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Cromwell, 1658: Auch wenn ihr Geschäfte treibt, schätzt ihr euern kaufmännischen Vorteil nicht höher als Gottes Gnade, vielmehr haltet ihr die göttliche Gnade für den größeren Gewinn.
Ruskin, 1880: Der Engländer bekennt heute nicht mehr: Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erden, sondern: Ich glaube an Vater Dollar, den alles Bewirkenden.
Eine alte Erfahrung lehrt: Wer sechs Wochen in einem fremden Lande weilte, setzt sich getrost hin und schreibt ein flottes Buch, wo klipp und klar und verblüffend einfach der National-Charakter, die Sitten, die Eigenschaften und Fehler des Volkes beschrieben werden; wie der Engländer sagt: he that runs may read, man kann's im Laufen lesen. Weit bedächtiger schreibt der, welcher sechs Monate auf eifrig gewissenhafte Beobachtungen verwendete; sein Buch läuft Gefahr, durch die vielen Vorbehalte und Fragezeichen den Leser zu langweilen, der Bestimmtes erfahren wollte und nun im Schwankenden tappt. Wer aber sechs Jahre dort gelebt und die Gelegenheit besessen hat, einer Anzahl verschieden gearteter Individuen der betreffenden Nation nah und näher zu treten, so daß er in ihrem Gemüte die Folge der Ereignisse in Wirkung und Gegenwirkung genau wahrnehmen und nicht bloß den Charakter, sondern auch die eigenartige Richtung des Charakters kennen lernen konnte: der wird die Absicht, über jenes Volk ein Buch zu schreiben, aufgeben, weil er nicht hoffen darf, dem unübersehbar vielfältigen Gegenstand gerecht zu werden. Etwas anderes ist es, wenn ein Mann, der dem betreffenden Volke selbst angehört und daher eine unerschöpfliche und unausschöpfliche Kenntnis desselben besitzt, sinnend das ihm ebenfalls vertraute Vergangene an sich vorüberziehen läßt: tiefe Einblicke tun sich ihm dann an gewissen Punkten auf; es sind solche, wo Charakter und Geschichte sich schneiden. Plötzlich erkennt er dann, daß dieser Charakter, hätte der historische Verlauf ihm nicht gerade die eine bestimmte Richtung auferlegt, sich ganz anders müßte entwickelt haben, und daß die gleiche geschichtliche Wendung bei einem abweichend gearteten Charakter sicherlich zu anderen Ergebnissen geführt hätte. Freilich muß man sehr behutsam verfahren, sobald man überhaupt von dem »Charakter« eines Volkes spricht; denn da dieser angebliche Charakter sich notwendigerweise aus ungezählten, verschiedenen einzelnen Charakteren zusammensetzt, so läuft man Gefahr, ein Bild nach Art der von Lombroso gefertigten zu erhalten, der fünfzig Gesichter von Mördern übereinander photographieren ließ, um auf diese Weise die Physiognomie des Idealmörders zu ermitteln, woraus ein völlig charakterloser Typus entstand, dessen einzige ganz sichere Eigenschaft es ist, keinem Mörder, der je gelebt hat, ähnlich zu sehen. Bei der Nation jedoch tut die überallhin verzweigte Blutsverwandtschaft viel zur Vereinheitlichung, und viel tut auch die sogenannte Massen-Psyche, d. h. der Einfluß, dem der Einzelne innerhalb einer Allgemeinheit unterliegt. So offenbart sich z. B. in diesen Tagen eine Einheit im deutschen Volks-Charakter mit erschütternder Überzeugungskraft: 1914 ist eben für Deutschland einer jener Augenblicke, wo Geschichte und Charakter sich schneiden; plötzlich gewinnen wir einen Einblick querdurch in ein Innerstes, das sonst die täuschende Oberfläche dem Auge entzieht. Ebenso offenbart sich aber gerade in diesem selben Augenblick – nicht, das wollen wir zu Gott hoffen, mit der gleichen Einmütigkeit, aber doch deutlich und allbestimmend – ein Kreuzungspunkt englischen Charakters und englischer Geschichte; und auch hiervor stehen wir erschüttert, aber erschüttert vor Entsetzen und vor Schamgefühl. Denn es nützt nichts, wenn Publizisten die Parole ausgeben: die Engländer seien keine Germanen mehr, das bewiesen sie durch ihr Verhalten; sie sind doch Germanen, reinere Germanen als viele Deutsche, und die Entwickelung der letzten zwei Jahrhunderte hat unter anderm das immer stärkere Hervortreten des Angelsächsischen – also des eigentlich Deutschen – auf Kosten des Normännisch-Fränkischen, bewirkt (abgesehen davon, daß letzteres sich durch Kreuzung immer mehr im ersteren verliert). Man werfe nicht den Einfluß der Juden ein, der zwar gerade in der am Ruder befindlichen Regierung Englands besonders groß ist; Deutschland zählt aber zehnmal so viele Juden, und wo sind sie jetzt? Wie weggeputzt von der gewaltigen Erhebung; als »Juden« nicht mehr auffindbar, denn sie tun ihre Pflicht als Deutsche vor dem Feinde oder daheim; während die englischen Juden, die doch die leibhaftigen Brüder und Vettern der deutschen Juden sind, dort alles Schändliche wie toll mitmachen, ihre deutschen Namen in englische schnell umwandeln und in der ihnen fast allein gehörigen Presse an der Spitze des Verleumdungs-Feldzuges gegen die Deutschen marschieren. Erhebt sich eine Nation, so folgt der Jude, er führt nicht. Weit tiefer, in den Vorgängen langer Jahrhunderte, sind die Ursachen der Entwickelung zu suchen, die England dahin geführt hat, wo es heute steht. Es war dies eine der möglichen Entwickelungen der germanischen Menschenart; aus der Diagonale zwischen Geschichte und Charakter ist sie dort zur Tatsache geworden.
Wer über Staatengeschichte nachsinnt, wird immer wieder staunen, welche weithin reichende und zugleich unabsehbar verästelte Wirkung einfache Begebenheiten und kaum bemerkbare Schicksalswendungen ausüben. Es genügt, eine einzige Begebenheit am Anfang der Geschichte Englands ins Auge zu fassen und eine einzige, durch äußere Umstände veranlaßte Wendung, die ein halbes Jahrtausend später stattfand, um Manches zu begreifen, was sonst ein unlösbares Rätsel bildet. Aus diesen zwei Tatsachen entsteht nämlich – als Wirkung – eine dritte; aus der eigenartig bestimmten Wirkung erfolgt aber notwendig eine ebenso eigenartige Gegenwirkung; und so baut sich zuletzt – wie bei allem organischen Leben – aus denkbar einfachsten Elementen ein unendlich mannigfaltiges, einzigartiges Ganze auf, an dem alle Teile zugleich bedingend und bedingt sind. Der Eroberungszug der Normannen, die im 11. Jahrhundert die angelsächsische Bevölkerung sich unterwarfen, ist die »Begebenheit«, die ich im Sinne habe; die »Wendung« ist diejenige, durch welche die ackerbautreibende, wasserscheue Bevölkerung Englands nach und nach, etwa vom 16. Jahrhundert ab, in eine seefahrende, handeltreibende umgewandelt wurde. Daß unterscheidende und für jeden Fremden unerklärliche Charakterzüge der englischen Nation in erster Reihe von der Verquickung des unter Alfred schon zu hoher Blüte gelangten sächsischen Staatswesens mit dem Geiste der normannischen Kraftmenschen herstammen, kann nicht bezweifelt werden; ebenso wenig aber, daß von dem Augenblick ab, wo die Wendung zum Seehandel stattfand, auch eine Änderung des im Laufe von fünf Jahrhunderten deutlich herausgebildeten Gesamtwesens anhub, die im letzten Ende zu der Katastrophe führen mußte, deren Anfang wir heute erleben.
Unter »Adel« versteht man in England nicht, was man in anderen Ländern darunter versteht; es handelt sich nicht um eine Titulatur, durch welche sämtliche Angehörige einer Familie für alle Zeiten sich äußerlich abheben, sondern um die Angehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Kaste, die sich innerlich vom übrigen Volke unterscheidet. Unaufhörlich fallen Menschen aus dieser Kaste heraus, unaufhörlich gelangen Andere durch Assimilation in sie hinein. Jeder Engländer, der zur »Nobility« und »Gentry« gehört, ist gleich in der ersten Minute zu erkennen: sehr häufig schon an den Gesichtszügen, immer aber am Gesichtsausdruck, an dem Gebaren, an der Stimme, vor Allem – und zwar mit unbedingter Sicherheit – an der Sprache. Nach dem Titel, den ohnehin immer nur einer der Lebenden führt, fragt Niemand; einzig auf die Kaste kommt es an. Gerade die vornehmen Leute schlagen oft Titel aus; zu den angesehensten Familien gehören solche, die durch die Jahrhunderte hindurch stets jede Adelsverleihung zurückgewiesen haben. Man weise nicht auf die Analogie im Frankreich des ancien régime; sie führt irre. Zwar war der fränkische und burgundische und gotische Adel bis zur Revolution deutlich unterscheidbar vom übrigen Volke; heute findet man jene großartigen Physiognomien in Frankreich nur sehr vereinzelt; in England liegen aber die Verhältnisse von Anfang an anders und haben in Folge dessen eine andere Bedeutung gewonnen. Die Burgunder und Franken und Goten waren als ganze Völker in Gallien eingebrochen; der größere Teil verschmolz vollständig mit den früheren Einwohnern, nur Fürsten und Edle hielten sich geschieden und waren zahlreich genug, diese Inzucht lange Zeit durchführen zu können. Verhältnismäßig gering an Zahl waren dagegen die Adelsgeschlechter, die aus der Normandie und aus Anjou den ersten Königen nach England folgten; so blieb denn dieser Adel, der nur einige wenige sächsische und dänische Adelsstämme in sich aufnahm und assimilierte, von dem ungemischt angelsächsisch verbleibenden Volke vollkommen getrennt; hieraus entstand nun die Tatsache der England allein unterscheidenden oberen Kaste, die bis zum heutigen Tage ihre eigene Sprache – genauer gesagt, ihre eigene Aussprache besitzt, doch umfaßt die Aussprache auch zahllose Wörter und Wendungen, welche die der Kaste nicht angehörigen Engländer ebenso wenig je richtig beherrschen wie die ihnen unzugängliche Aussprache. Aus diesem Umstande ergab sich eine Zwiespaltung, die noch heute das Volk in zwei unüberbrückbar geschiedene Bestandteile scheidet: einen oberen und einen unteren, einen vornehmen und einen unvornehmen. Wilhelm der Eroberer hat sich bemüht, doch ohne Erfolg, das Angelsächsische zu lernen; unter den ersten Königen nach ihm – so erzählt der große Staatslehrer Hobbes – erhielten Diejenigen, die sich über die Tyrannei des neuen Adels beschwerten, die Antwort: Schweig, thou art but an Englishman, du bist bloß ein Engländer! Und doch siegte dieser bloße Engländer insofern als er sich weigerte, Französisch zu lernen. Ebenso aber – und hier liegt der kritische Punkt – ebenso weigerte sich die obere Kaste, das Angelsächsische zu lernen.
Aus diesem zwiefachen Eigensinn entstand eine neue Sprache; wir nennen sie heute die englische; sie entsprang aus zwei sich bekämpfenden Idiomen, von denen jedes die Vorherrschaft für sich wollte; aber auch nach der endgültigen Festsetzung lebte der Kampf weiter in den noch heute herrschenden zwei Aussprachen: der vornehmen und der gemeinen.
Wer diesen einen Punkt – die Sprache – ins Auge faßt, wird, auch ohne England persönlich zu kennen, bald einen tieferen Einblick in manche Verhältnisse gewinnen, als lange Bücher ihm geben können. So sind z. B. höhere Schulen, der ganzen Nation offen – wie in Deutschland, Frankreich, Italien, überall – in England unmöglich. Ich kann doch nicht meinen Sohn in eine Schule schicken, in der er von seinen Kameraden und auch von seinen Lehrern die Aussprache »och« für »hoch« und »Hinsel« für »Insel« sich angewöhnen wird, dazu das widerliche Näseln, das in den Stadtbevölkerungen Englands daheim und inzwischen in Amerika und Australien so verheerend sich entwickelt hat. Das Gymnasium und die Realschule sind also unmöglich; es gibt Anstalten, wo die Kinder der Vornehmen erzogen werden und es gibt Anstalten, wo die Kinder der Unvornehmen erzogen werden; die Buben kennen sich nicht, reden nie mit einander, verachten sich gegenseitig. Folglich ist auch eine Universität im deutschen Sinne unmöglich. Die alten Universitäten sind ausschließend vornehm und züchten jene exquisiten englischen Gelehrten, die, allem Gemeinen in den Klausuren ihrer mittelalterlichen »Colleges« entrückt, zugleich welterfahren, wie sich das von selbst aus der Angehörigkeit zu den herrschenden Klassen einer herrschenden Nation ergibt, oft über unbeschränkte Muße zu Forschungen und Reisen gebietend, in ihrer Person und in ihren Büchern vielleicht die vollkommenste Kultur darstellen, zu welcher der Mensch heute gelangen kann; freilich, man muß es zugeben, sie sind ein Treibhauserzeugnis. Die neuen Universitäten sind aber in der Hauptsache nur Fachschulen; an ihnen wirken einzelne bedeutende Forscher – namentlich Chemiker, Physiker, Mechaniker u. dgl. – die fast Alle in Deutschland studiert haben; den nur aufs Praktische gerichteten, in keiner Weise der reinen Wissenschaft dienenden Charakter der Anstalten vermögen sie nicht zu beeinflussen. Die eine der tragenden Säulen des heutigen Deutschland fehlt also ganz in England: die allverbindende, das gesamte Leben der Nation in tausend Kanälen durchdringende und sie zu einer Kultureinheit erhebende Schule und Hochschule.
Nicht minder fehlt in England die Möglichkeit zu einer Volksarmee, zu jener gewaltigen sittlichen Schöpfung, die man das Rückgrat des heutigen Deutschland nennen kann. Denn das deutsche Heer besäße nicht diese ungeheure moralische Kraft, wenn sich nicht in ihm die unbedingte Einheit aller Kräfte der Nation betätigte und bespiegelte: von des Kaisers Majestät an der Spitze bis zu dem jüngsten Bauernrekruten, Alle bilden eine einzige Familie, Jeder ist Jedem ein Kamerad, sie Alle eint der Gehorsam, eint die Pflicht, eint die Liebe zum Vaterland. Ehe die Armee entstehen und die Einheit Deutschlands zu höchster Macht ausgestalten konnte, mußte die moralische und geistige Einheit da sein, eine solche Armee zu wollen und zu schaffen. Diese fehlt in England. In England wissen die zwei Hälften des Volkes – die kleine und die große – nichts voneinander, garnichts. Ich kann zwanzig Jahre lang einen Diener haben und weiß nicht mehr von ihm und über ihn als von der Seele meines Spazierstocks; der Stolz des Engländers, der nicht zur oberen Kaste gehört, ist seine Unnahbarkeit; er will nicht gefragt werden, er will nicht sprechen, er wünscht nicht »Guten Morgen« und »Gute Nacht«; begegnet er seiner Herrschaft auf der Straße, er geht auf die andere Seite hinüber, um nicht grüßen zu müssen. Was für eine Kameradschaft kann es da zwischen Offizier und Soldat geben? Woher soll die Einheit kommen? Es ist und bleibt das Verhältnis eines Adeligen, der Menschen aus einer anderen Welt Befehle gibt und Gehorsam durch seine angeerbte Überlegenheit erzwingt.
Nebenbei gesagt, ist der Engländer aus dem Volke von jeher durchaus unkriegerisch. Die Plantagenets hatten viele Kriege in Frankreich und zeichneten sich im Heiligen Lande aus; doch außer dem Adel bekamen sie in England keine Soldaten; Green – der bekannte Geschichtsforscher – schreibt: »Um Kriege und Kreuzzüge kümmerte sich die Bevölkerung Englands garnicht; an ihren Königen schätzte sie das eine, daß sie der Insel dauernden Frieden verschaffen.« Und das blieb so bis auf den heutigen Tag, wo die englische Armee zum überwiegenden Teil aus keltischen Iren und keltischen Schotten besteht; die eigentlichen Engländer lassen sich nicht anwerben. In den englischen Schlachten der Vergangenheit haben wohl Engländer aus dem Adel befehligt, doch die Heere bestanden aus fremden Söldnern, zumeist aus deutschen. Die Schlachten in Indien sind von Anfang an der Hauptsache nach von indischen, nicht von englischen Soldaten geschlagen worden; ein Fünftel Engländer war die gesetzlich bestimmte Norm und diese »Engländer« waren, wie gesagt, zumeist Iren. Die köstlichen Schilderungen der Anwerbung von Soldaten in England, die wir Shakespeare verdanken, sind jedem gebildeten Deutschen aus Heinrich IV., zweiter Teil, vertraut; in den Briefen des englischen Gesandten in Venedig, Sir Henry Wotton, wird man aus der selben Zeit eine ergötzliche historische Bestätigung finden. Anfangs 1617 will England der Republik gegen Spanien beistehen. Die Dienste eines schottischen Grafen, welcher Soldaten aus Schottland und Irland mitbringt, nimmt der Doge an, doch für die angebotenen englischen Streitkräfte bedankt er sich, »er habe von ihnen keine hohe Meinung und wisse, wie sehr ihre Kampflust von den drei B's abhänge – Beef, Bier und Bett!« Dann schlage man in von Noorden's »Spanischem Erbfolgekrieg« nach; man wird sehen, daß 1708 England sich entschließen muß, »dem von Jahr zu Jahr empfindlicheren Mangel an englischen Rekruten auf gesetzgeberischem Wege abzuhelfen«. Es ist immer die selbe Geschichte: 1200,1600, 1700 und 1900; ich könnte mit Dutzenden von Belegen dienen. Die Insellage allein genügt nicht zur Erklärung; unter unseren Augen hat das Inselreich Japan eine formidable Volksarmee ausgebildet. Ich bin überzeugt, die wahre Ursache ist in jener »Begebenheit« der Rassenmischung, gefolgt von gesellschaftlicher Spaltung zu suchen; später dann vermehrt noch durch die »Wendung«, von der ich gleich sprechen werde. Zur Ergänzung sei noch erwähnt, daß die Theorie, England brauche keine größere Armee und solle beileibe keine ausbilden, schon frühzeitig die Praxis unterstützte; kein Staatsmann wurde – und wird wohl noch heute – höher von seinen Landsleuten geachtet als Lord Bolingbroke; weit über sein Leben hinaus blieb er der Prophet des besonderen Entwickelungslaufes des modernen England; mitten unter den Siegen der Königin Anna führt nun Bolingbroke in seinen »Bemerkungen über die Geschichte Englands« aus, England solle eine große Flotte besitzen, nicht aber eine stehende Armee; denn diese »bringe die Insel dem Festlande zu nahe«, wogegen es Englands Interesse sei, die Kontinentalmächte sich gegenseitig bekriegen zu lassen, »ohne sich zu tief einzumischen«; eine Armee würde »große ökonomische Unzuträglichkeiten mit sich führen und zugleich Gefahren«.
Nur kurz sei noch ein Drittes erwähnt: die gesamte Gesetzgebung Englands – der Staat, seine Konstitution, seine Politik – ist das Werk der einen gesellschaftlichen Schicht nur, ohne jede wahre Beteiligung der anderen. Hobbes, der Aufrichtige, gesteht es: »Das Parlament hat nie die ganze Nation vertreten.« Der springende Punkt wäre doch die Reformation; denn überall bildet die Religion das innerste Rad aller Politik; und was finden wir? Diejenigen Engländer, die sich im Ernste von Rom losrissen, mußten das Vaterland bald fliehen und sich in den Wüsteneien Nordamerikas die Gewissensfreiheit suchen; dagegen die Loslösung der Staatskirche als eine rein politische Maßregel erfolgte, vom sehr absolutistisch regierenden Heinrich VIII. fast ohne Befragen des Parlaments bestimmt; die Bevölkerung Englands hatte sich »römisch-katholisch« schlafen gelegt und erwachte am nächsten Morgen »anglikanisch«. Es gehört zu den Dingen, die mich immer gereizt haben, das Gerede über die politische Freiheit Englands: hat es sich doch von Anfang der Geschichte bis jetzt nur um die Freiheit einer Kaste gehandelt. Athen hatte Muße »frei« zu sein, weil den 20 000 freien Bürgern 400 000 Sklaven dienten; England hat sich den Luxus eines sogenannten freien Parlaments leisten können, weil dieses Parlament ganz und gar in den Händen reicher Leute war, denen das Regieren Lust und Leben bedeutete. Ein in Deutschland viel zu wenig bekannter Schriftsteller, Thomas De Quincey – eine der reichsten Begabungen an Geistesschärfe, Wissen, Gedächtnis, Federkraft, die England je hervorgebracht – zeigt, daß die Erweiterung des Einflusses und der Befugnisse des Unterhauses seit zirka 1 600 nicht etwa einem Aufleben der Volkskraft zuzuschreiben sei, sondern der Vermehrung des Kleinadels, also der von jüngeren Söhnen herstammenden Familien; diese haben nach und nach den großen Feudaladel und die Bischöfe beiseite gedrängt. Sehr klug war es vom Parlament, auch dem Volke Rechte zu ertrotzen: das hat es gegen den König gestärkt und ihm erlaubt, Denjenigen zu enthaupten, der sich von der herrschenden Kaste nicht wollte dreinreden lassen; nicht weniger blutig hat es aber jedes Volksgelüst nach Macht zu unterdrücken gewußt. Auch heute, wo die Wahlberechtigung derart erweitert ist, daß bedeutende Teile des unvornehmen Volkes mitreden, behauptet sich noch immer die alte Gewalttätigkeit der herrschenden Klasse. Mancher Leser wird Dickens' Schilderung einer Parlamentswahl aus Pickwick kennen. Ich selber kann sie aus späterer Zeit bestätigen. Am Tage der Wahl brachte früh in die kleine Provinzstadt, wo ich weilte, ein Extrazug 400 » roughs«, das heißt rohe Männer, unheimliche Kraftgestalten mit frechen oder verbrecherischen Physiognomien aus der nächsten Fabrikstadt, ein Jeder mit einem gewaltigen Knüppelstock versehen. Das war die von der konservativen Partei engagierte Garde; an und für sich ging diese Männer die Wahl in einer fremden Stadt nichts an, sie waren aber dazu da, um angehende liberale Wähler einzuschüchtern und – wenn das nicht genügte – ihnen den Schädel einzuschlagen. Gottlob war der liberale Ausschuß auch nicht faul gewesen, und kurz nachher trafen 300 noch unheimlichere Gesellen aus einer anderen Gegend ein. Den ganzen Tag über wurde nun gejohlt, geprügelt, die Wähler aus den Wagen bei den Füßen herausgezogen, die Redner mit faulen Eiern ins Gesicht beworfen usw. Eine eigentümliche Auffassung von der Freiheit der politischen Meinung und des Wahlrechts! Abends erfuhr ich's noch am eigenen Leibe. Denn ich war damals Schüler in einem » College«, und von den 80 Insassen des Lehrerhauses der Einzige, der die liberalen Farben trug und sich dadurch zu Gladstone bekannte; auch die Bitten der Lehrer vermochten mich nicht, die Farben meiner Gesinnung abzulegen und Disraeli's ans Knopfloch heften zu lassen; und so fiel denn auf einmal die ganze Meute über mich her, warf mich zu Boden und verprügelte mich, bis Lehrer und Diener zu Hilfe eilten. Ich habe an jenem Tage – 46 Jahre sind es her – mehr über englische Verfassung und englischen Freiheitsbegriff gelernt als später aus den Büchern von Hallam und Gneist. Es stehen sich in der Politik Englands zwei Roheiten gegenüber und ergänzen sich: die rohe Gewalttätigkeit der ans Herrschen gewöhnten Klasse, und die Grundroheit der gänzlich unkultivierten Masse, die, wie oben dargelegt, nirgendswo mit etwas Höherem Fühlung gewinnt.
Alle diese Erscheinungen gehen auf jene Begebenheit zurück, die als jähe Gewalttat im Jahre 1066 die schöne Kultur des angelsächsischen Staates vernichtete und das Königreich »England« schuf. Ich bin der Meinung: Englands Aufschwung und Englands Niedergang wurzeln beide hier.
Nun aber die merkwürdige »Wendung«; denn ohne sie wäre vermutlich die allgemeine Demoralisation aller Schichten, die wir heute beklagen, nie eingetroffen.
Schon längst ist John Robert Seeley, in seinem klassischen Buche » The Expansion of England«, gegen die Legende aufgetreten, als seien die Engländer von Hause aus kühne Seefahrer, nach Art der Wikinger und der frühen Normannen; das Gegenteil ist wahr. Es hat viel Mühe und viel Zeit gekostet, den Engländern Geschmack fürs Wasser beizubringen. Seeley macht zugleich aufmerksam, daß die Engländer in Wirklichkeit gar keine Eroberer sind: Kolonien haben sie gegründet, wo die Länder leer standen oder nur von nackten Wilden bewohnt waren; andere haben sie von Holländern, Franzosen, Spaniern durch Verträge ergattert – oder aber, wie zum Beispiel Malta, durch Vertragsbruch. Indien ist durch indische Truppen unterworfen worden; niemals hat England mit Waffengewalt Eroberungszüge unternommen, wie die Spanier und die Franzosen. Der Engländer führt nicht wie Alexander oder Cäsar um des Ruhmes willen Krieg. »Für England«, sagt Seeley, »ist der Krieg eine Industrie, eine der möglichen Arten reich zu werden, das blühendste Geschäft, die einträglichste Geldanlage.« Man mag das loben oder nicht; ich erwähne es nur, weil dieser Zug die andern ergänzt: daß die Engländer keine Soldaten sind und auch nicht kühne, verwegene Seefahrer, sondern einzig und allein durch den Handel aufs Wasser gelockt wurden; Handel im Frieden, Handel durch Krieg; Armee und Marine, beide, nicht zur Verteidigung und Stärkung der Heimat, sondern zur Beförderung der in allen Weltteilen betriebenen Bereicherung; sicherlich tüchtig und tapfer, doch nicht der Ausdruck einer nationalen Not und einer moralischen Idee.
Natürlich hatte die Insellage es von jeher mit sich gebracht, daß England Vieles von jenseits des Wassers erhalten mußte; nicht nur Eroberer kamen von dort her, auch Waren aller Art. Lange Jahrhunderte lag aber dieser Handel in fremden Händen. Unter den Nachfolgern Wilhelm's des Ersten waren es die Franzosen der Normandie und Picardie, die den englischen Handel monopolisierten; dann griff namentlich die deutsche Hansa ein, später die sogenannte flämische Hansa; Venedig und Genua besorgten, laut besonderen Abmachungen, den ganzen Handel von und nach dem Mittelländischen Meere, ohne Dazwischenkunft englischer Schiffe. Selbst das Fischen an der englischen Küste wurde zumeist von Niederländern betrieben; so daß, als Heinrich VIII. die schüchternen Versuche der ersten Gesellschaft der » Merchant Adventurers« zu fördern und zu ihrem Schutze eine kleine Kriegsmarine zu schaffen versucht, er nicht weiß, woher er die Matrosen nehmen soll; es gab unter den Engländern keine Seeleute. Um diesem Übelstande abzuhelfen, wurde unter seinem Nachfolger, Eduard VI., im Jahre 1549 ein Gesetz erlassen, das den Engländern das Fischessen am Freitag und Sonnabend, sowie zur Fastenzeit und an allen Bet- und Bußtagen gegen Geldstrafe anordnete! Elisabeth verfehlte nicht, diese Maßregel von neuem einzuschärfen und auch sonst den Fischfang möglichst zu heben. Zu einer Zeit also, wo Italiener, Spanier, Portugiesen schon längst Geschlechter von genialen, heroischen Ozeanfahrern hervorgebracht hatten, mußten Zwangsmaßregeln die Engländer nach Heringen und Flundern aufhetzen, damit sie mit dem feuchten Elemente vertraut würden! (Vgl. Cunningham: Growth of English Industry an Commerce.) Freilich, jetzt ging es schnell aufwärts; und jener Doge, der sich für englische Soldaten bedankte, nahm gerne die Hilfe einiger englischer Kampfschiffe an, die zwar nur bewaffnete Kauffahrteischiffe waren, doch zur königlichen Flotte gezählt wurden. Zum allerersten Male in der Geschichte segelten Juli 1518 sieben englische Kriegsschiffe ins Mittelländische Meer ein, als bescheidener Bestandteil einer mächtigen holländischen und venezianischen Flotte ( Corbett: England in the Mediterranean. Jetzt hatte England die neue Weltlage und die Gelegenheit, die sie gerade ihm zur Bereicherung bot, erkannt. Alles Problematische war ja schon von Anderen geleistet: der Ost- und der Westweg entdeckt, die Neue Welt aufgeschlossen, Indien zugänglich, mit China Fühlung gewonnen; jetzt hieß es nur zugreifen nach der Moral des Mephistopheles:
Man fragt um's Was? und nicht um's Wie?
Ich müßte keine Schiffahrt kennen:
Krieg, Handel und Piraterie,
Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.
Hiermit ist die nun einsetzende Politik Englands genau bezeichnet: Krieg, Handel und Piraterie.
Sobald sich England auf den überseeischen Handel legt, ist gleich der Haß da: und zwar als erstes, der Haß gegen die deutsche Hansa; wer Näheres erfahren will, braucht nur in Schanz: »Englische Handelspolitik« nachzuschlagen. Sofort ist auch das Räuberwesen da: ohne Krieg zu erklären, fällt England wie ein Geier auf das nichts ahnende spanische Jamaica, und gründet so sein westindisches Reich. Lange Zeit hindurch beschränkt sich Englands »Kolonialtätigkeit« darauf, auf offenem Meere die spanischen Galeone abzufangen, die mit Gold und kostbaren Waren beladen heimfahren. Überhaupt wächst das Kauffahrtei treibende England überall an den anderen Nationen empor und wird dann durch deren Vernichtung groß und größer. Die Piraterie geht voran; an ihr blüht der Handel auf; Krieg macht man, wo es nicht anders geht, doch immer eingedenk der « Island policy« Lord Bolingbroke's. Erst verbindet sich England mit Holland, um Spaniens Kolonialreich zu vernichten, dann mit Frankreich, um Holland den Lebensnerv zu durchschneiden, dann erspäht es, wie genial der große Franzose Dupleix das indische Problem erfaßt hat, macht's ihm nach und hetzt die Inder gegen die Franzosen, die dort friedlich ihren Handel trieben, dann die Inder gegen die Inder, bis es zuletzt – wie Seeley sagt – »ohne Eroberung« eines der größten Reiche der Welt sich unterworfen hat. An der Schwelle des 19. Jahrhunderts urteilt der milde und zugleich unbeirrbar scharf erblickende Kant, England sei »der gewaltsamste, kriegerregendste Staat«. Wie gottverlassen amoralisch das Volk unter dem Einfluß dieses neuen Geistes bald wurde, das möge ein einziges Beispiel vor Augen führen. Wie werden in englischen Schulen die Schlachten gefeiert, die Marlborough mit seinen deutschen Soldaten gewann! Was war nun ihr wahres Ziel und ihr Erfolg? England das Monopol des Sklavenhandels zu sichern! Lecky, der Verfasser der großen »Geschichte Englands im 18. Jahrhundert« sagt, nach den Utrechter Friedensverträgen (1713) habe der Sklavenhandel »den Mittelpunkt der ganzen englischen Politik« ausgemacht. Solange dieser Handel einträglich blieb, betrieben ihn die Engländer; Liverpool z. B. ist nicht durch seine Industrie, sondern durch das Erjagen und Verschachern unseliger Millionen von Schwarzen groß geworden. Der patriotische Geschichtschreiber Green bezeugt wörtlich: »Die entsetzlichen Grausamkeiten und die Ruchlosigkeit dieses Handels, der Ruin Afrikas und die Zerstörung der Menschenwürde erregten bei keinem Engländer Mitleid.« Dann allerdings geht Green über zur Schilderung der Bemühungen einzelner Philanthropen; doch vermochten diese Jahrzehnte lang garnichts; das Parlament blieb taub; die Kaufleute waren empört ... bis zu dem Tage, wo eine neue Situation diesen Handel unerwünscht scheinen ließ, und nun unter widerlich heuchlerischen Beteuerungen von Humanität und von Englands Mission, allen anderen Völkern leuchtend voranzugehen usw. der Sklavenhandel gesetzlich abgeschafft wurde. Hierüber sind wir so glücklich, das klare, unvergängliche Urteil Goethe's zu besitzen: »Jedermann kennt die Deklamationen der Engländer gegen den Sklavenhandel, und während sie uns weismachen wollen, was für humane Maximen solchem Verfahren zugrunde liegen, entdeckt sich jetzt, daß das wahre Motiv ein reales Objekt sei, ohne welches es die Engländer bekanntlich nie tun und welches man hätte wissen sollen. An der westlichen Küste von Afrika gebrauchen sie die Neger selbst in ihren großen Besitzungen, und es ist gegen ihr Interesse, daß man sie dort ausführe. In Amerika haben sie selbst große Negerkolonien angelegt, die sehr produktiv sind und jährlich einen großen Ertrag an Schwarzen liefern. Mit diesen versehen sie die nordamerikanischen Bedürfnisse, und indem sie auf solche Weise einen höchst einträglichen Handel treiben, wäre die Einfuhr von außen ihrem merkantilischen Interesse sehr im Wege, und sie predigen daher nicht ohne Objekt gegen den inhumanen Handel.«
Es ist im Rahmen eines Aufsatzes unmöglich, und wohl auch unnötig, zu schildern, wie, auf diesem Wege der immer ausschließlicheren Hingabe an Handel, Industrie, überhaupt an Gelderwerb Englands Agrikultur nach und nach zugrunde ging. An der Wende zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert lebten die englischen Weber noch auf dem Lande in bequemen Häusern mit Gemüsegärten und Feldern; heute kann sich nur ein sehr reicher Kaufmann den Luxus gönnen, in England auf dem Lande zu leben, denn dessen Anbau zahlt nicht die eigenen Kosten. Im Jahre 1769, bei einer Gesamtbevölkerung von 8 1/2 Millionen, waren 2 800 000 mit der Bebauung des Landes und der Pflege der Heerden beschäftigt; im Jahre 1897, bei einer Bevölkerung von rund 40 Millionen, arbeiteten Alles in Allem 798 000 Männer und Frauen auf dem Lande ( Gibbins: The industrial History of England, 5. Aufl).
Hiermit hängt nun eine tiefgreifende Umänderung des ganzen Charakters der Bevölkerung in beiden Schichten zusammen; durch diese Wendung ist Leben und Seele des Engländers nach und nach vollkommen umgewandelt worden. Das alte England hatte Jahrhunderte lang das unschätzbare Glück genossen, keinen äußeren Feind befürchten zu müssen, und seine wenigen Kriege hatte es, wie schon bemerkt, durch fremde Soldaten schlagen lassen. So blühten denn Landbau und Landleben auf, und – wie die alten Dichter uns zeigen und die neuen Gelehrten uns ziffernmäßig nachweisen – nicht nur die Herren, sondern auch die kleineren Pächter und Knechte waren ungleich besser daran als heute. In ganz Europa genoß England den Ruf des Wohlbehagens und der »Heiterkeit«. Einem Reisenden des 15. Jahrhunderts fällt es auf, daß die Engländer, »weniger geplagt als andere Leute mit harter Arbeit, ein verfeinertes und mehr den geistigen Interessen gewidmetes Leben führen«; ein Anderer rühmt ihre unvergleichliche »Artigkeit«. Das ist Alles anders geworden. Über die »geistigen Interessen« im heutigen England erzählte ich Einiges in dem Aufsatz »Deutsche Freiheit« (S.19); was aber das »merry old England« (heitere alte England) betrifft, dessen höchste Blüte – Jedem von uns aus Shakespeare und aus Walter Scott vertraut und lieb – in die Zeiten Heinrich's VIII. und Elisabeth's fällt, es ist nach und nach, zuerst ganz allmählich, später rasend schnell, genau im gleichen Schritte – aber in umgekehrter Richtung – mit der Entwickelung der Schiffahrt und der Industrie entschwunden. In den Romanen des 18. Jahrhunderts glüht es nach in schwülem, unheimlichem Abendrot; das Genie Dickens' zeigt es noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Herzen einzelner naiver verschrobener Seelen, wo es zwischen Karikatur und melancholischer Einsicht in das eigene unwirkliche Schattendasein hin und her flackert, dem Tode entgegen; heute ist die letzte Spur zertreten: man trifft in England keine Behäbigkeit, keinen breiten, gütigen Humor, keine Heiterkeit an; Alles – soweit das öffentliche Leben in Betracht kommt – ist Hast, Geld, Lärm, Pomp, Protzentum, Vulgarität, Arroganz, Mißmut, Neid. Man erinnert sich des schönen alt-englischen Weihnachtsfestes mit dem Schmuck von fruchttragenden Stechpalmen und den Mistelzweigen, unter denen unschuldige Küsse gestohlen wurden; am wenigsten an diesem Tage war, selbst noch vor 30 Jahren, in ganz England auch nur ein Mensch aus seinem Heim zu locken; heute sind die Säle aller Riesengasthäuser Londons schon wochenlang vorher ausvermietet; an 1000 Tischen sitzt Familie an Familie, ißt und zecht und lärmt, bis dann um Mitternacht das gemeinsame Abbrüllen trivialer Gassenhauer im Stile des widerlichen »for he's a jolly good fellow« anhebt, nach welcher Verbrüderungsfeier die Tische schnell abgeräumt werden und nun alle diese Jünglinge und Mädchen, die sich vorher nicht kannten, sich in widerlicher Promiskuität dem Genusse von Negertänzen hingeben, während die Gesetzteren in Nebenräumen Karten spielen: so wird heute die Geburt unseres Heilandes Jesus Christus in England gefeiert! Und dieses Beispiel wähle ich aus der Fülle absichtlich, weil sich in dieser geschmacklosen Art sich zu vergnügen das Gegenteil des »merry« kundtut. Das Wort »merry« nämlich – so belehrt uns der amerikanische Philologe Whitney – zeigt keine germanische Verwandtschaft; von den besiegten Kelten, bei denen es »Kinderspiel« bedeutete, nahmen es die Angelsachsen auf zu der Bezeichnung des Entzückens über landschaftliche Schönheit, namentlich über Wiesen und Wälder; noch Shakespeare z. B. nennt das Summen der Bienen »merry«; von da ab erweiterte sich das Wort auf die Bezeichnung der Freude an Musik, namentlich an Gesang; und erst eine dritte Entwickelungsstufe verwendete es für heiter-unschuldige Freude überhaupt. In diesem so ganz eigenartig bezeichnenden Worte spiegelte sich offenbar das frühere englische Volk wider. Und ich glaube nicht, daß irgend ein urteilsfähiger Engländer mir widersprechen wird, wenn ich sage: wir waren merry, wir sind es nicht mehr. Mit dem vollkommenen Niedergang des Landlebens und mit dem ebenso vollkommenen Siege des einen einzigen Gottes des Handels und der Industrie, Mammon, ist auch die echte, harmlose, naive, herzerquickende Heiterkeit aus England entschwunden. Und das wieder ruft ein uraltes englisches Sprichwort ins Gedächtnis: »'T is good to be merry and wise«; der Heitere ist auch der Weise; der Unheitere ist gewiß unweise.
Mit Bestimmtheit glaube ich behaupten zu dürfen, die Katastrophe des völligen Niedergangs der englischen Heiterkeit, der englischen Weisheit, der englischen Redlichkeit (denn auch diese war in früheren Zeiten sprichwörtlich) ist dem Umstand zuzuschreiben, daß die Wendung zu Krieg, Handel und Piraterie ein Volk traf in jener eigenartigen zwiespältigen Zusammensetzung. Alle Kultur – Religion, Schule, Heer, Kunst, Gesetzgebung, Lebensgewohnheiten – setzt, wohlbetrachtet, Einheit voraus, sobald sie eine ganze Nation durchdringen soll, in der Weise durchdringen, daß jeder einfachste Mensch etwas davon abbekommt; was damit gesagt wird, wissen wir in Deutschland genau und brauche ich darum nicht zu schildern; in England weiß man nichts davon. Sobald der brave angelsächsische Bauer zum Piraten umgewandelt war, da stand die blonde Bestie da, wie sie der deutsche Philologe in seinem Wahnsinnstraum erblickte; und sobald der »verfeinerte« Adelige des 15. Jahrhunderts die »geistigen Interessen« verloren hatte und nach Gold lüstern geworden war, da stand der herzlose Sklavenhändler da, der sich von dem spanischen Gewaltmenschen einzig durch die Heuchelei unterschied. Nichts Roheres gibt es auf der Welt, als einen rohen Engländer; er besitzt gar keinen anderen Halt als eben seine Roheit. Meistens ist er kein schlechter Mensch; er hat Offenheit und Energie und Lebensmut; er ist aber ignorant wie ein Kaffer, macht keine Schule des Gehorsams und der Ehrfurcht durch, kennt kein anderes Ideal als »to fight his way through«, sich durchzukämpfen. Diese Roheit hat nach uud nach von unten bis oben – wie das stets der Fall ist – fast die ganze Nation durchtränkt. Noch vor 50 Jahren galt es für einen Verstoß gegen die Standeswürde, wenn ein dem Adel Angehöriger sich an Industrie, Handel und Finanz beteiligte; heute ist das Haupt des ältesten und größten Hauses von Schottland, Schwager des Königs, Bankier! Söhne von Grafen und Herzögen entschwinden aus der Gesellschaft; man fragt nach ihrem Verbleib: »Oh, he's making his heap!« er scharrt sich seinen »Haufen« zusammen, das heißt, seine Million; wo und wie, das wird nicht gefragt und nicht gesagt; plötzlich taucht er als reicher Mann wieder auf, und da ist Alles gut. Inzwischen hatte sich aber in der oberen Kaste eine andere Art von Verrohung durchgesetzt, die in politischer Beziehung noch bedenklicher ist: bei äußerlich gleichbleibender guter Gesittung und zartem Anstand hat der moralische Kompaß »seinen Norden verloren«; die Versuchung nach ungeheurer Macht auf Grund von ungemessenen Schätzen ist zu stark gewesen; im Adel und den ihm verwandten Kreisen wußte man bald nicht mehr zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Der selbe Mann, der im Privatleben nie von dem skrupulösesten Anstand abgewichen wäre, beging im vermeintlichen Interesse seines Vaterlandes jedes Verbrechen. Die Propheten unter uns – ein Burke, ein Carlyle, ein Ruskin – haben schon seit 100 Jahren und mehr auf die erschreckende Abnahme der Wahrheitsliebe – einst in England so einzig heilig gehalten! – aufmerksam gemacht. Auch hierfür möchte ich zum Schluß – und da Ausführlichkeit ausgeschlossen ist – ein Beispiel greifbar hinstellen; der Leser wird einsehen lernen, auf welche Wege oder vielmehr Abwege England geraten ist.
Der Name Warren Hastings wird den Meisten bekannt sein. Schon als unreifer Bursche trat er in die Dienste der Ostindischen Handelsgesellschaft; er brachte es bis zum Generalgouverneur. Ohne Frage verdankt England seine Herrschaft in Indien in erster Reihe diesem Manne, der es mit machiavellistischer Klugheit verstand, die verschiedenen Landschaften und Stämme und Bekenntnisse und Königshäuser Indiens gegen einander auszuspielen, und außerdem sie Alle gegen den Wettbewerb der Franzosen aufzureizen. Neben eminenter Verstandeskraft und eisernem Willen, hat nun Warren Hastings vor Allem das eine ausgezeichnet, daß er in politischen Dingen keine Bedenken kannte. Mit Tyrannen wie Tipu Sahib, mit Verbrechern, die sich aus tiefsten Kasten zu Fürsten aufgeschwungen hatten und nun wie wilde Tiere über die geduldigen Inder herrschten, mit alten Hexenfürstinnen, die ihre eigenen Söhne im Verlies hielten, um länger im Blute ihres Volkes zu schwelgen, kurz, mit der schlimmsten Rotte asiatischer Unmenschen, denen das arme Indien verfallen war, hatte er es zu tun; gewiß waren da sanfte Mittel nicht am Platze, und hätte die Handelsgesellschaft oder die hinter dieser stehende englische Regierung mit kräftiger Waffengewalt eingegriffen, sie hätten ein edles Werk edel vollbracht. Davon war aber keine Rede. Die Regierung dachte nicht daran, mit Geld oder Soldaten helfend einzugreifen, und die Gesellschaft wollte nicht vermehrte Ausgaben, sondern im Gegenteil gesteigerte Einnahmen. Und da verband sich Hastings das eine Mal mit dem einen indischen Fürsten, das andere Mal mit dem anderen; fragte nicht nach Recht und Gerechtigkeit, beschützte vielmehr den größten Schurken unter den Thronräubern, solange er dadurch den Interessen seiner Handelsgesellschaft und damit auch – wie er vermeinte – denen Englands am besten diente. Vor Allem war Geld nötig; wie sollte er sonst eine Armee ausrüsten und erhalten? Indien mußte Indiens Unterjochung bezahlen. Und so suchte Hastings unter den rivalisierenden Fürsten Diejenigen aus, welche ihm die höchsten Geldleistungen versprachen; diese unterstützte er mit allen jenen Mitteln, die ein Europäer zur Hand hatte. Auf diese Weise hat er die Einnahmen der Ostindischen Gesellschaft fast verdoppelt. Wie aber war das möglich? Wie konnten die betreffenden Fürsten so große Zahlungen leisten und so zahlreiche Soldaten stellen? Durch so entsetzenerregende Grausamkeiten, daß die Welt von nichts Ähnlichem gehört hat, bis die lieblichen Belgier kürzlich das Kongobecken besetzten; Grausamkeiten, welche ewige Schande über den Begriff des Menschtums gebracht haben; denn kein Tier könnte sie sich ausdenken und kein Teufel dürfte sie an Unschuldigen ausüben. Da trat denn 1786 der große – schon durch diese eine Tat unsterbliche – Burke auf, und riß das Parlament durch seine Beredsamkeit hin, Anklage gegen den Mann zu erheben, der den guten Ruf Englands schände. Als die Sache vor das Oberhaus als oberste richterliche Instanz gebracht wurde, hat Burke sechs Tage hinter einander gesprochen, die Klage in jeder Einzelheit begründet und mit den Worten geschlossen: »Ich klage Warren Hastings an im Namen der ewigen Gesetze aller Gerechtigkeit, ich klage ihn an im Namen der Menschennatur, die er mit Schimpf bedeckt hat.« Zehn Jahre schleppte sich der Prozeß hin, das heißt, wurde er mit allen gerichtlichen Mitteln und Kniffen hingeschleppt. Man kann sich denken, wie sehr die damalige Entfernung Indiens alle Zeugenvernehmungen und Verhandlungen erschwerte und verlangsamte, und wie sehr dies Hastings und der Handelsgesellschaft zugute kam. Immer von neuem wurde wiederholt: Ja, er hat die Einnahmen von 3 000 000 Pfund Sterling auf 5 000 000 erhöht; was wollt ihr denn mehr? Auch heutigen Tages findet man in englischen Büchern fast überall diese Zahlen angeführt; damit gilt Hastings als gerechtfertigt. Außerdem hatte er den berüchtigten Opiumhandel erfunden: sollte ein solches Genie bestraft werden? Pitt, der als Premierminister die Akten kannte, sagte: »Es gibt nur eine Rettung: er muß die Staatsnotwendigkeit vorschützen.« Kurz und gut, Hastings wurde freigesprochen. Burke, in der letzten seiner großen Gerichtsreden, seiner heroischen Versuche, der guten Sache zum Siege zu verhelfen – mehrmals war er dabei vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen – sprach die ewig denkwürdigen Worte: »Meine Lords, wenn Sie diesen Schändlichkeiten gegenüber die Augen verschließen, dann machen Sie aus uns Engländern eine Nation von Hehlern, eine Nation von Heuchlern, eine Nation von Lügnern, eine Nation von Falschspielern; der Charakter Englands, der Charakter, der – mehr als unsere Waffen und mehr als unser Handel – aus uns eine große Nation gemacht hat, der Charakter Englands wird vernichtet sein, auf ewig verloren. Gewiß, auch wir kennen die Macht des Geldes, und wir fühlen sie; gegen sie aber legen wir Berufung ein bei Euren Lordships, damit Sie Gerechtigkeit üben, damit Sie unsere Sitten und unsere Tugenden retten, damit Sie unseren Nationalcharakter und unsere Freiheit beschützen!«
Der Tag, an dem Warren Hastings freigesprochen wurde – der 23. April 1795 – ist einer jener Tage, von denen ich zu Beginn dieses Aufsatzes sprach, wo Geschichte und Charakter sich schneiden und wir urplötzlich einen Blick in das Innerste tun. Das neue England – das natürlich schon lange im Werden aus dem alten begriffen gewesen war – jetzt stand es fertig da. Hastings hatte sich nicht persönlich bereichert, er hatte nicht als Privatmann andere Privatindividuen betrogen, er hatte vielleicht in seinem Leben keine Fliege getötet; doch im Interesse seines Vaterlandes – das heißt seiner Macht, seines Reichtums – ist er vor keiner Lüge, vor keinem Meineid zurückgeschreckt, hat verraten, wer ihm vertraute, hat Unschuldige nicht beschützt und Verbrecher auf den Thron erhoben; er hat es geduldet, daß andere Menschen Grausamkeiten fürchterlichster Art ausübten, indem er einfach den Rücken drehte, nichts davon wissen wollte, englische Beamte, die darüber entsetzt berichteten, kassierte. Wie man sieht, mit dem neuen England steht auch der moderne englische Staatsmann fertig da. Genau ein solcher Mann ist Sir Edward Grey: seit Jahren führt er bei den Konferenzen zur Erhaltung des Friedens stets den Vorsitz – damit nur ja der beabsichtigte Krieg nicht ausbleibe; seit Jahren sucht er »Annäherung« zu Deutschland – damit die redlichen deutschen Staatsmänner und Diplomaten nur ja die Absicht des festbeschlossenen Vernichtungskrieges nicht merken; der Deutsche Kaiser hat im letzten Augenblick die Gefahr des Krieges fast noch abgewendet – Grey, der salbungsvolle Friedensapostel, weiß die Karten so zu mischen, daß er nicht zu vermeiden ist; sonst perhorreszierte England den Königsmord – jetzt, wo das Unerhörte geschieht, daß aktive Staatsbeamte und Offiziere ihn vorbereiten und daß ein Thronerbe den nachbarlichen Thronerben erschießen läßt, jetzt kein einziges Wort des Entsetzens, sondern Grey entdeckt Englands Mission, die »kleinen Staaten zu beschützen«; die englische Regierung läßt im »neutralen« Belgien Antwerpen zur stärksten Festung der Welt umwandeln, die englische Munition sendet sie schon 1913 nach Maubeuge, die Militärkonvention mit Frankreich und Belgien für den Einfall in Deutschland von Norden her hat Grey in der Tasche, alle Einzelheiten der Landung, der Beförderung usw. stehen schwarz auf weiß – und dennoch weiß er die Dinge so einzurichten, daß Deutschland es ist, das, aus höchster Not – wir wissen jetzt, daß es sonst verloren gewesen wäre – die »Neutralität bricht«; zum ersten Male in der Weltgeschichte ist die gesamte englische Flotte Anfang Juli mobilisiert – aber nur zu einer harmlosen Revue vor dem König; schnell wird noch, grade zu der festgesetzten Zeit der Ermordung Franz Ferdinands, ein freundschaftlicher Schlachtschiffbesuch in Kiel eingerichtet – denn die anderen Versuche, diesen Hafen auszuspionieren, waren mißlungen .... Das ist das heutige politische England, wie Burke es vorausverkündet hatte: Hehler, Heuchler, Lügner, Falschspieler. Bitter tröstet sich Ruskin: »Sorgen wir uns nicht um dieses England; in hundert Jahren zählt es zu den toten Nationen«. Auch ich glaube nicht an die ungeheure Kraft Englands, von der wir soviel hören; wahre Kraft kann nur im Moralischen wurzeln; der einzelne Engländer ist tapfer und tüchtig, der Staat »England« ist morsch bis auf die Knochen; man fasse nur fest zu.
Deutschland ist nun so gänzlich anders geartet, daß es England – das heutige politische England – seit Jahren garnicht verstand und sich immer von neuem von ihm irreführen ließ; fast fürchte ich, es geschieht in Zukunft nicht minder; das könnte verhängnisvoll werden. Darum mußte ich, Engländer, den Mut haben, die Wahrheit zu bezeugen. Uns alle kann einzig ein starkes, siegreiches, weises Deutschland erretten.
Bayreuth, 9.Oktober 1914.