Anton Tschechow
Erzählungen
Anton Tschechow

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Der böse Knabe

Iwan Iwanitsch Lapkin, ein junger Mann von angenehmem Äußeren und Anna Ssemjonowna Samblizkaja, ein junges Mädchen mit einem Stumpfnäschen, gingen das steile Ufer hinab und ließen sich auf einer Bank nieder. Die Bank stand hart am Wasser zwischen dichtem Weidengebüsch. Ein prächtiges Plätzchen! Man sitzt hier verborgen vor aller Welt, und nur die Fische und die Wasserspinnen, die wie Blitze hin und her schießen, sehen einen. Die jungen Leute waren mit Angelruten, einem Handnetz, Behältern für Würmer und allen möglichen anderen Angelgerätschaften ausgestattet. Kaum hatten sie sich gesetzt, als sie sich auch gleich an die Arbeit machten.

»Ich bin froh, daß wir endlich allein sind«, begann Lapkin, nachdem er sich umgeschaut hatte. »Ich habe Ihnen sehr vieles zu sagen, Anna Ssemjonowna . . . Sehr vieles . . . Als ich Sie das erste Mal gesehen . . . Bei Ihnen beißt einer an!.. Da begriff ich erst, wozu ich lebe, da sah ich erst, wer die Göttin ist, der ich mein ehrliches Arbeitsleben weihen muß . . . Es scheint ein großer anzubeißen! . . Als ich Sie sah, lernte ich zum ersten Mal lieben, leidenschaftlich lieben! Ziehen Sie noch nicht . . . lassen Sie ihn ordentlich anbeißen . . . Sagen Sie mir, mein Alles, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir – nicht ob ich auf Gegenseitigkeit, nein! dessen bin ich nicht wert und darf daran nicht einmal denken – sagen Sie mir, ob ich darauf rechnen kann, daß . . . Ziehen Sie!«

Anna Ssemjonowna zog die Hand mit der Angelrute mit einem Ruck in die Höhe und schrie auf. Ein silbergrüner Barsch zappelte und flimmerte in der Luft.

»Ach Gott, ein Barsch! Ai, ach . . . Schnell! Er macht sich los!«

Der Barsch riß sich vom Haken los, begann auf dem Grase umher zu springen und fiel endlich mit einem Platsch in sein heimatliches Element zurück.

Während der Jagd nach dem Fische hatte Lapkin ganz in Versehen, statt des Fisches, Anna Ssemjonownas Hand ergriffen und sie unversehens an die Lippen geführt . . . Das junge Mädchen zog die Hand zwar zurück, aber es war schon zu spät: die Lippen hatten sich in Versehen zu einem Kusse vereinigt. Alles war so ganz unversehens gekommen. Auf den ersten Kuß folgte ein zweiter, dann kamen Schwüre, Beteuerungen . . . Glückliche Augenblicke!

Übrigens ein absolutes Glück giebt es hier auf der Erde nicht. Jedes Glück trägt entweder den Giftkeim in sich selbst, oder wird durch irgend etwas von außen Kommendes vergiftet. So war es auch hier. Während die jungen Leute sich noch küßten, erscholl plötzlich ein Gelächter. Sie sahen nach dem Fluß und erstarrten: dort stand bis zu den Hüften im Wasser ein nackter Knabe. Es war der Gymnasiast Kostja, Anna Ssemjonownas Bruder. Er stand im Wasser, blickte die jungen Leute an und lächelte diabolisch.

»A–a–a . . . Ihr küßt Euch?« sagte er. »Gut! Ich werde es Mama sagen.«

»Ich hoffe, daß Sie als anständiger Mensch . . .« begann Lapkin zu stammeln. »Das Spionieren ist gemein und das Klatschen ist niedrig, niederträchtig . . . Ich hoffe, daß Sie als ein anständiger Mensch, als ein Mann von Ehre . . .«

»Geben Sie mir einen Rubel, dann werde ich es nicht sagen!« antwortete der Mann von Ehre. »Sonst sag' ich's!«

Lapkin holte aus der Tasche einen Rubel und reichte ihn Kolja. Dieser knillte den Rubel in der nassen Faust zusammen, pfiff und schwamm weg. Und dieses Mal küßten die jungen Leute sich nicht mehr.

Am nächsten Tage brachte Lapkin Kolja aus der Stadt einen Malkasten und einen Ball mit, die Schwester aber schenkte ihm alle ihre hübschen Medizinschachteln. Hernach mußte sie ihm auch die Manschettenknöpfe mit den Hundeköpfen schenken.

Dem bösen Knaben gefiel alles das offenbar sehr, und um noch mehr zu erhalten, begann er zu beobachten. Wo Lapkin und Anna Ssemjonowna waren, war auch er. Nicht einen Augenblick ließ er sie aus den Augen.

»Ein Schuft!« knirschte Lapkin mit den Zähnen. »Noch so klein und schon ein so bedeutender Schuft! Was wird aus ihm erst später werden?!«

Den ganzen Juni über ließ Kolja den armen Verliebten keine Ruhe. Er drohte mit Verrat, beobachtete sie und erpreßte von ihnen Geschenke; seine Ansprüche wurden immer unbescheidener und schließlich begann er schon von einer Taschenuhr zu reden. Und was geschah? Die Taschenuhr mußte ihm bewilligt werden.

Einmal während des Mittagessens, als die Waffeln eben serviert waren, fing er plötzlich an zu lachen, blinzelte Lapkin mit dem einen Auge zu und sagte:

»Soll ich's sagen? Ja?«

Lapkin wurde furchtbar rot und begann anstatt der Waffel die Serviette zu kauen. Anna Ssemjonowna sprang vom Tisch auf und lief ins Nebenzimmer.

In dieser Lage befanden sich die jungen Leute bis Ende August, bis zu dem Tage, wo Lapkin endlich Anna Ssemjonowna einen Heiratsantrag machte. O, was war das für ein glücklicher Tag! Nachdem Lapkin mit den Eltern der Braut gesprochen und ihre Einwilligung erhalten hatte, lief er sofort in den Garten und begann Kolja zu suchen. Als er ihn gefunden, schluchzte er vor Entzücken beinahe auf und packte den bösen Knaben am Ohr. Anna Ssemjonowna, die sich ebenfalls auf der Suche nach Kolja befunden hatte, kam herbei und faßte ihn am andern Ohr. Und man hätte es sehen müssen, welches Entzücken sich auf den Gesichtern der Verliebten malte, als Kolja weinte und flehte:

»Liebe! Teurer! Ich werd' nie mehr . . . Ai, ai, ai, verzeiht!«

Und hernach gestanden sie beide, daß während der ganzen Zeit ihres Verliebtseins sie niemals ein solches Glück, eine solche überströmende Seligkeit empfunden hatten, als in den Augenblicken, während sie den bösen Knaben an den Ohren rissen.

 


 


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