Schlagfluß der Erleichterung getroffen . . .


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