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(Decoration des ersten Actes. Zeit: acht Uhr abends. Hinter der Scene, auf der Straße, ertönt gedämpftes Harmonikaspiel. Beim Emporziehen des Vorhangs ist es dunkel auf der Bühne.)
Natalia Iwanowna (tritt in das Gastzimmer, mit einem Licht in der Hand; sie geht nach der Thür zu, hinter der sich Andrej befindet, und bleibt da stehen.)
Natascha. Was machst Du denn, Andrjuscha? Liegst Du? Laß Dich nicht stören – ich wollte nur mal nachsehen … (öffnet eine zweite Thür, guckt hinein und schließt sie wieder.) ob's nicht irgendwo brennt …
Andrej (tritt ein, mit einem Buche in der Hand). Was giebt's denn, Natascha?
Natascha. Ich seh' nach, ob's nicht irgendwo brennt … Jetzt, in der Butterwoche, ist die Dienerschaft ganz verdreht. Man muß in einem fort die Augen offen halten, daß nur ja nichts passiert. Gestern geh' ich um Mitternacht durchs Eßzimmer – und was seh' ich? Eine brennende Kerze! Und glaubst Du, ich hab's rausbekommen, wer sie hingestellt hat? Bewahre. (Stellt die Kerze hin.) Wie spät ist's denn?
Andrej (sieht nach der Uhr). Ein Viertel auf neun.
Natascha. Und Olga und Irina sind noch nicht da. Haben's recht schwer, die armen Mädchen! Olga hat heut' Conferenz, und Irina muß auf dem Telegraphenamt sitzen … (Sie seufzt.) Heut' morgen sag' ich zu ihr: »Schone Dich doch, Irina, meine Liebe« – aber nein, sie hört nicht. Ein Viertel auf neun, sagst Du. Hör' mal, ich fürchte, daß unser Bobik ernsthaft krank ist! Wovon ist er nur so kalt? Gestern hatte er solche Hitze, und heut' ist er ganz kalt … Ich hab' solche Angst!
Andrej. Beruhige Dich, Natascha. Der Junge ist ganz gesund.
Natascha. 's ist aber besser, er bekommt was zum Abführen. Ich hab' Angst. Und nun sollen heute hier bei uns die Masken sein – in der zehnten Stunde sollen sie kommen. Es wäre doch besser, Andrjuschka, sie kämen nicht!
Andrej. Ich weiß wirklich nicht … sie sind doch eingeladen!
Natascha. Heut' morgen, wie der kleine Kerl aufwachte, sieht er mich an und lacht auf einmal. Er muß mich also erkannt haben! »Bobik«, sag' ich, »guten Morgen! Guten Morgen, Liebling!« Und er lacht immerfort. Kleine Kinder begreifen – o, sehr gut begreifen sie! Ich will's also sagen, Andrjuscha, daß keine Masken eingelassen werden sollen …
Andrej (unentschlossen). Ue[*Ü]berlaß das doch den Schwestern. Sie sind ja hier die Herrinnen im Hause.
Natascha. Ich will's ihnen sagen, sie werden schon einverstanden sein. Sie sind so gut … (Geht nach der Thür zu.) Zum Abendbrot hab' ich Buttermilch besorgen lassen. Der Doctor meint, Du müßtest recht viel Buttermilch genießen, sonst würdest Du Deine Fettleibigkeit nicht loswerden. (Bleibt stehen.) Du – der arme Bobik ist immer so kalt – ich fürchte, er friert in seinem Zimmer. Es wäre gut, ihn anderswo unterzubringen, wenigstens so lange, bis es wärmer wird. Irinas Zimmer zum Beispiel ist wie geschaffen zur Kinderstube: es ist trocken und hat den ganzen Tag Sonne. Man müßte ihr's sagen, sie kann ja solange mit Olga zusammen wohnen … Am Tage ist sie doch fast nie zu Hause … (Pause.) Lieber Andrjuschka, warum schweigst Du denn?
Andrej. So … ich dachte eben nach … wovon soll ich reden?
Natascha. Ja … Etwas wollt' ich Dir doch noch sagen … Ach, richtig! Ferapont ist da, der Diener vom Landschaftsamt. Er fragte nach Dir.
Andrej (gähnt). Schick' ihn doch her. (Natascha ab; Andrej liest beim Schein der Kerze, die sie zurückgelassen hat, in seinen Buche. Ferapont tritt ein.)
Andrej, Ferapont (in einem alten, zerdrückten Paletot, mit hochgeschlagenem Kragen, einem Tuch um die Ohren und einem Packet nebst Buch unterm Arm).
Andrej. Guten Abend, alter Freund! Was giebt's?
Ferapont. Der Vorsteher schickt das Buch hier und die Acten … (Reicht ihm das Buch und das Packet.)
Andrej. Ich danke Dir. 's ist gut. Sag' mal – warum bist Du so spät gekommen? Es ist schon in der neunten Stunde!
Ferapont. Was?
Andrej (lauter). Warum Du so spät gekommen bist, frag' ich.
Ferapont. Ach so! Na … ich war doch schon hier, wie's noch hell war, aber man hat mich nicht vorgelassen. Der Herr ist beschäftigt, hieß es. Na, meinetwegen, dacht' ich – ist er beschäftigt, dann ist er beschäftigt, ich hab's nicht eilig. (Glaubt, daß Andrej ihn etwas frage.) Was?
Andrej. Nichts. (Blättert in dem Buche.) Morgen ist Freitag, da ist keine Sitzung, aber ich komm' doch hin, Hab' wenigstens was zu thun … Zu Hause ist's langweilig … (Pause.) Ja, mein lieber Alter, so ändern sich die Dinge! So betrügt uns das Leben! Aus langer Weile hab' ich
heut' mal dieses Buch herausgeholt – ein altes Collegienheft … und ich mußte lachen … Du lieber Gott, ich bin Sekretär beim Landschaftsamt! Bei demselben Landschaftsamt, dessen Vorsitzender Herr Protopopow ist! Secretär bin ich – und der höchste Rang, den ich erlangen kann, ist der eines Mitglieds der Landschaftsverwaltung. Ich – ein Mitglied der hiesigen Landschafts-Verwaltung! Ich, der ich jede Nacht davon träume, daß ich Professor der Moskauer Universität, daß ich ein berühmter Gelehrter bin, auf den das Vaterland stolz ist!
Ferapont. Kann wirklich nichts dazu sagen … bin schwerhörig …
Andrej. Wenn Du nicht schwerhörig wärest, würde ich wahrscheinlich mit Dir nicht so reden. Reden muß ich mit jemandem – meine Frau versteht mich nicht, vor meinen Schwestern fürcht' ich mich, sie würden sich über mich nur lustig machen … Ich liebe die Kneipen wahrhaftig nicht – aber wie froh wär' ich, wenn ich jetzt so in Moskau säße, bei Tjestow, oder in sonst einem netten Restaurant … ja, mein Lieber!
Ferapont. In Moskau … von Moskau erzählte neulich ein Bauunternehmer im Bureau 'ne Geschichte, ganz 'was Tolles! Da aßen ein paar Kaufleute Pfannkuchen, und einer von ihnen, der vierzig Stück aufgegessen hatte, blieb gleich tot. Vierzig oder fünfzig – genau weiß ich's nicht, aber so herum war's.
Andrej. Da sitzt man nun in solch einem Moskauer Restaurant, in einem riesigen Saal, kennt keinen Menschen und wird von keinem gekannt – und fühlt sich doch wie zu Hause … Und hier kennst Du alle, und alle kennen Dich – und doch bist Du ein Fremder … Fremd und einsam.
Ferapont. Was? (Pause.) Und derselbe Bauunternehmer erzählte auch – kann ja sein, daß er lügt –, daß quer durch ganz Moskau ein langes Seil gespannt ist.
Andrej. Wozu denn?
Ferapont. Kann ich nicht sagen. Der Bauunternehmer hat's erzählt.
Andrej. Dummes Zeug. (Liest in seinem Buche.) Warst Du mal in Moskau?
Ferapont (nach einer Pause). Nein … ich bin nicht dagewesen. Gott hat mich nicht hingeführt. (Pause.) Kann ich nu gehn?
Andrej. Meinetwegen. Leb' wohl. (Ferapont entfernt sich.) Leb' wohl … (Er sieht ins Buch.) Morgen früh kommst Du wieder und holst die Acten … (Liest.) Alles hab' ich noch im Kopfe, nichts hab' ich vergessen. Ich hab' ein immenses Gedächtnis – mit meinem Gedächtnis hätte ein anderer Gott weiß was zuwege gebracht! Ganz Rußland hätt' er in Erstaunen gesetzt … Geh' schon … (Pause.) Er ist fort. (Es klingelt.) Ja, das sind Geschichten … (Streckt die Glieder und geht gemächlich in sein Zimmer. Hinter der Scene singt eine Kinderfrau ein Wiegenlied. Mascha und Werschinin treten ein. Während ihres Gesprächs zündet das Stubenmädchen im Saal die Lampe und die Lichter an.)
Mascha und Werschinin; im Saal das Stubenmädchen.
Mascha. Ich weiß nicht. (Pause.) Ich weiß wirklich nicht … Natürlich macht die Gewohnheit sehr viel aus. So konnten wir uns beispielsweise, wie mein Vater starb, gar nicht daran gewöhnen, daß wir keine Burschen mehr hatten. Aber ganz abgesehen von der Gewohnheit, lass' ich einzig mein Gerechtigkeitsgefühl sprechen. Vielleicht ist's in andern Garnisonen anders – hier aber, in unserer Stadt, sind die Offiziere thatsächlich das anständigste und gebildetste Element.
Werschinin. Ich möchte trinken. Thee möcht' ich trinken.
Mascha (sieht auf die Uhr). Es giebt bald welchen. Wie man mich verheiratete, war ich achtzehn Jahre alt. Ich hatte eben erst die Schule verlassen und fürchtete mich vor meinem Mann, weil er ein Schulmeister war. Er erschien mir damals ungeheuer klug, gelehrt und ernst. Jetzt ist das leider nicht mehr der Fall.
Werschinin. So … ja!
Mascha. Von meinem Manne rede ich auch nicht, an den hab' ich mich schließlich gewöhnt; aber unter dem Civil im allgemeinen giebt es so viel ordinäre, unliebenswürdige, schlecht erzogene Menschen. Ich bin empört über den Mangel an Lebensart, es beleidigt mich, wenn ich einen Menschen sehe, dem die liebenswürdigen, feinen Umgangs-*
*formen abgehen. Wenn ich mit den Collegen meines Mannes zusammen bin, leide ich geradezu.
Werschinin. Ja … und mir scheinen die einen so uninteressant wie die andern. Civilisten oder Offiziere – alles ist ganz gleich, wenigstens hier in diesem Neste. Alles derselbe Schlag! Hört man sich unsere Gebildeten an, ob's Civilisten sind oder Militärs: immer reden sie nur davon, was sie quält und plagt. Der eine ärgert sich mit seiner Frau herum, der andere mit seinem Hause, seinem Vermögen, seinen Pferden … Dem Russen ist doch sonst ein so hoher Gedankenflug eigen – warum hält er sich im praktischen Leben auf gar so niedrigem Niveau? Warum?
Werschinin. Warum dieses qualvolle Verhältnis zu Frau und Kindern, das für beide Theile gleich unerträglich ist?
Mascha. Sie sind heut' in ziemlich schlechter Stimmung.
Werschinin. Schon möglich. Ich habe heut' nicht zu Mittag gegessen, bin überhaupt seit dem frühen Morgen ohne einen Bissen. Eine meiner Töchter ist nicht recht auf dem Posten, und wenn meine Mädels krank sind, komm' ich aus der Aufregung nicht heraus. Ich mache mir Gewissensbisse, daß sie eine solche Mutter haben. O, wenn Sie sie heute gesehen hätten! Was für eine erbärmliches Geschöpf. Um sieben Uhr morgens begann der Zank zwischen uns, und um neun Uhr schlug ich die Thür
hinter mir zu und ging meiner Wege. (Pause.) Ich rede niemals davon, nur Ihnen gegenüber beklage ich mich darüber, merkwürdigerweise … (Küßt ihr die Hand.) Seien Sie mir nicht böse. Außer Ihnen hab' ich ja niemand, niemand … (Pause.)
Mascha. Wie das im Ofen saust! Kurz vor dem Tode des Vater summte es auch immer so im Ofenrohr. Ganz genau so.
Werschinin. Sind Sie abergläubisch?
Mascha. Ja.
Werschinin. Wie sonderbar! Küßt ihr die Hand. Sie sind ein herrliches, wunderbares Weib. Herrlich, wunderbar! Es ist so dunkel hier – aber ich sehe den Glanz Ihrer Augen …
Mascha (setzt sich auf einen andern Stuhl). Hier ist's heller …
Werschinin. Ich liebe, liebe, liebe Sie … Ich liebe Ihre Augen und die Grazie Ihrer Bewegungen, von denen ich träume … Sie herrliches, wunderbares Weib!
Mascha (lacht leise). Wenn Sie so zu mir sprechen, muß ich immer lächeln, obschon mir dabei so bang ist … Bitte, reden Sie nicht mehr so … (Halblaut.) Oder meinetwegen thun Sie's es ist mir alles gleich … (Bedeckt ihr Gesicht mit den Händen. Alles ist mir gleich … Man kommt, reden Sie von etwas anderem. (Irina und Tusenbach kommen durch den Saal herein.)
Werschinin, Mascha, Tusenbach, Irina.
Tusenbach. Ich habe eigentlich drei Familiennamen – Baron Tusenbach-Krone-Altschauer heiß' ich, aber ich bin Russe und gehöre zur orthodoxen Kirche, wie Sie. Vom Deutschen hab' ich nur noch wenig an mir,höchstens die Ausdauer und Hartnäckigkeit, mit der ich Sie langweile. Jeden Abend hol' ich Sie nun ab …
Irina. Wie müde ich bin!
Tusenbach. Und alle Tage werde ich nach diesem Telegraphenamt kommen, um Sie nach Hause zu begleiten – zehn, zwanzig Jahre lang, bis Sie mich fortjagen … (Sieht Mascha und Werschinin, freudig.) Sie sind da? Ich begrüße Sie.
Irina. Endlich ist man zu Hause. (Zu Mascha.) Was einem doch für Geschichten passieren! Kommt da heut' eine Dame aufs Amt und will ihrem Bruder nach Saratow telegraphieren, daß ihr Sohn gestorben sei. Nun hat sie aber die Adresse vergessen! Ohne genaue Adresse schickt sie ihr Telegramm ab, einfach nach Saratow. Wie sie so
dasteht und weint, fahr' ich sie mir nichts, Dir nichts, grob an: »Ich hab' keine Zeit«, sag' ich, und kehr' ihr den Rücken. Zu dumm, nicht wahr? Sag' mal – kommen heut' nicht die Masken zu uns?
Mascha. Ja.
Irina. (nimmt in einem Sessel Platz). Ich muß etwas ausruhen. Man wird so müde!
Tusenbach (lächelnd). Wenn Sie aus dem Dienst kommen, erscheinen Sie mir immer so kindlich-jung, so unglücklich … (Pause.)
Irina. Ich bin müde. Nein, ich liebe sie nicht, diese Telegraphie, nicht ein Bißchen!
Mascha. Du bist abgefallen … (Sie pfeift.) Unreifer siehst Du aus, ein richtiges Jungengesicht hast Du bekommen.
Tusenbach. Das macht die Frisur.
Irina. Ich muß mir etwas anderes suchen, die Telegraphie ist nichts für mich. Was ich so ersehnt, wofür ich so geschwärmt habe – gerade das find' ich dort nicht. Arbeit ist's wohl – aber Arbeit ohne Poesie, ohne tieferen Sinn … (Es klopft von unten gegen den Fußboden.) Der Doctor klopft … (Zu Tusenbach.) Antworten Sie ihm doch, mein Lieber, klopfen Sie … Ich kann nicht …
Tusenbach (klopft gegen den Fußboden).
Irina. Er wird gleich oben sein. Man muß irgend welche Maßregeln ergreifen. Gestern war der Doctor mit unserm Andrej im Club, sie haben beide wieder verloren.
Mascha (gleichgiltig). Was läßt sich jetzt dagegen thun?
Irina. Vor vierzehn Tagen hat er verloren, und damals im December hat er auch verloren. Wenn er nur recht bald alles los würde – vielleicht, daß wir dann endlich aus dem Neste hier fortkommen. Ach Gott, ich träume jede Nacht von Moskau, ich bin schon ganz verrückt. (Lacht.) Im Juni sollen wir hinziehen, und bis dahin ist noch … Februar, März, April, Mai … fast ein halbes Jahr.
Mascha. Daß nur Natascha nichts von dem Spielverlust erfährt!
Irina. Ach, ich denke, das ist ganz gleich. (Tschebutykin, der eben von seinem Nachmittagsschlaf erwacht ist, tritt in den Saal; er kämmt seinen Bart, setzt sich an den Tisch im Saal und zieht eine Zeitung aus der Tasche.)
Werschinin, Mascha, Tusenbach, Irina, Tschebutykin; später Fedotik und Rode.
Mascha. Da ist er … Hat er schon die Miete bezahlt?
Irina (lacht). Nein. Seit acht Monaten nicht eine Kopeke. Augenscheinlich hat er's vergessen.
Mascha (lacht). Wie wichtig er dasitzt! (Alle lachen. Pause.)
Irina. Warum sind Sie denn so still, Alexander Ignatjewitsch?
Werschinin. Thee möcht' ich trinken. Mein halbes Leben geb' ich für ein Glas Thee hin! Seit heut' morgen hab' ich nichts im Leibe …
Tschebutykin. Irina Sergejewna!
Irina. Was wünschen Sie?
Tschebutykin. Bitte, kommen Sie doch her! Venez ici! (Irina geht zu ihm und setzt sich an den Tisch.) Ich halt's ohne Sie nicht aus. (Irina legt Patience.)
Werschinin. Na, wenn's also keinen Thee giebt, dann wollen wir wenigstens ein Bißchen philosophieren.
Tusenbach. Meinetwegen … Worüber!
Werschinin. Worüber? Lassen Sie mich mal nachdenken … Sagen wir mal: über das Leben der Menschen, wie es nach uns,in zwei-, dreihundert Jahren sein wird.
Tusenbach. Hm! Dann wird man wahrscheinlich mit dem Luftballon reisen, die Jacketts werden einen andern Schnitt haben, der sechste Sinn wird möglicherweise entdeckt und zur Entwicklung gelangt sein, – aber das Leben selbst wird geblieben sein, wie es heut' ist, geheimnisvoll mühselig – und doch schön. Auch nach tausend Jahren noch wird der Mensch seufzen: »Ach, wie schwer ist's, zu leben!« – und wird doch ebenso wie jetzt den Tod fürchten und verabscheuen.
Werschinin (nach kurzem Nachdenken). Was soll ich darauf erwidern? Nach meiner Meinung wird sich nach und nach in den irdischen Dingen eine Wandlung vollziehen, ja sie vollzieht sich schon jetzt vor unseren Augen. In zwei-, dreihundert, vielleicht auch in tausend Jahren – auf den Zeitraum kommt's nicht an – wird ein neues, glückliches Leben auf Erden beginnen. Wir werden an diesem Leben allerdings keinen Anteil mehr haben, aber wir leben, arbeiten und leiden schon jetzt um dieses zukünftigen Lebens willen, wir schaffen dieses Leben, und darin allein liegt der Zweck unseres Daseins und, wenn sie wollen, unser Glück.
Mascha (lacht leise).
Tusenbach. Warum lachen Sie?
Mascha. Ich weiß nicht. Ich muß heut' den ganzen Tag lachen, vom frühen Morgen an.
Werschinin (zu Tusenbach). Ich habe den gleichen Bildungsgang wie Sie, die Universität hab' ich nicht besucht; ich lese viel, wenn auch
vielleicht nicht mit der richtigen Auswahl, und möglicherweise sogar ziemlich überflüssiges Zeug. Das aber, worauf's vor allem ankommt, glaub' ich doch ganz fest und bestimmt zu wissen. Und das ist: es giebt kein Glück für uns, es kann und wird keins geben … Wir können nur arbeiten und arbeiten, das Glück aber wird erst unsern Enkeln zu teil werden. (Pause.) Nun denn, wenn ich nicht glücklich sein soll, so werden es wenigstens meine Enkel sein oder die Enkel meiner Enkel. (Fedotik und Rode erscheinen im Saal; sie setzen sich und singen leise zur Gitarre.)
Tusenbach. Ich verstehe Sie nicht. Wir sollen arbeiten, arbeiten und nicht einmal träumen vom Glück! Wenn ich aber nun thatsächlich glücklich bin?
Werschinin. Das sind Sie nicht.
Tusenbach (schlägt die Hände zusammen und lacht). Wir mißverstehen uns offenbar gegenseitig. Wie soll ich's Ihnen klarlegen, was ich meine? Wir leben doch sozusagen alle unser eignes Leben, und auch die Zukunft wird nur ihr eignes Leben haben, das genau so sein wird wie das unsrige, weder besser noch schlechter …
Mascha (lacht leise).
Tusenbach (streckt ihr den Finger entgegen). Lachen Sie nur! (Zu Werschinin.) Nicht bloß nach zwei-, dreihundert, sondern nach Millionen Jahren wird das Leben ganz ebenso sein, wie es immer war; es ändert sich nicht, es bleibt stets sich selbst gleich, folgt seinen eigenen Gesetzen, die wir nicht ändern, die Sie nie ihrem innersten Wesen nach ergründen werden. Nehmen
Sie die Zugvögel, die Kraniche zum Beispiel – sie fliegen und fliegen, und was für Gedanken auch in ihren Köpfen sich regen mögen, ob hohe oder niedrige – sie werden immer wieder fliegen, ohne zu wissen warum und wohin. Was für Philosophen auch unter ihnen erstehen mögen – das Fliegen werden sie nicht lassen; mögen sie philosophieren, so viel sie wollen – wenn sie nur fliegen …
Mascha. Es liegt doch immer ein Sinn darin!
Tusenbach. Ein Sinn … Draußen fällt Schnee – was für ein Sinn soll darin liegen? (Pause.)
Mascha. Ich meine, der Mensch muß gläubig sein, oder doch den Glauben suchen, sonst ist sein Leben öde, öde … Leben und nicht wissen warum die Kraniche fliegen, warum Kinder geboren werden, warum die Sterne am Himmel stehen – das ist einfach trostlos. Man muß wissen, warum man lebt – oder es ist eben alles dummes Zeug, alles Widersinn … (Pause.)
Werschinin. Auf jeden Fall ist's traurig, daß die Jugend vergeht …
Mascha. Bei Gogol heißt es irgendwo: Langweilig ist's auf dieser Welt zu leben, Herrschaften!
Tusenbach. Und ich sage: Schwer ist's, mit Ihnen zu disputieren, Herrschaften! Ich geb's auf …
Tschebutykin (liest in der Zeitung). Balzac hat sich in Berdytschew trauen lassen.
Irina (singt leise).
Tschebutykin. Das will ich mir doch notieren. (Macht sich Notizen.) Balzac hat sich in Berdytschew trauen lassen. (Liest in der Zeitung weiter.)
Irina (während sie Patience legt, nachdenklich). Balzac hat sich in Berdytschew trauen lassen.
Tusenbach. Der Würfel ist gefallen. Sie wissen, Maria Sergejewna, daß ich um meinen Abschied eingekommen bin.
Mascha. Ich hab's gehört. Und ich finde es nicht schön von Ihnen. Ich liebe die Civilisten nicht.
Tusenbach. Das ist mir gleich. (Erhebt sich.) Ich bin nicht hübsch genug zum Soldaten. Na, übrigens – 's ist alles egal … Ich werde arbeiten. Wenigstens einen Tag in meinem Leben möcht' ich so angestrengt arbeiten, daß ich, wenn ich abends nach Hause komme, vor Müdigkeit umsinke und sofort einschlafe … (Geht in den Saal.) Die Arbeiter müssen einen festen Schlaf haben.
Fedotik (zu Irina). Hab' eben bei Pschykow in der Moskauer Straße bunte Bleistifte für sie gekauft … und diese Messerchen …
Irina Sie hätscheln mich immer noch wie ein kleines Mädchen! (Nimmt Bleistifte und Messerchen; freudig.) Ach, wie reizend!
Fedotik. Und für mich hab' ich ein Taschenmesser gekauft … da, sehen Sie mal … eine Klinge, noch eine zweite, eine dritte – hier eine kleine Schere, eine Nagelfeile …
Rode (laut). Doctor, wie alt sind Sie eigentlich?
Tschebutykin. Ich? Zweiunddreißig Jahre. (Gelächter.)
Fedotik. Ich will Ihnen mal 'ne andere Art des Patiencelegens zeigen … (Legt Patience; das Stubenmädchen bringt den Samowar und entfernt sich; Anfissa kommt herein und hantiert am Samowar herum; bald darauf kommt Natascha und macht sich gleichfalls am Tische zu schaffen; Soljony tritt ein, begrüßt die Anwesenden und setzt sich an den Tisch.)
Werschinin, Mascha, Tusenbach, Irina, Tschebutykin, Fedotik, Rode, Anfissa, Natascha, Soljony; später Andrej.
Werschinin. Was für ein Wind das draußen ist!
Mascha. Ja. Ich habe den Winter schon satt. Hab' schon ganz vergessen, wie der Sommer aussieht.
Irina (zu Fedotik, der Patience legt). Ich seh' schon, was die Karten sagen: wir werden nach Moskau ziehen.
Fedotik. Stimmt nicht. Die Acht hier liegt auf der Pik-Zwei. (Lacht.) Das bedeutet: Sie werden nicht nach Moskau ziehen.
Tschebutykin (liest in der Zeitung). In Zizikar grassieren die schwarzen Blattern.
Anfissa (tritt an Mascha heran). Mascha, Thee trinken, Schätzchen! (Zu Werschinin.) Wenn ich bitten darf, Ew. Hochwohlgeboren … Verzeihung, Väterchen, hab' Ihren Namen vergessen …
Mascha. Bring' mir den Thee hierhin, Altchen. Ich geh' nicht dorthin.
Irina. Anfissa!
Anfissa. Ich komm' schon!
Natascha (zu Soljony). Brustkinder begreifen schon sehr gut! »Guten Morgen, Bobik!« sag' ich heut zu meinem Kleinen, »guten Morgen, Liebling!« Und dabei guckt er mich ganz merkwürdig an. Sie denken vielleicht, aus mir rede nur die Mutter – o nein! Ich versichere Sie, es ist ein ganz ungewöhnliches Kind!
Soljony. Wenn's mein Kind wäre, würde ich's in der Pfanne braten und verspeisen. (Geht mit seinem Glase ins Gastzimmer uns setzt sich in eine Ecke.)
Natascha (bedeckt ihr Gesicht mit den Händen). Was für ein roher, unerzogener Mensch!
Mascha. Glücklich derjenige, dem es gleich bleibt, ob draußen Sommer oder Winter ist. Ich glaube, wenn ich in Moskau lebte, wär' mir das Wetter ganz gleichgiltig …
Werschinin. Kürzlich las ich das Tagebuch eines französischen Ministers – er hatte es im Gefängnis geschrieben, in das ihn die Panama-Affaire gebracht hatte. Mit wahrem Entzücken spricht er von den Vögeln, die er aus seinem Kerkerfenster sieht, und die er früher, als er noch im Amt war, nie bemerkt hatte. Und auch nach seiner Freilassung wird er auf die Vögel kaum geachtet haben. So werden auch Sie, wenn Sie erst in Moskau leben, den Reizen dieser Stadt weiter keine Aufmerksamkeit schenken. Es giebt eben für den Menschen kein Glück – nur eine Sehnsucht nach dem Glücke giebt es.
Tusenbach (nimmt die Confectschachtel vom Tische). Wo ist denn das Confect geblieben?
Irina. Soljony hat's aufgegessen.
Tusenbach. Alles?
Anfissa (reicht den Thee herum; zu Werschinin). Für Sie ist ein Brief gebracht worden, Väterchen! (Reicht ihm den Brief.)
Werschinin. Für mich? (Nimmt den Brief.) Von meiner Tochter. (Liest.) Ja, natürlich … Entschuldigen Sie mich, Marja Sergejewna – ich gehe ganz still fort. Thee trink' ich nicht mehr. (Steht erregt auf.) Ewig diese Geschichten …
Mascha. Was giebt's denn? Es ist doch kein Geheimnis?
Werschinin Meine Frau hat sich wieder mal vergiftet. Ich muß nach Hause. Ich möchte unbemerkt fortgehen. Schrecklich unangenehm ist das alles. (Küßt Mascha die Hand.) Meine Teure … herrliches, schönes Weib … Ich geh' ganz leise hier durch. (Ab.)
Anfissa (sieht sich nach Werschinin um). Wo ist er denn? Ich hab' ihm doch Thee gebracht! … Was für'n komischer Mensch!
Mascha (ärgerlich). Laß mich! Gar keine Ruhe hat man vor Dir! (Geht mit ihrer Tasse an den Tisch.) Bist wirklich langweilig, Alte!
Anfissa. Was bist Du denn mit einem Mal so böse, Schätzchen?
Andrej's Stimme. Anfissa!
Anfissa (ahmt ihn nach). Anfissa! Da sitzt er nu drinnen … (Ab.)
Mascha (am Tische im Saal, ärgerlich). So macht mir doch Platz! (Wirft die Karten auf dem Tisch durcheinander.) Da sitzen sie mit ihren Karten. Trinkt Euern Thee!
Irina. Du bist doch recht boshaft, Maschka!
Mascha Wenn ich boshaft bin, dann redet doch nicht mit mir. Reizt mich nicht.
Tschebutykin (lacht). Reizt sie nicht, reizt sie nicht!
Mascha. Sie sind sechzig Jahre alt und sind wie ein kleiner Junge … faseln immer, der Teufel weiß, was …
Natascha (seufzt). Liebe Mascha, warum gebrauchst Du in der Unterhaltung solche Ausdrücke? Bei Deinem reizenden Ae[*Ä]ußern wärst Du in Gesellschaft geradezu entzückend, wenn Du nicht immer solche Worte im Munde führtest. Je vous prie, pardonnez moi, Marie, mais vous avez des manières un peu grossières.
Tusenbach (mühsam das Lachen verhaltend). Geben Sie mir doch mal … dort … ich glaube, es ist Cognac …
Natascha. Il parai[*î]t que mon Bobik déjà ne dort pas! Er ist aufgewacht. Er ist heut' nicht recht wohl … ich will mal nach im sehen, verzeihen Sie … (Ab.)
Irina. Und wo ist Alexander Ignatisch?
Mascha. Nach Hause gegangen. 's ist wieder mal was mit seiner Frau passiert.
Tusenbach (geht zu Soljony, eine Caraffe mit Cognac in der Hand). Sie sitzen so allein, grübeln über irgend 'was – und können's nicht ergrübeln. Kommen Sie, lassen Sie uns 'nen Cognac trinken. Wollen uns wieder vertragen. (Sie trinken.) Heute werde ich wohl die ganze Nacht auf dem Clavier klimpern müssen, lauter albernes Zeug jedenfalls … Na, komme, was kommen will.
Soljony. Sie reden von »vertragen« – ich bin doch gar nicht auf Sie böse!
Tusenbach. Ich hab' immer das Gefühl, als ob Sie etwas gegen mich hätten. Offen gesagt, Sie haben einen sonderbaren Charakter.
Soljony (deklamiert). »Mich nennst Du sonderbar – und wer ist' nicht? Sei böse nicht, Aleko!«
Tusenbach. Was hat hier Aleko zu thun?
Soljony. Bin ich zu zweien mit jemand zusammen, dann bin ich ein ganz brauchbarer Kerl, wie alle andern, aber in Gesellschaft werde ich gleich niedergeschlagen und schüchtern und rede allerhand Unsinn. Dennoch bin ich ehrenhafter
und nobler von Gesinnung, als sehr, sehr viele. Ich kann Ihnen Beweise dafür liefern.
Tusenbach. Ich bin oft böse auf Sie, weil Sie immer mit mir Händel suchen, wenn wir zusammen in Gesellschaft sind. Und doch sind Sie mir aus irgend einem Grunde sympathisch. Hol's der Teufel, ich will mich heut' betrinken. Prosit!
Soljony. Prosit! (Sie trinken.) Ich habe nie was gegen Sie gehabt, Baron. Aber ich habe leider den Charakter Lermontows. (Leise.) Ich seh' sogar Lermontow etwas ähnlich.
Tusenbach. Ich habe meinen Abschied eingereicht. Basta. Fünf Jahre lang hab' ich mir's überlegt, und endlich hab' ich mich entschlossen. Ich will arbeiten.
Soljony (deklamiert). »Sei böse nicht, Aleko, und vergiß die ew'gen Träumerei'n …« (Während sie sprechen, kommt Andrej leise mit einem Buche herein und setzt sich neben die brennende Kerze.)
Tusenbach. Ich werde arbeiten …
Tschebutykin (geht mit Irina in das Gastzimmer). Und auch die Bewirtung war ganz nach kaukasischer Art: Suppe mit Lauch, und nach dem Braten kam Tschechartma, eine Fleischspeise.
Soljony. Tscheremscha ist durchaus keine Fleischspeise, sondern eine Pflanze, ähnlich unserm Knoblauch.
Tschebutykin. Keineswegs, mein Engel! Tschechartma ist kein Knoblauch, sondern ein Gericht aus Hammelfleisch.
Soljony. Und ich sage Ihnen – Tscheremscha ist eine Knoblauchart!
Tschebutykin. Und ich sage Ihnen – Tschechartma ist Hammelfleisch!
Soljony. Und ich sage Ihnen – Tscheremscha ist Knoblauch.
Tschebutykin. Was soll ich mit Ihnen streiten! Sie sind nie im Kaukasus gewesen und haben nie Tschechartma gegessen!
Soljony. Ich hab's nicht gegessen, weil ich das Zeug nicht leiden kann. Tscheremscha riecht genau so abscheulich wie Knoblauch.
Andrej (in bittendem Tone). Genug, meine Herren! Ich bitte Sie!
Tusenbach. Wann kommen denn eigentlich die Masken?
Irina. Um 9 Uhr wollten sie kommen – sie können jeden Augenblick da sein.
Tusenbach (umfaßt Andrej). Ach, Du Häuschen, Du mein Häuschen, Du mein schönes, neues Haus …
Andrej (tanzt und singt). Neues Häuschen Du aus Ahorn …
Tschebutykin (tanzt).Mit dem Gitterchen davor! (Gelächter.)
Tusenbach (küßt Andrej). Hol's der Teufel, wir wollen eins trinken. Andrjuscha, komm', wir wollen Brüderschaft trinken! Und dann gehen wir zusammen auf die Universität, Andrjuscha!
Soljony. Auf welche denn? In Moskau sind zwei Universitäten.
Andrej. In Moskau ist nur eine Universität.
Soljony. Und ich sage Ihnen: es sind zwei da.
Andrej. Meinetwegen auch drei. Um so besser.
Soljony. In Moskau sind zwei Universitäten. (Murren und Zischen.) Zwei Universitäten: die alte und die neue. Und wenn's Ihnen nicht paßt, mir zuzuhören, wenn Sie sich über meine Worte ärgern – dann kann ich ja schweigen. Ich kann sogar in ein anderes Zimmer gehen … (Entfernt sich durch eine der Thüren.)
Tusenbach. Bravo! Bravo! (Lacht.) Herrschaften, so fangen Sie doch an, ich will spielen! Ein komischer Kauz, dieser Soljony! (Setzt sich ans Clavier, spielt einen Walzer.)
Mascha (tanzt allein und singt nach der Walzermelodie). Der Baron ist bezecht, bezecht, bezecht … (Natascha tritt herein.)
Natascha (zu Tschebutykin). Iwan Romanytsch! (Spricht mit ihm von irgend etwas und entfernt sich dann leise.)
Tschebutykin (faßt Tusenbach an der Schulter und flüstert ihm irgend etwas ins Ohr.)
Irina. Was ist denn los?
Tschebutykin. Es ist Zeit, daß wir gehen. Adieu!
Tusenbach. Gute Nacht! Es ist Zeit, daß wir gehen.
Irina. Erlauben Sie … Und die Masken? …
Andrej (verwirrt). Die Masken dürfen heut nicht kommen, Nämlich, meine Liebe … Natascha meint, Bobik wäre nicht ganz wohl, und darum … Im übrigen, ich weiß nichts weiter … mir ist's absolut gleichgiltig.
Irina (achselzuckend). Bobik ist nicht ganz wohl!
Mascha. Fauler Zauber! Man wirft uns zur Thür hinaus – gut, dann gehen wir. (Zu Irina.) Nicht Bobik, sondern sie selber ist nicht ganz wohl – da! (Zeigt mit dem Finger nach der Stirn.) Die Spießbürgerin!
(Andrej ab nach rechts in sein Zimmer, Tschebutykin folgt ihm; im Saal verabschieden sich die Gäste.)
Fedotik. Wie schade! Ich hab' mich so gefreut auf den Abend, aber wenn das Kind krank ist, dann natürlich … Ich bring' ihm morgen ein Spielzeug mit …
Rode (laut). Hab' extra den ganzen Nachmittag geschlafen, dachte die Nacht durch zu tanzen … Es ist doch erst neun Uhr!
Mascha. Kommen Sie, meine Herren! Wir können auf der Straße weiterplaudern. Wollen überlegen, was wir anfangen. (Man hört Abschiedsgrüße: »Adieu!« »Auf Wiedersehen!« und Tusenbachs vergnügtes Lachen. Alle entfernen sich. Anfissa und das Stubenmädchen räumen den Tisch ab und löschen die Lampen aus. Man hört den Gesang der Kinderfrau. Andrej, in Paletot und Hut, und Tschebutykin treten leise ein.)
Andrej, Tschebutykin; im Saal Anfissa und das Stubenmädchen.
Tschebutykin. Hab' darum nicht geheiratet, weil das Leben so blitzschnell an mir vorüber gehuscht ist – und dann, weil ich Deine Mutter, die leider verheiratet war, bis zum Wahnsinn liebte …
Andrej. Heiraten ist überflüssig. Ue[*Ü]berflüssig … weil's langweilig ist.
Tschebutykin. Das sagst Du so – weil Du nicht weißt, was es bedeutet, allein zu sein. Rede, was Du willst, mein Lieber: das Alleinsein ist ein schreckliches Ding!
Andrej. Kommen Sie rasch!
Tschebutykin. Warum so eilig? Wir kommen noch früh genug hin!
Andrej. Ich fürchte, meine Frau könnte uns in die Quere kommen.
Tschebutykin. Ach so!
Andrej. Spielen mag ich heut' nicht, nur etwas zerstreuen möcht' ich mich. Ich fühle mich gar nicht recht wohl … Was soll ich nur gegen mein Asthma thun, Doctor?
Tschebutykin. Frage mich nicht, mein Lieber. Ich weiß es wirklich nicht … hab's vergessen …
Andrej. Wir wollen durch die Küche gehen. (Beide ab. Es klingelt zweimal, mit kurzer Zwischenpause; das Stubenmädchen entfernt sich; man hört Stimmen und Gelächter. Irina tritt ein.)
Irina, Anfissa, dann Soljony; später Natascha und das Stubenmädchen.
Irina. Wer ist da?
Anfissa (flüsternd). Die Masken werden es sein. (Es klingelt wieder.)
Irina. Geh' doch, meine Liebe, sag' Ihnen, daß niemand zu Hause ist.Sie möchten entschuldigen. (Anfissa ab. Irina geht sinnend im Zimmer auf und ab; sie ist erregt. Soljony tritt ein.)
Soljony (verdutzt). Kein Mensch da? Wohin sind denn alle verschwunden?
Irina. Sie sind nach Hause gegangen.
Soljony. Merkwürdig. Sie sind ganz allein da?
Irina. Ganz allein. (Pause.) Leben Sie wohl!
Soljony. Ich habe mich vorhin nicht taktvoll, nicht zurückhaltend genug benommen. Aber Sie sind nicht so wie die andern. Sie sind edelgesinnt und rein, Sie erkennen die Wahrheit …Nur Sie allein können mich verstehen. Ich liebe Sie … liebe Sie leidenschaftlich, ohne Maß …
Irina. Leben Sie wohl! Gehen Sie!
Soljony. Ich kann ohne Sie nicht leben. (Geht hinter ihr her.) O, meine Seligkeit! (Unter Thränen.) O, mein Glück! Diese herrlichen, wunderbaren, berückenden Augen, die ich noch bei keinem Weibe gesehen habe!
Irina (kühl). Hören Sie auf, Wassili Wassilitsch!
Soljony. Das erste Mal ist's, daß ich Ihnen von Liebe rede … Mir ist zu Mute, als wär' ich nicht auf der Erde, sondern irgendwo auf einem andern Planeten. (Reibt sich die Stirn.) Na, 's ist mir alles gleich – zur Liebe zwingen kann ich Sie nicht … Aber glückliche Nebenbuhler duld' ich nicht … Ich dulde sie nicht! Ich schwör's Ihnen bei allen Heiligen: jeden Nebenbuhler töte ich … O, Sie Herrliche! (Natascha kommt mit einer Kerze.)
Natascha (schaut erst in das eine, dann ins andere Zimmer und geht an der Thür, die ins Zimmer ihres Gatten führt, vorüber.) Da drinnen ist Andrej. Ich will ihn beim Lesen nicht stören. (Zu Soljony.) Verzeihen Sie, Wassili Wassiljewitsch, ich wußte nicht, daß Sie da sind – ich bin im Hauskleid …
Soljony. Ist mir alles gleich. Leben Sie wohl! (Ab.)
Natascha. Bist wohl recht müde, meine Liebe! Mein armes Kind! (Küßt Irina.) Leg' Dich nur bald zu Bett!
Irina. Schläft Bobik?
Natascha. Ja. Aber er schläft so unruhig. Apropos, meine Liebe – ich wollt' schon immer etwas mit Dir besprechen, aber entweder warst Du nicht da, oder ich hatte keine Zeit … Das Zimmer, in dem Bobik jetzt schläft, scheint mir so kühl und feucht. Und Dein Zimmer paßt so schön zum Kinderzimmer. Meine Liebe, Gute – quartier' Dich vorläufig bei Olga ein!
Irina (versteht Natascha nicht gleich). Was soll ich? (Man hört einen Schlitten unter Schellengeläut vor dem Hause vorfahren.
Das Stubenmädchen (flüstert Natascha etwas ins Ohr).
Natascha. Protopopow? Was für ein komischer Kauz! Protopopow wartet unten mit seiner Trojka und will mit mir eine Spazierfahrt machen! (Lacht.) Wie komisch doch diese Mannsleute sind … (Es klingelt.) Es its jemand gekommen. Na, ein Viertelstündchen Luft schnappen kann nicht schaden … (Zum Stubenmädchen.) Sag', ich käme gleich. (Es klingelt.) Es klingelt … das muß Olga sein. (Ab. Das Stubenmädchen entfernt sich rasch. Irina sitzt nachsinnend da.. Kulygin und Olga treten ein, hinter ihnen Werschinin.)
Irina, Olga, Kulygin, Werschinin; dann Natascha.
Kulygin. Das ist doch merkwürdig! Und dabei hieß' es, es sei heut' Tanzkränzchen bei i[*I]hnen!
Werschinin. Vor einer halben Stunde war ich hier – da erwarteten s[*S]ie die Masken …
Irina. Alle sind fort.
Kulygin. Auch Mascha? Wohin ist sie denn gegangen? Und warum wartet Protopopow unten mit seiner Trojka? Wen erwartet er?
Irina. Frage nicht… ich bin müde. (Bedeckt das Gesicht mit den Händen.)
Kulygin. Nun, nun, mein launisches Fräulein …
Olga. Eben erst hat unsere Konferenz geendet. Ich bin ganz hin. Die Vorsteherin ist krank, und ich muß sie vertreten. Kopfschmerzen hab' ich, solche Kopfschmerzen … (Setzt sich.) Andrej hat gestern zweihundert Rubel verspielt, die ganze Stadt spricht davon …
Kulygin. Auch wir hatten eine Konferenz, auch ich bin müde … (Setzt sich.)
Werschinin. Meine Frau hat sich um ein Haar vergiftet. Ich bin froh, daß es noch gut abgelaufen ist … Also wir sollen uns wieder empfehlen? Mir ist's recht – wünsch' Ihnen alles Gute! (Zu Kulygin.) Fedor Iljitsch – kommen Sie – wollen irgend wohin fahren. Nach Hause geh' ich um keinen Preis … Kommen Sie mit!
Kulygin. Bedaure sehr lebhaft … 's ist mir schon zu spät. (Erhebt sich.) Ich bin heut' zu müde. Ist meine Frau nach Hause gegangen?
Irina. Jedenfalls.
Kulygin (küßt Irina die Hand). Leb' wohl! Morgen und übermorgen bin ich den ganzen Tag frei. Wünsch' Euch eine gute Nacht. (Er schickt sich an zu gehen.) Ich hätte gar zu gern ein Glas Thee getrunken. Hab' mich darauf gefreut, den Abend in angenehmer Gesellschaft zu verbringen, aber – o fallacem hominum spem! … Ein sogenannter Accusativ des Ausrufs …
Werschinin. Ich muß also allein fahren. (Pfeifend ab mit Kulygin.)
Olga. Mein Kopf, mein armer Kopf … Andrej hat im Spiel verloren … Die ganze Stadt spricht davon … Ich geh' zu Bett. (Ist im Begriff zu gehen.) Morgen hab' ich keinen Unterricht zu geben n … O Gott, wie angenehm ist das! Morgen und übermorgen bin ich frei … Ach, diese Kopfschmerzen … (Ab.)
Irina (allein). Alle sind fort. Kein Mensch ist da. (Von der Straße ertönt Harmonikaspiel; die Kinderfrau singt ein Wiegenlied.)
Natascha (geht in Pelz und Mütze durch den Saal; hinter ihr das Stubenmädchen). In einer halben Stunde bin ich zu Hause. Ich will nur ein Bißchen spazieren fahren. (Ab.)
Irina (allein, voll Verzweiflung). Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau!
(Der Vorhang fällt.)