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Wir waren davon ausgegangen, daß alle Versuche, den spezifischen Unterschied zwischen »Naturwissenschaft« und »Kulturwissenschaft« zu bestimmen, so lange unbefriedigend und unzureichend bleiben, als man sich nicht entschließt, das Gebiet der bloßen Logik und Wissenschaftstheorie zu überschreiten. Wir mußten, um diesen Unterschied mit Schärfe bezeichnen zu können, von der Begriffsstruktur auf die Wahrnehmungsstruktur zurückgehen. Schon die Wahrnehmung enthält, wie wir zu zeigen versucht haben, im Keime jenen Gegensatz, der in expliziter Form in der gegensätzlichen Methodik hervortritt, deren sich Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft bedienen. Daß alle Begriffe, sofern sie den Anspruch erheben, uns irgendeine Art von Wirklichkeitserkenntnis zu geben, sich letzten Endes in der Anschauung »erfüllen« müssen, pflegt heute von keiner erkenntnistheoretischen Richtung mehr bestritten zu werden. Aber dieser Satz gilt nicht nur für jeden Einzelbegriff; er gilt auch für die verschiedenen Begriffstypen, denen wir im Aufbau der Wissenschaft begegnen. Wenn diese Typen nicht bloße Fiktionen sein sollen, wenn sie mehr bedeuten sollen als willkürliche Namen, die wir im Interesse der Klassifikation geschaffen haben, so müssen sie ein »fundamentum in re« besitzen. Es muß möglich sein, sie bis zu ihrer letzten Erkenntnisquelle zurückzuverfolgen; es muß sich zeigen lassen, daß die Differenz zwischen ihnen sich in einer ursprünglichen Doppelrichtung des Anschauens und Wahrnehmens gründet. Jetzt, nachdem wir in diesem Kreise einen festen Halt- und Stützpunkt gewonnen haben, müssen wir die Frage erneuern. Wir müssen zur Logik zurückkehren und nach dem logischen Charakter der Kulturbegriffe fragen. Daß sie einen solchen besitzen, daß sie alle, wie mannigfach sie auch sind und auf wie verschiedene Gegenstände sie sich beziehen, durch irgendein »geistiges Band« miteinander verknüpft sind: das lehrt uns jede noch so flüchtige Betrachtung. Aber welcher Art ist dieses Band – welcher Familie gehören diese Begriffe an, und welche Verwandtschaft besteht zwischen ihnen und anderen Begriffsklassen?
Drei prinzipiell verschiedene Antworten sind bisher auf diese Frage gegeben worden. In ihnen spiegelt sich deutlich der Wettstreit und Widerstreit zwischen den verschiedenen Tendenzen wider, die in der modernen Wissenschaftstheorie noch immer um die Herrschaft ringen. Die Naturwissenschaft, die Geschichte und die Psychologie machen sich hier den Rang streitig. Und jede von ihnen tritt mit einem durchaus begründeten Anspruch auf, der immer wieder Gehör fordert. Eben hieraus ergibt sich, daß das Problem durch einen einfachen dogmatischen Machtspruch nicht zu lösen ist. Jede der drei Richtungen kann sich auf eine Position zurückziehen, in der sie sich sicher behaupten kann, und aus der sie durch keine Argumente des Gegners zu vertreiben ist. Denn das Physische, das Psychische und das Historische gehören in der Tat notwendig zum Begriff des Kulturobjekts. Sie sind die drei Momente, aus denen sich dasselbe aufbaut. Ein Kulturobjekt bedarf stets eines physisch-stofflichen Substrats. Das Gemälde haftet an der Leinwand, die Statue am Marmor, die historische Urkunde an Schriftzeichen, die wir auf Pergament oder Papier geschrieben finden. Nur in Dokumenten und Monumenten dieser Art stellt sich uns eine vergangene Kultur dar. Aber dies alles verlangt zugleich, um richtig erfaßt und gelesen zu werden, nach einer doppelten Interpretation. Es muß historisch in seiner Zeitstelle bestimmt, es muß nach Alter und Herkunft befragt werden, und es muß als Ausdruck bestimmter seelischer Grundhaltungen, die für uns in irgendeiner Weise nachfühlbar sind, verstanden werden. Physikalische, historische und psychologische Begriffe gehen daher stets in die Beschreibung eines Kulturobjekts ein. Aber das Problem, das uns bei dieser Beschreibung entgegentritt, besteht nicht im Inhalt dieser Begriffe selbst, sondern in der Synthese, kraft derer wir sie ideell zusammenfassen und zu einem neuen Ganzen, zu einem Ganzen sui generis vereinen. Jede Betrachtungsweise, die diese Synthese nicht zureichend erklärt, bleibt unzulänglich. Denn beim Fortgang zu einer bestimmten Begriffsstufe kommt es nicht darauf an, welche Bestandteile sie in sich enthält, sondern auf die eigentümliche Art, in der sie dieselben vereint und zusammenschließt. So unbestreitbar es daher ist, daß sich an jedem Kulturobjekt eine physische, eine psychologische, eine historische Seite aufweisen läßt, so bleibt uns doch dies Objekt in seiner spezifischen Bedeutung verschlossen, solange wir diese Elemente isolieren, statt sie in ihrer Wechselbeziehung, in ihrer gegenseitigen »Durchdringung« zu erfassen. Der physikalische, der psychologische, der historische Aspekt ist als solcher notwendig; aber keiner von ihnen vermag uns das Totalbild zu geben, nach dem wir in den Kulturwissenschaften streben.
Hier stoßen wir freilich auf eine Schwierigkeit, die mit dem gegenwärtigen Stand der Logik und mit ihrer historischen Entwicklung zusammenhängt. Seit Platon besitzen wir eine Logik der Mathematik; seit Aristoteles eine Logik der Biologie. Die mathematischen Relationsbegriffe, die biologischen Art- und Gattungsbegriffe haben hier ihre sichere Stelle gefunden. Von Descartes, von Leibniz und Kant wird die Logik der mathematischen Naturwissenschaft aufgebaut, und schließlich treten im 19. Jahrhundert die ersten Versuche zu einer »Logik der Geschichte« auf. Blickt man dagegen auf die Grundbegriffe der Sprachwissenschaft, der Kunstwissenschaft, der Religionswissenschaft hin, so wird man zu seiner Verwunderung gewahr, daß sie gewissermaßen noch immer heimatlos sind: sie haben im System der Logik ihren »natürlichen Ort« noch nicht gefunden.
Statt dies durch abstrakte Erörterungen zu erweisen, ziehe ich es vor, den Sachverhalt an konkreten Einzelbeispielen zu verdeutlichen, die ich der unmittelbaren Arbeit der Kulturwissenschaften entnehme. Die Forschungsarbeit als solche ist hier stets ihre eigenen Wege gegangen; sie hat sich dem Prokrustesbett bestimmter begrifflicher Distinktionen, in das man sie oft von Seiten der Logik und Erkenntnistheorie einzupressen suchte, nicht gefügt. An ihr können wir daher, besser als irgendwo sonst, den eigentlichen Stand des Problems ablesen. Jede besondere Kulturwissenschaft bildet bestimmte Form- und Stilbegriffe aus und benützt dieselben zu einem systematischen Überblick, zu einer Klassifikation und Unterscheidung der Erscheinungen, von denen sie handelt. Diese Formbegriffe sind weder »nomothetisch«, noch sind sie rein »ideographisch«. Sie sind nicht nomothetisch: denn es handelt sich in ihnen nicht darum, allgemeine Gesetze aufzustellen, aus denen die besonderen Phänomene deduktiv abgeleitet werden können. Aber auch auf die geschichtliche Betrachtung lassen sie sich nicht reduzieren. Verdeutlichen wir uns dies zunächst am Aufbau der Sprachwissenschaft. Daß wir, wo immer möglich, die Sprache in ihrer Entwicklung studieren müssen, und daß diese uns die reichsten und fruchtbarsten Aufschlüsse über sie gibt, steht fest. Aber um den Bestand des zu Untersuchenden und des zu Erklärenden, um die Gesamtheit der sprachlichen Erscheinungen vollständig zu überblicken, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir müssen von dem ausgehen, was Wilhelm von Humboldt die »innere Sprachform« genannt hat, und wir müssen versuchen, uns einen Einblick in die Gliederung dieser inneren Sprachform zu verschaffen. Hier handelt es sich um reine Strukturprobleme der Sprache, die von historischen Problemen deutlich unterschieden sind, und die unabhängig von ihnen behandelt werden können und müssen. Was eine Sprache ihrer Struktur nach ist – das läßt sich bestimmen, auch wenn wir wenig oder nichts von ihrer historischen Entwicklung wissen. So hat z. B. Humboldt als erster den Begriff der »polysynthetischen Sprachen« aufgestellt und mit ihrer Beschreibung ein glänzendes Beispiel seiner Sprach- und Formanalyse gegeben. Über die Entstehung und Entwicklung dieser Sprachen standen ihm hierbei keinerlei Daten zur Verfügung. Etwas Ähnliches wiederholt sich überall, wo wir es mit Sprachen schriftloser Völker zu tun haben. In seiner »Vergleichenden Grammatik der Bantu-Sprachen« hat Carl Meinhof die Eigentümlichkeit derjenigen Sprachen untersucht, die die Einteilung der Nomina nicht nach dem sog. »natürlichen Geschlecht« – als Masculina, Feminina, Neutra – vornehmen, sondern statt dessen ganz andere Einteilungsprinzipien benutzen Näheres hierüber s. Philosophie der symbolischen Formen, I. 264 ff.. Auch in diesen Analysen konnten historische Gesichtspunkte keine Rolle spielen; aber ihr Fehlen brauchte der Sicherheit unseres Wissens um die Sprachstruktur keinerlei Eintrag zu tun.
Von der Sprachwissenschaft blicken wir zu einem anderen großen Gebiet der Kulturwissenschaft: zur Kunstwissenschaft hinüber. Zwischen beiden eine Brücke schlagen zu wollen, mag auf den ersten Blick sehr gewagt erscheinen; denn in den Gegenständen, die sie behandeln, und in der Methodik, deren sie sich bedienen, scheinen sie weit voneinander getrennt. Dennoch arbeiten sie mit Begriffen, die ihrer allgemeinen Form nach miteinander verwandt sind, und die gewissermaßen zur selben logischen »Familie« gehören. Auch die Kunstgeschichte könnte keinen Schritt vorwärts tun, wenn sie sich ausschließlich auf historische Betrachtungen, auf Erzählung des Gewesenen und Gewordenen, einschränken wollte. Auch für sie gilt der Platonische Satz, daß es vom Werden, als bloßem Werden, keine wissenschaftliche Erkenntnis geben kann. Um in das Werden einzudringen, um es übersehen und beherrschen zu können, muß sie sich zuvor bestimmter Halt- und Stützpunkte im »Sein« versichert haben. Jede historische Erkenntnis bezieht sich auf eine bestimmte Erkenntnis der »Form« und des »Wesens« und legt dieselbe zugrunde. Diese Korrelation und dieses Ineinandergreifen der beiden Momente stellt sich immer wieder deutlich heraus, sobald die kunstwissenschaftliche Forschung sich gedrängt sieht, auf ihre eigene Methode zu reflektieren. Mit besonderer Klarheit tritt sie in einem Werk wie Heinrich Wölfflins »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« heraus. Wölfflin will alles Spekulative sorgsam fernhalten; er urteilt und spricht als reiner Empiriker. Aber er betont nachdrücklich, daß die Tatsachen als solche stumm bleiben müssen, wenn man sich nicht zuvor bestimmter begrifflicher Gesichtspunkte versichert hat, gemäß denen sie zu ordnen und zu interpretieren sind. Hier sieht er die Lücke, die sein Buch ausfüllen will. »Die begriffliche Forschung« – so erklärt er schon im Vorwort – »hat mit der Tatsachenforschung nicht Schritt gehalten.« Wölfflins Werk will nicht eigentlich Kunstgeschichte geben; es stellt vielmehr gewissermaßen die »Prolegomena zu einer jeden künftigen Kunstgeschichte« dar, die als Wissenschaft wird auftreten können. »Wir geben hier« – so betont er an einer Stelle – »nicht die Geschichte des malerischen Stils, sondern bemühen uns um den allgemeinen Begriff.« Heinr. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915, S. 35. Dieser wird dadurch gefunden und fixiert, daß der malerische Stil scharf und bestimmt vom linearen Stil geschieden und ihm in allen seinen Äußerungsformen gegenübergestellt wird. Das »Lineare« und das »Malerische« stehen sich nach Wölfflin als zwei verschiedenartige Formen des Sehens gegenüber. Sie sind zwei Auffassungsweisen räumlicher Verhältnisse, die auf ganz verschiedene Ziele ausgehen, und die demgemäß je ein besonderes Moment des Räumlichen erfassen. Das Lineare geht auf die feste plastische Form der Dinge; das Malerische geht auf ihre Erscheinung. »Dort ist es die feste Gestalt, hier die wechselnde Erscheinung; dort ist es die bleibende Form, meßbar, begrenzt, hier die Bewegung, die Form in Funktion; dort die Dinge für sich, hier die Dinge in ihrem Zusammenhang.« Wölfflin, a. a. O., S. 31. Es versteht sich von selbst, daß Wölfflin diesen Gegensatz des »Linearen« und des »Malerischen« nicht hätte formulieren und daß er ihn nicht zu anschaulicher Deutlichkeit hätte bringen können, wenn er sich nicht fort und fort auf ein gewaltiges historisches Anschauungsmaterial gestützt hätte. Aber auf der anderen Seite betont er mit allem Nachdruck, daß das, was seine Analyse herausstellen will, kein einmaliges historisches Geschehen ist, das an einen bestimmten Zeitpunkt gebunden und auf ihn beschränkt ist. Wölfflins Grundbegriffe sind so wenig »idiographische« Begriffe, wie diejenigen Humboldts es waren. Sie gehen von der Feststellung eines ganz allgemeinen Sachverhalts aus; aber sie stellen, gegenüber den allgemeinen Klassen- und Gesetzesbegriffen der Naturwissenschaft, ein Allgemeines von anderer Art und anderer Stufe dar. An bestimmten historischen Erscheinungen – am Gegensatz zwischen der Formensprache der Klassik und des Barock, am Gegensatz des 16. und 17. Jahrhunderts, am Gegensatz von Dürer und Rembrandt – soll ein fundamentaler Formunterschied zu Bewußtsein gebracht werden. Die Einzelerscheinungen wollen nicht mehr sein als die paradigmatischen Erläuterungen dieses Unterschieds; sie wollen ihn keineswegs als solchen begründen. Es gibt nach Wölfflin eine »Klassik« und ein »Barock« nicht nur in der neueren Kunstgeschichte, sondern auch in der antiken Baukunst, ja selbst auf einem so fremdartigen Boden wie der Gotik Vgl. Wölfflin, a. a. O., S. 243.. Ebensowenig läßt sich der Unterschied, der hier vorliegt, dadurch fassen, daß man ihn auf einen nationalen oder individuellen Unterschied zurückführt. Nationale und individuelle Differenzen spielen in der Entwicklung des linearen und des malerischen Stils ihre Rolle; aber die Wesensart beider läßt sich aus ihnen nicht ableiten. Diese Wesensart ist vielmehr etwas, das man sich an ganz verschiedenen Epochen, an ganz verschiedenen nationalen Kulturen und an ganz verschiedenen Künstlerindividuen zu deutlicher Anschauung bringen kann. Auch die Frage nach der Entwicklung des einen Stils aus dem andern läßt sich nach Wölfflin unabhängig von diesen Voraussetzungen stellen und beantworten. Die Stilgeschichte vermag bis zu einer bestimmten Grundschicht von Begriffen vorzudringen, die sich auf die »Darstellung als solche« beziehen: »Es läßt sich eine Entwicklungsgeschichte des abendländischen Sehens geben, für die die Verschiedenheit des individuellen und nationalen Charakters von keiner großen Bedeutung mehr ist.« ibid., S. 13. »Es gibt einen Stil, der, wesentlich objektiv gestimmt, die Dinge nach ihren festen, tastbaren Verhältnissen auffaßt und wirksam machen will, und es gibt im Gegensatz dazu einen Stil, der, mehr subjektiv gestimmt, der Darstellung das Bild zugrunde legt, in dem die Sichtbarkeit dem Auge wirklich erscheint.« ibid., S. 23. An beiden Stilformen können die heterogensten Künstler teilnehmen. »Um zu exemplifizieren« – so sagt Wölfflin an einer Stelle seiner Darstellung – »konnten wir natürlich nicht anders verfahren, als das einzelne Kunstwerk heranzuziehen, aber alles, was von Raffael und Tizian, von Rembrandt und Velasquez gesagt wurde, sollte doch nur die allgemeine Bahn beleuchten, nicht den besonderen Wert des aufgegriffenen Stückes ins Licht setzen.« ibid., S. 237. In diesem Zusammenhang stellt Wölfflin sogar das Ideal einer Kunstgeschichte auf, die eine »Kunstgeschichte ohne Namen« sein würde ibid., S. V.. Sie bedürfte keiner Namen, weil sie sich in ihrer Fragestellung nicht auf etwas Individuelles, sondern auf etwas Prinzipielles, und insofern »Anonymes« richtet: auf die Veränderungen des räumlichen Sehens und auf die dadurch bedingte Modifikation des optischen Form- und Raumgefühls.
Für den Logiker ist es hierbei höchst interessant und wertvoll, zu beobachten, wie Wölfflin dadurch, daß er die reinen Strukturbegriffe der Kunstwissenschaft in solcher Schärfe herausarbeitet, unwillkürlich auf ganz universelle Probleme der »Formwissenschaft« geführt wird. Es ist kein bloßer Zufall, daß er zu Wendungen greift, die, über das Gebiet der Kunstwissenschaft hinaus, auf die Sprachwissenschaft hinweisen. Humboldt hat immer wieder betont, daß die Verschiedenheit zwischen den einzelnen Sprachen keine bloße Verschiedenheit der »Schälle und Zeichen« sei. In jeder Sprachform drückt sich nach ihm vielmehr eine eigene »Weltansicht«, eine bestimmte Grundrichtung des Denkens und Vorstellens aus. Ein durchaus analoger Gedanke liegt bei Wölfflin zugrunde, obwohl bei ihm natürlich keinerlei unmittelbare Anlehnung oder Anknüpfung an Humboldts Gedankenwelt besteht. Er überträgt das Humboldtsche Prinzip aus der Welt des Denkens und Vorstellens auf die Welt des Anschauens und Sehens. Jeder künstlerische Stil läßt sich, wie er betont, nicht nur nach gewissen formalen Momenten, nach der Art der Zeichnung, der Linienführung usf. bestimmen, sondern in jedem dieser Momente drückt sich eine bestimmte Gesamtorientierung, gewissermaßen eine geistige Einstellung des Auges aus. Solche Verschiedenheiten sind weit mehr als nur eine Angelegenheit des Geschmacks: »bedingend und bedingt enthalten sie die Grundlage der ganzen Weltansicht eines Volkes« ibid., S. 251.. Ebenso wie verschiedene Sprachen in ihrer Grammatik und in ihrer Syntax voneinander abweichen, wandelt sich auch die Sprache der Kunst, beim Übergang vom linearen zum malerischen Stil, nach Grammatik und Syntax. Der Inhalt der Welt kristallisiert sich für die Anschauung nicht in einer gleichbleibenden Form ibid., S. 237.. Und es ist eine der Hauptaufgaben der Kunstwissenschaft, diesen Wandel der Anschauungsform zu verfolgen und ihn in seiner inneren Notwendigkeit verständlich zu machen.
Hier aber werden wir auf eine andere Frage geführt. Wir haben behauptet, daß die Form- und Stilbegriffe der Kulturwissenschaften sowohl von den naturwissenschaftlichen Begriffen wie von den historischen Begriffen deutlich geschieden sind, daß sie eine Begriffsklasse sui generis darstellen. Aber lassen sie sich nicht vielleicht auf einen anderen Typus: auf den Typus der Wertbegriffe zurückführen? Man weiß, welche Rolle die Wertbegriffe in Rickerts Geschichtslogik spielen. Daß die Geschichtswissenschaft es nicht lediglich mit der Feststellung individueller Tatsachen zu tun hat, sondern daß sie eine Verknüpfung zwischen ihnen herstellen muß, und daß diese historische Synthesis ohne die Beziehung auf ein »Allgemeines« nicht möglich und durchführbar sei: dies hat Rickert nachdrücklich betont. Aber an die Stelle der naturwissenschaftlichen Seinsbegriffe tritt für ihn in der Geschichte und in der Kulturwissenschaft das System der Wertbegriffe. Die Masse des historischen Stoffes kann nur dadurch gegliedert und der historischen Erkenntnis zugänglich gemacht werden, daß wir das Besondere auf allgemeine überindividuelle Werte beziehen. Aber auch diese These hält der genaueren Nachprüfung der konkreten Gestaltung der Kulturwissenschaften nicht stand. Zwischen Stilbegriffen und Wertbegriffen besteht ein grundsätzlicher Unterschied. Was die Stilbegriffe darstellen, ist kein Sollen, sondern ein reines »Sein« – wenngleich es sich in diesem Sein nicht um physische Dinge, sondern um den Bestand von »Formen« handelt. Spreche ich von der »Form« einer Sprache oder von einer bestimmten Kunstform, so hat dies an sich mit einer Wertbeziehung nichts zu tun. Es können sich an die Feststellung solcher Formen bestimmte Werturteile anknüpfen; aber für die Erfassung der Form als solcher, für ihren Sinn und ihre Bedeutung, sind sie nicht konstitutiv. So hat z. B. Humboldt in seinen Untersuchungen über den menschlichen Sprachbau eine gewisse geistige »Hierarchie« der einzelnen sprachlichen Formen feststellen zu können geglaubt. Er sieht in den flektierenden Sprachen die Spitze dieser Hierarchie; er bemüht sich nachzuweisen, daß die Flexionsmethode im Grunde die »einzig gesetzmäßige Form« sei, die von den isolierenden, agglutinierenden oder polysynthetischen Sprachen nicht völlig erreicht werde. Er unterscheidet zwischen Sprachen, die diese »gesetzmäßige Form« zeigen, und solchen, die in der einen oder anderen Beziehung von ihr abweichen Vgl. Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk, Werke (Akad. Ausgabe), VII., 1, S. 252 ff.. Aber er konnte diese Rangordnung der Sprachen offenbar erst vornehmen, nachdem er ihre Strukturunterschiede nach bestimmten Prinzipien festgestellt hatte – und diese Feststellung mußte völlig unabhängig von irgendwelchen Wertgesichtspunkten erfolgen. Das gleiche gilt für die Stilbegriffe der Kunstwissenschaft. Auch hier können wir, auf Grund ästhetischer Normen, deren wir sicher zu sein glauben, dem einen Stil vor dem andern den Vorzug geben. Aber das »Was« der Einzelstile, ihre Besonderheit und Eigenart, erfassen wir nicht kraft solcher Normbegriffe, sondern für seine Bestimmung stützen wir uns auf andere Kriterien. Wenn Wölfflin von »Klassik« und »Barock« spricht, so haben beide Begriffe für ihn lediglich eine deskriptive, keine ästhetisch-qualifizierende oder normierende Bedeutung. Mit dem ersten Begriff soll keineswegs der Nebensinn des Vorbildlichen oder Mustergültigen verbunden werden. Und ebensowenig soll die Tatsache, daß, wie die Kunstgeschichte uns lehrt, der malerische Stil auf den linearen zu folgen pflegt und sich aus ihm entwickelt, die Behauptung in sich schließen, daß wir es in dieser Umbildung mit einem »Fortschritt«, mit einer Höherbildung zu tun haben. Wölfflin sieht in beiden Stilformen vielmehr lediglich verschiedene Lösungen eines bestimmten Problems, die an sich ästhetisch gleichberechtigt sind. Innerhalb jeder der beiden Stile können wir das Vollkommene vom Unvollkommenen, das Geringe oder Mittelmäßige vom Ausgezeichneten scheiden. Aber auf beide Stile als Ganzes lassen sich solche Unterschiede nicht ohne weiteres übertragen. »Die malerische Art ist die spätere« – so sagt Wölfflin – »und ohne die erste nicht recht denkbar, aber sie ist nicht die absolut höherstehende. Der lineare Stil hat Werte entwickelt, die der malerische Stil nicht mehr besitzt und nicht mehr besitzen will. Es sind zwei Weltanschauungen, anders gerichtet in ihrem Geschmack und in ihrem Interesse an der Welt und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben … Aus dem verschieden orientierten Interesse an der Welt entspringt jedesmal eine andere Schönheit.« ibid., S. 20, S. 31.
Wir haben bisher die Gründe darzulegen gesucht, die uns dazu berechtigen und nötigen, den Kulturbegriffen sowohl gegenüber den historischen Begriffen wie gegenüber den Wertbegriffen eine besondere Stellung zuzuweisen und sie in ihrer logischen Struktur von beiden zu unterscheiden. Aber noch bleibt eine andere Frage übrig, die bisher ihre Lösung nicht gefunden hat. Besteht dieselbe Autonomie der Form- und Stilbegriffe auch gegenüber der Fragestellung der Psychologie? Erschöpft sich das Ganze der Kultur – die Entwicklung der Sprache, der Kunst, der Religion – nicht in geistig-seelischen Prozessen; und fallen alle diese Prozesse nicht eo ipso unter die Gerichtsbarkeit der Psychologie? Besteht hier noch irgendeine Differenz – kann es an diesem Punkt ein Bedenken oder ein Ausweichen geben? Es hat in der Tat stets hervorragende Forscher gegeben, die so geurteilt und demgemäß den Schluß gezogen haben, daß man nach einer »Prinzipienwissenschaft« für die Kulturwissenschaften nicht erst zu suchen brauche: sie liege in der Psychologie fertig und vollständig vor. Im Gebiet der Sprachwissenschaft ist diese These mit besonderer Klarheit und mit besonderem Nachdruck von Hermann Paul verteidigt worden. Paul ist vor allem Sprachhistoriker – er steht also nicht im Verdacht, daß er das Recht der geschichtlichen Betrachtungsweise in irgendeiner Weise beschränken will. Aber auf der anderen Seite betont er, daß ohne Erledigung der prinzipiellen Fragen, ohne Feststellung der allgemeinen Bedingungen des geschichtlichen Werdens, überhaupt kein historisches Einzelresultat zu gewinnen sei. Der Sprachgeschichte, wie der Geschichte jeder anderen Kulturform, muß daher nach ihm stets eine Wissenschaft zur Seite stehen, die sich »mit den allgemeinen Lebensbedingungen der geschichtlich sich entwickelnden Objekte beschäftigt, welche die in allem Wechsel gleichmäßig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirksamkeit untersucht«. Diese konstanten Faktoren können nirgend anders als in der Psychologie gefunden werden. Diese letztere wird hierbei von Paul durchaus als Individualpsychologie, nicht wie bei Steinthal und Lazarus und später bei Wundt, als »Völker-Psychologie« gedacht. Der Individualpsychologie wird demnach die Aufgabe zugewiesen, die prinzipiellen Fragen der Sprachtheorie ihrer Lösung entgegenzuführen: »alles dreht sich darum, die Sprachentwicklung aus der Wechselwirkung abzuleiten, welche die Individuen aufeinander ausüben«.
Als Hermann Paul, zu Beginn seiner »Prinzipien der Sprachgeschichte«, diese These aufstellte, hatte in der Philosophie und in der allgemeinen Wissenschaftstheorie der Kampf zwischen der »transzendentalen« und der »psychologischen« Methode seine äußerste Schärfe erreicht. Auf der einen Seite standen die neukantischen Schulen, die betonten, daß es die erste und wichtigste Aufgabe aller erkenntniskritischen Untersuchung sei, zwischen dem quid juris und dem quid facti zu unterscheiden. Die Psychologie, als empirische Wissenschaft, habe es mit Tatsachenfragen zu tun, die nie und nimmer als Norm zur Entscheidung reiner Geltungsfragen dienen könnten. Heute ist dieser Strich zwischen »Logizismus« und »Psychologismus«, der eine Zeitlang die ganze Signatur der Philosophie bestimmt hat, einigermaßen in den Hintergrund getreten. Die Entscheidung ist hier, nach langwierigen Kämpfen von beiden Seiten, erfolgt, und sie pflegt kaum mehr ernstlich angefochten zu werden. Die Logik – so hatten die extremen Psychologisten gefolgert – ist die Lehre von den Formen und Gesetzen des Denkens. Sie ist daher so gewiß eine psychologische Disziplin, als es den Vorgang des Denkens und Erkennens nur in der Psyche gibt Vgl. Theodor Lipps, Grundzüge der Logik, Hamburg und Leipzig, 1893, S. 1 ff.. Den Paralogismus, der in dieser Schlußfolgerung lag, hat Husserl in seinen »Logischen Untersuchungen« bloßgelegt und gewissermaßen bis in seine geheimsten Schlupfwinkel hinein verfolgt. Er wies auf den radikalen und unaufheblichen Unterschied hin zwischen der Form als »idealer Bedeutungseinheit« und den psychischen Erlebnissen, den »Akten« des Fürwahrhaltens, Glaubens, Urteilens, die sich auf diese Bedeutungseinheiten beziehen und sie zum Gegenstand haben Vgl. bes. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I., Cap. 8.. Die Gefahr, die Formenlehre der Logik und die der reinen Mathematik in psychologische Bestimmungen aufzulösen, war damit beseitigt. Im Bereich der Kulturwissenschaften scheint es freilich auf den ersten Blick weit schwerer zu sein, eine derartige Grenze zu ziehen. Denn – so läßt sich fragen – gibt es überhaupt einen bestimmten »Bestand« der Sprache, der Kunst, des Mythos, der Religion, oder geht nicht all das, was wir in dieser Weise bezeichnen, in einzelnen Akten des Sprechens, des künstlerischen Gestaltens oder Genießens, des mythischen Glaubens, des religiösen Vorstellens auf? Findet sich noch ein Untersuchungsobjekt, das nicht vollständig im Kreis dieser Akte beschlossen ist? Aber gerade ein Blick auf den gegenwärtigen Stand des Problems kann uns darüber belehren, daß dies in der Tat der Fall ist. Auch hier hat sich die Klärung mehr und mehr durchgesetzt. Die Sprachpsychologie, die Kunstpsychologie, die Religionspsychologie sind im Lauf der letzten Jahrzehnte immer weiter ausgebaut worden. Aber sie treten nicht mehr mit dem Anspruch auf, die Sprach- Theorie, die Kunst- Theorie, die Religions- Theorie verdrängen oder entbehrlich machen zu wollen. Auch hier hat sich immer deutlicher das Gebiet einer reinen »Formenlehre« herauskristallisiert, die mit anderen Begriffen als denen der empirischen Psychologie arbeitet und nach anderen Methoden aufgebaut werden muß. Ein Beispiel hierfür bietet insbesondere Karl Bühlers »Sprachtheorie«. Es ist um so bedeutsamer, als Bühler als Psychologe an die Probleme der Sprache herantritt und im Laufe seiner Untersuchung diesen Gesichtspunkt niemals aus den Augen verliert. Aber das »Wesen« der Sprache läßt sich nach Bühler weder in bloß-historischen, noch in bloß-psychologischen Untersuchungen erschöpfend zur Darstellung bringen. Er betont schon im Vorwort seiner Schrift, daß er an die Sprache die Frage: »Was bist du?«, nicht die Frage: »Woher kommst du des Weges?« stellen wolle. Das ist die alte philosophische Frage des τί ἐστι. Der »Sematologie« ist hier in methodischer Hinsicht ihre volle Selbständigkeit zugestanden. Gerade als Psychologe und auf Grund psychologischer Analysen tritt Bühler demgemäß für die These der Idealität des Gegenstandes »Sprache« ein: »Die Sprachgebilde« – so erklärt er – »sind, platonisch gesprochen, ideenartige Gegenstände, sie sind, logistisch gesprochen, Klassen von Klassen wie die Zahlen oder Gegenstände einer höheren Formalisierung des wissenschaftlichen Denkens.« Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934, S. 58 ff. Darin liegt zugleich, daß und warum »die restfreie Einordnung der Linguistik in die Reihe der ›idiographischen Wissenschaften‹ unbefriedigend ist und einer Revision unterworfen werden muß«. Es muß nach Bühler immer eine Art von Heimatlosigkeit der Sprachforschung herauskommen, wenn man sie entweder auf die Erforschung historischer Tatsachen beschränken oder sie auf Physik und Psychologie »reduzieren« will ibid., S. 6..
Stellt man sich auf diesen Standpunkt, so können damit alle Grenzstreitigkeiten zwischen Sprach-Philosophie und Sprach-Psychologie entfallen – und heute sind wir vielleicht bereits so weit, daß man diese Streitigkeiten für überholt und antiquiert erklären kann. Die einzelnen Aufgaben haben sich klar und bestimmt gegeneinander abgegrenzt. Auf der einen Seite ist es klar, daß die Schaffung einer Sprach- Theorie nicht möglich ist, ohne daß wir uns hierfür fort und fort auf die Ergebnisse der Sprachgeschichte und Sprachpsychologie beziehen. Im leeren Raum der Abstraktion und Spekulation kann eine solche Theorie nicht aufgebaut werden. Aber ebenso steht fest, daß die empirische Forschung im Gebiet der Linguistik wie in dem der Sprachpsychologie fort und fort Begriffe voraussetzen muß, die sie der sprachlichen »Formenlehre« entnimmt. Wenn Untersuchungen darüber angestellt werden, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Wortklassen in der sprachlichen Entwicklung des Kindes auftreten, oder in welcher Phase das Kind vom Gebrauch des »Einwortsatzes« zum »parataktischen« Satz, von diesem zum »hypotaktischen« Satz übergeht Vgl. hierzu z. B. Clara und William Stern, Die Kindersprache, 2. Aufl., Leipzig 1920, Cap. XII-XV., so ist es klar, daß hierbei die Bedeutung bestimmter Grundkategorien der Formenlehre, der Grammatik und Syntax, zugrunde gelegt wird. Auch sonst zeigt es sich immer wieder, daß die empirische Forschung sich in Scheinprobleme verliert und in unlösbare Antinomien verstrickt, wenn ihr nicht eine sorgfältige begriffliche Reflexion auf das, was die Sprache » ist«, zur Seite steht und sie ständig in ihren Fragestellungen begleitet. Wölfflin hat, wie wir erwähnt haben, in seinen »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« darüber geklagt, daß die begriffliche Forschung in der Kunstgeschichte mit der Tatsachenforschung nicht Schritt gehalten habe. Ähnlichen Klagen begegnen wir heute auch mehr und mehr im Gebiet der Sprachpsychologie. Als Beleg hierfür sei ein wichtiger Aufsatz angeführt, den G. Révész soeben unter dem Titel »Die menschlichen Kommunikationsformen und die sog. Tiersprache« veröffentlicht hat Nederl. Akademie van Wetenschappen, Vol. LANG="en-US"> XLIII., No. 9 and 10, 1940, und XLIV., No. 1, 1941.. Révész geht davon aus, daß unzählige »Beobachtungen«, die man über die »Tiersprache« zu machen geglaubt hatte, und viele, wenn nicht die meisten Experimente, die man auf diesem Gebiet angestellt hat, schon deshalb fragwürdig und unfruchtbar geblieben sind, weil man hier von keinem bestimmten Begriff der Sprache ausgegangen ist – weil man also im Grunde nicht wußte, wonach man forschte und fragte. Er fordert in dieser Hinsicht eine radikale Wandlung der Methode. »Wir müssen uns darüber klarwerden, daß die Frage nach der sog. Tiersprache ausschließlich auf Grund tierpsychologischer Tatsachen nicht gelöst werden kann. Jeder, der unvoreingenommen die seitens der Tier- und Entwicklungspsychologen aufgestellten Thesen und Theorien einer kritischen Betrachtung unterzieht, muß schließlich zu der Überzeugung kommen, daß die aufgeworfene Frage durch Aufzeigen der verschiedenen tierischen Kommunikationsformen und durch Hinweise auf gewisse Dressurleistungen, die ihrerseits die widersprechendsten Deutungen zulassen, mit logischer Gewißheit nicht zu beantworten ist. Man muß demnach trachten, einen logisch rechtmäßigen Ausgangspunkt zu finden, von dem die Erfahrungstatsachen eine natürliche und sinnvolle Deutung finden können. Dieser Ausgangspunkt ist in der Begriffsbestimmung der Sprache zu finden … Nimmt man sich … die Mühe, die sog. Tiersprache vom sprachphilosophischen und sprachpsychologischen Standpunkte aus zu sehen – meiner Ansicht nach die einzig berechtigte Stellungnahme –, so wird man nicht bloß die Lehre von einer Tiersprache aufgeben, sondern zugleich die Widersinnigkeit der Problemstellung in ihrer heutigen Fassung in ihrem ganzen Umfang einsehen.« Auf die meines Erachtens sehr bedeutsamen Argumente, auf welche Révész seine Auffassung gestützt hat, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Ich habe seine Worte hier nur angeführt, um zu zeigen, wie stark die Frage nach der Sprach struktur in die empirische Forschung eingreift, und wie diese den »sicheren Weg der Wissenschaft« nicht finden kann, bevor sie nicht der logischen Reflexion ihr Recht eingeräumt hat. In den Kulturwissenschaften wie in der Naturwissenschaft gilt das Kantische Wort über das Verhältnis von Erfahrung und Vernunft: »Die Vernunft muß mit Prinzipien ihrer Urteile vorangehen und die Natur nötigen, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen: denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.«
Erst nachdem wir in dieser Weise die Form- und Stilbegriffe der Kulturwissenschaften gegenüber anderen Begriffsarten abgegrenzt haben, können wir an ein Problem herantreten, das für die Anwendung dieser Begriffe auf die einzelnen Erscheinungen von entscheidender Bedeutung ist. Wir verstehen eine Wissenschaft in ihrer logischen Struktur erst dann, wenn wir uns klargemacht haben, in welcher Weise sie die Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine vollzieht. Aber in der Beantwortung dieser Frage müssen wir uns vor einem einseitigen Formalismus hüten. Denn es gibt kein generelles Schema, auf das wir uns hier beziehen und berufen könnten. Die Aufgabe besteht für alle Wissenschaften in gleicher Weise; aber ihre Lösung schlägt sehr verschiedene Wege ein. Eben in dieser Verschiedenheit drückt sich je ein eigener und spezifischer Erkenntnistypus aus. Es war offenbar eine unzulängliche Lösung des Problems, wenn man den »Allgemeinbegriffen« der Naturwissenschaft die »Individualbegriffe« der historischen Wissenschaften entgegenstellte. Denn eine solche Trennung zerschneidet gewissermaßen den Lebensfaden des Begriffs. Jeder Begriff will, seiner logischen Funktion nach, eine »Einheit des Mannigfaltigen«, eine Beziehung zwischen Individuellem und Allgemeinem, sein. Isoliert man das eine dieser Momente, so zerstört man die »Synthesis«, die jeder Begriff, als solcher, vollziehen will. »Das Besondere« – so sagt Goethe – »unterliegt ewig dem Allgemeinen; das Allgemeine hat ewig sich dem Besonderen zu fügen.« Aber die Art dieser »Fügung«, dieses Zusammenschlusses des Besonderen durch das Allgemeine ist nicht in allen Wissenschaften die gleiche. Sie ist anders, wenn wir das System der mathematischen Begriffe und das der empirischen Naturbegriffe vergleichen; und sie ist anders, wenn wir das letztere den historischen Begriffen gegenüberstellen. Es bedarf stets der sorgfältigen Einzelanalyse, um diese Unterschiede festzustellen. Am einfachsten erscheint das Verhältnis, wenn es gelingt, das Allgemeine in der Form eines Gesetzesbegriffs auszusprechen, aus dem sich die einzelnen »Fälle« deduktiv ableiten lassen. In dieser Weise »folgen« etwa aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz die Keplerschen Regeln für die Planetenbewegungen oder die Regeln über den periodischen Wechsel von Ebbe und Flut. Alle Begriffe der empirischen Naturwissenschaft streben in irgendeiner Weise darnach, dieses Ideal zu erreichen, wenngleich nicht jede von ihnen es sofort und nicht jede in derselben Weise zu verwirklichen vermag. Immer besteht die Tendenz, das empirische Nebeneinander der Bestimmungen, das die Beobachtung zunächst allein darbietet, kraft gedanklicher Bearbeitung in ein anderes Verhältnis: in ein Verhältnis des Bedingtseins des einen durch das andere zu verwandeln. Diese Form der »Subsumtion« ist es, die um so besser und vollkommener gelingt, je mehr die beschreibenden Begriffe der Naturwissenschaft auf theoretische Begriffe bezogen und fortschreitend in diese verwandelt werden. Ist dies erreicht, dann gibt es im Grunde keine Einzelbestimmungen eines empirischen Begriffs mehr. Wir besitzen alsdann, wie in den rein mathematischen Begriffen, eine Grundbestimmung, aus der alle andern folgen und in bestimmter Weise ableitbar sind. In dieser Weise ist es z. B. der modernen theoretischen Physik gelungen, alle die einzelnen »Eigenschaften« eines bestimmten Dinges, all die Bestimmungen, die in einer physischen oder chemischen Konstante ausgedrückt sind, auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen. Sie zeigt, daß die Eigenschaften eines Elementes, deren jede zunächst einzeln durch empirische Beobachtung gefunden wurde, Funktionen einer bestimmten Größe, der Größe des »Atomgewichts« sind, daß sie in gesetzlicher Weise mit der »Ordnungsnummer« des Elements zusammenhängen. Es ergibt sich hieraus, daß ein bestimmter empirisch-vorliegender Stoff, ein gewisses Metall, dann und nur dann unter den Begriff »Gold« subsumiert werden kann, wenn er die betreffende Grundeigenschaft und somit auch alle die anderen Eigenschaften, die sich aus ihr ableiten lassen, zeigt. Ein Schwanken ist hier nicht möglich: »Gold« heißt uns nur, was ein gewisses, quantitativ streng bestimmtes, spezifisches Gewicht, eine bestimmte elektrische Leitungsfähigkeit, einen bestimmten Ausdehnungskoeffizienten usf. besitzt. Aber wenn man etwas Ähnliches von den Form- und Stilbegriffen der Kulturwissenschaften erwartet, so sieht man sich durch sie alsbald enttäuscht. Sie scheinen mit einer eigentümlichen Unbestimmtheit behaftet, die sie nicht zu überwinden vermögen. Auch hier läßt sich das Besondere dem Allgemeinen in irgendeiner Weise einordnen; aber es läßt sich ihm nicht in derselben Weise unterordnen. Ich begnüge mich damit, auch diesen Sachverhalt an einem einzelnen konkreten Beispiel zu verdeutlichen. Jacob Burckhardt hat in seiner »Kultur der Renaissance« eine klassische Schilderung des »Renaissance-Menschen« gegeben. Sie enthält Züge, die uns allen wohlbekannt sind. Der Renaissance-Mensch besitzt bestimmte charakteristische Eigenschaften, die ihn deutlich vom »mittelalterlichen Menschen« scheiden. Er ist durch seine Sinnenfreude, seine Hinwendung zur Natur, seine Verwurzelung im »Diesseits«, seine Aufgeschlossenheit für die Welt der Form, seinen Individualismus, seinen Paganismus, seinen Amoralismus gekennzeichnet. Die empirische Forschung ist auf die Suche nach diesem burckhardtschen »Renaissance-Menschen« gegangen – aber sie hat ihn nicht gefunden. Es ließ sich kein einziges historisches Individuum angeben, das in sich wirklich all die Züge vereint, die Burckhardt als die konstitutiven Elemente seines Bildes betrachtet. »Versucht man« – so sagt Ernst Walser in seinen »Studien zur Weltanschauung der Renaissance« – »das Leben und Denken der führenden Persönlichkeiten des Quattrocento, eines Coluccio Salutati, Poggio Bracciolini, Leonardo Bruni, Lorenzo Valla, Lorenzo Magnifico oder Luigi Pulci rein induktiv zu betrachten, so ergibt sich regelmäßig, daß gerade für die studierte Person die aufgestellten Merkmale absolut nicht passen. Versucht man die bisher bloß einzeln zusammengefügten ›charakteristischen Merkmale‹ in ihrem engen Zusammenhange mit dem Lebenslaufe des geschilderten Mannes und vor allem aus dem breiten Strome des ganzen Zeitalters zu begreifen, so erhalten sie regelmäßig ein ganz anderes Aussehen. Und hält man die Resultate induktiver Forschung zusammen, so steigt allmählich ein neues Bild der Renaissance empor, nicht weniger gemischt aus Fromm und Unfromm, Gut und Böse, Himmelssehnsucht und Erdenlust, aber unendlich viel komplizierter. Das Leben und Streben der ganzen Renaissance läßt sich nicht aus einem Prinzip, dem Individualismus und Sensualismus ableiten, gerade so wenig wie die vielgerühmte Einheitskultur des Mittelalters.« Ernst Walser, Studien zur Weltanschauung der Renaissance, jetzt in: Gesammelte Studien zur Geistesgeschichte der Renaissance, 1920, Basel 1932, S. 102.
Ich stimme diesen Sätzen Walsers vollständig zu. Jeder, der sich einmal um die konkrete Erforschung der Geschichte, der Literatur, der Kunst, der Philosophie der Renaissance bemüht hat, wird sie aus eigener Erfahrung bestätigen und mannigfach belegen können. Aber ist damit der Burckhardtsche Begriff widerlegt? Sollen wir ihn, im Sinne der Logik, gewissermaßen als eine Null-Klasse betrachten – als eine Klasse, unter die kein einziger Gegenstand fällt? Das wäre nur dann notwendig, wenn es sich hier um einen jener Gattungsbegriffe handelte, die durch empirische Vergleichung der Einzelfälle, durch das, was man gemeinhin »Induktion« nennt, gewonnen werden. An diesem Maße gemessen, könnte in der Tat Burckhardts Begriff die Probe nicht bestehen. Aber eben diese Voraussetzung ist es, die der logischen Korrektur bedarf. Sicher hat Burckhardt seine Darstellung des Renaissancemenschen nicht anders geben können als dadurch, daß er sich für sie auf ein gewaltiges Tatsachenmaterial stützte. Die Fülle dieses Materials und seine Zuverlässigkeit setzt uns, wenn wir sein Werk studieren, immer wieder in Erstaunen. Aber die Art der »Zusammenschau«, die er vollzieht, die historische Synthesis, die er gibt, ist prinzipiell von ganz anderer Art als bei den empirisch gewonnenen Naturbegriffen. Wenn wir hier von »Abstraktion« sprechen wollen, so handelt es sich um jenen Prozeß, den Husserl als »ideirende Abstraktion« bezeichnet hat. Daß die Ergebnisse einer solchen »ideirenden Abstraktion« jemals mit irgendeinem konkreten Einzelfall zur Deckung gebracht werden können: dies kann weder erwartet noch verlangt werden. Und auch die »Subsumtion« kann hier nie in der gleichen Weise vorgenommen werden, wie wir einen hier und jetzt gegebenen Körper, ein Stück Metall, unter den Begriff des Goldes subsumieren, wobei wir finden, daß er alle uns bekannten Bedingungen des Goldes erfüllt. Wenn wir Leonardo da Vinci und Aretino, Marsiglio Ficino und Macchiavell, Michelangelo und Cesare Borgia als »Renaissance-Menschen« bezeichnen, so wollen wir damit nicht sagen, daß sich in ihnen allen ein bestimmtes, inhaltlich fixiertes Einzelmerkmal finden läßt, in dem sie übereinstimmen. Wir werden sie nicht nur als durchaus verschieden, sondern auch als gegensätzlich empfinden. Was wir von ihnen behaupten, ist nur dies, daß sie ungeachtet dieser Gegensätzlichkeit, ja vielleicht gerade durch sie, in einem bestimmten ideellen Zusammenhang miteinander stehen; daß jeder von ihnen in seiner Weise am Aufbau dessen mitwirkt, was wir den »Geist« der Renaissance oder die Kultur der Renaissance nennen. Es ist eine Einheit der Richtung, nicht eine Einheit des Seins, die damit zum Ausdruck gebracht werden soll. Die einzelnen Individuen gehören zusammen – nicht weil sie einander gleichen oder ähnlich sind, sondern weil sie an einer gemeinsamen Aufgabe mitwirken, die wir gegenüber dem Mittelalter als neu, und wir als den eigentümlichen »Sinn« der Renaissance empfinden. Alle echten Stilbegriffe der Kulturwissenschaften führen, schärfer analysiert, auf solche Sinnbegriffe zurück. Der künstlerische Stil einer Epoche läßt sich nicht bestimmen, wenn man nicht alle ihre verschiedenartigen und oft scheinbar disparaten künstlerischen Äußerungen dadurch zu einer Einheit zusammen sieht, daß man sie, um den Rieglschen Ausdruck zu gebrauchen, als Äußerungen eines bestimmten »Kunstwollens« versteht Vgl. Alois Riegl, Stilfragen (1893) und Spätrömische Kunstindustrie (1901).. Derartige Begriffe charakterisieren zwar, aber sie determinieren nicht: das Besondere, was unter sie fällt, läßt sich aus ihnen nicht ableiten. Aber es ist ebensowenig richtig, was man hieraus folgert, daß hier eben nur noch anschauliche Beschreibung, nicht aber begriffliche Kennzeichnung vorliegt; es handelt sich vielmehr um eine eigentümliche Weise und Richtung dieser Kennzeichnung, um eine logisch-geistige Arbeit sui generis.
Wir halten an diesem Punkte inne, um zunächst noch einmal auf frühere Betrachtungen zurückzublicken. Das Ergebnis der logischen Analyse der Stilbegriffe erhält seine volle Bedeutung erst, wenn wir es mit dem Ergebnis der phänomenologischen Analyse vergleichen. Hier zeigt sich für uns nicht nur ein Parallelismus, sondern eine echte Wechselbestimmung. Der Unterschied zwischen den Form- und Stilbegriffen auf der einen Seite, den Dingbegriffen auf der anderen Seite drückt in rein logischer Sprache eben jene Differenz aus, die uns früher in der Wahrnehmungsstruktur entgegentrat. Er ist gewissermaßen die logische Übersetzung eines bestimmten Richtungsgegensatzes, der als solcher nicht erst im Reich der Begriffe auftritt, sondern dessen Wurzel sich in das Erdreich der Wahrnehmung herabsenkt. Der Begriff spricht hier »diskursiv« aus, was die Wahrnehmung in der Form einer rein »intuitiven« Erkenntnis enthält. Die »Wirklichkeit«, die wir in der Wahrnehmung und in der unmittelbaren Anschauung erfassen, gibt sich uns als ein Ganzes, in dem es nirgends schroffe Trennungen gibt. Und doch ist sie »eins und doppelt«; denn wir erfassen sie auf der einen Seite als dingliche, auf der anderen Seite als »personale« Wirklichkeit. Eine der ersten Aufgaben jeder Kritik der Erkenntnis besteht darin, sich die logische Konstitution jeder dieser beiden Grundformen des Erlebens deutlich zu machen. Für die Dingwelt, für das, was wir die »physische« Wirklichkeit nennen, hat Kant diese Frage kurz und prägnant beantwortet. Was mit den materiellen Bedingungen der Erfahrung, was mit Empfindung nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängt, ist wirklich. Die Wirklichkeit im physikalischen Sinne geht keineswegs in der Empfindung auf. Sie ist nicht an das bloße Hier und Jetzt gebunden. Sie stellt dieses Hier und Jetzt in einen allgemeinen systematischen Zusammenhang; sie fügt es dem System des Raumes und der Zeit ein. Alle begriffliche Bearbeitung, die die Wissenschaft an der »Materie« der Empfindung vornimmt, dient zuletzt diesem einen Ziele. Diese Arbeit ist im Laufe der Entwicklung der Wissenschaft immer reicher und vielfältiger geworden; und sie stellt sich der logischen Analyse, die ihren Weg im einzelnen zu verfolgen sucht, als immer subtiler heraus. Aber sie läßt sich, sofern eine schematische Vereinfachung erlaubt ist, im wesentlichen auf zwei Grundmomente zurückführen. Eigenschafts-Konstanz und Gesetzes-Konstanz sind die beiden wesentlichen Züge der physischen Welt. Wenn wir von einem »Kosmos« sprechen können, so heißt dies, daß wir den heraklitischen Fluß des Werdens in irgendeiner Weise zum Stehen bringen, daß wir aus ihm bleibende Bestimmtheiten herauszuheben vermögen. Dieser Übergang tritt nicht erst dort ein, wo die philosophische und wissenschaftliche Theorie mit ihren selbständigen Ansprüchen hervortritt. Die Tendenz zu dieser »Verfestigung« ist vielmehr schon der Wahrnehmung selbst eigen – und ohne sie könnte sie niemals zur Wahrnehmung von »Dingen« werden. Schon die Perzeption, schon das Sehen, Hören, Tasten vollzieht hier den ersten Schritt, den alle Begriffsbildung voraussetzen und an den sie anknüpfen muß. Denn schon hier vollzieht sich jener Ausleseprozeß, kraft dessen wir die »wirkliche« Farbe eines Gegenstandes von seiner scheinbaren Farbe, seine wahre Größe von seiner scheinbaren Größe unterscheiden. Die moderne Psychologie und Physiologie der Sinneswahrnehmung hat diesen Prozeß in helles Licht gerückt und ihn nach allen Seiten hin verfolgt. Das Problem der Wahrnehmungskonstanz bildet eines ihrer wichtigsten und erkenntnistheoretisch fruchtbarsten Probleme. Denn von hier aus läßt sich eine Brücke schlagen, die die Wahrnehmungserkenntnis mit den höchsten Begriffsbildungen der exakten Wissenschaft, insbesondere mit dem mathematischen Gruppenbegriff, verknüpft. Die Wissenschaft unterscheidet sich hier – in freilich höchst bedeutsamer Art – nur darin von der Wahrnehmung, daß sie eine strenge Bestimmung verlangt, wo diese sich bei einer bloßen Schätzung begnügt Näheres hierüber in meinem Aufsatz: Le concept de groupe et la théorie de la perception, Journal de Psychologie, 1938, p. 368-414.. Hierzu bedarf es der Ausbildung eigener und neuer Methoden. Sie bestimmt das »Wesen« des Dinges in reinen Zahlbegriffen, in den physikalischen und chemischen Konstanten, die für jede Dingklasse charakteristisch sind. Und sie stellt den Zusammenhang dadurch her, daß sie diese Konstanten durch feste funktionale Beziehungen verknüpft, durch Gleichungen, die uns zeigen, wie die einen Größen von den anderen abhängen. Damit erst haben wir das feste Gerüst der »objektiven« Wirklichkeit gewonnen; die eine, gemeinsame Dingwelt ist konstituiert. Aber dieses Ergebnis muß freilich mit einem Opfer erkauft werden. Diese Dingwelt ist radikal entseelt; alles, was irgendwie an das »persönliche« Erleben des Ich erinnert, ist nicht nur zurückgedrängt, sondern es ist beseitigt und ausgelöscht.
In diesem Bild der Natur kann daher die menschliche Kultur keine Stätte und keine Heimat finden. Dennoch ist die Kultur gleichfalls eine »intersubjektive Welt«; eine Welt, die nicht in »mir« besteht, sondern die allen Subjekten zugänglich sein und an der sie alle teilhaben sollen. Aber die Form dieser Teilhabe ist eine völlig andere als in der physischen Welt. Statt sich auf denselben raum-zeitlichen Kosmos von Dingen zu beziehen, finden und vereinigen sich die Subjekte in einem gemeinsamen Tun. Indem sie dieses Tun miteinander vollziehen, erkennen sie einander und wissen sie voneinander im Medium der verschiedenen Formwelten, aus denen sich die Kultur aufbaut. Den ersten und entscheidenden Schritt, den Schritt, der vom »Ich« zum »Du« hinüberführt, muß auch hier die Wahrnehmung tun. Aber das passive Ausdruckserlebnis genügt hierfür so wenig, wie die bloße Empfindung, die einfache »Impression«, zur objektiven Erkenntnis genügt. Die wahre »Synthesis« kommt erst in jenem aktiven Austausch zustande, den wir, in typischer Form, in jeder sprachlichen »Verständigung« vor uns sehen. Die Konstanz, deren wir hierfür bedürfen, ist nicht die von Eigenschaften oder Gesetzen, sondern von Bedeutungen. Je weiter die Kultur sich entwickelt und in je mehr Einzelgebiete sie sich auseinanderlegt, um so reicher und vielfältiger gestaltet sich diese Welt der Bedeutungen. Wir leben in den Worten der Sprache, in den Gestalten der Poesie und der bildenden Kunst, in den Formen der Musik, in den Gebilden der religiösen Vorstellung und des religiösen Glaubens. Und nur hierin »wissen« wir voneinander. Dieses intuitive Wissen hat noch nicht den Charakter der »Wissenschaft«. Wir verstehen einander im Sprechen, ohne hierfür der Sprachwissenschaft oder Grammatik zu bedürfen; und das »natürliche« künstlerische Gefühl bedarf keiner Kunstgeschichte und keiner Stilistik. Aber dieses »natürliche« Verstehen gelangt bald an seine Grenze. Sowenig die einfache Sinneswahrnehmung in die Tiefen des Weltraumes eindringen kann, sowenig gelangen wir mit den Elementen der Intuition in die Tiefe der Kultur. In dem einen wie in dem anderen Fall ist uns nur die Nähe erfaßbar; die Ferne verliert sich in Dunkel und Nebel. Hier greift das Bestreben und die Leistung der Wissenschaft ein. Die Naturwissenschaft wird der Ferne Herr, indem sie sich zur Erkenntnis allgemeiner Gesetze erhebt, für die es keinen Unterschied der Nähe und Ferne gibt. Sie beginnt mit Beobachtungen, die wir in unserem nächsten Kreis anstellen können, sie geht von den Regeln aus, die sie am freien Fall der Körper vorfindet; aber sie erweitert diese Entdeckung zu dem allgemeinen Gesetz der Gravitation, das sich auf das Ganze des Weltraums erstreckt. Diese Form der Allgemeinheit ist der Kulturwissenschaft nicht erreichbar. Dem Anthropomorphismus und Anthropozentrismus kann sie nicht entsagen. Ihr Gegenstand ist nicht die Welt als solche, sondern nur ein einzelner Umkreis von ihr, der, vom rein räumlichen Standpunkt aus, als verschwindend-klein erscheint. Aber wenn sie bei der Menschenwelt stehenbleibt und damit innerhalb der Grenzen des engen Erdendaseins gefangen bleibt, so strebt sie um so mehr danach, diesen ihr zugewiesenen Bereich vollständig zu durchmessen. Ihr Ziel ist nicht die Universalität der Gesetze; aber ebensowenig ist es die Individualität der Tatsachen und Phänomene. Gegenüber beiden stellt sie ein eigenes Erkenntnisideal auf. Was sie erkennen will, ist die Totalität der Formen, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Diese Formen sind unendlich-differenziert, und doch entbehren sie nicht der einheitlichen Struktur. Denn es ist letzten Endes »derselbe« Mensch, der uns in tausend Offenbarungen und in tausend Masken in der Entwicklung der Kultur immer wieder entgegentritt. Dieser Identität werden wir uns nicht beobachtend, wägend und messend bewußt; und ebensowenig erschließen wir sie aus psychologischen Induktionen. Sie kann sich nicht anders als durch die Tat beweisen. Eine Kultur wird uns nur zugänglich, indem wir aktiv in sie eingehen; und dieses Eingehen ist nicht an die unmittelbare Gegenwart gebunden. Die Zeitunterschiede, die Unterschiede des Früher und Später, relativieren sich hier ebenso, wie sich in der Auffassung der Physik und Astronomie die räumlichen Unterschiede, die Unterschiede des Hier und Dort relativieren.
Für beide Leistungen bedarf es einer höchst subtilen und komplizierten begrifflichen Vermittlung. Sie wird in dem einen Fall durch Dingbegriffe und Gesetzesbegriffe, in dem anderen Fall durch Formbegriffe und Stilbegriffe geleistet. Die geschichtliche Erkenntnis geht als unentbehrliches Moment in diesen Prozeß ein; aber sie ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel. Die Aufgabe der Geschichte besteht nicht lediglich darin, daß sie uns vergangenes Sein und Leben kennen lehrt, sondern daß sie es uns deuten lehrt. Alles bloße Wissen vom Vergangenen bliebe für uns ein »totes Bild auf einer Tafel«, wenn keine anderen Kräfte als die des reproduktiven Gedächtnisses an ihm betätigt wären. Was das Gedächtnis an Tatsachen und Vorgängen aufbewahrt, das wird zur historischen Erinnerung erst dadurch, daß wir es in unser Inneres einbeziehen und es in dasselbe zu verwandeln vermögen. Ranke hat gesagt, daß die eigentliche Aufgabe des Historikers darin bestehe, zu beschreiben, »wie es eigentlich gewesen«. Aber auch wenn man dieses Wort annimmt, so bleibt es dabei, daß das »Gewesene«, wenn es in den Blickpunkt der Geschichte rückt, eine neue Bedeutung gewinnt. Geschichte ist nicht einfach Chronologie, und die historische Zeit ist nicht die objektiv-physikalische Zeit. Das Vergangene ist für den Historiker nicht im selben Sinne vorüber wie für den Naturforscher; es besitzt und behält eine eigentümliche Gegenwart. Der Geologe mag uns von einer vergangenen Gestalt der Erde berichten; der Paläontologe mag uns von ausgestorbenen organischen Formen erzählen. All dies »war« einmal, und es läßt sich in seinem Dasein und So-Sein nicht erneuern. Die Geschichte aber will niemals bloß vergangenes Sein vor uns hinstellen; sie will uns vergangenes Leben verstehen lehren. Den Inhalt dieses Lebens vermag sie nicht zu erneuern; aber sie versucht seine reine Form zu bewahren. Die Fülle der verschiedenen Form- und Stilbegriffe, die die Kulturwissenschaften ausprägen, dient zuletzt dieser einen Aufgabe: nur durch sie ist die Wiederbelebung, die »Palingenesie« der Kultur möglich. Was uns tatsächlich von der Vergangenheit aufbewahrt ist, sind bestimmte historische Denkmäler. »Monumente« in Wort und Schrift, in Bild und Erz. Zur Geschichte wird dies für uns erst, indem wir in diesen Monumenten Symbole sehen, an denen wir bestimmte Lebensformen nicht nur zu erkennen, sondern kraft deren wir sie für uns wiederherzustellen vermögen.
Eine Theorie, die für die logische Autonomie der Stilbegriffe eintritt, sieht sich vor allem den Angriffen gegenüber, die der Naturalismus des 19. Jahrhunderts gegen diese Autonomie erhoben hat. Der scharfsinnigste und konsequenteste Versuch, jede Eigenart der Stilbegriffe zu bestreiten, ist von Hippolyte Taine unternommen worden. Er ist um so bestechender, als Taine nicht bei der bloßen Theorie stehengeblieben ist, sondern unmittelbar darangegangen ist, sie in die Tat umzusetzen. In seiner »Philosophie de l'art« und in seiner Geschichte der englischen Literatur hat er seine These in glänzender Weise durchgeführt. An einem Material, das fast alle großen Epochen der Kunst- und Literaturgeschichte umfaßt, wollte er den Beweis dafür erbringen, daß Literatur- und Kunstwissenschaft nur dann in wahrhaft wissenschaftlicher Weise behandelt werden können, wenn sie auf jede Sonderstellung verzichten. Statt sich in irgendeiner Hinsicht von der Naturwissenschaft unterscheiden zu wollen, müssen sie völlig in dieser aufgehen. Denn alles wissenschaftliche Erkennen ist ursächliches Erkennen: und so wahr es nicht zwei Reihen von Ursachen gibt, die »geistigen« und die »natürlichen«, so wahr kann es auch keine »Geisteswissenschaft« neben der »Naturwissenschaft« geben. »Die moderne Methode, der ich zu folgen versuche« – so erklärt Taine – »und die jetzt in allen Kulturwissenschaften (sciences morales) herrschend zu werden beginnt, besteht darin, die menschlichen Werke, und insbesondere die Kunstwerke, als Tatsachen und Erzeugnisse anzusehen, deren Kennzeichen man angeben und deren Ursachen man erforschen muß: nichts mehr. Die Wissenschaft verwirft weder, noch verzeiht sie; sie stellt fest und sie erklärt … Sie verfährt wie die Botanik, die mit dem gleichen Interesse den Orangenbaum und den Lorbeer, die Fichte und die Birke studiert. Sie ist selbst eine Art von Botanik, die sich jedoch nicht auf Pflanzen, sondern auf menschliche Werke bezieht. In dieser Hinsicht folgt sie der allgemeinen Bewegung, die heute die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften annähert, und die den ersteren, indem sie ihnen die Prinzipien und die kritischen Richtlinien der letzteren gibt, dieselbe Sicherheit mitteilt und denselben Fortschritt sichert.« Taine, Philosophie de l'art, Première partie, ch. 1, § 1.
Es ist bekannt, in welcher Weise Taine die Aufgabe, die er sich hier gestellt hat, zu lösen versucht hat. Wenn die Reduktion der Kulturwissenschaft auf die Naturwissenschaft gelingen soll, so muß vor allem versucht werden, der verwirrenden Vielheit des Kulturgeschehens Herr zu werden. In der Sprache, in der Kunst, in der Religion, im staatlichen und gesellschaftlichen Leben vermag unser Blick anfangs nichts anderes zu sehen als eine bunte Mannigfaltigkeit und einen steten Wechsel einzelner Gestaltungen. Keine ist der anderen gleich, und keine kehrt jemals in derselben Weise wieder. Aber wir dürfen uns von dieser bunten Fülle nicht verwirren und nicht blenden lassen. Das Wissen muß auch hier den Weg gehen, den es in den Naturwissenschaften gegangen ist. Es muß die Tatsachen auf Gesetze, die Gesetze auf Prinzipien zurückführen. Dann verschwindet der Schein der Vielfalt; es tritt eine Gleichförmigkeit und eine Einfalt hervor, die mit der der exakten Naturwissenschaft wetteifern kann. Im geistigen wie im physischen Geschehen treffen wir zuletzt auf bestimmte konstante Faktoren, auf Grundkräfte, die stets in derselben Weise wirksam sind. »Es gibt eine Reihe großer, allgemeiner Ursachen, und die allgemeine Struktur der Dinge und die großen Züge der Ereignisse sind ihr Werk. Die Religionen, die Philosophie, die Dichtung, die Industrie und Technik, die Formen der Gesellschaft und der Familie sind schließlich nichts anderes als das Gepräge, das den Geschehnissen durch diese allgemeine Ursache gegeben worden ist.« Taine, Histoire de la littérature anglaise. Introduction.
Es soll hier nicht gefragt werden, wieweit Taine den inhaltlichen Beweis für diese seine Grundthese, für die These des strengen Determinismus erbracht hat Zu dieser Frage vgl. meine Abhandlung: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, Göteborgs Kungl. Vetenskaps- och Vitterhets-Samhälles Handlingar, 5e följden, Ser. A., Band 7, No. 3, Göteborg 1939.. Hier handelt es sich für uns nur um die logische Seite des Problems: um die Begriffe, die Taine zugrunde legt, und um die Methode, die er in seiner Deutung der Kulturphänomene zur Geltung bringt. Wollte er seinem Prinzip treu bleiben, so mußte er darauf bedacht sein, die »Kulturbegriffe« aus den »Naturbegriffen« zu entwickeln. Er mußte zeigen, wie die einen sich unmittelbar an die anderen anschließen und aus ihnen hervorgehen. Und eben dies war offenbar das Ziel, das er erreicht zu haben glaubte, als er seine berühmte Trias der kulturwissenschaftlichen Erklärungsgründe aufstellte. Diese Erklärungsgründe: die Begriffe von Rasse, Milieu, Moment, schienen in keiner Hinsicht den Kreis dessen zu überschreiten, was wir mit rein naturwissenschaftlichen Mitteln feststellen können. Und doch enthalten sie auf der anderen Seite im Keime all das in sich, was wir zur Ableitung selbst der kompliziertesten kulturwissenschaftlichen Phänomene bedürfen. Sie erfüllen die doppelte Bedingung, daß sich in ihnen ein ganz einfacher und unbestreitbarer Tatbestand darstellt, der zugleich einer außerordentlichen Variation fähig ist, der in den mannigfachsten Anwendungsfällen gleichartig wiederkehrt. Man muß immer wieder die Kunst bewundern, mit der Taine in seinen konkreten Einzelschilderungen das starre Schema, das er zugrunde legt, belebt und mit anschaulichem Gehalt erfüllt hat. Fragt man jedoch, wie ihm diese Leistung gelungen ist, so ergibt sich ein sehr merkwürdiger und methodisch komplizierter Sachverhalt. Denn unvermerkt werden wir hier stets an einen Punkt geführt, an dem die Erklärungsweise Taines gewissermaßen dialektisch in ihr eigenes Gegenteil umschlägt. Wir verdeutlichen dies an einem Einzelbeispiel: an seiner Darstellung der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Seiner Maxime getreu beginnt Taine hier mit den »allgemeinen« Ursachen. Holland ist das Land der Anschwemmungen; es ist hervorgegangen aus den Ablagerungen, die die großen Flüsse mit sich führen und an ihren Mündungen absetzen. Mit diesem einen Zuge ist der Grundcharakter des Landes und seiner Bewohner gegeben. Wir sehen das Klima und die Atmosphäre vor uns, in der der niederländische Mensch aufgewachsen ist, und wir begreifen, wie diese Atmosphäre alle seine physischen und seine sittlich-geistigen Eigenschaften bestimmen mußte. Die niederländische Kunst ist nichts als der natürliche und notwendige Ausdruck und Abdruck eben dieser Eigenschaften. Auf diese Weise läßt sich der spekulativ-idealistischen Ästhetik eine materialistische und naturalistische Ästhetik – der »Ästhetik von oben« eine »Ästhetik von unten« entgegensetzen. Die begriffliche Strenge würde hierbei erfordern, daß wir schrittweise vorgehen. Die Kontinuität in der Reihe der Ursachen darf nicht unterbrochen werden. Nirgends darf es einen plötzlichen Sprung vom »Physischen« zum »Geistigen« geben. Von der anorganischen Welt müssen wir zur organischen Welt, von der Physik zur Biologie, von dieser zur speziellen Anthropologie fortschreiten. Damit aber stehen wir am Ziele; denn sobald wir den Menschen als das, was er ist, erkannt haben, haben wir auch seine Leistung verstanden.
Dieses Programm lautet in jeder Hinsicht verheißungsvoll – aber hat Taine es wirklich durchgeführt? Ist er allmählich von der Physik zur Botanik und Zoologie, zur Anatomie und Physiologie aufgestiegen, um mit der Psychologie und Charakterologie zu enden und hieraus schließlich die besonderen Kulturphänomene zu erklären? Wenn man näher zusieht, so findet man, daß dies keineswegs der Fall ist. Taine beginnt damit, die Sprache des Naturforschers zu sprechen; aber man spürt, daß er in dieser Sprache nicht heimisch ist. Je weiter er fortschreitet, und je mehr er sich den eigentlichen konkreten Problemen nähert, um so mehr sieht er sich genötigt, in einer anderen Begriffssprache zu denken und zu reden. Er geht von naturwissenschaftlichen Begriffen und Termini aus, aber im Verlaufe seiner Arbeit unterliegen beide einem eigentümlichen Bedeutungswandel. Wenn Taine von der griechischen, der italienischen, der niederländischen Landschaft spricht, so müßte er, wenn er seiner Methode treu bleiben wollte, diese Landschaft nach ihren »physischen« Merkmalen, also als Geologe oder Geograph, beschreiben. Und an Ansätzen hierzu fehlt es, wie wir gesehen haben, in der Tat nicht. Aber bald begegnen wir einer ganz anderen Charakteristik, die man im Gegensatz zur physischen eine »physiognomische« Charakteristik nennen könnte. Die Landschaft ist düster oder heiter, streng oder lieblich, zart oder erhaben. Dies alles sind offenbar keine Merkmale, die sich auf dem Wege naturwissenschaftlicher Beobachtung feststellen lassen, sondern es sind reine Ausdrucks-Charaktere. Und nur kraft ihrer gelingt es Taine, die Brücke zu schlagen, die ihn zur Welt der griechischen, der italienischen, der niederländischen Kunst hinüberführt.
Mit besonderer Deutlichkeit tritt dieser Sachverhalt hervor, sobald Taine sich dem eigentlichen anthropologischen Problem nähert. Seine These verlangt, daß er jeder großen Kulturepoche einen bestimmten Menschentypus zuordnet und sie aus ihm ableitet. Er müßte demnach zeigen, daß der Grieche kraft seiner Rasse und der physischen Einzelbestimmungen, die aus ihr folgen, zum Schöpfer der Homerischen Gedichte und des Parthenon-Frieses, der Engländer zum Schöpfer des elisabethanischen Dramas, der Italiener zum Schöpfer der Divina Commedia oder der Sixtinischen Kapelle werden mußte. Aber all solchen fragwürdigen Konstruktionen ist Taine aus dem Wege gegangen. Auch hier wendet er sich nach einem kurzen Versuch, die Sprache der naturwissenschaftlichen Begriffe zu sprechen, rasch entschlossen der Ausdrucks-Sprache zu. Statt sich auf die Anatomie oder Physiologie zu stützen, vertraut er sich einer ganz anderen Erkenntnisweise an. Vom Standpunkt der Logik mag dies als ein Rückfall und als ein Widerspruch erscheinen; aber vom Standpunkt seiner eigentlichen Aufgabe ist es ein entschiedener Gewinn. Denn erst hierdurch gewinnt das trockene logische Schema – das Schema von Rasse, Milieu, Moment – Farbe und Leben. Das Individuum tritt nicht nur in seine Rechte; sondern es wird geradezu als der Mittelpunkt aller kulturgeschichtlichen Betrachtung erklärt. »Rien n'existe que par l'individu; c'est l'individu lui-même qu'il faut connaître.« Nur von ihm aus erschließt sich die Eigenart des künstlerischen, des sozialen, des religiösen Lebens einer Epoche. »Ein Dogma ist nichts an sich selbst; um es zu verstehen, blickt auf die Menschen hin, die es gemacht haben, auf dieses oder jenes Porträt des 16. Jahrhunderts, auf das harte und energische Gesicht eines Erzbischofs oder eines englischen Märtyrers. Die wirkliche Geschichte erhebt sich vor uns erst, wenn der Historiker dazu gelangt, über den Abstand der Zeiten hinweg, den lebendigen Menschen vor uns hinzustellen … mit seiner Stimme und seiner Physiognomie, mit seinen Gesten und Kleidern.« Taine, Historie de la litt. anglaise, Introd.
Aber woher nehmen wir diese konkrete Menschenkenntnis, die nach Taine das A und O aller kulturgeschichtlichen Arbeit ist? Wir wollen Taine seinen Hauptsatz, daß alle Kultur das Werk des Menschen ist, und daß daher mit der Einsicht in die Natur des Menschen alles andere vollständig bestimmt ist, ohne weiteres zugeben. Kant, der einer der radikalsten Vertreter des Freiheitsgedankens ist, den es in der Geschichte der Philosophie gibt, hat nichtsdestoweniger gesagt, daß wir, wenn wir den empirischen Charakter eines Menschen vollständig kennen würden, alle seine künftigen Handlungen mit derselben Sicherheit voraussagen könnten, wie der Astronom eine Sonnen- oder Mondesfinsternis voraussagt. Wenden wir dies vom Individuellen ins Allgemeine, so läßt sich behaupten, daß, sobald wir einmal den Charakter des Niederländers des 17. Jahrhunderts kennen, damit alles andere gegeben ist. Wir können aus dieser Erkenntnis alle Kulturgestaltungen deduzieren: wir begreifen, daß und warum es in den Niederlanden in dieser Epoche zu einer Umformung des staatlichen und religiösen Lebens, zu einem großen wirtschaftlichen Aufschwung, zum Erwachen der Denkfreiheit, zu einer Blüte des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens gekommen ist. Aber selbst die vollständige Einsicht in diesen realen Zusammenhang von Ursache und Wirkung würde uns unsere logische Hauptfrage noch nicht beantworten. Denn die Logik fragt nicht nach den Realgründen des Geschehens, sondern nach den Erkenntnisgründen. Für sie lautet also die eigentliche Hauptfrage, welche Erkenntnisart es ist, der wir unser Wissen vom Menschen, als dem Träger und Schöpfer der Kultur, zu verdanken haben. Und hier zeigt sich uns, bei Taine selbst und mitten in seiner eigenen Darstellung, eine höchst merkwürdige Wendung. Taine hat seine Kenntnis vom Griechen der klassischen Zeit, vom Engländer der Renaissance, vom Niederländer des 17. Jahrhunderts nicht lediglich aus historischen Archiven geschöpft. Und ebensowenig stützt er sich hierfür auf naturwissenschaftliche Beobachtungen und Schlußfolgerungen oder auf das, was ihn das psychologische Laboratorium lehren konnte. Denn mit alledem würden wir, wie er betont, nur zu Einzelzügen kommen, uns aber kein wirkliches Gesamtbild vom Menschen formen können. Worauf gründet sich also dieses Gesamtbild, das Taine in solcher Anschaulichkeit vor uns hinstellt, und auf das er immer wieder als auf den eigentlichen Erklärungsgrund zurückgreift? Um nicht den Anschein zu erwecken, daß wir hier irgend etwas in Taines Theorie hineinlegen, wollen wir diese Frage mit seinen eigenen Worten beantworten. Woher – so fragt er sich – haben wir eine so genaue Kenntnis der Vlamen des 17. Jahrhunderts, daß wir fast den Eindruck haben, wir hätten mitten unter ihnen gelebt? Was ist es, das sie uns so unmittelbar vertraut macht? Und die Antwort auf diese Frage lautet, daß kein anderer als – Rubens diese Vlamen zuerst so gesehen hat, wie wir sie heute sehen, und daß sich durch ihn ihr Bild unverlöschlich in uns eingeprägt hat. Aber Taine geht hier noch einen Schritt weiter. Er sagt uns nicht nur, daß Rubens diesen Typus des Vlamen vorgefunden und in seiner Kunst festgehalten, sondern daß er ihn geschaffen hat. Aus unmittelbarer Naturbeobachtung konnte er ihn nicht entnehmen, und aus einfacher empirischer Vergleichung konnte er ihn nicht gewinnen. Denn kein »wirklicher« Niederländer enthält das, was Rubens geben wollte und was er uns gegeben hat. »Geht nach Flandern« – so sagt uns Taine –; »seht euch die Typen dort, in den Momenten der Freude und des Wohllebens, bei den Festen in Gent oder Antwerpen an. Ihr werdet gute Leute sehen, die gut essen und noch besser trinken, die mit großer Heiterkeit und Gemütsruhe ihre Pfeife rauchen, phlegmatisch, verständig, von trockenem Aussehen, mit großen, unregelmäßigen Zügen, ähnlich den Gestalten, die Teniers gemalt hat. Was die strotzenden Kraftgestalten betrifft, die wir in Rubens' Kirmes vor uns sehen – so werdet ihr nichts dergleichen finden. Rubens hat sie aus einer anderen Quelle geschöpft. Das Vorbild zu ihnen liegt in ihm selbst. Er fühlte in sich die Poesie des großen, üppigen Lebens, der überschäumenden, hemmungslosen und schamlosen Sinnenlust, der brutalen Freude, die sich in gigantischen Ausmaßen entfaltet. Um dieses Gefühl auszudrücken … hat er uns in seiner Kirmes den erstaunlichsten Triumph menschlicher Bestialität gemalt, den jemals der Pinsel eines Malers uns dargestellt hat. Wenn der Künstler das Verhältnis der Teile des menschlichen Körpers in seiner Wiedergabe verändert, so verändert er sie stets in ein und demselben Sinne und mit einer bestimmten Absicht. Er will damit einen wesentlichen Charakter ( caractère essentiel) des Gegenstandes und die Hauptidee ( idée principale), die er sich von ihm gebildet hat, sichtbar machen. Achten wir auf dieses Wort! Dieser Charakter ist das, was die Philosophen das Wesen der Dinge (l'essence des choses) nennen. Wir wollen indes hier von der Bezeichnung: ›Wesen‹, die ein Terminus technicus ist, absehen. Wir werden statt dessen einfach sagen, daß die Aufgabe der Kunst darin besteht, den Grundcharakter des Gegenstandes, irgendeine hervorstechende und bemerkenswerte Eigenschaft, einen wichtigen Gesichtspunkt, einen Hauptzug an ihm zu offenbaren.« (L'art a pour but de manifester le caractère capital, quelque qualité saillante et notable, un point de vue important, une manière d'être principale de l'objet Taine, Philosophie de l'art, Prem. partie, Ch. i, § V..)
Alle diese Umschreibungen des Objekts der Kunst bleiben im Grunde ebenso viele Rätsel, wenn man an den Ausgangspunkt der Taineschen Theorie denkt. Denn durch welches Mittel soll denn bestimmt werden, worin das »Wesen« eines bestimmten anschaulichen Gegenstandes, sein »hervorstechender Charakter«, seine hauptsächliche Eigenschaft besteht? Die unmittelbar empirische Beobachtung läßt uns hier offenbar im Stich. Denn alles, was sie uns an Merkmalen bietet, steht, von ihrem Standpunkt aus gesehen, auf gleicher Linie: kein Merkmal besitzt vor dem anderen einen Wesens- oder Wertvorzug. Ebenso ist klar, daß statistische Methoden uns hier nicht weiterhelfen können. Das Bild des Niederländers, das Rubens in seinen Gemälden gibt, ist ja nach Taine selbst keineswegs als bloßes Durchschnittsbild anzusehen, das aus Hunderten von Einzelbeobachtungen zusammengelesen ist. Es stammt nicht aus direkter Naturbeobachtung und war durch ihre Methoden nicht zu finden. Es stammt aus der Seele des Künstlers; denn nur sie war fähig, in dieser Weise das »Wesentliche« vom »Unwesentlichen«, das Bestimmende und Beherrschende vom Zufälligen zu sondern. »In der Natur ist der Charakter nur vorwiegend; in der Kunst handelt es sich darum, ihn zum beherrschenden zu machen. (Dans la nature le caractère n'est que dominant; il s'agit, dans l'art, de le rendre dominateur.) Dieser Charakter formt die wirklichen Objekte; aber er formt sie nicht vollständig. Er wird in seiner Wirksamkeit durch die Mitwirkung anderer Ursachen gehemmt. Er hat sich den Objekten nicht in vollkommen deutlicher und sichtbarer Prägung aufdrücken können. Der Mensch fühlt diese Lücke – und um sie auszufüllen, erfindet er die Kunst.« Taine, Philosophie de l'art, Première partie, Ch. 1, sect. V.
Als Taine diese Sätze schrieb, glaubte er mit ihnen den Kreis der streng naturalistischen Theorie in keiner Hinsicht zu überschreiten. Dennoch sieht man auf den ersten Blick, daß sie in jeder »idealistischen« Ästhetik stehen könnten, und daß Taine hier einer solchen Ästhetik all das zugesteht, was er anfangs zu bestreiten schien Dies ist um so auffallender, als Taine im Prinzip durchaus auf dem Boden der »Nachahmungstheorie« stehenbleibt. Er will nicht nur die Poesie und die Malerei oder Plastik, sondern auch die Architektur und Musik als »nachahmende Künste« erklären, wobei er freilich zu einer sehr künstlichen und gewaltsamen Konstruktion greifen muß.. Die Kunst besitzt jetzt eine ihr eigentümliche, schöpferische Funktion, und auf Grund derselben scheidet sie Wesentliches vom Unwesentlichen, Notwendiges vom Zufälligen. Sie überläßt sich nicht einfach der empirischen Beobachtung und der Masse der Einzelfälle, sondern sie »unterscheidet, wählet und richtet«. Das Wissen vom »Wesentlichen«, das uns hier entgegentritt, verdanken wir also nicht der induktiven Methodik der Naturwissenschaft. Es bedurfte vielmehr eines Homer oder Pindar, eines Michelangelo oder Raffael, eines Dante oder Shakespeare, um uns dieses Wissen zu vermitteln. Die Intuition der großen Künstler ist es, die für uns das Bild des Griechen der klassischen Zeit, des Italieners, des Engländers der Renaissance geschaffen und es in seinen Grundzügen festgestellt hat. Hier erkennt man deutlich, daß Taines Denken, um zu einem bestimmten und konkreten Resultat zu gelangen, eine eigentümliche Kreisbewegung beschreiben muß. Taine wollte die Welt der Kunstformen aus der Welt der physischen Kräfte ableiten und erklären. Aber er mußte diese Formen unter einer anderen Benennung wieder einführen; denn nur hierdurch vermochte er in der »fließend immer gleichen Reihe« der Naturphänomene und der Naturursachen bestimmte Unterschiede einzuführen, deren er für seine Darstellung notwendig bedurfte. Und dieser erste Schritt wurde für alles Folgende von entscheidender Bedeutung. Denn nachdem er einmal geschehen war, war der eiserne Panzer der strengen naturalistischen Methodik bereits durchbrochen. Taine kann sich jetzt, unbeschwert durch irgendwelche dogmatischen Voraussetzungen, wieder der »naiven« Anschauung hingeben – und er tut dies in reichstem Maße. Geologie und Geographie, Botanik und Zoologie, Anatomie und Physiologie werden allmählich vergessen. Wenn Taine die holländische Natur schildert, so überläßt er sich unbefangen dem, was die holländische Landschaftsmalerei ihn über diese Natur gelehrt hat. Und wenn er von der griechischen Rasse spricht, so verläßt er sich für ihre Kennzeichnung nicht auf anthropologische Beobachtungen und Messungen, sondern auf das, was ihn die griechische Plastik, was Phidias und Praxiteles ihn gelehrt hat. Kein Wunder, daß sich diese Betrachtung umkehren läßt, daß man die Kunst aus der Natur »ableiten« kann, nachdem man sich ein Bild von der Natur geformt hat, das in bestimmten Grundzügen aus der Kunst selbst stammt und durch sie seine Beglaubigung empfängt.
Die Schwierigkeit, die uns hier begegnet, weist auf ein ganz allgemeines Problem hin, das sich in jedem Gebrauch kulturwissenschaftlicher Begriffe früher oder später geltend macht. Das Objekt der Natur scheint uns unmittelbar vor Augen zu liegen. Zwar lehrt uns die schärfere erkenntnistheoretische Analyse alsbald, wie vieler und wie komplizierter Begriffe es bedarf, um auch dieses Objekt, um den »Gegenstand« der Physik, der Chemie, der Biologie in seiner Eigenart zu bestimmen. Aber diese Bestimmung vollzieht sich in einer gewissen gleichbleibenden Richtung: wir gehen gewissermaßen auf den Gegenstand zu, um ihn immer genauer kennenzulernen. Das Kulturobjekt aber bedarf einer anderen Betrachtung; denn es liegt uns sozusagen im Rücken. Zwar scheint es uns auf den ersten Blick mehr vertraut und besser zugänglich zu sein als jeder andere Gegenstand. Denn was könnte der Mensch eher und vollkommener begreifen – so hat schon Vico gefragt – als das, was er selbst geschaffen hat? Und doch tritt eben hier eine Schranke des Erkennens auf, die schwer zu überwinden ist. Denn der reflexive Prozeß des Begreifens ist seiner Richtung nach dem produktiven Prozeß entgegengesetzt; beide können nicht zugleich miteinander vollzogen werden. Die Kultur schafft in einem ununterbrochenen Strom ständig neue sprachliche, künstlerische, religiöse Symbole. Die Wissenschaft und die Philosophie aber muß diese Symbolsprache in ihre Elemente zerlegen, um sie sich verständlich zu machen. Sie muß das synthetisch Erzeugte analytisch behandeln. So herrscht hier ein beständiger Fluß und Rückfluß. Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können«; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.