Conrad Ferdinand Meyer
Angela Borgia
Conrad Ferdinand Meyer

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Neuntes Kapitel

Es gab in dem ältesten und untersten Stockwerk des herzoglichen Stadtschlosses, das ein schweres, an mehrere Bauarten und Jahrhunderte erinnerndes Gebäude war, einen niedrigen Saal, der auf einen inneren Hof blickte, ein wenig benutztes, einsames Gelaß, das man die römische Kammer nannte. Denn die Büsten der sieben römischen Könige standen auf ehernen Säulen längs den Wänden. Sie sahen roh und abenteuerlich aus, hatten aber einen andern als künstlerischen Wert, da sie, aus dem reinsten Silber gegossen, einen beträchtlichen Hausschatz ausmachten.

Sie blinkten seltsam in dem frühen Halbdunkel, denn es war heute der kürzeste Tag des Jahres, und den Hof verschleierte ein frühes Schneegestöber.

Den selten geöffneten Saal machte ein im mächtigen Kamin flackernder Holzstoß auf ein paar Stunden wohnlich. Offenbar wurde ein feierlicher Akt vorbereitet, denn ein Tisch mit Schreibzeug war dem breiten, dreiteiligen Fensterbogen gegenüber in die Mitte des Raumes gestellt, und zwei mit Wappen gekrönte Lehnstühle waren zugerückt.

Gerade über dem Tische im mittleren Felde der mit Malerei geschmückten Täfeldecke ragte über einem scheuenden Zweigespann die verbrecherische römische Tullia und zerquetschte unter den Rädern ihrer Biga die Leiche des eigenen gemordeten Vaters. Aus dem nächsten Bilde aber streckte der von seinem Bruder Romulus erstochene Remus einen kolossalen Fuß heraus.

Unter dieser Tullia und über sie pflegten Lukrezia und Angela, wenn sie im Sommer die Kühle dieses Saales suchten, in scherzhaften Streit zu geraten.

Angela drohte dann in ihrer kindlichen Weise zu der blutigen Römerin empor und klagte sie ihrer unnatürlichen Verbrechen an:

»Böse! Warum mußte man dich im Gedächtnis behalten? Warum wissen wir von dir, du Unhold! Du bist kein Weib, Mörderin des Gatten und der Schwester . . . Mörderin des Vaters . . . Verführerin des Schwagers! . . Widernatürliche! Zauberin! Teufelin!« . . . .

Dann lächelte Lukrezia, dem eifrigen Mädchen die heiße Wange streichelnd.

»So ging es nicht zu«, flüsterte sie ihr ins Ohr; »die berühmte Römerin verlor sich in einer Dämmerstunde an einen Mann, sein sündiger Geist fuhr in sie, und sie wurde sein willenloses Werkzeug. So war es, glaube mir. Ich weiß es.«

Leer und still war heute die römische Kammer, nur vom Hofe her tönte seit dem Mittag ein gedämpftes Hämmern und ein in unterdrückten Lauten geführtes Gespräch.

Jetzt wird behutsam auf das verrostete Schloß der Eichentür gedrückt. Sie öffnet sich knarrend und auf den Zehen tritt Angela ein mit ernsten Augen, in Trauer gekleidet, um das Kraushaar einen schwarzen Schleier geschlungen.

Sie eilt ans Fenster, öffnet es und sieht im Hofe das die beiden Este erwartende Schafott sich erbauen.

Drei Holzstufen, ein rohes Gerüst, das man jetzt mit dunkelrotem Tuche bedeckt, der schon oben stehende Block mit schwarzem Samt überkleidet und, alles leicht umhüllend, ein dünnes Schneegestöber! Wollte es die Brüder in den ewigen Winter einladen?

Sie starrte auf die Gerichtsstätte nieder, da weckte sie ein leiser, dringender Ruf dicht unter ihrem Fenster.

»Prinzessin, nehmt Euch des armen Don Giulio an! Bittet für! Verlangt Gnade!« –

Noch ein flehender Blick unter einem breiten Arbeiterhute hervor begegnete ihren suchenden Augen, dann verlor sich der Mitleidige schleunigst unter die andern Zimmerleute.

Jetzt wurde von Dienern eine zweite, der nach dem Innern des Palastes führenden gegenüberliegende Tür geöffnet und eine richterliche Gestalt in fließender Toga eingeführt.

Es war der Großrichter Herkules Strozzi, der etwas unmutig schien, Donna Angela zu erblicken statt des herzoglichen Paares, das er in der römischen Kammer zu finden erwartet hatte.

Da das Mädchen in seiner Rechten eine mit Siegeln versehene Rolle sah, rief es entsetzt:

»Das Todesurteil! Ist es unwiderruflich?«

Der Richter antwortete gemessen: »Es ist noch nicht unterschrieben, doch zweifle ich nicht, daß die Gerechtigkeit Don Alfonsos es bestätigen wird.«

»Gerechtigkeit! Menschliche, nicht göttliche!« sprach Angela. »Habt ihr vergessen, ihr Richter, auf wem die erste Schuld liegt? Vergaßet ihr die Quelle der Verschwörung, den Greuel des Kardinals?« . . .

»Das ist ein andrer Rechtsfall«, erwiderte Strozzi, den die Aufregung des Mädchens verstimmte, »und hat mit unsrer heutigen Sache nichts zu schaffen.«

»O ihr Lügner und Heuchler!« rief sie aus, »wenn jemand gerichtet werden soll, wahrlich, so bin ich schuldiger als Don Giulio!«

Der Richter schüttelte ungeduldig das Haupt.

»Und die Herzogin? Vertritt sie nicht die Gnade?« fuhr sie fort. »Sie, auf die ich immer noch gezählt habe, und die so große Macht über den Herzog ausübt?«

»Nicht in diesen prinzipiellen Rechtsfragen. Hier ist der Herzog unerschütterlich. Er ist überzeugt, wie von seinem Dasein, daß die Unverletzlichkeit der regierenden Person die Grundbedingung des neuen Fürstentums ist, wie es jetzt in Italien überall entsteht«, sagte Strozzi. »Mit der Begnadigung Don Ferrantes und Don Giulios würde er, glaubt der Herzog, den Untergang seiner Herrschaft besiegeln. Donna Lukrezia ist viel zu klug und hat sich von jeher gehütet, an eine persönliche Überzeugung des Herzogs zu rühren.«

»Und Ihr?« reizte sie ihn, »Strozzi, teilet denn Ihr zuungunsten Eures blinden Freundes die fürstlichen Überzeugungen des Herzogs?«

»Ich vertrete das Recht in seiner Strenge!« versetzte der Richter stolz.

Da wurde die breite, ins Innere des Palastes gehende Tür auseinander geworfen, und es erschien der Herzog mit der Herzogin.

Während sich Angela in die bergende Fensternische zurückzog, nahmen die Hoheiten nebeneinander auf den Sesseln Platz, und ihnen gegenüber stand am Tische der Oberrichter und entfaltete seine Rolle.

»Das Urteil ist mir zwar bekannt,« begann Don Alfonso, »und ich habe es Punkt um Punkt erwogen. Aber um den Formen zu genügen, Strozzi, leset es uns, bevor ich unterzeichne, noch einmal langsam!«

Dieser, den die Gegenwart der Herzogin berauschte, trug, nicht ohne sich mitunter ärgerlich zu mißreden, zum Verdruß des jedesmal den Irrtum verbessernden Herzogs, das Erkenntnis feierlich vor.

Unterdessen ertönte von ferne aus dem Gefängnisturme das Totenglöcklein, und Angela erblickte durch das Fenster den Hinrichtungszug und sah, wie die beiden Este mit einem Franziskanermönch und den Scharfrichtern das Blutgerüst betraten.

»Gebt, Oberrichter, damit ich unterzeichne«, sagte Don Alfonso und tunkte die Feder ein.

Da verließ Angela ihr Versteck und warf sich dem Herzog, seine die Feder führende Hand mit ihren beiden festhaltend, zu Füßen!

»Nein, Don Alfonso! Nicht Euern Bruder, sondern mich lasset bluten! . . . Ich bin die Schuldige! Bis heute schwieg ich, weil ich immer noch auf Euer und auf Lukrezias Erbarmen hoffte! Jetzt aber sei's gesagt! Zweimal war ich Don Giulios Verderben! Das erste, da ich mit meinem Lobe seiner Augen seinen Bruder, den Teufel, reizte – das zweite, da ich Eurem Gebot zuwider in seinem Pratello den Geblendeten aufsuchte und, mein Leid auf seines häufend, ihn zur Verzweiflung trieb!« . . .

Der Herzog maß die seine Knie umfassende Borgia mit erstauntem, mißbilligendem Blicke, doch ehe er ihr antworten konnte, wurde die Tür wieder geöffnet, und es erschien, allen unerwartet und von niemand geladen, der kranke Kardinal.

Verzehrt bis zur Entkörperung, leicht gebückt, mit durchdringenden Augen unter der kahl und hoch gewordenen Stirn, schien er lauter Geist zu sein, grausam und allwissend.

Seine Diener rückten ihm einen Stuhl an den Herd, und er setzte sich neben die Flamme, während die Herrlichkeiten sich ihm zuwandten.

»Ich bin zum Hochgericht gekommen, obgleich mich niemand rief«, sagte er mit leiser Stimme . . . . »Doch ich habe eine Bitte an dich, Bruder . . . .«

Schon aber hatte sich die verzweifelnde Angela von den Knien erhoben, stand vor dem Feuer und unterbrach ihn . . .

»Trittst du immer der Gnade in den Weg, Widersacher! Beruhige dich, du wirst Blut trinken! Hier ist keine Gnade . . . Hier ist die Hölle! . . . Um dich, mit dir, in dir war die Hölle von Anfang an! Ist es doch ein Wort des Heilands, das dich zum Greuel trieb! Das uns beide in die Verdammnis wirft!

Die Purpurfarbe des göttlichen Erbarmens dringt durch bis in das persische Märchen, sagte diese hier,« – sie ergriff Lukrezias Hand –»aus deinem Purpur aber, Kardinal, bricht Haß und Blut hervor, sobald man den heiligsten der Namen nur nennt! . . .«

»Schweige, törichtes Mädchen!« bebte es von den Lippen des Kardinals. »Ich könnte dich erwürgen! Ich bin deiner – ohne Gewährung – übersatt. Du bist mir ein Abscheu! . . . Du hast mir die Augen meines Bruders verhaßt gemacht, die Himmelsaugen, die mich früher voll Vertrauen anschauten!«

»Krank, und immer noch grausam, Ippolito?« sagte die Herzogin und zog Angela in ihre Arme. »Hat diese nicht recht, wenn sie sagt, daß die Fabel Ben Emins etwas an alledem verschuldet hat?«

Der Kardinal wandte sich langsam gegen seine Schwägerin, und seine Augen brannten.

»Was weiß man von dem Nazarener?« sagte er. »Was man von seinen Reden und Taten erzählt, ist unglaublich und unwichtig. Ich kenne ihn nicht. Wird ein Gott gekreuzigt? . . . Ich weiß nur von dem durch die Kirche in den Himmel erhöhten König, von dem durch die Theologie geschaffenen zweiten Gotte der Dreifaltigkeit. Sein der Himmel! Unser die Erde! Unser ist hier die Gewalt und das Reich! Und es ist Herrscherpflicht, das Schädliche und Unnütze, das uns widersteht, zu vernichten.

Doch wir philosophieren hier, und draußen erwarten zwei den Tod . . .

Mit einem Worte, Bruder, sie dürfen nicht sterben! . . . Du gibst sie mir! Schütte kein Blut mehr über mein Haupt . . . Es verwirrt und erstickt mich. – Sehen darfst du die Fürstenmörder nicht mehr! Verbirg sie im Kerker, aber laß sie leben um meinetwillen!«

Der Herzog sann mit geneigtem Haupte, dann sagte er: »Ich tue es ungern, es schädigt mein Fürstenrecht. Aber ich will es lieber, als daß dich zwei abgeschlagene Häupter ängstigen und zwei Tote in die Gruft nachziehen.

Ich tue es dir um des vielen willen, was du für Ferrara getan hast.

Man öffne den Balkon! Wir treten hinaus, und Ihr, Großrichter, leset das Urteil mit dem Zusatze der üblichen Begnadigungsformel.«

Sie erhoben sich; der Kardinal aber blieb an der heruntergebrannten Glut sitzen. Er ließ sich eine Decke über die Knie legen, lehnte sich in seinem Stuhle zurück und schloß die Augen. Er wünschte nicht, als Zeuge der ihm gewährten Begnadigung gesehen zu werden.

Diener brachten Mäntel, Kopfbedeckungen und Überwürfe, um die ins Freie tretenden Herrschaften vor der Winterkälte zu schützen.

Während Lukrezia sich in die Kapuze eines blendend weißen, aus der feinsten flämischen Wolle verfertigten Nonnenmantels hüllte und Donna Angela ihr dabei behilflich war, näherte sich ein Page mit unschuldigem Gesicht, bog rasch, wie ein Chorknabe vor dem Altar, das Knie vor der Herzogin, und überreichte ihr in einer silbernen Schale zwei verschiedene Briefe, ein umfängliches Schreiben und ein leicht zu verbergendes Briefchen.

Lukrezia ließ einen schnellen Blick auf ihre Überschriften fallen. Es war die schön fließende Handschrift Bembos und auf dem kleinen Briefchen – Lukrezia erschrak zu Tode – das feine Frauenschriftchen Cäsar Borgias.

Sie ließ beides in ihren weiten weißen Ärmel gleiten, und da Angela sie mit ängstlicher Frage anblickte, legte sie, Schweigen fordernd, den Finger an den Mund.

Die Frauen traten auf den Balkon hinaus und erblickten in dem engen Hofe auf dem Schafott ganz nahe unter sich die beiden Brüder.

Das Schneegestöber hatte aufgehört, und ein lichter Abendhimmel blickte von hoch oben zwischen Mauern und Türmen herab.

Das wimmernde Glöcklein schwieg, und Herkules Strozzi, der zwischen dem mit beiden Händen auf den eisernen Korb des Balkons sich stützenden Herzog und Lukrezia stand, begann das Urteil mit völliger Gedankenlosigkeit vorzulesen. Denn das wunderbare Weib an seiner Seite zitterte unerklärlich unter der weißen Wolle, und ihre blassen und doch feurigen Augen schauten groß und geisterhaft unter der Kapuze hervor.

Er empfand jene seltsame Angst, welche die Begleiterin der höchsten Leidenschaft ist.

Während er die Begnadigungsformel verlas, welche die Todesstrafe in ewigen Kerker verwandelt, und die also beginnt:

»Die Hoheit, aus der Fülle ihrer Macht und zugleich aus dem Born ihrer Gnade schöpfend . . .« erhoben die Begnadigten ihre Häupter und schickten sich an, dem Herzog zu danken.

Don Ferrante hatte sich mit verändertem Entschlusse würdig in schwarzen Samt gekleidet, und seine Züge, frei von den Zuckungen und Verzerrungen, die sie zu entstellen pflegten, waren ernst und gelassen.

»Ich danke dir, Bruder Herzog,« begann er, »aber ich nehme deine Gnade nicht an. Ich habe mein Leben stets verabscheut; warum, weiß ich nicht. Und da ich es nicht liebte, habe ich es mißbraucht und mich und andere verachtet. Überall, wohin ich darin zurückblicke, sehe ich nichts als törichte Larven, Hohlheit, Neid und Nichtigkeit . . . nirgends eine reinliche Stapfe, wo Erinnerung den Fuß hinsetzen könnte, ohne ihn zu beschmutzen! Ich fürchte mich vor dem Leben, das du mir schenkst! Und ich sehne mich, meines Ichs und seiner Angst ledig zu sein. – Lebet wohl, Brüder!«

Er zog eine kleine, mit flüssigem Gift gefüllte Phiole, die er sich mit Gold für alle Fälle erkauft hatte, aus dem Busen und zerdrückte sie zwischen den Zähnen, bevor ihn jemand daran hindern konnte. Er stürzte rücklings nieder und begann schmerzlich zu röcheln.

Während der erschrockene Pater Mamette sich über den schon Entseelten beugte, brachten die Scharfrichter einen der bereit gehaltenen Särge, der Mönch bettete den Toten hinein, und sie trugen ihn weg.

Der Blinde war ganz allein auf dem Blutgerüste stehengeblieben und weinte, denn er hatte gehört und erraten, was vorging.

Dann wandte er das Haupt nach der Zinne, wo seine Begnadigung verkündigt worden war, hinauf zu dem schweigenden Don Alfonso, den er dort vermutete:

»Herzog, ich bin dankbarer für das Leben. Nicht wie Don Ferrante vergeb ich deine Gabe! Ich habe den Reichtum meines Daseins wie ein Unsinniger verschwendet. Nun ich blind bin und unter die Ärmsten der Armen gehöre, schätze ich das Almosen und halte es teuer. Ich bin von den Reichen zu den Armen gegangen. Ich bin gestürzt und an der andern Seite der Kluft emporgeklommen, welche die Genießenden und Satten der Erde von den Hungrigen und Durstenden trennt. Die Freude und ihre Genossen habe ich verlassen – ich gehe zu den Leidensbrüdern. Ja, redlich leiden und dulden will ich, und darum dank' ich für das neue Leben!« –

Da richtete der Herzog fast gütig das Wort an seinen blinden Bruder:

»Ich habe nicht alles begriffen, was Ihr geredet habt, Don Giulio; aber ich entnehme daraus, daß Ihr leben und Euch bessern wollt. Das ist ebenso verständig als christlich. So reut es mich nicht, daß ich Euch begnadigt habe.« Und er gab das Zeichen, den Este in sein Gefängnis zurückzuführen, das im Eckturme eines andern Hofes lag.

Er hatte noch nicht geendet, so verließ Donna Angela, die unter einer leichten schwarzen Halbmaske der Begnadigung beigewohnt hatte, auf fliegenden Sohlen die römische Kammer, um, über Gänge und Stiegen eilend, ihr abgelegenes Turmgemach zu erreichen. Unter ihrem Erker mußte der Gefangene vorbeigeführt werden, und dort pflegte sie duftende Rosen. Davon brach sie die schönste und öffnete leise das Fenster.

Jetzt kam er mit Pater Mamette, der ihn an der Hand führte. Sie warf ihm die Rose zu.

»Da fliegt eine rote Rose auf Euch nieder«, sagte der Franziskaner, indem er sie geschickt auffing und dem Blinden überreichte. »Eine Güte Gottes begleitet Euch ins Gefängnis!« – und als der Blinde nach der falschen Seite hin sich verbeugte: »Nach rechts, Herrlichkeit! Die Blume fiel vom Fenster der Prinzessin Angela.«

Da winkte Don Giulio mit beiden Armen empor und rief:

»Ich grüße dich, geliebtes Unglück!«

Auf dem Balkon des Urteils hatte während der Rede Don Alfonsos Lukrezia mit feinen Fingern den Brief Don Cesares geöffnet und in verborgener Eile gelesen. Er lautet ehrgeizig und unheimlich fromm: »Schwester, vernimm, daß es nach so vielen Widerwärtigkeiten Gott unserm Herrn gefallen hat, mich aus dem Kerker zu ziehen. Möge diese herrliche Gnade zu seiner größern Ehre gedeihen! Ich strebe nach allem und verzweifle an nichts. Sende mir einen Mann nach Deiner Wahl, den besten und begabtesten, den Du finden kannst, der mir in Italien dazu behilflich sei. Nimm von ihm, wie Du es kannst, für mich Besitz. Du wirst wagen, denn Du liebst mich. Schicke mir ihn zu meinem Schwager, dem Herzoge von Navarra. Ich umarme Dich.«

Mit brennenden Wangen, in der Schönheit des Wahnsinns, unfähig, dem Dämonenruf zu widerstehen, unempfindlich in diesem Moment für Furcht und Ehre, bestrickte Lukrezia den Richter, Leib und Seele, mit einem Blicke der Verführung.

Sie hielt ihn auf dem Balkon zurück, während der Herzog ins Gemach trat und sich an den Tisch setzte, der sich inzwischen mit eben angelangten, alle von Rom oder Neapel kommenden, an ihn und den Kardinal gerichteten Briefen bedeckt hatte.

Der beim Eintritt der Boten auflebende Ippolito hatte sich erhoben und gesellte sich seinem Bruder. Sie entsiegelten die Botschaften und waren bald in das wichtigste Gespräch versunken; denn alle diese Papiere handelten nur von einem Gegenstande, der Befreiung des Cesare Borgia und der Aussicht auf seine baldige Erscheinung in Italien.

Der fernblickende Kardinal war von der Größe der politischen Gefahr überzeugt und hingenommen, doch entging ihm auch das Nächste nicht, er ahnte den Zusammenhang. Sein Auge streifte den jetzt mit der Herzogin in einer Fensternische sich unterhaltenden Großrichter und verfolgte die reizenden Biegungen und Wendungen ihres zarten Schlangenhalses.

Mit dem frevelhaftesten Mut nahm in Gegenwart des Herzogs Lukrezia Borgia von Herkules Strozzi für den Bruder Besitz. Der verwildernde Strozzi verlangte noch frevelhafter, seines Wunsches gewährt zu sein, bevor er in so gefährlicher Sendung das Leben wage. Da bebte Lukrezia vor Zorn und Abneigung.

»Geh!« flüsterte sie ihm zu, und das Licht ihres Verstandes durchblitzte ihre Leidenschaft. »Geh zu Cesare! Schiebe nicht auf! . . . Willst du warten, Tor, bis der Herzog das Kommen meines Bruders erfährt und uns allen bei Lebensstrafe verbietet, mit ihm zu verkehren? . . . Dann erst ist dein Leben verwirkt. Eile! . . . Sieh hinüber . . . Jetzt vernimmt er das Ereignis! Fort aus den Toren von Ferrara!«

Strozzi zögerte aus schlimmen Absichten, und schon kam der Rat zu spät.

Vor dem Herzog stand sein Haushofmeister, dem er den Auftrag gab, sofort den ganzen Hofstaat und alles Ingesinde des Palastes in die römische Kammer zusammenzurufen.

In wenigen Minuten füllte sich diese. Der Herzog trat in die Mitte der Versammlung und redete, Lukrezia fest an der Hand haltend:

»Ihr alle! Eben erhielt ich gewisse Nachricht, daß Don Cesare Borgia, den sie den Herzog der Romagna nannten, aus Spanien entflohen ist und jeden Augenblick unter uns erscheinen kann.

Dieser Mann ist ein Zerstörer und Verderber Italiens. Wer von euch mit ihm sich einläßt, auf welche Weise immer es sei, büßt dafür mit dem Leben. Ohne Unterschied! Ohne Gnade!

All dieses unbeschadet meiner Hochachtung und eurer Verehrung für Donna Lukrezia, eure erlauchte Fürstin, der ich traue wie mir selbst, und der ihr zu gehorchen habt, wie mir selbst.«

Er drückte ihr die Hand, und sie gab ihm einen warmen Dankesblick, obgleich sie ihn verriet.

Bei dem allgemeinen Aufbruch begleitete der Oberrichter den Kardinal, der sich, die Treppe hinabsteigend, auf ihn stützte, bis zu seiner Sänfte, und dieser scherzte:

»Eigentlich ist es kein Wintergespräch . . . aber sagt mir, Strozzi, wie stellt Ihr Euch das Gefühl einer Mücke vor, die sich die Flügel an einer brennenden Kerze versengt? Meint Ihr, daß sie Schmerz fühle? Ich meine, kaum, sonst würde sie sich nicht immer von neuem in die glänzende Flamme stürzen! Ich denke, sie stirbt in Rausch und Taumel! . . . Nicht?«


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