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Ich kann wohl sagen, daß ich von Allem dem, was seit fünfzig Jahren gegen mich gewirkt wild, großen Nutzen gezogen. (Goethe)
Sehr häufig hört man in diesen Wochen die Frage: warum hassen alle Völker Deutschland und die Deutschen? Kommt diese Frage aus dem treuherzigen Munde eines echten Deutschen, sie kann in diesen schweren Zeiten erschütternd wirken. Wenn es auf der ganzen Welt ein friedfertiges, gesittetes, frommes Volk gibt, so ist es das deutsche; die gute Erziehung, die jedem Einzelnen ohne Ausnahme zuteil wird, der Geist der Disziplin, der das ganze öffentliche Leben beherrscht, auch die vorwiegend sinnige Gemütsanlage, Alles trägt dazu bei, die roheren Elemente zu bändigen und den maßvollen die Vorherrschaft zu sichern. Und diese Eigenschaften sind nicht etwa neu entstanden; sie sind nur noch ausgesprochener heute als früher, weil Deutschland ohne Unterlaß an sich gearbeitet hat. Gegen Ende seiner Laufbahn bezeugt Napoleon, in seinen sämtlichen Feldzügen habe er in Deutschland nie einen einzigen Soldaten durch Mord verloren; von anderen Ländern konnte er das Gleiche nicht sagen. Und man denke, welchen rachsüchtigen Haß die Deutschen gegen die Franzosen hegen mußten, die ihnen die schönsten Gegenden zu wiederholten Malen in Wüsteneien verwandelt hatten, nicht Soldat gegen Soldat, sondern eine rasende Horde von entmenschten Wilden, losgelassen auf eine harmlose Bevölkerung. Und dennoch keine Rache, keine Blutgier, nicht ein einziger Fall, nirgendswo ein vereinzelter Deutscher, der, unbeachtet, fern von aller zügelnden Disziplin, einen schlafenden oder einen verirrten Franzmann meuchelmörderisch überfallen hätte; unter Millionen Einwohnern nicht einer! Und das bezeugt Deutschlands kaltherziger Feind! Dagegen erinnere man sich der Franktireurs von 1870/71, der tückischen Mordgesellen, die Hunderten, vielleicht Tausenden von braven deutschen Soldaten das Leben raubten; man erinnere sich der verwundeten Zuaven und Turkos, die den Sanitätsmannschaften die Finger abbissen; man gedenke der englischen Feldzüge gegen die Matabeles und andere friedfertige Zulukaffern in den neunziger Jahren, zu deren schnellerer Erledigung die entsetzlichen Dumdumgeschosse Verwendung fanden; man gedenke der haarsträubenden Greueltaten, Jahre lang von den Belgiern am Kongo ausgeübt, an einer völlig harmlosen, unbewaffneten Bevölkerung, lediglich des Geldes wegen, um die Leute nämlich durch Todesschrecken zu harter Arbeit zu zwingen; man lese die amtlich beglaubigten, von Priestern handschriftlich attestierten Nachrichten über das Benehmen der Zivilbevölkerung Belgiens beiderlei Geschlechts in dem jetzigen Kriege, die, schlimmer als wilde Bestien, armen deutschen Verwundeten die Augen ausstachen, sie auch sonst verstümmelten, und sie dann durch Einschütten von Sägespänen in Mund und Nase langsam erstickten; von den russischen Untaten zu reden, ist überflüssig, da diese Nation auf Zivilisation keinen Anspruch erhebt. Und nichtsdestoweniger, diese Völker genießen die Sympathien der Welt und werden als Kulturträger gefeiert, wogegen der Deutsche »Barbar« heißt, Brandstifter, Mörder, Vergewaltiger, so daß ganze Bevölkerungen entsetzt fliehen beim Herannahen des deutschen Soldaten, des einzigen zuverlässig disziplinierten, der niemals einem schuldlosen Menschen ein Haar gekrümmt hat. Ich möchte wohl wissen, welche andere Armee fachmännische Kunsthistoriker mitführt, um sofort bei der Besetzung eines Ortes für die sichere Verwahrung der Kunstschätze Fürsorge zu treffen? Bei dem ersten Betreten von Reims durch die Deutschen in diesem Jahre wurden die Soldaten – wie ich aus einer Privatnachricht erfuhr – von Fachmännern im Dom herumgeführt und drängten sich, so viele nur freikommen konnten, andächtig hinzu! Und dennoch glaubt alle Welt den Verleumdungen, als zerstöre die deutsche Armeeleitung absichtlich Kunstwerke! Es wiederholt sich in dem jetzigen Weltkrieg buchstäblich, was wir vor vierundvierzig Jahren schon einmal erlebten: jeder Franzose, jeder Belgier, jeder Engländer und Russe, der mit den deutschen Soldaten wirklich in Berührung kommt, ist erstaunt, was sie nicht allein für eisern disziplinierte, sondern für wackere, grundanständige, gutherzige Menschen sind; der Glaube aber an die Scheußlichkeit der Deutschen ist derartig tief eingewurzelt, daß die persönlichen Erfahrungen immer als Ausnahmen aufgefaßt werden und gegen die Gesamtüberzeugung nicht aufkommen. Das war schon 1870 der Fall. Ich kann auf Grund einer reichen Erfahrung reden; denn damals besaß ich in Frankreich – wo ich meine ersten Lebensjahre zu Hause gewesen war – noch zahlreiche, teils vertraute Beziehungen, und schon Ende 1871 hielt ich mich wieder in Frankreich auf. Es war überall die selbe Geschichte: nicht einen einzigen Franzosen habe ich angetroffen, der auch nur geflunkert hätte, er habe selbst eine Grausamkeit oder auch nur eine überflüssige Härte an seiner Person erlebt oder an andern mit Augen gesehen, nicht einen; aber die Einwohner meines lieben Versailles versicherten: »Hier war halt der König und das Große Hauptquartier; da haben sich die Leute geniert; aber wenn Du nur wüßtest, wie diese Barbaren in der Normandie gehaust haben!« Nun besaß ich gerade zu Bauernfamilien in der Normandie alte Beziehungen; ich erkundigte mich: »Nein,« hieß es, »wir hatten Glück; bei uns operierte die Armee unter Manteuffel; Prachtjungens, tadellose Disziplin, die hätten nicht ein Ei zu stibitzen gewagt – aber im Elsaß, da muß es grauenhaft zugegangen sein!« Die östlichen Gegenden kannte ich nicht; doch lernte ich in jenem Winter einen französisch-elsässischen Pastor kennen, einen rabbiaten Deutschfresser, aber kein Lügner, und als ich an ihn die alte Frage richtete, zog er ein Skizzenbuch aus seinem Schubladen und zeigte mir einen reckenhaften deutschen Infanteristen, der Kartoffel schälte in der Küche seines Pfarrhauses, einen Ulanen, der auf der Steinbank vor der Türe saß und einem Säugling mit zärtlich-ungeschickter Fürsorge die Flasche gab, und andere ähnliche Idyllen. «Quelle bonne pâte d'hommes!» rief er fast mit Rührung aus, was für gutmütige Menschen; aber gleich folgte das obligate: »Wir hatten eben Glück, es waren Pommern, die am längsten in unserm Städtchen blieben; aber wenn Sie wüßten, wie die Süddeutschen im Orléanais gewirtschaftet haben...« Selbst solche offenbare Blödsinnigkeiten, wie daß die deutschen Soldaten alle Wanduhren mitnehmen, sind nicht auszurotten; Jahre lang habe ich nach einem Franzosen gefahndet, dem eine Uhr abhanden gekommen wäre, doch nie einen auftreiben können; und dennoch steht der Ruf so fest, daß in dem jetzigen Krieg – wie die Zeitungen erzählen – an einigen Orten die Einwohner ihre Wanduhren vor die Haustüren herausstellten, gleichsam als Sühnopfer. Ich kann nur sagen: man sieht, wie wahr es ist, daß die menschliche Phantasie die menschliche Vernunft am Gängelbande führt. Freilich wird Jeder von uns, der gereist ist, deutschen Männern und Frauen begegnet sein, die sich nicht durch Anmut und Bescheidenheit auszeichneten und eine recht unvorteilhafte Vorstellung dessen, was Deutsch ist, erweckten; wer von uns aber Franzosen und Italiener auf der Reise erlebt hat, wird von ganz anderen Dingen zu erzählen wissen; über Engländer habe ich mich manchmal ebenso geärgert wie Treitschke. Das sind doch nicht Dinge, geeignet, Nationalhaß zu säen. Nein, der Haß hat allgemeinere, ausgebreitetere Wurzeln, und da er einmal vorhanden ist, bewirkt er, daß jede Lüge über Deutschland und die Deutschen Glauben findet, sie kann noch so faustdick, ja, nachweisbar unmöglich sein. Es ist vielen Leuten eine Wollust, schlecht von den Deutschen zu denken und ihnen durch Falschgerede Achtung zu rauben. Wir haben es soeben wieder erfahren, daß Männer, die, wie der französische Musiker Jaques-Dalcroze, nach langem Herumirren, in Deutschland allein für ihre neuen künstlerischen Ideale Verständnis, Förderung, Opferfreude, Heimstätte fanden, sich nicht schämen, Deutschland zu zeihen, es zerstöre grundlos Städte und vernichte absichtlich deren Kunstschätze: nicht bloß eine empörende, sondern eine so horndumme Verleumdung, daß man nicht versteht, wie ein intelligenter Mann, der nur einen Tag in Deutschland war, sich so lächerlich machen kann. Wie die Liebe sehend, so macht der Haß blind. Und aus diesem Falle erfahren wir, daß auch Wohltaten und aufopfernde Förderung nicht hinreichen, um Deutschland Liebe zu erwerben; vielmehr züchtet deutsche Freigebigkeit nur Undank und Verrat.
Die Tatsache des Hasses leugnen wir also nicht: dieser Haß reicht von der mehr oder weniger verdeckten Abneigung feinerer Geister bis zu der blutigen Wut der rohen und bis hinab zu der Tücke der feigen Unterzeichner des Genfer »Protestes«.
Ich, für meine Person, getreu den Kampfgrundsätzen des unsterblichen Moltke, pflege auf die anfangs genannte Frage – warum wird Deutschland so gehaßt? – sofort mit der Gegenfrage zum Angriff zu schreiten: Warum wird Deutschland so geliebt? Nicht, daß ich damit die Sache für erledigt hielte; mit der Gegenfrage wird aber die Besinnung wachgerufen und die Betrachtung in eine höhere Sphäre erhoben, was immer, namentlich aber bei allen das Deutschtum betreffenden Fragen von Vorteil ist. Der eine Carlyle – und wäre er auch aus neuerer Zeit der Einzige – würde genügen, uns lange zu denken zu geben; denn Carlyle kannte, dank seinen lebenlangen Studien, den deutschen Geist genau; und es ist immer von Vorteil, Dasjenige zu kennen, worüber man urteilen soll. Sehr wahrscheinlich kennt z. B. ein Herr Jaques-Dalcroze von Deutschland nicht viel mehr als die freigebig geöffneten Geldbeutel und vermeint allen Ernstes, mit seiner musikalischen Gymnastik dem Vaterlande Dürer's, Bach's, Kant's und Goethe's die ersten Elemente der Kultur beizubringen; Carlyle dagegen genoß den ungeheuren Vorteil, nicht bloß das litterarisch-geistige Leben Deutschlands von den ältesten Zeiten bis zu Goethe zu beherrschen, sondern auch das Werden der Nation, wie sie heute vor uns steht, genau erforscht zu haben, so daß ihm – dem ohnehin prophetisch Veanlagten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vollkommen deutlich vor Augen standen. Niemals hat man schöner über Luther geschrieben als dies von Carlyle geschah: er kannte ihn eben genau und es ist bedauerlich, daß seine Kräfte zu der beabsichtigten Lebensschilderung nicht mehr reichten. Es ist nicht der Theolog, der ihn fesselt, sondern der Mann Gottes und der deutsche Mann. Von Luther's Zimmer auf der Wartburg schreibt er: »Man empfindet, daß von allen Orten, auf welche die Sonne heute herniederscheint, dieser für uns Lebende der heiligste ist. Mir wenigstens, in meinen armen Gedanken, wollte es dünken, die unmittelbare Gegenwart Gottes weihe diese Räume, als ob unvergängliche Erinnerungen und heilige Einflüsse und warnende Belehrungen umherschwebten und den Herzen der Menschen schmerzreiche, machtvolle und tapfere Worte zuraunten.« Und dann erzählt Carlyle, wie sein Begleiter – ich glaube Emerson – als er sich unbeachtet wähnte, sich schnell bückte und dem alten eichenen Tisch einen inbrünstigen Kuß aufdrückte. Diese beiden Ausländer hatten Deutschland erkannt, darum liebten sie es, »das edle, geduldvolle, tiefsinnige, fromme und tüchtige Deutschland«, wie es Carlyle 1870 nennt. Denn Luther ist nicht ein großer Mann, der zufällig in Deutschland geboren wurde, vielmehr gleichen er und Deutschland dem Vorder- und Rückbilde einer geprägten Münze, die auf der einen Seite das wie im Traum erblickte Symbol unaussprechlicher Kräfte und Wünsche, Kämpfe, Verzagtheiten und Wonnen eines millionenfach dunklen Hinstrebens aufweist, und auf der andern die vergänglichen Züge des einen Mannes, in dessen Leben das, was Alle wollten, unvergängliche Gestalt gewonnen hat; Luther und Deutschland sind ebenso unzertrennlich mit einander verwachsen wie – am anderen Ende der möglichen Skala menschlicher Gaben – dies zwischen Goethe und Deutschland der Fall ist. Um große Männer dieser Art zu gebären, muß ein Volk große Eigenschaften besitzen. Tieck hat die wahren Worte geschrieben: »Sowie Goethe nur die Augen auftat und sie Andern öffnete, war Deutschland unmittelbar auch da.« Es hatte also nur geschlummert. Deutschland – vielleicht ist dies ein Symptom seiner gebärenden Kraft – verfällt immer wieder in Unbewußtsein über sich selbst und muß durch Botschaft vom Himmel geweckt werden: nie erscholl der Trompetenstoß, der zur Erfüllung ewiger Pflichten aufruft, mächtiger als durch Luther, der, unmittelbar aus der Scholle geboren, sofort im ganzen deutschen Volke Widerhall laut rief; vom Fürsten bis zum Bauern, Jeder erkannte die Stimme des eigenen Gewissens, wie er sie im Halbtraume schon oft vernommen hatte. Warum hat die Reform in Böhmen, in Polen, in Frankreich, in England nicht Fuß gefaßt? Weil sie überall Sekte war; wogegen sich in Luther die Sehnsucht eines ganzen Volkes nach Wahrheit aussprach und darum eben so stark wirkte auf Diejenigen, die zu Rom hielten, wie auf Diejenigen, die sich freimachten. Es handelt sich bei ihm nicht um Religion im Sinne der bloßen Kirche, vielmehr um eine Religion, die das ganze Leben umfaßt und das Vaterland als heiligste Gottesgabe erkennen lehrt. Darum kann man und muß man sagen: das Deutschland, das heute so mächtig dasteht, ist das Deutschland Luther's; es spricht seine Sprache und denkt seine Gedanken und wirkt die Taten, wie er sie gewollt; die dogmatischen Fragen stehen außerhalb des Deutschgedankens. Wer Luther gut kennt, kennt darum auch Deutschland gut; das war bei Carlyle der Fall. Nun aber trat eine merkwürdige Fügung hinzu: dieser Carlyle, schon mit 21 Jahren so vertraut mit den Tiefen des deutschen Wesens, daß er ein Leben Schiller's verfassen konnte, empfand, zum Manne gereift, es als eine gottgewollte Aufgabe (er selbst sagt das), 20 Jahre der Beschäftigung mit dem großen Friedrich zu widmen; hierdurch wurde er vollends hellsehend, denn nun hatte er das treibende Element bei der politischen Wiedergeburt Deutschlands gründlich ausführlich kennen gelernt und konnte ihre Spannkraft ermessen. Carlyle war nicht im beschränkten Sinne des Wortes Heldenverehrer; er verehrte nicht den meteorischen Helden, der nirgends herkommt und nirgends hingeht, folglich allen bleibenden Untergrunds entbehrt; und als er einmal, einem Schema zulieb, Napoleon preisen wollte, bricht er nach drei Seiten ab mit den Worten: Poor man, armer Mann! Nein, der wahre Held entspringt einer Gesamtheit, gleichsam als verdichteter Ausdruck Aller an Einzelne und in Einzelnen zerstreuten Kräfte, um somit diese Gesamtheit zu Leistungen hinzureißen, die ihr durchaus gemäß sind, zu deren Vollbringung sie jedoch ohne den einen Unvergleichlichen nie gelangt wäre. Das deutlichste Beispiel aus unserer Zeit bietet uns Richard Wagner, dessen Kunst nie gegen ein Meer von Haß und Verleumdung hätte siegen können, wenn sie nicht den besonderen Ansprüchen und Hoffnungen der deutschen Seele entsprochen hätte, verwirklichend, was Tausende dunkel erträumt und Einzelne tastend gesucht hatten, was aber nur der eine Gottgesandte zu finden fähig war. Worin besteht denn die wahre Weihe menschlicher Größe? Der Mann zu sein, den alle brauchten; denn dieser allein braucht wiederum alle Männer, und erteilt so dem Ganzen Bewegung. Kein Wort in Carlyle's großem Werk verdient mehr Aufmerksamkeit als sein Lob Preußens im ersten Kapitel des 21. Buches: »Du tapferes Preußen! die wahre Seele deines Verdienstes ist, daß du einen solchen König verdient hast, dich anzuführen. Ein zufälliges Verdienst, meinst du, Leser? Nein, Leser, glaube mir, so verhält es sich nicht. Vielmehr, könnten wir in den Büchern des Alles aufschreibenden Engels einige Jahrhunderte forschend zurückschlagen, ich bin überzeugt, nicht ein Tütelchen Zufall bliebe übrig. Es gibt Völker, wo ein Friedrich möglich ist oder sein kann, und es gibt Völker, wo er nicht möglich ist, noch je sein kann. Wirkliche Ehrfurcht vor Menschenwert und ebensolche Abscheu vor Menschenunwert, das,mein Freund,ist das Endergebnis, zugleich die Zusammenfassung aller Tugenden dieser Welt, es handle sich um einen einzelnen Mann oder um eine Nation von Männern. Nationen, welche diese Eigenschaft verloren oder nie besessen haben, wie können sie hoffen, jemals einen Friedrich besitzen zu können?«
Diese Bemerkung ist äußerst wichtig; denn neben den unflätigen Schmähern Deutschlands gibt es auch eine Fülle falscher Freunde, nach Art des Lord Haldane, welche beteuern, sie liebten Deutschland, das »ideale« Deutschland, das dichtende und denkende und komponierende Deutschland, das reiner Wissenschaft hingegebene Deutschland, einzig den Militarismus und dessen Vollwerk Preußen verabscheuten sie und möchten sie vertilgt sehen; wogegen wir hier den Mann hören, der die geistige und die politische Geschichte Deutschlands wirklich kennt und als organische Einheit erkennt, und dieser spricht unzweideutig: jene Behauptung ist Torheit oder unwahrhaftige Heuchelei; denn ohne Preußen gäbe es heute überhaupt kein Deutschland mehr, und ohne jene große Schule für die Verehrung von wahrem Menschenwert, hämisch »Militarismus« genannt, gäbe es kein Preußen. Ein großes Volk bedarf der politischen Größe, und ein edles, geduldvolles, tiefsinniges, frommes und tüchtiges Volt verdient politische Größe, verdient sein eigener Herr zu sein, verdient, überallhin den ihm von Rechts wegen zukommenden Einfluß im Interesse der Menschheit auszuüben. Der Ausländer, der ein Deutschland ohne Preußen zu lieben vorgibt, ist – man verzeihe mir die Derbheit, aber es gibt Zeiten, wo man die Dinge beim Namen nennen muß – er ist entweder ein Schafskopf oder ein Schelm. Der einzige Carlyle wiegt tausend konfuse Haldanes auf, geschweige denn alle Leitartikler Europas. Was doch der Neid und der Haß die Menschen dumm macht! Drei große Nationen rüsten seit Jahren und bilden eine verbrecherische Verschwörung, Deutschland – das friedfertige, arbeitsame, Niemanden bedrohende – zu überfallen und zu vernichten; es sind jetzt, dank einer gütigen Vorsehung, so viele geheime Dokumente ans Licht gekommen, daß kein ruhig urteilender Mensch mehr in Zweifel ziehen kann, die sogenannte »Einkreisungspolitik« bedeutete einfach ein teuflisches Attentat, einen in allen Einzelheiten ausgearbeiteten Raub- und Mordzug gegen den unbequemen Konkurrenten; und weil sich nun Deutschland – das weise, tüchtige, tapfere – wehrt, eisern wehrt, mit ungeahnten Riesenkräften wehrt, darum wird es als Hort eines angeblichen Militarismus beschimpft und dem Hasse anempfohlen! Das ist, als wenn nächtliche Einbrecher sich beklagten, weil die Polizei ihren so schön ausgetiftelten Plan vereitelt habe, und darüber in moralische Entrüstung gerieten; man hat manchmal den Eindruck mit dummen Buben zu tun zu haben, die noch nicht genügend geübt sind, um drei Gedanken zusammenzureimen. Wie kann man ein Heer, wo jeder zweite Offizier ein Professor oder ein Kaufmann oder ein Rechtsanwalt ist, »militaristisch« nennen? In Rußland, ja, da gebietet seit Jahren der Militarismus und treibt zu einem Verbrechen nach dem andern, damit nur nicht daheim der chaotische Tag des Gerichts anbreche, der die ehrlos Regierenden alle wegfegt; in Frankreich herrscht über das allzugeduldige, allzuschwache Volk eine Regierung von Abenteurern, die ihrer unsauberen Geldgeschäfte wegen das Revanchegeschrei künstlich anfacht, und ihre Manipulationen im allgemeinen Wirrwarr der näheren Untersuchung zu entziehen hofft – wohl ein allererbärmlichster Militarismus; auch eine Regierung wie die englische, die langer Hand einen Raubanfall auf einen nahverwandten, friedfertigen Nachbarstaat organisiert, kann sich »militaristisch« schimpfen lassen, denn sie will durch Schlachtschiffe und Waffengewalt dem andern die Früchte seines Fleißes entreißen und sie sich selber aneignen. Wo aber alle Männer zur Verteidigung ihres Daseins, ihres Vaterlandes, ihres Erwerbes, ihrer Eigenart ins Feld ziehen, angeführt von ihren sämtlichen Fürsten, da steht nicht »Militär« im Felde, sondern ein Volk in Waffen; in den deutschen Schützengräben liegen sie alle beieinander – Fürst, Bankier, Techniker, Lehrer, Handwerker, Gewerbetreibender, Taglöhner, Bauer – das gesamte deutsche Männervolk; der berufsmäßige Soldat verschwindet in der Menge. Daß aber der berufsmäßige Soldat da ist, daß er alle die langen Friedensjahre hindurch da war, das lohn ihm Gott in alle Ewigkeit! Ohne ihn mußte Deutschland jetzt rettungslos der verbrecherischen Koalition erliegen. Und er ist das Werk Friedrich's und seiner Nachkommen, das Werk Stein's, Scharnhorst's, Gneisenau's und vieler anderer, kurz, das Werk Preußens. Der Süddeutsche ist ebenso ausdauernd und schlägt sich ebenso gut wie der Norddeutsche, das haben 1870 uno 1914 bewiesen; aber das Organisationsgenie, die straffe Strenge, die nie nachlassende Vereitschaft, die wunderbare Fähigkeit, ewig auf dem Sprung stehen zu können, das ist Preußens Verdienst. Carlyle hat ein schönes Wort dafür; von Friedrich sagt er: »Like the stars, always steady at his work«, wie die Sterne, ewig unerschütterlich bei seiner Arbeit. Das wäre das Motto, das ich zu Ehren dieser prächtigen Männer in goldenen Lettern über das Eingangstor zum Generalstabsgebäude in Berlin eingegraben sehen möchte: Sternentreue! Entweder also, ihr falschen Scheinfreunde, schweigt euer Geschwätz über Militarismus, oder aber zieht den Hut und verneigt euch »in Ehrfurcht vor Menschenwert«. Ist die Armee heute das Rückgrat der deutschen Nation, so hat sie es verdient, Rückgrat zu sein: die deutsche Armee (zu der ich natürlich die Marine rechne) ist heute die bedeutendste sittliche Erziehungsanstalt der Welt. Disziplin kann ein Dschengis Khan erzwingen, damit erzieht er sich aber nur wilde Bestien; die deutsche Armee dagegen – dank den Hohenzollern und dem preußischen Geiste – erzieht zu Gehorsam und zugleich zu Selbstachtung, zu Dulden und zu Handeln, zu Genauigkeit und zu Erfindung. Das Alles belegt dieser Krieg schon tausendfach. Wir können aber weiter greifen; denn dieser deutsche Armeegeist hat schon das ganze Volksleben durchdrungen und gibt den Schlüssel zu deutschen Erfolgen auf sehr verschiedenen Gebieten: indem er einerseits die genaue und treue Mitarbeit Vieler zu einem bestimmten Zwecke lehrt, ein Jeder dem Ganzen unterordnet, als gehorsamer, bescheidener, beflissener Mitwirkender, der Belohnung und Freude in den Leistungen der Gesamtheit findet, und anderseits die Ausbildung der beispiellosen Genauigkeit fördert, die jetzt in den 42 cm-Mörsern die staunende Anerkennung der ganzen Welt erwirbt, die aber in genau demselben Maße unerkannt an tausend Orten tätig ist, in chemischen Laboratorien, in mechanischen Werkstätten, in Fabriken jeder Art, in wissenschaftlichen Arbeiten, mit der Zeit gewiß allerorten. Nimmt man nun den allgemeinen Bildungsgrad dazu, der so gewaltig durch das Ineinandergreifen der Armee und der Schule in Deutschland gefördert worden ist, so erkennt man klar, inwiefern man mit Recht dem Geist der Armee einen Anteil zugestehen muß an den übermäßigen Leistungen Deutschlands auf vielen Gebieten, die einer ungeheuren Weiterentwickelung noch fähig sind. Das Charakteristisch? und Unterscheidende ist gerade, daß dieser deutsche Armeegeist, anstatt wie die englische Flotte Räuberinstinkte großzuziehen, Friedenswerke gefördert hat. Die Kooperation und die Präzision, oder sagen wir auf gut Deutsch, das Vereintwirken und das Genauwirken: das sind die neuesten Entdeckungen des Menschengeistes, die dessen Leistungskraft verhundertfachen. Während die Wissenschaft der Natur sie auf dem Gebiete der Theorie aufdeckte, genau zur gleichen Zeit erfand sie in höchster Not auf praktischem Gebiete die Hohenzollernmonarchie. Armeen hat es in der Welt viele gegeben; daß aber die Armee eine eigene Seele, einen spiritus rector bekommen und daß dieser »Vollendung« heißen müsse: das war eine neue Entdeckung. »The love of perfection in work done«, die Leidenschaft, keine Aufgabe anders als in lückenloser Vollendung gelöst sehen zu wollen, das nennt Carlyle den leitenden Charakterzug Friedrich Wilhelm's und seines großen Sohnes; sonst so verschieden, hierin glichen sich die beiden. In diesen zwei Dingen – Vereintwirken, Genauwirken –, in der allmählichen Lösung der vielen Probleme, welche die Verwirklichung solcher Ideale dem Menschenverstände stellen, liegt der Geist der preußischen Armee, der heute der Geist der ganzen einigen deutschen Armee geworden ist. Dieser Geist ist aber auch der Geist des ganzen deutschen tatenlustigen Volkes. Hierin und hierdurch schreitet Deutschland an der Spitze aller Völker der Welt.
So viel nur heute über den albernen Vorwurf des »Militarismus«. Man sieht, wie gut es tut, den Dingen auf den Grund zu gehen! Lord Haldane, der gelehrte Staatsminister, Dr. phil. Göttingen, Dr. beider Rechte Edinburgh usw., hätte sich durch ein bischen Nachdenken ersparen können, Ungereimtes zu reden. Ebenso die vielen Anderen, die den selben Vorwurf erheben. Doch genug über diese Schmäher auf Deutschlands Ehre; hinein mit ihnen Allen in ein Massengrab ewigen Vergessens, und kehren wir zu unserer Frage zurück: »Warum wird Deutschland so geliebt?«
Die Liebe zu Deutschland, für die Carlyle so beredte Worte fand, ist nicht etwa eine neue Erscheinung; man kann sie Jahrhunderte zurückverfolgen. Wie schwärmerisch Deutsche ihr Vaterland stets geliebt haben, das brauche ich vor Deutschen nicht näher auszuführen; immerhin ist es aber wert, in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden; denn wie sollte von so vielen bedeutenden und mächtigen Geistern ein Land zärtlich geliebt worden sein, wenn es barbarisch und hassenswert gewesen wäre? Nur die eine Strophe des vielgereisten Walthers von der Vogelweide will ich zur Auffrischung des Gedächtnisses hersetzen:
Ich hân lande vil gesehen
unde nam der besten gerne war:
übel müeze mir geschehen,
künde ich je mîn herze bringen dar,
daz im wol gevallen
wolte fremeder site.
nû waz hulfe mich, ob ich unrehte strite?
tiuschiu (Deutsche) zuht gât vor in allen.
Hier ist zweierlei besonders beachtenswert: der Mangel an jeder Animosität gegen das Ausländische, das der Sänger »gern wahrgenommen hat«, und die Betonung, daß, was den Deutschen auszeichne, die gute Erziehung, die Sittsamkeit, der Anstand sei. Diese Zeilen sind um das Jahr 1200 herum geschrieben; schon damals war das Volk – das die Herren Maeterlinck, Bourget, Rolland, Shaw usw. als »Barbaren« in Verruf bringen möchten – allen Anderen an »Zucht« überlegen: genau die Eigenschaft, die auch heute das deutsche Volk als Ganzes – und von wenigen, hoffentlich bald auszutilgenden Ausnahmen abgesehen – vor der chaotischen Zuchtlosigkeit ihrer Tango tanzenden Nachbarn auszeichnet. Nicht allein Deutsche urteilten aber über Deutschland so vorteilhaft; ich kann aus dem Ausland einen so gewichtigen Zeugen anführen, daß vor ihm alle Verleumdungen in nichts zerfallen. Kein Geringerer als Michel de Montaigne soll hier für die Wahrheit zeugen! Unter den heutigen Hassern Deutschlands wird nicht einer zu leugnen wagen, daß Montaigne einer der geistvollsten und unabhängigsten Männer war, die je in Europa gelebt; für unsere Frage kommt außerdem in Betracht, daß er dem Adel angehörte, viel am französischen Hofe gewesen war, ein weitgereister Mann, der Welt und Menschen kannte, wie nicht bald Einer, und Alles scharf bis auf den Grund durchschaute. Im Jahre 1581 bereiste er nun zum Vergnügen Deutschland und befand sich so wohl da, daß, wie er sagt, »er es mit wahrem Schmerz verließ, trotzdem die Reise nach Italien ging«. Sein Gesamturteil faßt er in folgende Worte zusammen: »Tout y est plein de commodité et de courtoisie, et surtout de justice et de sûreté«. Vier Dinge zeichnen also, nach dem Urteil des Franzosen, das Deutschland des 16. Jahrhunderts aus: Bequemlichkeit, Artigkeit, Rechtspflege, Sicherheit. In dem Reisetagebuch, dem ich diese Ausführung entnehme, kommt Montaigne wiederholt zurück auf die vorzügliche Einrichtung und Führung der deutschen Gasthäuser, namentlich im Vergleich zu den entsetzlichen Zuständen in Frankreich. Auch von der Höflichkeit erzählt er manches Beispiel; bisweilen wird sie ihm sogar lästig, wie z. B. die Sitte, die uns Westländern heute noch auffällt und die, wie wir hier erfahren, schon damals herrschte, diejenige Person, der man Ehre erweisen will, stets rechts gehen zu lassen, damit – so wurde dem Chevalier erklärt – der Betreffende jeden Augenblick unbehindert nach dem Degen greifen könne, wozu aber gerade in Deutschland keine Veranlassung vorlag. Äußerlich steht also Deutschland damals in Bezug auf Sitten, Anstand und Lebensart mindestens eben so hoch wie Frankreich, vielleicht höher; nicht minder aber innerlich. Denn Recht und Gerechtigkeit bilden doch mit der Sicherheit der Person und des Besitzes die Grundlagen zu jeder höheren Civilisation und Kultur; wenn also Deutschland sich hierin auszeichnet, so wird damit gesagt, es sei damals das menschenwürdigste Land Europas gewesen. Gleich bei Bozen und Trient sehnt sich Montaigne zurück nach »der Anmut deutscher Städte«, und bald hat er in Rom die Gelegenheit, eine andere Auffassung der Sicherheit der Person kennen zu lernen, wo – so erzählt er – Papst und Kardinale, trotz dem amtlich bestellten »Vorschmecker«, den Wein des heiligen Abendmahls nicht anders als vermittelst besonders konstruierter goldener Röhren trinken, um der beständigen Gefahr der Vergiftung nach Möglichkeit vorzubeugen!
Nun geschah das Entsetzliche: der Dreißigjährige Krieg. Die Anmut deutscher Städte war dahin! Wer hat diese Katastrophe verschuldet? Man greift nicht tief genug, wenn man nur von einem Krieg der Konfessionen spricht; es mischt sich noch manches Andere hinein; wischt man eine Unmenge politischen Nebenwerks beiseite, so bleibt als Grundstimmung ein Krieg zwischen dem echt Deutschen und dem unecht Deutschen; nur entdeckt sich dann gleich, daß man nicht mit 30 Jahren und dem künstlichen Friedensschluß auskommt, vielmehr der Krieg mit Unterbrechungen zweieinhalb Jahrhunderte dauert und erst 1866 endet, als der lebengebende Mittelpunkt ins alte echte Land, von wo das Deutschtum ausgegangen war, nämlich nach Norden, zurückverlegt wurde. Wer sinnend diese ganze Zeit an sich vorüberziehen läßt, von bald nach der gemütlichen Reise Montaigne's – der beide christlichen Konfessionen noch in vollkommener Harmonie mit einander lebend fand und Mischehen täglich in Augsburg schließen sah – bis zu dem Augenblick, wo Bismarck Hand ans Werk legte, wird staunen über die göttliche Leitung, dank welcher aus dem scheinbar Chaotischen dennoch sinnvolle, in einander wirkende Folgen hervorgingen, und Schritt für Schritt das Zertrümmerte und Aufgelöste sich wieder sammelte, wieder verband, von neuem an Stoff und Kraft wuchs, neue Organisation einging, aus Frieden und aus Krieg, aus Sieg und aus Niederlage stets Vorteile für die äußere und innere Weiterentwtckelung gewann, bis zuletzt die große, bewunderungswürdig mannigfaltige, an materiellem und an geistigem Gute unvergleichlich reiche, an Spannkraft alle anderen übertreffende, herrliche Nation dastand. So gelangen wir dazu, den unheilvollen Dreißigjährigen Krieg, der Deutschland fast vernichtete, als nur eine Episode in einem Prozeß der Klärung, der Gesundung, der Läuterung zu betrachten, als eine notwendige Umbildung entgegen einer neuen, neue Formen beanspruchenden Zeit, ein Vorgang, der nur darum schließlich zum Heil führte, weil Deutschland während dieser langen Prüfungszeit sich in den verborgenen Tiefen seines Wesens treu blieb und somit rein. Nichts zugleich Rührenderes und Erhabeneres wüßte ich in der Geschichte der Menschheit zu nennen, als die Entwickelung der rein idealen Kunst der Musik zu ihrer höchsten Vollendung durch die Thüringerfamilie der Bach mitten unter allen Sünden und Greueln dieser entsetzlichen Epoche. Richard Wagner, der in seinem »Was ist deutsch?« auf diesen Tatbestand zuerst aufmerksam gemacht hat, sagt von Johann Sebastian: »An Bach lernen wir begreifen, was der deutsche Geist in Wahrheit ist, wo er weilte, und wie er rastlos sich neu gestaltete, während er gänzlich aus der Welt entschwunden schien.« Kein anderes Volk besitzt irgend etwas Ähnliches – nicht allein nichts Bach Ähnliches, sondern nichts diesem großen zweiundeinhalb Jahrhunderte währenden Läuterungsprozeß Ähnliches, dieser stillen Gestaltung und Umgestaltung der Seele in verborgenen Tiefen. Und die Folge ist, daß Deutschland heute unter den alten Nationen als die einzige junge dasteht; es hat eine Wiedergeburt erlebt, es allein; seine klassische Poesie und Prosa, seine erhabenste Musik, seine Formvollendung des Dramas entstehen an der Schwelle des 19. Jahrhunderts oder im 19. Jahrhundert; sie gehören uns lebendem Geschlechte an, als eine das Rauhe jeder Gegenwart und das Triviale jegliches Tagtäglichen idealisierende Gewalt; wogegen die englischen und französischen Werke gleicher Würde Jahrhunderte zurückliegen, Zeugen einer entschwundenen Welt. Und zugleich – dies ist mindestens ebenso beachtenswert – hat sich Deutschland allein aus der vorübergegangenen mittleren Zeit, nebst geistigen Schätzen aller Art, auch politische Gebilde lebendig hinübergerettet, die sonst allerorten zugunsten öder, abstrakter Einheit entschwunden sind. So geht denn Deutschland aus der langen schweren Prüfung reich an Neuem und reich an Altem hervor; einzig.
Ohne Frage hängt die Unfähigkeit der heutigen Menschen, für Deutschland und deutsches Wesen Verständnis und Liebe zu gewinnen, mit den genannten Vorgängen zusammen. Von dem alten Deutschland, das Montaigne so liebte, wissen sie nichts, das neue Deutschland sind sie zu veraltet – benutzen wir das beliebte Wort einmal richtig, sind sie zu »barbarisch« – um es begreifen zu können; denn diese zänkischen Greise, die an morschen Krücken abstrakter »Freiheit« und »Gleichheit« gehen, begreifen es nicht, daß Freiheit nur durch Aufopferung der persönlichen Willkür, und Gleichheit nur in der allgemeinen Unterordnung Aller unter ein gemeinsames Ziel gewonnen wird, nicht dadurch, daß – wie auf Haiti – jeder Soldat Feldmarschall ist. Sie sind stecken geblieben bei Vorstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts, also einer Zeit, wo sich Deutschland selbst nicht kannte, wo Deutschland als moralische Einheit dem Auge entschwunden war und ein Chaos darstellte; diesem Deutschland gilt ihre Sehnsucht, dieses Deutschland möchten sie gar zu gern wieder entstehen sehen. Man wußte nicht, sollte man den Kaiser »deutscher Nation«, der aber nicht deutscher Nation war, für den Mittelpunkt halten? Das Eine aber wußte man, daß der Preußenkönig, der gegen die kaiserliche Gewalt Krieg führte, gewiß kein »Deutscher« sein konnte! Schließlich war dann zwischen «Autrichien» und «Prussien» der Begriff «Allemand» so ziemlich ganz aus der Welt entschwunden; man redete kaum mehr von einem »Deutschland«. Ohne Frage liegt die Hauptschuld des heutigen Reiches in den Augen seiner Feinde, zugleich die Hauptveranlassung für den Haß, der so manche treue deutsche Seele betrübt, in nichts Andrem begründet als darin, daß Deutschland überhaupt existiert. Es war so furchtbar bequem für England und Frankreich, mit keinem Deutschland als irgendwie festem, dauerndem Faktor rechnen zu müssen. Napoleon ging damit um wie ein Koch mit seiner Gelee, die er nach Belieben zerteilen und zusammenfügen kann; und nun auf einmal war es keine Gelee mehr, sondern eine stahlharte Tatsache, die absolut nicht aus dem Wege zu räumen war. Statt Gallert Generalstab: das war bitter. Das gemütliche Deutschland, das die Schlachten für England geschlagen hatte, um dann dem selben England am Wiener Kongreß als Fußschemel zu dienen, war dahin; ein äußerst ungemütliches Deutschland stellte die stärkste Armee der Welt ins Feld und ging daran, sich eine entsprechende Flotte zu bauen. Nach dem berühmten Spruch tout comprendre c'est tout pardonner überkommt mich etwas wie Mitleid jetzt mit dem edlen Lord, den wir vorhin zu Grabe trugen, der Deutschland ohne Militarismus zu lieben vorgab! Und kein Mensch wußte – auch heute weiß kein Mensch unter den Liebelosen – wie das mit der Umwandlung zugegangen war. Es schmeckte stark nach Teufelswerk. Von dem großen Friedrich – einem der herrlichsten Menschen der Weltgeschichte – steht bei allen englischen Geschichtsschreibern fest (so erzählt Carlyle), er sei ein »Räuber« und ein »Bösewicht« gewesen: von diesen zwei Postulaten aus schreiten sie zu weiterem Verständnis. Das bleibt fortan der Ton für Alle, die in irgend einem Maße an der Verwandlung von Gallert in Generalstab beteiligt sind. Bismarck – dessen Größe nicht zum wenigsten in seiner gigantischen Aufrichtigkeit wurzelt – wird kaum je von der »Times« erwähnt, ohne die hinzugefügte Bezeichnung »Fälscher« oder aber den schauererregenden Beisatz »Mann von Blut und Eisen«, so das schöne tiefe Wort Bismarck's entstellend und eine doppelte Perfidie ausübend. In Allem dem spricht sich Mißgunst, Neid, Eifersucht, ohnmächtige Wut aus; es wäre aber irrig, irgend eine historische Begründung dieses Hasses zu suchen; kein einziges Mal im Laufe der Weltgeschichte hat Deutschland England etwas angethan; nein, nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart ist es, die Deutschland zum Verbrechen angerechnet wird: die Tatsache, daß es aus dem Nichts, wozu es hinabgesunken zu sein schien – äußerlich betrachtet schien, denn auf Kunst, Philosophie und Wissenschaft achten Politiker nicht – daß es, sage ich, aus dem Nichts, wozu es hinabgesunken zu sein schien, nun plötzlich ein so gewaltiges Etwas geworden ist – gewaltig an Schlagkraft, gewaltig an Schaffenskraft, gewaltig an Erfindung, an Fleiß, an Verstand, an Unternehmungsgeist, an Erfolg, schließlich auch – das Unerhörteste – an Geldmitteln. Dieses Deutschland überhaupt – nicht bloß den angeblichen Militarismus – hassen namentlich die Engländer,und »hassen« heißt in seiner ursprünglichen Bedeutung Hetzen, zu Tode jagen.
Vielleicht stellen sich die Meisten nicht vor, wie fern der Begriff eines irgendwie ernst zu nehmenden politischen Deutschland aus den Augen der Westeuropäer entschwunden war. Deutschland galt ihnen hauptsächlich als ein harmloses Land, wohin man in dem behäbigen Alter, wo Gicht- und Leberleiden sich einstellen, Brunnen trinken ging. Ich erinnere mich, als wie von gestern, der Schilderungen, die man mir als Kind von Deutschland gab: vor jedem Hause stünde ein Misthaufen, und auf dem Misthaufen säßen barfüßige, halbverhungerte, halbnackte Knaben und läsen Schiller. Noch im Jahre 1889, auf dem Eifelturm, kaufte ich ein feilgebotenes französisches Reiseführerbüchlein, in welchem zu lesen stand: die Stadt Köln sei berühmt wegen ihres Doms und «pour les sources odoriférantes qui y coulent»; so sicher war man, der Deutsche sei unfähig, irgend etwas anzufertigen, daß man selbst unser liebes Kölnisches Wasser dem Boden als Brunnen entquillen ließ! Doch, Spaß beiseite, man frage bei Gelehrten an, z. B. bei den französischen Enzyklopädisten und ihren Zeitgenossen; man wird bald gewahr werden, wie blaß ihnen die Vorstellung Deutschland war. In der großen «Encyclopedie» beansprucht das Wort «Allemagne» knapp eine halbe Spalte, und die Hälfte dieser halben Spalte ist einem neuen Handelsvertrag mit der Türkei gewidmet! In Diderot, Bayle, Rousseau dürfte das Wort kaum vorkommen. Dem alten lynxäugigen Voltaire dämmert hie und da eine mögliche bedrohliche Zukunft. Nach der Schilderung der zweiten, planmäßigen Verwüstung der ganzen Pfalz im Jahre 1689, warnt er die Franzosen, wenn einmal die Deutschen sich besinnen sollten, würden sie im Stande sein, eine weit größere Armee als die französische zu stellen, zugleich eine besser disziplinierte und von größerer Ausdauer. Öfters spottet er über die Methode der Engländer, statt mit Soldaten, mit Bestechungen und Geldsubsidien zu kämpfen, und wenn schon, dann mit fremden Söldnern. Dann wieder, in einem prophetischen Augenblick, geht es ihm auf, welche Macht in Deutschland erstehen könnte, «si jamais ce vaste pays pouvait être réuni sous un seul chef», wenn je der Tag käme, wo das ganze Land einem einzigen Kriegsherrn gehorchte. Dagegen bekommt man an keiner einzigen mir bekannten Stelle den Eindruck, als besitze Voltaire eine Ahnung von dem, was Deutschland als Volk, als Seele unterscheide und auszeichne, wie das doch dem Chevalier de Montaigne nach kurzem Aufenthalt so innig wohltuend aufgegangen war. Er begreift eben nicht, wie aus dem trümmerhaften Chaos, das damals Deutschland hieß, je ein Volk sollte gemacht werden können. Einmal, in einem Brief an Friedrich, den ich augenblicklich nicht auffinden und deswegen nicht wörtlich anführen kann, spricht er verwundert über den Unterschied zwischen Nord und Süd: wie doch in Preußen sich Intelligenz und Charakter gewaltig hervortun, während Süddeutschland in einem Sumpf von stupidem Aberglauben rettungslos dem Erstickungstod anheimgegeben scheine. Wer hätte denn voraussehen können, daß es dem Norden gelingen würde, den Süden aufzurütteln, ja, daß wir im 20. Jahrhundert das großartige Schauspiel erleben würden, ein Gesamtdeutschland, von der Nordsee bis zur Adria, von den Vogesen bis zu den Karpathen Schulter an Schulter kämpfen zu sehen? Wenn sich Eduard VII., der tückische Ränkeschmied, nur hätte träumen können, wozu die Vorsehung ihn und seine Bosheit brauchte! zu welchem hohen Werke des Zusammenschmiedens »in Blut und Eisen«!
Liebt der Fremde Deutschland nicht, so kommt das also daher, daß er es nicht kennt, und er lernt es nicht kennen, weil frühere Vorstellungen hindernd im Wege stehen. Hier verdient aber bemerkt zu werden: Deutschland hatte sich selber lange Zeit vergessen und erwacht jetzt erst allmählich zur wahren Besinnung über sich. Ja, ich wage noch mehr zu behaupten: lösche ich den jetzigen Augenblick aus dem Sinne, der die gesamte Bevölkerung gesteigert und verklärt zeigt, der alles Beste wachgerufen und alles Unzulängliche in Tiefen versenkt hat, kehre ich in Gedanken in das gewöhnliche tagtägliche Leben zurück, so finde ich gar manche Deutsche, die Deutschland – das heutige Deutschland – nicht richtig kennen und daher auch nicht richtig lieben; ich will in keiner Weise zu verstehen geben, sie seien nicht gute Patrioten, nein, aber sie mäkeln und nörgeln an Allem und Jedem, sind engherzig und kurzsichtig, und von ihrem deutschen Standpunkt aus fast eben so wenig mit dem neuen Deutschland zufrieden wie die Ausländer von dem ihrigen. Die Politik Deutschlands seit 1870 und namentlich seitdem der »neue Kurs« eingeschlagen wurde, kann nicht vom Kirchturm des einheimischen Dorfes aus übersehen werden; der weltgeschichtliche Blick muß geübt werden. In diese saure Stimmung – bitter zu heißen verdient sie nicht – mischt sich manche Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und Umständen, sowie ein krankhafter Sentimentalismus, der nicht ein echtes Erzeugnis deutschen Lebens und Empfindens ist; man zieht nicht ungestraft ein Gift wie die Poesie von Heine groß, an der Geschlechter von Jünglingen und Mädchen gekrankt haben und noch kranken. Und dieses Gift saugen nun diejenigen Auslander ein, die einige Monate oder Jahre in Deutschland, zu ihrer Ausbildung weilen, wo sie wahrhaftig hätten Besseres erfahren und lernen können. Es ist gar nicht wahr, daß die echten Dichter und Denker Deutschlands auf der einen Seite stehen, die Soldaten und die Leute des praktischen Lebens auf der anderen, als zwei entgegengesetzte und gegnerische Verkörperungen des Deutschtums. Mit fliegender Fahne eilt der deutsche Dichter seinem Volke voran:
Es wär' ein eitel und vergeblich Wagen,
Zu fallen ins bewegte Rad der Zeit;
Geflügelt fort entführen es die Stunden,
Das Neue kommt, das Alte ist verschwunden!
Und was die Soldaten anbetrifft, so erfuhr ich neulich von einem Verleger, Goethe's Faust sei in den westlichen Grenzstädten gänzlich ausverkauft gewesen, in allen Ausgaben: kein Buch ist so viel in den Krieg mitgenommen worden! Die deutschen Dichter haben diese sie ehrende Soldatenliebe verdient. Abgesehen von Erscheinungen wie Kleist, Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt, ist für die größten deutschen Künstler die Betonung des Deutschtums, die Sehnsucht, es mächtig zu sehen, in einer Weise bezeichnend, daß mir Ahnliches aus anderen Litteraturen nicht bekannt ist; daß ihre Aussprüche nicht dem Augenblick gelten wie diejenigen der Dichter der Freiheitskriege, macht sie nur um so bedeutungsvoller. Nach Waterloo jubelt Beethoven, daß die deutsche Nation »wieder kraftvoll dastehe«, und gewiß verdient es Beachtung, wenn ein solcher Mann bekennt: »Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor andern auszeichnen; sie ist auch die meine.« Auch Schiller singt:
Nur der Starke wird das Schicksal zwingen!
Er, der Geschichtskenner, dichtet sogar die bekannte Strophe, die von heute sein könnte:
Seine Handelsflotten streckt der Brite
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schließen, wie sein eignes Haus.
Schiller weiß genau, wie man sieht, daß England der selbstsüchtige Tyrann ist, der Alles für sich allein will und keinem Andern etwas gönnt. In dieser Überzeugung stimmte Goethe, wie wir wissen, mit ihm überein; er schätzte vieles an den Engländern sehr hoch, namentlich am einzelnen Engländer, doch politisch hielt er sie für ein Volk von herzlosen Krämern, wie aus fünfzig Sprüchen zu belegen wäre und wofür ich hier nur auf das Citat über den Sklavenhandel im Aufsatz »England«, S. 58 fg., zurückverweisen will. Einen dauerhaften Frieden erwartete Goethe nur von einem starken Deutschland:
Und gedächte Jeder wie ich, so stünde die Macht auf
Gegen die Macht, und wir erfreuten uns Alle des Friedens.
Diese Worte könnten für den heutigen Krieg geschrieben sein: Deutschlands während 44 Jahren bis an – vielleicht bis über – die Grenze des Statthaften unverbrüchlich bewährtes »Wollen« des Friedens, hat nicht hingereicht, ihn zu erhalten; gerade den Frieden kann einzig die Übermacht Deutschlands erzwingen, des einzigen Landes Europas, das ernstlich Frieden will. Auch wie diese Macht zu schaffen sei, weiß Goethe genau:
Zusammen haltet euren Wert
Und euch ist niemand gleich.
Und die Worte, die er für 1815 schrieb, werden – so Gott will – eine ungleich höhere Geltung für 1915 besitzen:
So rissen wir uns ringsherum
Von fremden Banden los,
Nun sind wir Deutsche wiederum,
Nun sind wir wieder groß!
So waren wir und sind es auch
Das edelste Geschlecht,
Von biederm Sinn und reinem Hauch
Und in der Taten Recht!
Der »reine Hauch« ist die Wahrhaftigkeit, die auch jetzt wieder so auffällt mitten in dem Höllenraketenschwarm von Lügen über Lügen; »der Taten, Recht« ist die strenge Rechtlichkeit der ganzen Politik Deutschlands. Dabei eignet Goethe nicht eine Spur Sentimentalität; im August 1815 antwortet er auf eine etwas wehleidige Schilderung: »Was für Übel den Franzosen begegnen mag, so gönnt man es ihnen von Grund des Herzens!« Das ist doch ein andrer Goethe als die schwächliche Karikatur, die man sich im Auslande, leider auch nicht selten im Inlande, von ihm macht. Überhaupt, wollen Deutsche sich selbst kennen lernen – und das ist doch der erste Schritt zur Liebe – so wäre Manchen von ihnen vor allem eine weit eingehendere Beschäftigung mit Goethe zu empfehlen; ich könnte Beispiele einer haarsträubenden Unkenntnis bei sonst sehr gebildeten Menschen nennen; solche Dinge sind aber geradezu ein Verbrechen am Nationalleben, eine Geringschätzung der höchsten Gaben Gottes. Welches Volk hat je einen solchen Mann wie Goethe besessen? Einen so unerschöpflichen Dichter, einen so unergründlichen Denker, einen so prächtig festen, tüchtigen, pflichttreuen Arbeiter?
Und was kann gräßlicher dem Edlen heißen,
Als ein Entschluß, der Pflicht sich zu entreißen!
Die Weisheit stießt aus seinem Munde wie aus einem ewig sprudelnden Quell, Jedem zugänglich, Jedem zuträglich, Jeden fördernd, bessernd, adelnd. In der Gestalt dieses Mannes lernt man das noch so wenig bekannte, wiedergeborene, neue Deutschland in seiner edelsten Verkörperung kennen: zugleich human und unerbittlich streng, weltumfassend weitherzig und fest in dem Vaterland des »edelsten Geschlechts« verwurzelt, demokratischer Gleichheit von Jugend auf bis ins letzte Alter huldigend und nichtsdestoweniger der aufopfernd treue Diener eines Fürsten, von jeglichem Kirchenzwang vollkommen frei und doch in Ehrfurcht und ahnendem Glauben tief religiös; Poet, Maler, begeisterter Freund der Tonkunst, nicht weniger leidenschaftlich aber gewidmet der Naturwissenschaft, der Technik, der Manufaktur, den industriellen und Handelsfragen; früher als wohl irgend ein Mensch hat der schon 1832 gestorbene Goethe die Umwandlung der Welt durch Eisenbahn und Telegraph vorausgesagt, denn immer vorwärts eilte sein Geist in der Jugendfreude des erst erwachenden Deutschland. So wurde gleich in der ersten Dämmerungsstunde des neuen mächtigen Reiches auch das neue Menschenideal vor uns aufgestellt: der vollkommene deutsche Mann. Denn ich wiederhole es: das alte Deutschland – das Deutschland Walther's von der Vogelweide – ist zwar noch vorhanden, es ist aber ein neues Deutschland geworden; sonst lebte es ja nicht, oder lebte nur als zahnloser, zitternder Greis; hingegen es aus dem Scheintode als der jüngste, lebensfähigste aller Staaten der Welt hervorgegangen ist. Auch das wußte Goethe, wie er überhaupt Alles wußte:
Und Fürst und Volk und Volk und Fürst
Sind alle frisch und neu!
Wie du dich nun empfinden wirst
Nach eignem Sinne frei.
Darum nun – weil, trotz des den Nichtwiffenden täuschenden, halbmittelalterlichen Aufputzes, Alles in Deutschland erstaunlich »frisch und neu« ist, und weil es eines Insichversenkens bedarf, um sich im »eigenen Sinne«, nicht im überkommenen fremden, frei und heimisch zu empfinden – darum möchte ich jenem durch fremden Haß gekränkten Deutschen empfehlen, sich um Anderer Mißgunst und Haß nicht zu kümmern, sondern vorerst sich daran genügen zu lassen, sich selber besser kennen und richtiger lieben zu lernen. Sehr viel innere Kraft braucht Deutschland noch, um sich staatlich und auch gesellschaftlich eben so vollkommen zu organisieren, wie es dies militärisch bereits vollbracht hat; und da wird es noch geraume Zeit auf »Liebe« zu verzichten haben; denn was da politisch und sozial Alles wird geschehen müssen, das wird nicht nach dem Geschmack der weltweisen Leitartikler an der Thames, Seine, Newa, Tiber usw. sein; es wird noch vieles mißverstanden und viel über Deutschland geschimpft und gelogen werden; das ist nicht zu ändern. Wohltat, Anerkennung und Förderung, Schmeichelei, Selbstverleugnung – gleichviel ob an Einzelne oder an Staaten verschwendet – erzwingen nicht Liebe: wir sahen es bei einzelnen Künstlern, die Deutschland Alles verdanken, und wie viel weiter wäre Deutschland in Elsaß-Lothringen gekommen, wenn es sich nach Cromwell's Verfahren gegen Ulster gerichtet hätte und nicht nach schwächlichem Humanitarismus! Auch das Aufklären und Entschuldigen, die jetzt eifrig betrieben werden, halte ich nicht für zweckmäßig; man züchtet damit noch unverschämtere Frechheit; qui s'excuse s'accuse bleibt ewig wahr; man tue das Rechte und lasse die Leute reden. Wie schön wäre es gewesen, wenn die Deutschen, nach der kurzen Notifikation an Belgien, einfach dort hineinmarschiert wären: keine Anfrage in England, keine öffentliche Entschuldigung; der Eingeweihte wußte schon, was die ganze Welt heute weiß: es hätte sich Alles bald aufgeklärt, und die Wirkung wäre, bei vollkommener Wahrung der Würde, weit mächtiger gewesen; galt es doch nur eine neueste Erscheinung des alten Konfliktes, den Carlyle bezeichnet als den zwischen »noble German veracity and obstinate Flemish cunning«, edler deutscher Wahrheitsliebe und starrköpfiger flämischer Tücke. Ich wollte, die Deutschen könnten sich entschließen, zehn Jahre lang keine Zeile zu lesen von dem, was im Ausland über sie gedruckt wird; es wäre eine gewaltige Ersparnis an Zeit und Aufregung. Und inzwischen, an sich selbst arbeiten, sich selbst gründlicher kennen lernen, das viele dem deutschen Wesen Fremde, was sich in Deutschland noch breit macht, rücksichtslos ausscheiden, wirklich rein Deutsch werden. Das deutsche Herr ist eine rein deutsche Erfindung und Schöpfung, beseelt von rein deutschem Geiste; was Unedles oder Unechtes hineingerät, wird mit fortgerissen oder wird ausgeschieden. Möchte das Gleiche im staatlichen, sowie überhaupt im gesellschaftlichen, geistigen und künstlerischen Leben gelingen; möchte – um nur ein Beispiel zu nennen – die Stadt, die den Großen Generalstab beherbergt, nicht länger der Unterschlupf der krassesten Bauernfängerei und der würdelosesten Sittenverwilderung bleiben. Vergessen wir ja nicht Carlyle's Wort über »die Abscheu vor Menschenunwert«! Es bedarf dazu keiner Achtung, keines Wohlfahrtsausschusses; solche Mittel sind undeutsch; dagegen bedarf es einer tiefernsten Selbstbesinnung, bedarf es einer ebenso strengen Selbsterziehung des Geistes und des Geschmackes, wie das Heer sie dem Charakter zuteil werden läßt, gefolgt – wie es nicht anders möglich ist – von der unerbittlichen Ablehnung dessen, was dem reinen, hohen, deutschen Geiste fremd und widerlich ist. Plötzlich wird man dann entdecken, daß immer zahlreichere unter den Edlen und Weisen aller Länder dem Beispiel Montaigne's und Carlyle's folgen: daß sie nicht mehr von außenher und von obenher über Deutschland urteilen, sondern in Demut und Vertrauen seine Sprache und sein Wesen kennen lernen und darum auch Deutschland lieben. Die Liebe kommt nie aus der Richtung und zu der Zeit, woher und wann man sie erwartet; der himmlische Sämann geht seine eigenen Wege und will, daß wir das Beste von ihm erhalten. Wir Heutigen werden sie nicht mehr erleben, diese große Umwandlung aus Haß in Liebe; doch der Tag wird kommen: ich Ausländer verkündige ihn aus den Tiefen einer allseitig wohlbegründeten, unerschütterlichen Überzeugung.
Bayreuth, 21. Oktober