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Erste Studie
Der Gegenstand der Kulturwissenschaft

1.

Platon hat gesagt, daß das Staunen der eigentlich philosophische Affekt sei, und daß wir in ihm die Wurzel alles Philosophierens zu sehen haben. Wenn dem so ist, so erhebt sich die Frage, welche Gegenstände es waren, die zuerst das Erstaunen des Menschen erweckt und ihn damit auf die Bahn des philosophischen Nachdenkens geführt haben. Waren es »physische« oder »geistige« Gegenstände, war es die Ordnung der Natur oder waren es die eigenen Schöpfungen der Menschen, denen hier die Führung zufiel? Als die nächstliegende Annahme mag es erscheinen, daß die astronomische Welt als die erste aus dem Chaos emporzusteigen begann. Der Verehrung der Gestirne begegnen wir in fast allen großen Kulturreligionen. Hier zuerst vermochte der Mensch sich aus dem dumpfen Bann des Gefühls zu befreien und sich zu einer freieren und weiteren Anschauung über das Ganze des Seins zu erheben. Die subjektive Leidenschaft, die danach strebt, die Natur durch magische Kräfte zu bezwingen, trat zurück; statt ihrer regt sich die Ahnung einer universellen objektiven Ordnung. Im Lauf der Gestirne, im Wechsel von Tag und Nacht, in der regelmäßigen Wiederkehr der Jahreszeiten fand der Mensch das erste große Beispiel eines gleichförmigen Geschehens. Dieses Geschehen war unendlich weit über seine eigene Sphäre erhoben und aller Macht seines Wollens und Wünschens entzogen. Ihm haftete nichts von jener Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit an, die nicht nur das gewöhnliche menschliche Tun, sondern auch das Wirken der »primitiven« dämonischen Kräfte kennzeichnet. Daß es ein Wirken und somit eine »Wirklichkeit« gibt, die in feste Grenzen eingeschlossen und an bestimmte unveränderliche Gesetze gebunden ist: das war die Einsicht, die hier zuerst aufzudämmern begann.

Aber dieses Gefühl mußte sich alsbald mit einem anderen verbinden. Denn näher als die Ordnung der Natur steht dem Menschen die Ordnung, die er in seiner eigenen Welt findet. Auch hier herrscht keineswegs bloße Willkür. Der einzelne sieht sich von seinen ersten Regungen an bestimmt und beschränkt durch etwas, worüber er keine Macht hat. Es ist die Macht der Sitte, die ihn bindet. Sie bewacht jeden seiner Schritte, und sie gestattet seinem Tun kaum einen Augenblick lang freien Spielraum. Nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Fühlen und Vorstellen, sein Glauben und Wähnen ist durch sie beherrscht. Die Sitte ist die ständig gleichbleibende Atmosphäre, in der er lebt und ist; er kann sich ihr sowenig entziehen wie der Luft, die er atmet. Kein Wunder, daß sich auch in seinem Denken die Anschauung der physischen Welt von der der sittlichen Welt nicht lösen kann. Beide gehören zusammen; und sie sind in ihrem Ursprung eins. Alle großen Religionen haben sich in ihrer Kosmogonie und in ihrer Sittenlehre auf dieses Motiv gestützt. Sie stimmen darin überein, daß sie dem Schöpfergott die doppelte Rolle und die zweifache Aufgabe zusprechen, der Begründer der astronomischen und der sittlichen Ordnung zu sein und beide den Mächten des Chaos zu entreißen. Im Gilgamesch-Epos, in den Veden, in der ägyptischen Schöpfungsgeschichte finden wir die gleiche Anschauung. Im babylonischen Schöpfungs-Mythos führt Marduk den Kampf gegen das gestaltlose Chaos, gegen das Ungeheuer Tiamat. Nach seinem Siege über dasselbe richtet er die ewigen Denk- und Wahrzeichen der kosmischen Ordnung und der Rechts-Ordnung auf. Er bestimmt den Lauf der Gestirne; er setzt die Zeichen des Tierkreises ein; er stellt die Folge der Tage, Monate, Jahre fest. Und zugleich setzt er dem menschlichen Tun die Grenzen, die es nicht ungestraft überschreiten kann; er ist es, der »ins Innerste blickt, der den Übeltäter nicht entrinnen läßt, der die Unbotmäßigen beugt und das Recht gelingen läßt« Näheres s. in meiner Philosophie der symbol. Formen, II. 142 ff..

An dieses Wunder der sittlichen Ordnung aber schließen sich andre, nicht minder große und geheimnisvolle an. Denn all das, was der Mensch schafft und was aus seiner eigenen Hand hervorgeht, umgibt ihn noch wie ein unbegreifliches Geheimnis. Er ist weit davon entfernt, wenn er seine eignen Werke betrachtet, sich selbst als deren Schöpfer zu ahnen. Sie stehen hoch über ihm; sie sind weit erhaben nicht nur über das, was der einzelne, sondern auch über all das, was die Gattung zu leisten vermag. Wenn der Mensch ihnen einen Ursprung zuschreibt, so kann es kein anderer als ein mythischer Ursprung sein. Ein Gott hat sie geschaffen; ein Heilbringer hat sie vom Himmel auf die Erde herabgeholt und die Menschen ihren Gebrauch gelehrt. Solche Kultur-Mythen durchziehen die Mythologie aller Zeiten und Völker Vgl. das Material bei Kurt Breysig, Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer, Berlin 1905.. Was das technische Geschick des Menschen im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende hervorgebracht hat: das sind nicht Taten, die ihm gelungen sind, sondern es sind Gaben und Geschenke von oben. Für jedes Werkzeug gibt es eine solche überirdische Abstammung. Bei manchen Naturvölkern, wie z. B. bei den Ewe in Süd-Togo, werden noch heute bei den jährlich wiederkehrenden Erntefesten den einzelnen Gerätschaften, der Axt, dem Hobel, der Säge Opfer dargebracht Vgl. Spieth, Die Religion der Eweer in Süd-Togo, S. 8.. Und noch weiter von ihm selbst entfernt als diese materiellen Werkzeuge müssen dem Menschen die geistigen Instrumente erscheinen, die er sich selbst erschaffen hat. Auch sie gelten als Äußerungen einer Kraft, die der seinen unendlich überlegen ist. In erster Linie gilt dies von Sprache und Schrift, den Bedingungen alles menschlichen Verkehrs und aller menschlichen Gemeinschaft. Dem Gott, aus dessen Händen die Schrift hervorgegangen ist, gebührt in der Hierarchie der göttlichen Kräfte stets ein besonderer und bevorzugter Platz. In Ägypten erscheint der Mondgott Thoth zugleich als der »Schreiber der Götter« und als der Richter der Himmel. Er ist es, der Götter und Menschen wissen läßt, was ihnen gebührt; denn er bestimmt das Maß der Dinge Vgl. Moret, Mystères Egyptiens, Paris 1913, S. 132 ff.. Sprache und Schrift gelten als der Ursprung des Maßes; denn ihnen vor allem wohnt die Fähigkeit inne, das Flüchtige und Wandelbare festzuhalten und es damit dem Zufall und der Willkür zu entziehen.

In alledem spüren wir, schon im Kreise des Mythos und der Religion, das Gefühl, daß die menschliche Kultur nichts Gegebenes und Selbstverständliches, sondern daß sie eine Art von Wunder ist, das der Erklärung bedarf. Aber zu einer tieferen Selbstbesinnung führt dies erst, sobald der Mensch sich nicht nur dazu aufgefordert und berechtigt fühlt, derartige Fragen zu stellen, sondern statt dessen dazu übergeht, ein eigenes und selbständiges Verfahren, eine »Methode« auszubilden, mittels deren er sie beantworten kann. Dieser Schritt geschieht zum erstenmal in der griechischen Philosophie – und hierin bedeutet sie die große geistige Zeitenwende. Jetzt erst wird die neue Kraft entdeckt, die allein zu einer Wissenschaft der Natur und zu einer Wissenschaft von der menschlichen Kultur führen kann. An die Stelle der unbestimmten Vielheit der mythischen Erklärungsversuche, die sich bald auf dieses, bald auf jenes Phänomen richten, tritt die Vorstellung von der durchgängigen Einheit des Seins, der eine ebensolche Einheit des Grundes entsprechen muß. Diese Einheit ist nur dem reinen Denken zugänglich. Die bunten und vielfältigen Schöpfungen der mythenbildenden Phantasie werden jetzt der Kritik des Denkens unterworfen und damit entwurzelt. Aber an diese kritische Aufgabe schließt sich die neue positive Aufgabe. Das Denken muß, aus eigener Kraft und aus eigener Verantwortung, wieder aufbauen, was es zerstört hat. An den Systemen der Vorsokratiker können wir verfolgen, mit welch bewunderungswürdiger Folgerichtigkeit diese Aufgabe in Angriff genommen und Schritt für Schritt durchgeführt wird. In Platons Ideenlehre und in Aristoteles' Metaphysik hat sie eine Lösung gefunden, die auf Jahrhunderte hinaus bestimmend und vorbildlich geblieben ist. Eine solche Synthese wäre nicht möglich gewesen, wenn ihr nicht eine gewaltige Einzelarbeit vorangegangen wäre. An ihr sind viele, dem ersten Anschein nach diametral-entgegengesetzte Tendenzen beteiligt, und sie schlägt, in Problemstellung und Problemlösung, sehr verschiedenartige Wege ein. Dennoch läßt sich für uns diese ganze gewaltige Gedankenarbeit, wenn wir ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel betrachten, gewissermaßen in einen Grundbegriff zusammenfassen, den die griechische Philosophie zuerst gefunden und den sie nach allen seinen Momenten durchgebildet und ausgebaut hat. Es ist der Logos-Begriff, dem diese Rolle in der Entwicklung des griechischen Denkens zufällt Näher ausgeführt habe ich diese Auffassung in meiner Darstellung der älteren griechischen Philosophie, die ich in Dessoirs Lehrbuch der Philosophie, Berlin 1925, Band I, S. 7-135, gegeben habe. Vgl. jetzt auch meinen Aufsatz: Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie, Göteborgs Högskolas Årsskrift, XLIII, 1941: 6.. Schon in der ersten Ausprägung, die er in der Philosophie Heraklits erfahren hat, spüren wir diese seine Bedeutung und seinen künftigen Reichtum. Heraklits Lehre scheint auf den ersten Blick noch ganz auf dem Boden der ionischen Naturphilosophie zu stehen. Auch er sieht die Welt als ein Ganzes von Stoffen, die sich wechselseitig ineinander umsetzen. Aber dies erscheint ihm nur als die Oberfläche des Geschehens, hinter der er eine Tiefe sichtbar machen will, die sich bisher dem Denken nicht erschlossen hat. Auch die Ionier wollten sich nicht mit der bloßen Kenntnis des »Was« begnügen; sie fragten nach dem »Wie« und nach dem »Warum«. Aber bei Heraklit wird diese Frage in einem neuen und in einem viel schärferen Sinn gestellt. Und indem er sie in dieser Weise stellt, ist er sich bewußt, daß die Wahrnehmung, in deren Grenzen sich die bisherige naturphilosophische Spekulation bewegte, sie nicht mehr zu beantworten vermag. Nur das Denken kann uns die Antwort geben: denn hier, und hier allein, wird der Mensch von der Schranke seiner Individualität frei. Er folgt nicht mehr der »eigenen Meinung«, sondern er erfaßt ein Allgemeines und Göttliches. An die Stelle der ἰδίη φρόνησις, der »privaten« Einsicht, ist ein universelles Weltgesetz getreten. Damit erst ist der Mensch nach Heraklit der mythischen Traumwelt und der engen und begrenzten Welt der sinnlichen Wahrnehmung entronnen. Denn eben dies ist der Charakter des Wachens und Erwacht-Seins, daß die Individuen eine gemeinsame Welt besitzen, während im Traum jeder nur in seiner eigenen Welt lebt und in ihr befangen und versenkt bleibt.

Damit war dem gesamten abendländischen Denken eine neue Aufgabe gestellt und eine Richtung eingepflanzt, von der es fortan nicht wieder abweichen konnte. Seit dieses Denken durch die Schule der griechischen Philosophie hindurchgegangen war, war alles Erkennen der Wirklichkeit gewissermaßen auf den Grundbegriff des »Logos« – und damit auf die »Logik« im weitesten Sinne – verpflichtet. Das änderte sich auch dann nicht, als die Philosophie wieder aus ihrer Herrscherstellung verdrängt und das »Allgemeine und Göttliche« an einer anderen, ihr unzugänglichen Stelle gesucht wurde. Das Christentum bestreitet den griechischen Intellektualismus; aber zum bloßen Irrationalismus kann und will es damit nicht zurückkehren. Denn auch ihm ist der Logos-Begriff tief eingepflanzt. Die Geschichte der christlichen Dogmatik zeigt den beharrlichen Kampf, den die Grundmotive der christlichen Erlösungsreligion gegen den Geist der griechischen Philosophie zu führen hatten. In diesem Kampf gibt es, geistesgeschichtlich betrachtet, weder Sieger noch Besiegte; aber ebensowenig konnte es in ihm jemals zu einem wirklichen inneren Ausgleich der Gegensätze kommen. Es wird immer ein vergeblicher Versuch bleiben, den Logos-Begriff der griechischen Philosophie und den des Johannes-Evangeliums auf einen Nenner zu bringen. Denn die Art der Vermittlung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, dem Endlichen und dem Unendlichen, dem Menschen und Gott, ist in beiden Fällen durchaus verschieden. Der griechische Seinsbegriff und der griechische Wahrheitsbegriff sind, nach dem Gleichnis des Parmenides, einer »wohlgerundeten Kugel« zu vergleichen, die fest in ihrem eigenen Mittelpunkt ruht. Beide sind in sich selbst vollkommen und abgeschlossen; und zwischen ihnen besteht nicht nur eine Harmonie, sondern eine wahrhafte Identität. Der Dualismus der christlichen Weltansicht macht dieser Identität ein Ende. Keine Anstrengung des Wissens und des reinen Denkens vermag fortan den Riß zu heilen, der durch das Sein hindurchgeht. Freilich hat auch die christliche Philosophie dem Streben nach Einheit, das im Begriff der Philosophie liegt, keineswegs entsagt. Aber sowenig sie die Spannung zwischen den beiden Gegenpolen aufzuheben vermag, so versucht sie doch, sie innerhalb ihres Kreises und mit ihren Denkmitteln auszugleichen. Aus solchen Versuchen sind alle die großen Systeme der scholastischen Philosophie erwachsen. Keines von ihnen wagt es, den Gegensatz zu bestreiten, der zwischen Offenbarung und Vernunft, zwischen Glauben und Wissen, zwischen dem regnum gratiae und dem regnum naturae besteht. Die Vernunft, die Philosophie, kann aus eigenen Kräften kein Weltbild aufbauen; alle Erleuchtung, deren sie fähig ist, stammt nicht aus ihr selbst, sondern aus einer anderen und höheren Lichtquelle. Aber wenn sie den Blick fest auf diese Lichtquelle gerichtet hält, wenn sie sich, statt dem Glauben eine selbständige und selbsttätige Kraft entgegenzustellen, vielmehr von ihm führen und leiten läßt, so erreicht sie damit das ihr zugemessene Ziel. Die Urkraft des Glaubens, die dem Menschen nur durch einen unmittelbaren Gnadenakt, durch die göttliche »illuminatio«, zuteil werden kann, bestimmt ihm zugleich den Inhalt und Umfang des Wissens. In diesem Sinne wird das Wort fides quaerens intellectum zum Inbegriff und zum Wahlspruch der gesamten christlich-mittelalterlichen Philosophie. In den Systemen der Hochscholastik, insbesondere bei Thomas von Aquino, kann es scheinen, als sei die Synthese gelungen und die verlorene Harmonie wiederhergestellt. »Natur« und »Gnade«, »Vernunft« und »Offenbarung« widersprechen einander nicht; die eine weist vielmehr auf die andere hin und führt zu ihr empor. Der Kosmos der Kultur scheint damit wieder geschlossen und auf einen festen religiösen Mittelpunkt bezogen.

Aber dieser kunstvoll gefügte Bau der Scholastik, in welchem der christliche Glaube und das antike philosophische Wissen sich gegenseitig stützen und halten sollten, bricht zusammen vor jenem neuen Erkenntnisideal, das wie kein anderes den Charakter der modernen Wissenschaft bestimmt und geprägt hat. Die mathematische Naturwissenschaft kehrt wieder zu dem antiken Ideal des Wissens zurück. Kepler und Galilei können unmittelbar an pythagoreische, an demokritische und platonische Grundgedanken anknüpfen. Aber in ihrer Forschung nehmen diese Gedanken zugleich einen neuen Sinn an. Denn sie vermögen die Brücke zwischen dem Intelligiblen und Sinnlichen, zwischen dem κόσμος νοητός und dem κόσμος ὸρατός in einer Weise zu schlagen, die der antiken Wissenschaft und Philosophie versagt geblieben war. Vor dem mathematischen Wissen scheint jetzt die letzte trennende Schranke zwischen »Sinnenwelt« und »Verstandeswelt« zu fallen. Die Materie als solche erweist sich als durchdrungen von der Harmonie der Zahl und als beherrscht durch die Gesetzlichkeit der Geometrie. Vor dieser universellen Ordnung schwinden alle jene Gegensätze, die in der aristotelisch-scholastischen Physik ihre Fixierung gefunden hatten. Es gibt keinen Gegensatz der »niederen« und »höheren«, der »oberen« und »unteren« Welt. Die Welt ist eins, so wahr die Welterkenntnis, die Welt-Mathematik nur eine ist und sein kann. In Descartes' Begriff der Mathesis universalis hat dieser Grundgedanke der modernen Forschung seine durchgreifende philosophische Legitimation gefunden. Der Kosmos der universellen Mathematik, der Kosmos von Ordnung und Maß, umschließt und erschöpft alle Erkenntnis. Er ist in sich völlig autonom; er bedarf keiner Stütze, und er kann keine andere Stütze anerkennen als diejenige, die er in sich selbst findet. Nun erst umfaßt die Vernunft, in ihren klaren und deutlichen Ideen, das Ganze des Seins, und nun erst kann sie dieses Ganze mit den ihr eigenen Kräften vollständig durchdringen und beherrschen.

Daß dieser Grundgedanke des klassischen philosophischen Rationalismus die Wissenschaft nicht nur befruchtet und erweitert, sondern daß er ihr einen ganz neuen Sinn und ein neues Ziel gegeben hat: das bedarf keiner näheren Ausführung. Die Entwicklung der Systeme der Philosophie von Descartes zu Malebranche und Spinoza, von Spinoza zu Leibniz, bietet hierfür den fortlaufenden Beweis. An ihr läßt sich unmittelbar aufzeigen, wie sich das neue Ideal der Universalmathematik fortschreitend immer neue Kreise der Wirklichkeitserkenntnis unterwirft. Descartes' endgültiges System der Metaphysik ist seiner ursprünglichen Konzeption einer einzigen allumfassenden Methode des Wissens insofern nicht gemäß, als das Denken, im Fortgang seiner Bewegung, zuletzt auf bestimmte radikale Unterschiede des Seins hingeführt wird, die es als solche einfach hinzunehmen und anzuerkennen hat. Der Dualismus der Substanzen schränkt den Monismus der Cartesischen Methode ein und setzt ihm eine bestimmte Grenze. Es scheint zuletzt, als sei das Ziel, das diese Methode sich setzt, nicht für die Wirklichkeitserkenntnis als Ganzes, sondern nur in bestimmten Teilen derselben erreichbar. Die Körperwelt untersteht ohne jegliche Einschränkung der Herrschaft des mathematischen Denkens. In ihr gibt es keinen unbegriffenen Rest; keine dunklen »Qualitäten«, die, gegenüber den reinen Begriffen von Größe und Zahl, etwas Selbständiges, Irreduzibles sind. All dies ist beseitigt und ausgelöscht: die Identität der »Materie« mit der reinen Ausdehnung sichert die Identität von Naturphilosophie und Mathematik. Aber neben der ausgedehnten Substanz steht die denkende Substanz; und beide müssen zuletzt aus einem gemeinsamen Urgrund, aus dem Sein Gottes, abgeleitet werden. Wo Descartes darangeht, diese Urschicht der Wirklichkeit bloßzulegen und zu erweisen, da verläßt ihn der Leitfaden seiner Methode. Hier denkt er nicht mehr in den Begriffen seiner Universalmathematik, sondern in den Begriffen der mittelalterlichen Ontologie. Nur indem er die Gültigkeit dieser Begriffe voraussetzt, indem er von dem »objektiven« Sein der Ideen ausgeht, um von hier aus auf die »formale« Realität der Dinge zu schließen, kann ihm sein Beweis gelingen. Die Nachfolger Descartes' sind immer energischer und erfolgreicher bemüht, diesen Widerstreit zu beseitigen. Sie wollen das, was Descartes für die substantia extensa geleistet hatte, in gleicher und in gleichüberzeugender Weise für die substantia cogitans und für die göttliche Substanz leisten. Auf diesem Wege wird Spinoza zu seiner In-eins-Setzung von Gott und Natur geführt; auf diesem Wege gelangt Leibniz zum Entwurf seiner »allgemeinen Charakteristik«. Beide sind überzeugt, daß erst auf diese Weise der vollständige Beweis für die Wahrheit des Pan-Logismus und des Pan-Mathematizismus erbracht werden kann. Jetzt zeichnet sich der Umriß des modernen Weltbildes in aller Schärfe und Deutlichkeit gegenüber dem antiken und dem mittelalterlichen Weltbild ab. »Geist« und »Wirklichkeit« sind nicht nur miteinander versöhnt, sondern sie haben sich wechselseitig durchdrungen. Zwischen ihnen besteht kein Verhältnis bloß äußerer Einwirkung oder äußerer Entsprechung. Hier handelt es sich um etwas anderes als um jene adaequatio intellectus et rei, die sowohl die antike wie die scholastische Erkenntnislehre als Maßstab des Wissens aufgestellt hatten. Es handelt sich um eine »prästabilierte Harmonie«, um eine letzte Identität zwischen Denken und Sein, zwischen dem Ideellen und dem Reellen.

Die erste Einschränkung, die dieses panmathematische Weltbild erfuhr, stammt aus einem Problemkreis, der für die Anfänge der neueren Philosophie noch kaum als solcher bestand, oder der doch nur in seinem ersten Umriß gesehen wurde. Erst die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stellt hier eine neue große Grenzscheide dar, indem sie diesen Problemkreis immer mehr in seiner Eigenart erkennt und ihn zuletzt geradezu in den Mittelpunkt der philosophischen Selbstbesinnung rückt. Der klassische Rationalismus hatte sich nicht mit der Eroberung der Natur begnügt; er hatte auch ein in sich geschlossenes »natürliches System der Geisteswissenschaften« aufbauen wollen. Der menschliche Geist sollte aufhören, einen »Staat im Staate« zu bilden; er sollte aus den gleichen Prinzipien erkannt werden und derselben Gesetzlichkeit unterliegen wie die Natur. Das moderne Naturrecht, wie es von Hugo Grotius begründet wird, beruft sich auf die durchgreifende Analogie, die zwischen Rechtserkenntnis und mathematischer Erkenntnis besteht – und Spinoza schafft eine neue Form der Ethik, die sich am Vorbild der Geometrie orientiert und sich von ihm ihre Ziele und ihre Wege vorzeichnen läßt. Damit erst schien der Kreis geschlossen zu sein; der Ring des mathematischen Denkens konnte in gleicher Weise die körperliche und die seelische Welt, das Sein der Natur und das Sein der Geschichte umfassen. Aber an diesem Punkte setzt nun der erste entscheidende Zweifel ein. Ist die Geschichte der gleichen Mathematisierung wie die Physik oder die Astronomie fähig – ist auch sie nichts anderes als ein Sonderfall der »Mathesis universalis«? Der erste Denker, der diese Frage in aller Schärfe gestellt hat, ist Giambattista Vico gewesen. Das eigentliche Verdienst von Vicos »Geschichtsphilosophie« liegt nicht in dem, was sie inhaltlich über den historischen Prozeß und den Rhythmus seiner einzelnen Phasen lehrt. Die Unterscheidung der Epochen der Geschichte der Menschheit und der Versuch, in ihnen eine bestimmte Regel der Abfolge, einen Übergang vom »göttlichen« zum »heroischen«, vom »heroischen« zum »menschlichen« Zeitalter zu erweisen: das alles ist bei Vico noch mit rein phantastischen Zügen durchmischt. Aber was er klar gesehen und was er mit aller Entschiedenheit gegen Descartes verfochten hat, ist die methodische Eigenart und der methodische Eigenwert der historischen Erkenntnis. Und er zögert nicht, diesen Wert über den des rein mathematischen Wissens zu stellen und erst in ihm die wahrhafte Erfüllung jener »sapientia humana« zu finden, deren Begriff Descartes, in den ersten Sätzen seiner »Regulae ad directionem ingenii«, als Ideal aufgestellt hat. Nicht die Naturerkenntnis, sondern die menschliche Selbsterkenntnis bildet nach Vico das eigentliche Ziel unseres Wissens. Wenn die Philosophie, statt sich hierbei zu bescheiden, ein göttliches oder absolutes Wissen verlangt, so überschreitet sie damit ihre Grenzen und läßt sich auf einen gefährlichen Irrweg verlocken. Denn als oberste Regel der Erkenntnis gilt für Vico der Satz, daß jegliches Wesen nur das wahrhaft begreift und durchdringt, was es selbst hervorbringt. Der Kreis unseres Wissens reicht nicht weiter als der Kreis unseres Schaffens. Der Mensch versteht nur insoweit, als er schöpferisch ist – und diese Bedingung ist in wirklicher Strenge nur in der Welt des Geistes, nicht in der Natur erfüllbar. Die Natur ist das Werk Gottes, und sie ist demgemäß nur für den göttlichen Verstand, der sie hervorgebracht hat, völlig durchsichtig. Was der Mensch wahrhaft begreifen kann, das ist nicht die Wesenheit der Dinge, die für ihn niemals vollständig erschöpfbar ist, sondern die Struktur und Eigenart seiner eigenen Werke. Auch die Mathematik verdankt diesem Umstand das, was sie an Evidenz und Sicherheit besitzt. Denn sie bezieht sich nicht auf physisch-wirkliche Gegenstände, die sie abbilden will, sondern auf ideale Gegenstände, die das Denken in freiem Entwurf hervorbringt. Aber freilich bezeichnet dieser ihr eigentümliche Wert zugleich die Grenze, die sie nicht überschreiten kann. Die Objekte, von denen die Mathematik handelt, besitzen kein anderes Sein als jenes abstrakte Sein, das der menschliche Geist ihnen geliehen hat. Das ist daher die unvermeidliche Alternative, vor die sich unsere Erkenntnis gestellt sieht. Sie kann sich entweder auf »Wirkliches« richten; aber in diesem Fall kann sie ihren Gegenstand nicht vollständig durchdringen, sondern ihn nur empirisch und stückweise, nach einzelnen Merkmalen und Kennzeichen beschreiben. Oder aber sie erlangt einen vollständigen Einblick, eine adäquate Idee, die ihr die Natur und das Wesen des Gegenstandes bezeichnet; aber sie tritt damit aus dem Kreis ihrer eigenen Begriffsbildungen nicht heraus. Das Objekt besitzt in diesem Fall für sie nur diejenige Beschaffenheit, die die Erkenntnis ihm kraft willkürlicher Definition zugeschrieben hat. Aus diesem Dilemma gewinnen wir nach Vico erst dann einen Ausweg, wenn wir den Bereich des mathematischen Wissens wie den der empirischen Naturerkenntnis überschreiten. Die Werke der menschlichen Kultur sind die einzigen, die in sich die beiden Bedingungen vereinen, auf denen die vollkommene Erkenntnis beruht; sie haben nicht nur ein begrifflich-erdachtes, sondern ein durchaus-bestimmtes, ein individuelles und historisches Sein. Aber die innere Struktur dieses Seins ist dem menschlichen Geist zugänglich und aufgeschlossen, weil er selbst ihr Schöpfer ist. Der Mythos, die Sprache, die Religion, die Dichtung: das sind die Objekte, die der menschlichen Erkenntnis wahrhaft angemessen sind. Und auf sie blickt Vico in erster Linie im Aufbau seiner »Logik« hin. Zum erstenmal wagt es die Logik, den Kreis der objektiven Erkenntnis, den Kreis der Mathematik und Naturwissenschaft, zu durchbrechen, um sich statt dessen als Logik der Kulturwissenschaft, als Logik der Sprache, der Poesie, der Geschichte zu konstituieren.

Vicos Scienza nuova trägt ihren Namen mit Recht. In ihr war ein wahrhaft Neues gefunden; aber dieses Neue bekundet sich freilich weniger in den Lösungen, die das Werk darbietet, als in den Problemen, die es gestellt hat. Den Schatz dieser Probleme ganz zu heben, war Vico selbst nicht vergönnt. Erst durch Herder wird das, was bei Vico noch in halbmythischer Dämmerung ruht, in das Licht des philosophischen Bewußtseins gehoben. Auch Herder ist kein strenger systematischer Denker. Sein Verhältnis zu Kant zeigt, wie wenig er zu einer »Erkenntniskritik« im eigentlichen Sinne des Wortes gestimmt ist. Er will nicht analysieren, sondern er will schauen. Alles Wissen, das nicht durchgängig bestimmt und konkret, das nicht mit anschaulichem Gehalt gesättigt ist, gilt ihm als leer. Dennoch ist Herders Werk nicht nur durch seinen Inhalt, nicht nur durch das bedeutsam, was es im Gebiet der Sprachphilosophie, der Kunsttheorie, der Geschichtsphilosophie an neuen Einsichten enthält. Was wir an diesem Werk studieren können, ist zugleich das Heraufkommen und der endgültige Durchbruch einer neuen Erkenntnis form, die sich freilich von ihrer Materie nicht ablösen läßt, sondern nur in der freien Gestaltung dieser Materie und in ihrer geistigen Beherrschung und Durchdringung sichtbar wird. Wie Vico sich gegen Descartes' Pan-Mathematik und gegen den Mechanismus seiner Naturansicht gewandt hatte, so wendet sich Herder gegen das wolffische Schulsystem und gegen die abstrakte Verstandeskultur der Aufklärungszeit. Was er bekämpft, ist der tyrannische Dogmatismus dieser Kultur, die, um der »Vernunft« zum Siege zu verhelfen, alle anderen seelischen und geistigen Kräfte im Menschen knechten und unterdrücken muß. Dieser Tyrannei gegenüber beruft er sich auf jene Grundmaxime, die ihm zuerst durch seinen Lehrer Hamann eingepflanzt worden war. Was der Mensch zu leisten hat, muß aus der Zusammenfassung und der ungebrochenen Einheit seiner Kräfte entspringen; alles Vereinzelte ist verwerflich. In den Anfängen seiner Philosophie erscheint Herder diese Einheit noch im Lichte eines historischen Faktums, das am Beginn der Menschengeschichte steht. Sie ist ihm ein verlorenes Paradies, von dem die Menschheit sich im Fortschritt der vielgepriesenen Zivilisation mehr entfernt hat. Nur die Poesie hat, in ihrer ältesten und ursprünglichen Form, noch eine Erinnerung an dieses Paradies für uns bewahrt. Sie gilt demnach Herder als die eigentliche »Muttersprache des menschlichen Geschlechts« – ebenso wie sie Hamann und Vico dafür gegolten hatte. An ihr sucht er sich jene urtümliche Einheit zu vergegenwärtigen und lebendig zu machen, die in den Anfängen der Menschengeschichte Sprache und Mythos, Geschichte und Dichtung zu einer echten Totalität, zu einem ungeschiedenen Ganzen gestaltet hat. Aber diese rousseausche Sehnsucht nach dem »Primitiven« und Uranfänglichen wird bei Herder um so mehr überwunden, je weiter er auf seinem Wege fortschreitet. In der endgültigen Gestalt, die seine Geschichts- und Kulturphilosophie in den »Ideen« gewonnen hat, liegt das Ziel der Totalität nicht mehr hinter uns, sondern vor uns. Damit verschiebt sich der gesamte Akzent seiner Lehre. Denn jetzt gilt die Differenzierung der geistigen Kräfte nicht mehr schlechthin als Abfall von der ursprünglichen Einheit und als eine Art von Sündenfall der Erkenntnis, sondern sie hat einen positiven Sinn und Wert gewonnen. Die wahre Einheit ist diejenige, die die Trennung voraussetzt und die sich aus der Trennung wiederherstellt. Alles konkret-geistige Geschehen, alle echte »Geschichte« ist nur das Bild dieses sich ständig erneuernden Prozesses der »Systole« und »Diastole«, der Scheidung und Wiedervereinigung. Erst nachdem Herder sich zu dieser universalen Konzeption erhoben hat, können die einzelnen Momente des Geistigen für ihn ihre wahrhafte Selbständigkeit und Autonomie erlangen. Keines von ihnen ist jetzt dem anderen einfach untergeordnet, sondern jedes greift als gleichberechtigter Faktor in das Ganze und seinen Aufbau ein. Auch im rein historischen Sinne gibt es kein schlechthin »Erstes« oder »Zweites«, kein absolutes »Früher« oder »Später«. Die Geschichte ist, als geistiges Faktum betrachtet, keineswegs eine bloße Folge von Begebenheiten, die in der Zeit einander ablösen und verdrängen. Sie ist, mitten in der Veränderung ein ewig Gegenwärtiges; ὁμοῦ πᾶν. Ihr »Sinn« ist in keinem der einzelnen Augenblicke allein – und doch ist er andererseits ganz und ungebrochen in jedem von ihnen.

Damit aber ist das historische »Ursprungsproblem«, das in den ersten Untersuchungen Herders, insbesondere in seiner Preisschrift über den Ursprung der Sprache, noch eine so bedeutsame Rolle spielt, verwandelt und auf eine höhere Stufe der Betrachtung emporgehoben. Der geschichtliche Blickpunkt wird niemals aufgehoben; aber es zeigt sich, daß gerade der historische Horizont nicht in seiner ganzen Weite und Freiheit sichtbar werden kann, wenn man das historische Problem nicht mit einem systematischen verbindet. Was jetzt gefordert wird, ist keine bloße Entwicklungsgeschichte, sondern eine »Phänomenologie des Geistes«. Herder versteht diese Phänomenologie nicht in dem Sinne, in dem Hegel sie verstanden hat. Für ihn gibt es keinen festen, durch die Natur des Geistes vorherbestimmten und vorgeschriebenen Gang, der in einem regelmäßigen Rhythmus, im Dreischritt der Dialektik, mit immanenter Notwendigkeit von einer Erscheinungsform zur anderen hinführt, bis endlich nach Durchlaufen aller Formen das Ende wieder zum Anfang zurückkehrt. Herder macht keinen Versuch, in dieser Weise das ewig-flutende Leben der Geschichte in den Kreislauf des metaphysischen Denkens einzufangen. Aber statt dessen tritt bei ihm ein anderes Problem hervor, das freilich in seinem Werk nur im ersten und noch unbestimmten Umriß sichtbar ist. Indem er immer tiefer in die eigentümliche »Natur« der Sprache, in die Natur der Dichtung, in die Welt des Mythos und in die der Geschichte eindringt, nimmt die Frage der Wirklichkeitserkenntnis eine immer komplexere Gestalt an und erfährt eine immer reichere Gliederung. Jetzt wird deutlich und unverkennbar, daß diese Frage nicht nur nicht gelöst, sondern in ihrem eigentlichen und vollen Sinne nicht einmal gestellt werden kann, solange die »physischen« Gegenstände das einzige Thema und das einzige Ziel der Betrachtung bilden. Der physische Kosmos, das Universum der Naturwissenschaft, bildet nur noch einen Sonderfall und ein Paradigma für eine viel allgemeinere Problemstellung. Diese Problemstellung ist es, die jetzt allmählich an die Stelle jenes Ideals der Pan-Mathematik, der Mathesis universalis tritt, das seit Descartes das philosophische Denken beherrscht hatte. Der mathematische und der physikalisch-astronomische Kosmos ist nicht der einzige, in dem die Idee des Kosmos, die Idee einer durchgreifenden Ordnung, sich darstellt. Diese Idee ist nicht auf die Gesetzlichkeit der Naturphänomene, auf die Welt der »Materie« eingeschränkt. Sie tritt uns überall entgegen, wo an einem Mannigfaltigen und Verschiedenen ein bestimmtes einheitliches Strukturgesetz sichtbar wird. Das Walten eines solchen Strukturgesetzes: das ist der allgemeinste Ausdruck für das, was wir im weitesten Sinne mit dem Namen der »Objektivität« bezeichnen. Um dies für uns zu voller Deutlichkeit zu erheben, brauchen wir nur an jene Grundbedeutung des Begriffs des »Kosmos« anzuknüpfen, die schon das antike Denken festgestellt hatte. Ein »Kosmos«, eine objektive Ordnung und Bestimmtheit, ist überall dort vorhanden, wo verschiedene Subjekte sich auf eine »gemeinsame Welt« beziehen und denkend an ihr teilhaben. Dies ist nicht nur dort der Fall, wo wir uns durch das Medium der sinnlichen Wahrnehmung das physische Weltbild aufbauen. Was wir als »Sinn« der Welt erfassen, das tritt uns überall dort entgegen, wo wir uns, statt uns in die eigene Vorstellungswelt zu verschließen, auf ein Über-Individuelles, Allgemeines, für alle Gültiges richten. Und nirgends tritt diese Möglichkeit und diese Notwendigkeit der Durchbrechung der individuellen Schranke so fraglos und so deutlich hervor wie im Phänomen der Sprache. Das gesprochene Wort geht niemals im bloßen Schall oder Laut auf. Es will etwas bedeuten; es fügt sich zum Ganzen einer »Rede« zusammen, und diese Rede »ist« nur, indem sie von einem Subjekt zum andern hingeht und beide im Wechselgespräch miteinander verknüpft. So wird für Herder, wie schon für Heraklit, das Sprachverstehen zum eigentlichen und typischen Ausdruck des Weltverstehens. Der Logos knüpft das Band zwischen dem einzelnen und dem Ganzen; er versichert den einzelnen, daß er, statt in den Eigensinn seines Ich, in die ἰδίη φρόνησις eingeschlossen zu sein, ein allgemeines Sein, ein κοινòν καὶ θεῖον, erreichen kann.

Von der Vernunft, die in der Sprache investiert ist und die sich in ihren Begriffen ausdrückt, führt der Weg zur wissenschaftlichen Vernunft weiter. Die Sprache kann mit den ihr eigentümlichen Mitteln die wissenschaftliche Erkenntnis nicht erzeugen oder auch nur erreichen. Aber sie ist eine notwendige Etappe auf dem Wege zu ihr; sie bildet das Medium, in dem allein das Wissen um die Dinge entstehen und sich fortschreitend ausbauen kann. Der Akt der Benennung ist die unentbehrliche Vorstufe und die Bedingung für jenen Akt der Bestimmung, in dem die eigentümliche Aufgabe der Wissenschaft besteht. Es ergibt sich hieraus, daß und warum die Sprachtheorie ein notwendiges und integrierendes Moment im Aufbau der Erkenntnistheorie bildet. Wer die Kritik der Erkenntnis erst mit der Wissenschaftstheorie, mit der Analyse der Grundbegriffe und Prinzipien der Mathematik, der Physik, der Biologie, der Geschichte beginnen läßt, der setzt den Hebel gewissermaßen zu hoch an. Aber ebenso verfehlt derjenige den richtigen Ansatz, für den das Wissen nichts anderes als eine einfache Konstatierung dessen ist, was uns in den Elementen der Sinnesempfindung unmittelbar gegeben ist. Auch die psychologische Analyse läßt, sofern sie ohne erkenntnistheoretische Vorurteile getrieben wird, diesen Sachverhalt klar hervortreten. Denn sie zeigt uns, daß die Sprache durchaus nicht der einfache Abdruck von Inhalten und Beziehungen ist, die uns die Empfindung unmittelbar darbietet. Ihre Ideen sind keineswegs, wie es das sensualistische Dogma verlangt, die bloßen Kopien von Impressionen. Die Sprache ist vielmehr eine bestimmte Grundrichtung des geistigen Tuns: ein Inbegriff psychisch-geistiger Akte, und in diesen Akten erst schließt sich uns eine neue Seite der Wirklichkeit, der Aktualität der Dinge auf. Wilhelm von Humboldt, der zugleich der Schüler Herders und der Schüler Kants ist, hat für diesen Sachverhalt den Ausdruck geprägt, daß die Sprache Funktion, nicht Affektion sei. Sie ist kein einfaches Produkt, sondern ein kontinuierlicher, sich ständig erneuernder Prozeß, und in dem Maße, als dieser Prozeß fortschreitet, zeichnen sich für den Menschen auch die Umrisse seiner »Welt« immer klarer und bestimmter ab. Der Name wird somit nicht einfach an die fertige und vorhandene gegenständliche Anschauung, als ein äußeres Kenn zeichen, angefügt, sondern in ihm drückt sich ein bestimmter Weg, eine Weise und Richtung des Kennen- Lernens aus.

Alles, was wir über die Entwicklung der Kindersprache wissen, bestätigt in der Tat diese Grundansicht. Denn es ist offenbar nicht so, daß in dieser Entwicklung einem bestimmten Stadium der schon erworbenen gegenständlichen Anschauung ein anderes Stadium sich anreiht, in welchem dieser gegebene Besitz nun auch benannt, in welchem er bezeichnet und in Worte gefaßt wird. Es ist vielmehr das Sprachbewußtsein, das erwachende Symbol-Bewußtsein, das in dem Maße, wie es selbst erstarkt und wie es sich erweitert und klärt, auch der Wahrnehmung und Anschauung seinen Stempel aufdrückt. Beide werden insoweit »gegenständlich«, als es der Energie der Sprache gelingt, das dumpfe und ungeschiedene Chaos von einfachen Zuständlichkeiten zu lichten, zu unterscheiden, zu organisieren. Die sprachliche Symbolik erschließt eine neue Phase des seelisch-geistigen Lebens. An die Stelle des bloß-triebhaften Lebens, des Aufgehens im unmittelbaren Eindruck und in den jeweiligen Bedürfnissen, tritt das Leben in »Bedeutungen«. Diese Bedeutungen sind ein Wiederholbares und Wiederkehrendes; ein Etwas, das nicht am bloßen Hier und Jetzt haftet, sondern das in unzählig vielen Lebensmomenten und in der Aneignung und dem Gebrauch von seiten noch so vieler verschiedener Subjekte als ein Sich-selbst-Gleiches, Identisches gemeint und verstanden wird. Kraft dieser Identität des Meinens, die sich über der Buntheit und Verschiedenheit der momentanen Eindrücke erhebt, tritt, allmählich und stufenweise, ein bestimmter »Bestand«, ein »gemeinsamer Kosmos« hervor. Was wir das »Erlernen« einer Sprache nennen, ist daher niemals ein bloß-rezeptiver oder reproduktiver, sondern ein im höchsten Maße produktiver Prozeß. In ihm gewinnt das Ich nicht nur Einblick in eine bestehende Ordnung, sondern es baut an seinem Teil diese Ordnung auf; es gewinnt Anteil an ihr, nicht indem es sich ihr einfach, als einem Gegebenen und Vorhandenen einfügt, sondern indem jeder einzelne, jedes Individuum sie für sich erwirbt und in und kraft dieser Erwerbung an ihrer Erhaltung und Erneuerung mitwirkt. Auch vom genetischen Gesichtspunkt aus dürfen wir daher sagen, daß die Sprache die erste »gemeinsame Welt« ist, in die das Individuum eintritt, und daß sich ihm erst durch ihre Vermittlung die Anschauung einer gegenständlichen Wirklichkeit erschließt. Selbst in weit vorgeschrittenen Phasen dieser Entwicklung zeigt sich immer wieder, wie eng und unlöslich Sprachbewußtsein und Objektbewußtsein aneinander gebunden und miteinander verflochten sind. Auch der Erwachsene, der eine neue Sprache erlernt, hat damit nicht lediglich einen Zuwachs an neuen Klängen oder Zeichen gewonnen. Sobald er in den »Geist« der Sprache einzudringen, sobald er in ihr zu denken und zu leben beginnt, hat sich ihm damit auch ein neuer Kreis des gegenständlichen Anschauens erschlossen. Das Anschauen hat jetzt nicht nur an Weite, sondern auch an Klarheit und Bestimmtheit gewonnen; die neue Symbolwelt wird zum Anlaß, die Erlebnisinhalte und die Anschauungsinhalte in neuer Weise zu gliedern, zu artikulieren und zu organisieren Ich habe in den vorstehenden Betrachtungen diesen Sachverhalt nur kurz anzudeuten gesucht; zur näheren Begründung muß ich auf die eingehende Darstellung des Problems verweisen, die ich in meinem Aufsatz Le langage et la construction du monde des objets (Journal de Psychologie, XXXe Année, 1933, p. 18-44) gegeben habe..

Erst auf Grund solcher Erwägungen kann man sich den Gegensatz, der zwischen dem Gegenstandsproblem der Philosophie und dem der besonderen Wissenschaften besteht, zu voller Deutlichkeit bringen. Aristoteles ist der erste, der diesen Gegensatz auf eine scharfe Formel gebracht hat. Er erklärt, daß die Philosophie allgemeine Seinslehre ist, daß sie vom »Seienden als Seiendem« handelt. Die Einzelwissenschaften fassen je ein besonderes Objekt ins Auge und fragen nach seiner Beschaffenheit und Bestimmtheit; die Metaphysik, die πρώτη φιλοσοφία, richtet sich auf das Sein schlechthin, auf das ὃν ᾗ ὄν. Diese Sonderung der Erkenntnisarten und der Erkenntnisziele aber führt bei Aristoteles und bei allen, die ihm gefolgt sind, zu einer Sonderung im Gegenständlichen selbst. Dem logischen Unterschied entspricht ein ontologischer Unterschied. Was philosophisch erkannt wird, das rückt, kraft der Form dieser Erkenntnis, über den Kreis des Empirisch-Erfaßbaren hinaus. Es wird im Gegensatz zu dem Empirisch-Bedingten, ein Unbedingtes, ein an sich Seiendes, ein Absolutes. Die kritische Philosophie Kants hat diesem Absolutismus der Metaphysik ein Ende bereitet. Aber dieses Ende war zugleich ein neuer Anfang. Auch die Kritik Kants will sich vom Empirismus und Positivismus der Einzelwissenschaften unterscheiden; auch sie strebt nach einer universellen Fassung und nach einer universellen Lösung des Problems der »Objektivität«. Kant konnte diese Lösung nur durchführen, indem er die besonderen Wissenschaften selbst befragte und sich eng an ihre Gliederung anschloß. Er geht von der reinen Mathematik aus, um von ihr zur mathematischen Naturwissenschaft fortzuschreiten, und er erweitert in der »Kritik der Urteilskraft« abermals den Kreis der Betrachtung, indem er nach den Grundbegriffen fragt, die eine Erkenntnis der Lebenserscheinungen ermöglichen. Eine Strukturanalyse der »Kulturwissenschaften« hat er nicht mehr in gleichem Sinne zu geben versucht, wie er sie für die Naturwissenschaften gegeben hat. Aber dies bedeutet keineswegs eine immanente und notwendige Schranke des Problems der kritischen Philosophie. Es zeigt sich hierin lediglich eine geschichtliche und insofern zufällige Schranke, die sich aus dem Stand der Wissenschaft im achtzehnten Jahrhundert ergab. Indem diese Schranke fiel, indem seit der Romantik eine selbständige Sprachwissenschaft, Kunstwissenschaft, Religionswissenschaft entstand, sah sich damit auch die allgemeine Erkenntnislehre vor neue Aufgaben gestellt. Zugleich aber zeigt uns die heutige Gestaltung der Einzelwissenschaften, daß wir den Schnitt zwischen Philosophie und Einzelwissenschaft nicht mehr in der gleichen Weise führen können, wie er von Seiten der empirischen und positivistischen Systeme des neunzehnten Jahrhunderts geführt worden ist. Wir können nicht mehr die besonderen Wissenschaften auf die Gewinnung und Sammlung der »Tatsachen« verweisen, während wir der Philosophie die Untersuchung der »Prinzipien« vorbehalten. Diese Trennung zwischen dem »Faktischen« und »Theoretischen« erweist sich als durchaus künstlich; sie zerstückelt und zerschneidet den Organismus der Erkenntnis. Es gibt keine »nackten« Fakta – keine Tatsachen, die anders als im Hinblick auf bestimmt begriffliche Voraussetzungen und mit ihrer Hilfe feststellbar sind. Jede Konstatierung von Tatsachen ist nur in einem bestimmten Urteils-Zusammenhang möglich, der seinerseits auf gewissen logischen Bedingungen beruht. »Erscheinen« und »Gelten« sind demgemäß nicht zwei Sphären, die sich gewissermaßen räumlich voneinander scheiden lassen, und zwischen denen eine feste Grenze verläuft. Sie sind vielmehr Momente, die korrelativ zueinander gehören, und die erst in dieser Zusammengehörigkeit den Grund- und Urbestand alles Wissens ausmachen. Es ist die wissenschaftliche Empirie selbst, die in dieser Hinsicht die bestimmteste Widerlegung gewisser Thesen des dogmatischen Empirismus enthält. Auch im Kreis der exakten Wissenschaften hat sich gezeigt, daß »Empirie« und »Theorie«, daß faktische und prinzipielle Erkenntnis miteinander solidarisch sind. Im Aufbau der Wissenschaft gilt das Heraklitische Wort, daß der Weg nach oben und der Weg nach unten derselbe ist: ὁδὸς ἄνω κάτω μίη. Je höher das Gebäude der Wissenschaft wächst und je freier es sich in die Lüfte erhebt, um so mehr bedarf es der Prüfung und der ständigen Erneuerung seiner Grundlagen. Dem Zustrom neuer Tatsachen muß die »Tieferlegung der Fundamente« entsprechen, die nach Hilbert zum Wesen jeder Wissenschaft gehört. Ist dem so, so ist klar, daß und warum die Arbeit an der Auffindung und Sicherung der Prinzipien der Einzelwissenschaften nicht abgenommen und auf eine besondere »philosophische« Disziplin, auf die »Erkenntnistheorie« oder Methodenlehre, übertragen werden kann. Aber welcher Anspruch und welches besondere Gebiet bleibt der Philosophie noch, wenn ihr auch dieser Umkreis von Fragen von seiten der Einzelwissenschaften mehr und mehr streitig gemacht wird? Müssen wir jetzt nicht den alten Traum der Metaphysik und den alten Anspruch der Philosophie, eine Lehre vom »Seienden als Seiendem« aufzustellen, endgültig aufgeben und es statt dessen jeder Einzelwissenschaft überlassen, ihre Auffassung des Seins durchzuführen und ihren Gegenstand auf eigenem Wege und mit eigenen Mitteln zu bestimmen?

Aber selbst wenn die Zeit gekommen wäre, in der die Philosophie sich zu einer neuen Auffassung ihres Begriffs und ihrer Aufgabe entschließen müßte – so stünde damit das Problem der »Objektivität« noch immer als ein Rätsel vor uns, dessen Lösung den Einzelwissenschaften allein nicht aufgebürdet werden könnte. Denn dieses Problem gehört, wenn man es in seiner vollen Allgemeinheit nimmt, einer Sphäre an, die selbst von der Wissenschaft als Ganzem nicht erfaßt und ausgefüllt werden kann. Die Wissenschaft ist nur ein Glied und ein Teilmoment im System der »symbolischen Formen«. Sie mag in gewissem Sinne als der Schlußstein im Gebäude dieser Formen gelten; aber sie steht nicht allein, und sie könnte ihre spezifische Leistung nicht durchführen, wenn ihr nicht andere Energien zur Seite stünden, die sich mit ihr in die Aufgabe der »Zusammenschau«, der geistigen »Synthesis« teilen. Auch hier gilt der Satz, daß Begriffe ohne Anschauung leer sind. Der Begriff will das Ganze der Erscheinungen umfassen; und er erreicht dieses Ziel auf dem Wege der Klassifikation, der Subsumtion und Subordination. Er ordnet das Mannigfaltige unter Arten und Gattungen, und er bestimmt es durch allgemeine Regeln, die ihrerseits ein festgefügtes System bilden, in dem jedem einzelnen Phänomen und jedem besonderen Gesetz seine Stelle zugewiesen ist. Aber in dieser Art der logischen Gliederung muß er überall an anschauliche Gliederungen anknüpfen. Es ist keineswegs so, daß die »Logik«, daß die begrifflich-wissenschaftliche Erkenntnis ihre Arbeit gleichsam im Leeren vollzieht. Sie findet nicht einen schlechthin amorphen Stoff vor, an dem sie ihre formbildende Kraft ausüben kann. Auch die »Materie« der Logik, auch jenes Besondere, das sie voraussetzt, um es zum Allgemeinen zu erheben, ist nicht schlechthin strukturlos. Das Strukturlose könnte nicht nur nicht gedacht, es könnte auch nicht wahrgenommen oder objektiv angeschaut werden. Für diese vorlogische Strukturierung, für diese »geprägte Form«, die der Arbeit des Begriffs voraus und zum Grunde liegt, bietet uns die Welt der Sprache und die Welt der Kunst den unmittelbaren Beweis. Sie zeigt uns Weisen der Zuordnung, die andere Wege gehen und anderen Gesetzen gehorchen als die logische Unterordnung der Begriffe. Am Beispiel der Sprache haben wir uns dies bereits klargemacht; aber es gilt auch für den Organismus der Künste. Plastik, Malerei, Architektur scheinen einen gemeinsamen Gegenstand zu haben. Es scheint die allbefassende »reine Anschauung« des Raumes zu sein, die in ihnen zur Darstellung gelangt. Und doch ist der malerische, der plastische, der architektonische Raum nicht »derselbe«; sondern in jedem von ihnen drückt sich je eine spezifisch-eigene Art der Auffassung, des räumlichen »Sehens« aus Vgl. hrz. besonders Adolf Hildebrandt, Das Problem der Form in der bildenden Kunst.. Alle diese mannigfachen »Perspektiven« gilt es auf der einen Seite voneinander zu sondern, auf der anderen Seite in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu erkennen und sie dadurch unter einem höheren Gesichtspunkt miteinander zu vereinen.

Diese Sonderung und Vereinigung, diese διάκρισις und σύγκρισις ist dasjenige, was Platon als die Aufgabe der »Dialektik«, der eigentlichen philosophischen Grundwissenschaft, ansah. Das antike Denken hat, gestützt auf die Platonische Dialektik, ein metaphysisches Weltbild aufgebaut, das durch zwei Jahrtausende die gesamte geistige Entwicklung beherrscht und ihr seinen Stempel aufgedrückt hat. Die »Revolution der Denkart«, die mit Kant einsetzt, erklärt dieses Weltbild für wissenschaftlich-unbegründbar. Aber indem Kant in dieser Weise dem Anspruch jeder metaphysischen Seinslehre entsagte, wollte er damit keineswegs die Einheit und die Universalität der »Vernunft« preisgeben. Diese sollte durch seine Kritik nicht erschüttert, sie sollte vielmehr gesichert und auf einer neuen Basis begründet werden. Jetzt besteht die Aufgabe der Philosophie nicht länger darin, an Stelle des besonderen Seins, das den Einzelwissenschaften allein zugänglich ist, ein allgemeines Sein zu erfassen, an Stelle des empirischen Wissens eine »Ontologia generalis« als Erkenntnis vom »Transzendenten« zu begründen. Auf diese Form des Wissens vom ὃν ᾗ ὄν, auf diese Hypostase zu einem absoluten Objekt wird verzichtet. Die »Vernunfterkenntnis« scheidet sich auch bei Kant noch streng und scharf von der bloßen »Verstandeserkenntnis«. Aber statt jenseits derselben ein eigenes Objekt zu suchen, das von den Bedingungen der Verstandeserkenntnis frei ist, sucht sie das »Unbedingte« vielmehr in der systematischen Totalität der Bedingungen selbst. An die Stelle der Einheit des Objekts ist hier die Einheit der Funktion getreten. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht die Philosophie mit den besonderen Wissenschaften nicht mehr auf deren eigenem Gebiet zu wetteifern. Sie kann diesen ihre volle Autonomie, ihre Freiheit und Selbstgesetzgebung lassen. Denn sie will keines dieser Sondergesetze beschränken oder unterdrücken; sondern sie will statt dessen ihre Gesamtheit zu einer systematischen Einheit zusammenfassen und sie als solche erkennen. An Stelle eines »Dinges an sich«, eines Gegenstandes »jenseits« und »hinter« der Erscheinungswelt, sucht sie die Mannigfaltigkeit, die Fülle und die innere Verschiedenheit des »Erscheinens selbst«. Diese Fülle ist dem menschlichen Geist nur dadurch erfaßbar, daß er die Kraft besitzt, sich in sich selbst zu differenzieren. Er bildet für jedes neue Problem, das ihm hier entgegentritt, eine neue Form der Auffassung aus. In dieser Hinsicht kann eine »Philosophie der symbolischen Formen« den Anspruch auf Einheit und Universalität festhalten, den die Metaphysik in ihrer dogmatischen Gestalt aufgeben mußte. Sie kann nicht nur die verschiedenen Weisen und Richtungen der Welterkenntnis in sich vereinen, sondern darüber hinaus, jedem Versuch des Welt-Verständnisses, jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht zuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit begreifen. Erst auf diese Weise wird das Problem der Objektivität in seiner ganzen Weite sichtbar, und, so gefaßt, umspannt es nicht nur den Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur Die hier vertretene Auffassung vom Wesen und von der Aufgabe der Philosophie ist in der Einleitung zu meiner »Philosophie der symbolischen Formen« eingehender dargelegt und begründet worden..

2.

Nach unzähligen, immer wieder erneuten Ansätzen und nach unablässigen Kämpfen zwischen den philosophischen Schulen schien die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts dem Problem der »philosophischen Anthropologie« endlich seinen rechten Standort zuzuweisen. Die Frage: Was ist der Mensch? hatte immer wieder auf unlösbare Aporien und Antinomien geführt, solange man den Menschen – in Übereinstimmung mit den Grundlehren des Platonismus, des Christentums und der Kantischen Philosophie – zu einem »Bürger zweier Welten« machen mußte. Erst in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts schien diese Schranke endgültig beseitigt. Sie konnte an der Sonderstellung des Menschen festhalten, ohne darum genötigt zu sein, ihn der Natur entgegenzusetzen und ihn über sie hinauszuheben. Der Begriff » Entwicklung« wurde als der Schlüssel erklärt, der alle bisherigen Rätsel der Natur und alle »Welträtsel« aufschließen sollte. Von diesem Standpunkt aus gesehen, mußte auch die Antithese »Kultur« und »Natur« jegliche dialektische Schärfe verlieren. Diese Antithese war gelöst, sobald es gelang, das Problem vom Boden der Metaphysik auf den der Biologie zu versetzen und es unter rein biologischen Gesichtspunkten zu betrachten und zu behandeln.

Der Begriff der Entwicklung als solcher konnte hierbei freilich nicht als eine Errungenschaft des modernen naturwissenschaftlichen Denkens gelten. Er geht vielmehr bis in die ersten Anfänge der griechischen Philosophie zurück – und er erscheint, auf dem Höhepunkt dieser Philosophie, als eines der wichtigsten Mittel, um die Herrschaft des Platonischen »dualistischen« Weltbildes zu brechen. Mit vollem Bewußtsein wird diese Aufgabe bei Aristoteles gestellt. Aber in seiner Aristotelischen Form ist der Entwicklungsbegriff dieser Aufgabe noch nicht gewachsen. Denn er versagt gerade vor der letzten, entscheidenden Frage, an der er seine Probe bestehen müßte. Aristoteles schildert uns die organische Natur und die Reihe der Lebewesen als eine aufsteigende Entwicklung, die von einer Form zur anderen führt. Auch die menschliche Seele ist ihm innerhalb eines weiten Bereiches – wenn wir sie lediglich als »vegetative« oder »sensitive« Seele verstehen – nichts anderes als eine Naturform, die als solche an einen bestimmten Körper gebunden ist. Sie ist die »Entelechie« eines organischen Körpers. Dennoch ließ sich die Aristotelische Psychologie als Ganzes nicht in die Biologie auflösen. Denn hier blieb ein Rest stehen, der weder von Aristoteles selbst, noch von einem seiner Schüler und Nachfolger ganz getilgt werden konnte. Die »denkende« Seele trotzte allen Versuchen, sie auf die elementare Funktion der ernährenden oder empfindenden Seele zurückzuführen. Sie behauptete ihre Eigenstellung und Ausnahmestellung; und ihr mußte daher zuletzt auch ein anderer selbständiger Ursprung zugewiesen werden. Wenn wir, in der Aristotelischen Psychologie, von der Wahrnehmung zum Gedächtnis, von diesem zur Vorstellung (φαντασία) und von hier zum begrifflichen Denken fortgehen, so währt sich bei jedem dieser Fortschritte das Prinzip der stetigen Entwicklung. Dann aber sehen wir uns plötzlich an einen Punkt geführt, an dem der Sprung unvermeidlich wird. Denn die »Denkkraft« in ihrer höchsten und reinsten Betätigung ist auf diesem Wege nicht zu erreichen. Sie ist und bleibt eine Leistung für sich. Der »aktive Intellekt« gehört der Welt des Seelischen an, ohne daß es gelingt, ihn aus den Elementen des organischen Lebens zu erklären. Der Dualismus bricht also hier wieder durch – und er erhält seinen unzweideutigen Ausdruck, wenn Aristoteles erklärt, daß die Denkkraft, der νοῦς, sich von außen her (θύραθεν) auf die Welt des Lebens herabsenke.

Daß die Aristotelische Metaphysik und Psychologie die Lücke, die sie hier vorfand, nicht zu schließen vermochte, ist begreiflich. Denn der Aristotelische Formbegriff gründet sich auf den Platonischen Ideenbegriff und er bleibt, auch dort, wo er sich am weitesten von ihm zu entfernen scheint, an wesentliche Voraussetzungen desselben gebunden. Erst der moderne Entwicklungsbegriff will hier die letzte Konsequenz ziehen. Er macht mit der Forderung der Stetigkeit Ernst, und er erstreckt sie auf alle Gebiete. Wie die höheren Lebensformen durch fließende Übergänge mit den elementaren Formen verbunden sind, so kann es auch in ihnen keine Leistung geben, die die Dimension des organischen Daseins als solche verläßt. Was immer über diese Dimension hinauszuragen und einer »anderen Welt« anzugehören scheint, das ist und bleibt ein bloßes Luftgebilde, sofern sich nicht zeigen läßt, in welcher Weise es aus der Grund- und Urschichte des Lebens entsprungen ist und dauernd mit ihr zusammenhängt. Hier muß ein wahrhaft biologisches Weltbild den Hebel einsetzen. Was dem spekulativen Entwicklungsbegriff – auch bei Aristoteles, auch bei Leibniz und Hegel – nicht gelungen war: das soll und wird dem empirischen Entwicklungsbegriff gelingen. Erst durch ihn schien der Weg für eine streng »monistische« Auffassung eröffnet; erst jetzt schien die Kluft zwischen »Natur« und »Geist« gefüllt. So betrachtet, versprach die Darwinsche Lehre nicht nur die Antwort auf die Frage nach der Abstammung des Menschen, sondern auch die Antwort auf alle Fragen nach dem Ursprung der menschlichen Kultur zu enthalten. Als Darwins Lehre zuerst hervortrat, schien in ihr, nach jahrhundertelangen vergeblichen Bemühungen, endlich das vereinigende Band gefunden, das »Naturwissenschaft« und »Kulturwissenschaft« umschlingt. Im Jahre 1873 ließ August Schleicher sein Werk »Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft« erscheinen. Das neue Programm einer Kulturwissenschaft auf darwinistischer Grundlage ist hier vollständig gezeichnet. Schleicher selbst war ursprünglich von Hegels Lehre ausgegangen. Jetzt glaubte er zu sehen, daß und warum in ihr das Heil nicht liegen könne. Er forderte eine prinzipielle Umgestaltung der Methode der Sprachwissenschaft, die sie erst zu einer den Naturwissenschaften ebenbürtigen Erkenntnis erheben werde Näheres über Schleichers Theorie s. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 106 ff.. Damit schien endlich für die Physik, für die Biologie und für die Sprachwissenschaft – und damit mittelbar für alles, was sich »Geisteswissenschaft« nannte – ein gemeinsames Fundament erreicht. Ein und dieselbe Kausalität war es, die alle drei Gebiete umschlang und alle Wesensunterschiede zwischen ihnen auslöschte.

Ein erster Rückschlag gegen diese Auffassung trat ein, als, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in der Biologie selbst die Zweifel an der Gültigkeit der Darwinschen Lehre stärker und stärker wurden. Man begann jetzt nicht nur auf die empirischen Grenzen dieser Lehre hinzuweisen, sondern man richtete, in weit stärkerem Maße als zuvor, seine Aufmerksamkeit auf die Sicherheit ihres philosophischen Fundaments. Und hier erlebte plötzlich der Formbegriff eine neue Auferstehung. Der Vitalismus griff unmittelbar auf diesen Begriff zurück; und er versuchte, auf ihn gestützt, seine These von der »Autonomie des Organischen« und der Autonomie des Lebens durchzuführen. Wir verfolgen hier diese Bewegung nur, sofern sie auf die Frage nach der Grundlegung der Kulturwissenschaften und nach ihrer logischen Eigenart eingewirkt hat. Den eigentlichen Vorkämpfern des Vitalismus lag diese Frage als solche fern. Driesch bleibt, auch als Metaphysiker, reiner Naturforscher. Eine Logik der Geisteswissenschaften hat er niemals aufzubauen versucht; ja, er mußte seinen systematischen Voraussetzungen nach bezweifeln, daß es eine solche geben könne. Denn der Wissenschaftswert der Geschichte wird von ihm aufs schärfste bestritten. Dennoch hat – in einer freilich nur mittelbaren Weise – die Neuorientierung des Denkens, die durch den Vitalismus eingeleitet wurde, auch auf unser Problem eingewirkt. Es ist lehrreich, diese Einwirkung zu verfolgen; denn sie hat der späteren Arbeit, die ihre eigentlichen und wesentlichen Impulse aus ganz anderen Motiven und Problemkreisen erhielt, in wirksamer Weise vorgearbeitet und ihr in vieler Hinsicht den Boden bereitet. Uexküll hat einmal gesagt, daß der Materialismus des 19. Jahrhunderts, indem er lehrte, daß alle Wirklichkeit aus Kraft und Stoff bestehe und sich hierin erschöpfe, einen dritten wesentlichen Faktor völlig übersehen habe. Er habe sich damit blind gemacht gegen die Form, die doch das Entscheidende und Bestimmende sei Uexküll, Die Lebenslehre, S. 19.. Uexküll will in seiner »Theoretischen Biologie« diesen Faktor wieder in sein Recht einsetzen; aber er will andererseits alle metaphysischen und psychologischen Nebenvorstellungen von ihm fernhalten. Er spricht rein als Anatom; als objektiver Naturforscher. Aber eben das Studium der Anatomie ist nach ihm dazu geeignet, den strikten Beweis dafür zu erbringen, daß jeder Organismus eine in sich geschlossene Welt darstellt, in der alles »sich zum Ganzen webt«. Der Organismus ist kein Aggregat von Teilen, sondern ein System von Funktionen, die einander bedingen. Die Art dieser Verknüpfung können wir am »Bauplan« jedes Tieres unmittelbar ablesen. »Die Lehre von den lebenden Wesen« – so erklärt Uexküll – »ist eine reine Naturwissenschaft und hat nur ein Ziel, die Erforschung der Baupläne der Lebewesen, ihre Entstehung und ihre Leistung.« Kein Organismus läßt sich als ein für sich bestehendes, von seiner »Umwelt« abgelöstes Wesen denken. Was seine spezifische Natur ausmacht, ist die besondere Beziehung, in der er zu dieser Umwelt steht: die Art, wie er von ihr Reize empfängt und wie er diese Reize in sich verwandelt. Das Studium der Baupläne zeigt uns, daß in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen den niederen Lebewesen und den höchstentwickelten besteht. An jedem noch so elementaren Organismus können wir ein bestimmtes »Merknetz« und ein bestimmtes »Wirknetz« feststellen; an jedem können wir uns klarmachen, wie seine verschiedenen »Funktionskreise« ineinander eingreifen. Dieses Verhältnis ist nach Uexküll der Ausdruck und das Grundphänomen des Lebens selbst. Die Reize der äußeren Welt, die ein Tier auf Grund seines Bauplanes aufzunehmen vermag, sind die Wirklichkeit, die für dasselbe allein vorhanden ist, und kraft dieser physischen Schranke schließt es sich gegen alle übrigen Daseinskreise ab Vgl. Uexküll, Theoretische Biologie, 1919, 2. Aufl., Berlin. 1928; Die Lebenslehre, Zürich 1930..

Diese Problematik der modernen Biologie, die in den Schriften Uexkülls in sehr eigenartiger Weise aufgewiesen und in höchst fruchtbarer Weise durchgeführt worden ist, vermag uns auch einen Weg zu weisen, in dessen Verfolgung wir zu einer klaren und bestimmten Grenzsetzung zwischen »Leben« und »Geist«, zwischen der Welt der organischen Formen und der der Kulturformen gelangen können. Man hat immer wieder versucht, den Unterschied, der hier besteht, als rein physischen Unterschied zu beschreiben. Man suchte nach bestimmten äußeren Merkmalen, durch die der Mensch als solcher charakterisiert und aus der Reihe der übrigen Lebewesen herausgehoben sein sollte. Welche phantastischen Konstruktionen man bisweilen an derartige Merkmale, z. B. an die Tatsache des aufrechten Ganges des Menschen, geknüpft hat, ist bekannt. Aber der Fortschritt der empirischen Erkenntnis hat all die Scheidewände niedergerissen, die man zwischen dem Menschen und der organischen Natur zu errichten suchte. Immer deutlicher und immer siegreicher behauptete hier der Monismus das Feld. Goethe sah in seiner Entdeckung des Zwischenkieferknochens eine der schönsten und wichtigsten Bestätigungen dafür, daß keine Gestalt der Natur von der anderen schlechthin losgelöst und abgeschieden ist. Die Differenz, nach der wir hier allein suchen und die wir mit Sicherheit aufweisen können, ist keine physische, sondern eine funktionelle Differenz. Das Neue, das in der Kulturwelt hervortritt, ist durch die Aufzeigung bestimmter Einzelmerkmale nicht faßbar und beschreibbar. Denn die entscheidende Änderung liegt nicht in dem Auftreten neuer Kennzeichen und Eigenschaften, sondern in dem eigentümlichen Funktionswandel, den alle Bestimmungen erfahren, sobald wir aus der Welt des Tieres in die des Menschen übergehen. Hier, und hier allein, läßt sich eine wirkliche μετάβασις εἰς ἄλλο γένος feststellen. Die »Freiheit«, die der Mensch sich zu erringen vermag, bedeutet nicht, daß er aus der Natur heraustreten und sich ihrem Sein oder Wirken entziehen kann. Die organische Schranke, die ihm wie jedem anderen Lebewesen gesetzt ist, kann er nicht überwinden und durchbrechen. Aber innerhalb derselben, ja auf Grund ihrer, schafft er sich eine Weite und eine Selbständigkeit der Bewegung, die nur ihm zugänglich und erreichbar ist. Uexküll sagt einmal, daß der Bauplan jedes Lebewesens und das durch ihn bestimmte Verhältnis zwischen seiner »Merkwelt« und »Wirkwelt« dieses Wesen so fest umschließt, wie die Mauern eines Gefängnisses. Diesem Gefängnis entrinnt der Mensch nicht dadurch, daß er die Mauern niederreißt, sondern dadurch, daß er sich ihrer bewußt wird. Hier gilt das Hegelsche Wort, daß der, der um eine Schranke weiß, bereits über diese Schranke hinaus ist. Die Bewußt-Werdung ist der Anfang und das Ende, ist das A und O der Freiheit, die dem Menschen vergönnt ist; das Erkennen und Anerkennen der Notwendigkeit ist der eigentliche Befreiungsprozeß, den der »Geist« gegenüber der »Natur« zu vollbringen hat.

Für diesen Prozeß bilden die einzelnen »symbolischen Formen«: der Mythos, die Sprache, die Kunst, die Erkenntnis, die unentbehrliche Vorbedingung. Sie sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden. Dieser Zug der Vermittlung charakterisiert alles menschliche Erkennen, wie er auch für alles menschliche Wirken bezeichnend und typisch ist. Auch Pflanze und Tier bestehen nur dadurch, daß sie von ihrer Umwelt nicht nur beständig Reize empfangen, sondern dieselben auch in bestimmter Art »beantworten«. Und jeder Organismus vollzieht diese Antwort in anderer Weise. Hier sind, wie Uexküll in seiner Schrift »Umwelt und Innenwelt der Tiere« 2. Aufl., Berlin 1921. gezeigt hat, die mannigfachsten und feinsten Abstufungen möglich. Im ganzen aber besteht für die tierische Welt ein bestimmter, einheitlicher Typus des Handelns, der überall denselben Bedingungen folgt. Die Antwort muß sich dem Reiz in unmittelbarer zeitlicher Folge anschließen, und sie muß immer in derselben Weise vonstatten gehen. Was wir tierische »Instinkte« nennen, das sind nichts anderes als derartige feste Handlungsketten, deren einzelne Glieder in einer durch die Natur des Tieres im voraus bestimmten Weise ineinandergreifen. Eine einzelne Situation wirkt als Handlungsimpuls, der gewisse Bewegungen auslöst; an diesen ersten Impuls schließen sich andere und wieder andere Antriebe an, bis schließlich eine bestimmte »Impulsmelodie« in stets gleichartiger Weise abläuft. Das Lebewesen spielt diese Melodie; aber es kann nicht willkürlich in sie eingreifen. Der Weg, den es zu durchschreiten hat, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen, ist gebahnt; der Organismus folgt ihm, ohne ihn suchen zu müssen und ohne ihn in irgendeiner Weise abändern zu können.

Dies alles verändert sich grundlegend, sobald wir in den Kreis des menschlichen Handelns eintreten. Dieses ist, selbst in seinen einfachsten und primitivsten Formen, durch eine Art der »Mittelbarkeit« gekennzeichnet, die der Weise, in der das Tier reagiert, scharf entgegengesetzt ist. Am deutlichsten stellt sich diese Wandlung des Handlungstypus dar, sobald der Mensch zum Gebrauch des Werkzeugs übergeht. Denn um das Werkzeug als solches zu erfinden, muß der Mensch über den Kreis des unmittelbaren Bedürfnisses hinausblicken. Indem er es schafft, handelt er nicht aus dem Impuls und aus der Not des Augenblicks heraus. Statt unmittelbar durch einen wirklichen Reiz bewegt zu werden, blickt er auf »mögliche« Bedürfnisse hin, zu deren Befriedigung er die Mittel im voraus bereitstellt. Die Absicht, der das Werkzeug dient, schließt also eine bestimmte Voraus-Sicht in sich. Der Antrieb entstammt nicht allein dem Drang der Gegenwart, sondern er gehört der Zukunft an, die, um in dieser Weise wirksam zu werden, in irgendeiner Weise »vorweggenommen« werden muß. Diese »Vorstellung« des Künftigen charakterisiert alles menschliche Handeln. Wir müssen ein noch nicht Bestehendes im »Bilde« vor uns hinstellen, um sodann von dieser »Möglichkeit« zur »Wirklichkeit«, von der Potenz zum Akt überzugehen. Noch deutlicher tritt dieser Grundzug hervor, wenn wir uns von der praktischen Sphäre der theoretischen Sphäre zuwenden. Zwischen beiden besteht insofern kein prinzipieller Unterschied, als auch alle unsere theoretischen Begriffe den Charakter des »Instrumentalen« an sich tragen. Sie sind zuletzt nichts anderes als die Werkzeuge, die wir uns für die Lösung bestimmter Aufgaben geschaffen haben und immer aufs neue schaffen müssen. Begriffe beziehen sich nicht gleich der sinnlichen Wahrnehmung auf ein einzelnes Gegebenes, auf eine konkrete gegenwärtige Situation; sie bewegen sich vielmehr im Kreis des Möglichen und wollen gewissermaßen den Rahmen des Möglichen abstecken. Je mehr der Horizont menschlichen Vorstellens, Meinens, Denkens und Urteilens sich erweitert, um so komplexer wird das System der Mittelglieder, deren wir bedürfen, um ihn überschauen zu können. Die Symbole der Wortsprache sind das erste und wichtigste Glied in dieser Kette. Aber an sie schließen sich Gestalten von anderer Art und Herkunft: die Gestalten des Mythos, der Religion, der Kunst, an. Ein und dieselbe Grund funktion, die Funktion des Symbolischen als solche, entfaltet sich in ihren verschiedenen Hauptrichtungen und schafft innerhalb derselben immer neue Gebilde. Die Gesamtheit dieser Gebilde ist es, was die spezifisch-menschliche Welt kennzeichnet und auszeichnet. Der tierischen »Merkwelt« und »Wirkwelt« hat sich im Kreise des Menschen ein Neues: die »Bildwelt« zugestellt; und sie ist es, die fortschreitend eine immer größere Macht über den Menschen gewinnt.

Aber hier entsteht freilich eine der schwierigsten Fragen: eine Frage, mit der die Menschheit im Laufe der Entwicklung ihrer Kultur immer wieder zu ringen hatte. Ist der Weg, der hier eingeschlagen wird, nicht ein verhängnisvoller Irrweg? Darf sich der Mensch in dieser Weise von der Natur losreißen und sich von der Wirklichkeit und Unmittelbarkeit des natürlichen Daseins entfernen? Sind das, was er hierfür eintauscht, noch Güter, oder sind es nicht die schwersten Gefahren für sein Leben? Wenn die Philosophie ihrer eigentlichen und höchsten Aufgabe eingedenk blieb, wenn sie nicht nur eine bestimmte Art des Wissens von der Welt, sondern auch das Gewissen der menschlichen Kultur sein wollte, so mußte sie im Lauf ihrer Geschichte stets aufs neue auf dieses Problem hingeführt werden. Statt sich einem naiven Fortschrittsglauben zu überlassen, mußte sie nicht nur fragen, ob das Ziel dieses angeblichen »Fortschritts« erreichbar, sondern ob es erstrebenswert sei. Und ist der Zweifel hieran einmal erwacht, so scheint er nicht mehr zu beschwichtigen zu sein. Am stärksten erweist er sich, wenn wir das praktische Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit ins Auge fassen. Durch den Werkzeuggebrauch hat sich der Mensch zum Herrscher über die Dinge aufgeworfen. Aber diese Herrschaft ist ihm selbst nicht zum Segen, sondern zum Fluch geworden. Die Technik, die er erfand, um sich die physische Welt zu unterwerfen, hat sich gegen ihn selbst gekehrt. Sie hat nicht nur zu einer steigenden Selbstentfremdung, sondern zuletzt zu einer Art Selbstverlust des menschlichen Daseins geführt. Das Werkzeug, das zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse bestimmt schien, hat statt dessen unzählige künstliche Bedürfnisse geschaffen. Jede Vervollkommnung der technischen Kultur ist und bleibt in dieser Hinsicht ein wahres Danaergeschenk. Die Sehnsucht nach dem primitiven, ungebrochenen, unmittelbaren Dasein muß daher immer wieder hervorbrechen, und der Ruf: »Zurück zur Natur!« muß um so stärker werden, je mehr Gebiete des Lebens die Technik sich erobert. Uexküll sagt mit Hinblick auf die niederen Tiere einmal, daß jedes Tier seiner Umwelt so völlig angepaßt sei, daß es in ihr so ruhig und sicher ruht, wie ein Säugling in seiner Wiege. Mit dieser Ruhe ist es endgültig dahin, sobald wir in die Sphäre des Menschen eintreten. Jede tierische Gattung ist in den Umkreis ihrer Bedürfnisse und Triebe gleichsam festgebannt; sie hat keine andere Welt als diejenige, die ihr durch ihre Instinkte vorgezeichnet ist. Aber innerhalb dieser Welt, für die das Tier geschaffen ist, gibt es kein Schwanken und keine Verfehlung: die Schranke des Instinkts gewährt zugleich die höchste Sicherheit. Kein menschliches Wissen und kein menschliches Tun kann jemals wieder den Weg zu dieser Art fraglosen Daseins und fragloser Gewißheit zurückfinden. Denn gegen die geistigen Werkzeuge, die der Mensch sich geschaffen hat, kehrt sich der Zweifel in noch höherem Maße als gegen die technischen Werkzeuge. Die Sprache ist immer wieder überschwenglich gepriesen worden; man sah in ihr den eigentlichen Ausdruck und den unverkennbaren Beweis jener »Vernunft«, die den Menschen über das Tier erhöht. Aber sind all die Argumente, die man in dieser Hinsicht angeführt hat, echte Beweisgründe – oder sind sie nicht vielleicht nur eine leere Selbstvergötterung, in der die Sprache sich gefiel? Haben sie mehr als bloß rhetorischen, haben sie einen philosophischen Wert? In der Geschichte der Philosophie hat es niemals an bedeutenden Denkern gefehlt, die nicht nur vor dieser Vermischung von »Sprache« und »Vernunft« gewarnt haben, sondern die in der Sprache den eigentlichen Widersacher und Gegenspieler der Vernunft gesehen haben. Sie war ihnen nicht die Führerin, sondern die ewige Verführerin der menschlichen Erkenntnis. Die Erkenntnis, so erklärten sie, werde ihr Ziel erst erreichen, wenn sie der Sprache entschlossen den Rücken kehre und sich von ihrem Inhalt nicht mehr verlocken lasse. »Vergeblich erweitern wir unsern Blick in die himmlischen Räume und erspähen das Innere der Erde«, so sagt Berkeley, »vergeblich ziehen wir die Schriften gelehrter Männer zu Rate und verfolgen die dunklen Spuren des Altertums; wir brauchten nur den Vorhang von Worten wegzuziehen, um klar und rein den Baum der Erkenntnis zu erblicken, dessen Frucht vortrefflich und unserer Hand erreichbar ist.« Zu Berkeleys Sprachkritik vgl. Philos. d. symbol. Formen, I, 36 ff.

Berkeley selbst hat keinen anderen Ausweg aus diesem Konflikt finden können als dadurch, daß er die Philosophie nicht nur von der Herrschaft der Sprache, sondern auch von der Herrschaft des »Begriffs« lossprach. Denn daß der Begriff, als ein »Abstraktes« und »Allgemeines«, mit jenem Allgemeinen, das sich im Namen und Wort bekundet, nicht nur verwandt, sondern daß er unlöslich mit ihm verbunden ist, ist ihm nicht entgangen. Hier konnte demnach nur eine radikale Lösung helfen: die Wirklichkeit mußte auch dem Begriff, sie mußte auch der »Logik« entzogen und auf die reine Wahrnehmung, auf die Sphäre der »Perzeption« eingeschränkt werden. Wo wir diese letztere Sphäre verlassen, wo wir vom percipi zum concipi fortzuschreiten versuchen, da sehen wir uns wieder der Macht der Sprache verfallen, der wir entfliehen wollten. Alles logische Erkennen vollzieht sich in Akten des Urteilens, der theoretischen Reflexion. Aber schon der Name der Reflexion deutet auf die Mängel hin, die ihr unvermeidlich anhaften. Der »reflektierte« Gegenstand ist niemals der Gegenstand selbst – und jede neue spiegelnde Fläche, die wir einschalten, droht uns mehr und mehr von der ursprünglichen, der originalen Wahrheit des letzteren zu entfernen. Derartige Erwägungen haben sich seit alters her den eigentlichen Nährboden des theoretischen Skeptizismus gebildet. Und nicht nur die Sprachtheorie, sondern auch die Theorie der Kunst hat im Verlauf ihrer Geschichte fort und fort mit ähnlichen Problemen zu ringen gehabt. Platon entsagt der Kunst, und er verwirft sie. Denn er wirft ihr vor, daß sie in dem Kampf zwischen Wahrheit und Schein nicht auf Seiten der Philosophie, sondern auf Seiten der Sophistik stehe. Der Künstler erschaut nicht die Ideen, die ewigen Urbilder der Wahrheit; er treibt sich statt dessen im Kreise der Abbilder umher und wendet alle seine Kraft darauf, diese Abbilder so zu gestalten, daß sie dem, der sie betrachtet, die Wirklichkeit selbst vortäuschen. Der Dichter und der Maler ist, gleich dem Sophisten, der ewige »Bildermacher« (εἰδωλοποιός). Statt das Sein als das, was es ist, zu begreifen, schieben beide uns eine Illusion des Seins unter. Solange die Ästhetik auf dem Boden der »Nachahmungstheorie« stehenblieb, hat sie vergeblich versucht, diesen platonischen Einwand prinzipiell zu entkräften. Man versuchte, um die Nachahmung zu rechtfertigen, statt einer theoretischen oder ästhetischen Begründung ihres Wertes eine andere, hedonistische Begründung. Auch der ästhetische Rationalismus ist oft diesen Weg gegangen. Er betonte, daß die Nachahmung freilich das Wesen nicht erschöpfe, daß der »Schein« die »Wirklichkeit« nicht erreichen könne. Aber er wies statt dessen auf den Lustwert hin, der der Nachahmung innewohne und der um so stärker werde, je mehr sie sich ihrem Vorbild annähere. Boileaus »Art Poétique« enthält schon in ihren Anfangsversen diesen Gedankengang in klassischer Prägnanz und Deutlichkeit. Selbst ein Monstrum – so erklärt sie – kann in der künstlerischen Darstellung gefallen, weil das Gefallen nicht dem Gegenstand als solchem, sondern der Vortrefflichkeit der Nachbildung gilt. Damit schien sich wenigstens die Möglichkeit zu ergeben, die eigentümliche Dimension des Ästhetischen als solche zu bestimmen und ihr einen selbständigen Wert zuzugestehen, wenngleich dieses Ziel nur auf einem seltsamen Umweg erreicht werden konnte. Aber auf dem Boden des strikten Rationalismus und des metaphysischen Dogmatismus ließ sich eine endgültige Lösung des Problems nicht gewinnen. Denn ist man einmal davon überzeugt, daß der logische Begriff die notwendige und hinreichende Bedingung für die Erkenntnis des Wesens der Dinge ist, so bleibt zuletzt doch alles, was sich von ihm spezifisch unterscheidet und was an seine Klarheit und Deutlichkeit nicht heranreicht, wesenloser Schein. Der Illusions-Charakter derjenigen geistigen Formen, die außerhalb des Kreises des Bloß-Logischen stehen, kann in diesem Falle nicht bestritten, er kann nur als solcher aufgewiesen und insofern erklärt und gerechtfertigt werden, als man der psychologischen Entstehung der Illusion nachgeht und ihre empirischen Bedingungen an der Struktur des menschlichen Vorstellens und der menschlichen Phantasie aufzuzeigen versucht.

Eine ganz andere Wendung aber gewinnt die Frage, wenn man, statt das Wesen der Dinge als ein von Anfang an Feststehendes zu behandeln, in ihm vielmehr gewissermaßen den unendlich-fernen Punkt sieht, auf den alles Erkennen und Verstehen abzielt. Das »Gegebene« des Objekts wandelt sich in diesem Fall in die »Aufgabe« der Objektivität. Und an dieser Aufgabe ist, wie sich zeigen läßt, die theoretische Erkenntnis nicht allein beteiligt; sondern an ihr nimmt jede Energie des Geistes in ihrer eigenen Weise teil. Jetzt läßt sich auch der Sprache und der Kunst ihre eigentümliche »objektive« Bedeutung zuweisen – nicht weil sie eine an sich bestehende Wirklichkeit nachbilden, sondern weil sie sie vor-bilden, weil sie bestimmte Weisen und Richtungen der Objektivierung sind. Und dies gilt ebensowohl für die Welt der inneren Erfahrung, wie es für die Welt der äußeren Erfahrung gilt. Für die metaphysische Weltansicht und die Zwei-Substanzen-Lehre bedeuten »Seele« und »Körper«, das »Innere« und das »Äußere«, zwei voneinander streng geschiedene Seinskreise. Sie mögen aufeinander einwirken können, wenngleich die Möglichkeit dieses Einwirkens immer dunkler und problematischer wird, je weiter die Metaphysik ihre eigenen Konsequenzen zieht; aber der radikale Unterschied zwischen ihnen ist nicht zu überwinden. »Subjektivität« und »Objektivität« bilden je eine Sphäre für sich; und die Analyse einer bestimmten geistigen Form scheint erst dann gelungen und abgeschlossen zu sein, wenn wir darüber ins klare gekommen sind, welcher der beiden Sphären sie angehört. Hier gilt ein Entweder-Oder; ein »Hüben« oder »Drüben«. Die Bestimmung wird nach Art einer räumlichen Festlegung gedacht, die einem Phänomen seinen Platz im Bewußtsein oder im Sein, in der Innen- oder Außenwelt zuweist. Für die kritische Auffassung aber löst sich eben diese Alternative in einen dialektischen Schein auf. Sie zeigt, daß die innere und die äußere Erfahrung nicht fremde und getrennte Dinge sind, sondern daß sie auf gemeinsamen Bedingungen beruhen, und daß sie sich nur miteinander und in stetem Bezug aufeinander bilden können. An Stelle der substantiellen Scheidung tritt hier die korrelative Beziehung und Ergänzung.

Diese charakteristische Wechselbestimmung aber gilt keineswegs nur im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie bleibt auch dort bestehen, wo wir über den Kreis des Wissens und des theoretischen Begreifens hinausblicken. Auch in der Sprache, auch in der Kunst, ja selbst im Mythos und in der Religion herrscht nicht ein einfaches Gegenüber von »Ich« und »Welt«. Auch hier bildet sich die Anschauung beider in ein und demselben Prozeß aus, der zu einer ständig fortschreitenden »Auseinandersetzung« der beiden Pole führt. Diese Auseinandersetzung würde um ihren eigentlichen Sinn gebracht, wenn sie die Beziehung aufheben, wenn sie zu einer Isolierung des Subjekt- oder Objekt-Poles führen könnte. Die Zweiteilung: Symbol oder Gegenstand erweist sich auch hier als unmöglich, da die schärfere Analyse uns lehrt, daß eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung für alles Erfassen von »Gegenständen« oder Sachverhalten ist Vgl. hierzu Philosophie der symbolischen Formen, Einleitung.. Mit dieser Einsicht nimmt auch der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Schein einen anderen Charakter und eine andere Bedeutung an. An der Kunst wird es unmittelbar ersichtlich, daß sie, wenn sie auf den »Schein« schlechthin verzichten wollte, damit auch die »Erscheinung«, auch den Gegenstand des künstlerischen Anschauens und Bildens, verlieren würde. Am »farbigen Abglanz« und an ihm allein hat sie das ihr gemäße und das ihr eigentümliche Leben. Kein Künstler kann die Natur darstellen, ohne daß er, in dieser Darstellung und durch sie, sein eigenes Ich zum Ausdruck brächte; kein künstlerischer Ausdruck des Ich ist möglich, ohne daß Gegenständliches, in voller Objektivität und Plastizität sich vor uns hinstellt. Subjektives und Objektives, Gefühl und Gestalt müssen ineinander übergehen und völlig ineinander aufgehen, wenn ein großes Kunstwerk entstehen soll. Daraus aber ergibt sich, daß und warum das Werk der Kunst niemals eine bloße Abbildung des Subjektiven oder Objektiven, der seelischen oder der gegenständlichen Welt sein kann, sondern daß sich hier eine echte Entdeckung beider vollzieht: eine Entdeckung, die in ihrem allgemeinen Charakter hinter keiner theoretischen Erkenntnis zurückbleibt. In dieser Hinsicht konnte Goethe mit Recht sagen, daß der Stil auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen. In der Tat bliebe es eine höchst fragwürdige und in jedem Fall eine sehr kümmerliche Leistung, wenn die Kunst nichts anderes vermöchte, als ein äußeres Dasein oder ein inneres Geschehen einfach zu wiederholen. Wäre sie in diesem Sinne ein Abdruck des Seins, so bestünden alle Vorwürfe, die Platon gegen sie gerichtet hat, zu Recht: man müßte ihr jegliche »ideelle« Bedeutung absprechen. Denn die echte Idealität, die Idealität des theoretischen Begriffs wie die der anschaulichen Gestaltung, schließt stets ein produktives, nicht ein rezeptives oder imitatives Verhalten in sich. Sie muß Neues finden, statt Altes unter einer anderen Form zu wiederholen. Die Kunst bleibt eine müßige Unterhaltung des Geistes, ein leeres Spiel, sofern sie nicht dieser ihrer höchsten Aufgabe gerecht wird.

Man braucht nur einen Blick auf die wahrhaft großen Kunstwerke aller Zeiten zu werfen, um dieses ihres Grundcharakters innezuwerden. Jedes dieser Werke entläßt uns mit dem Eindruck, daß wir hier einem Neuen, zuvor nicht Bekannten begegnen. Es ist nicht bloße Nachahmung oder Wiederholung, was uns hier entgegentritt; sondern immer scheint uns die Welt auf einem neuen Wege und von einer neuen Seite her erschlossen zu werden. Wenn das Epos nichts anderes vermöchte, als vergangenes Geschehen festzuhalten und es im Gedächtnis der Menschen zu erneuern, so wäre es damit von der bloßen Chronik nicht unterschieden. Aber es genügt, an Homer, an Dante oder Milton zu denken, um sich davon zu überzeugen, daß uns in jedem großen Epos der Weltliteratur etwas völlig anderes entgegentritt. Hier handelt es sich nirgends um bloßen Bericht über Vergangenes; sondern hier werden wir, am Faden der epischen Erzählung, in eine Welt-Ansicht versetzt, die das Ganze des Geschehens und das Ganze der Menschenwelt in einem neuen Licht erscheinen läßt. Auch der scheinbar »subjektivsten« Kunst, auch der Lyrik ist dieser Zug eigentümlich. Mehr als jede andere Kunstgattung scheint die Lyrik dem Augenblick verhaftet zu sein. Das lyrische Gedicht will eine einmalige, flüchtige, nie wiederkehrende Stimmung gewissermaßen im Fluge erhaschen und festhalten. Es entspringt einem einzelnen Moment, und es blickt über diesen schöpferischen Moment nicht hinaus. Und doch beweist sich auch in der Lyrik, und vielleicht in ihr am stärksten, jene Art von »Idealität«, die Goethe mit den Worten bezeichnet hat, daß es das Eigentümliche der ideellen Denkweise sei, das Ewige im Vorübergehenden sehen zu lassen. Indem sie sich in den Augenblick versenkt, und indem sie nichts anderes versucht, als ihn in seinem ganzen Gefühls- und Stimmungsgehalt auszuschöpfen, verleiht sie ihn damit Dauer und Ewigkeit. Wenn das lyrische Gedicht nichts anderes täte, als momentane und individuelle Gefühle des Dichters in Worte zu fassen, so würde es sich damit von jeder anderen sprachlichen Äußerung nicht unterscheiden. Alle Lyrik wäre lediglich Sprachausdruck, wie alle Sprache Lyrik wäre. Benedetto Croce hat in seiner Ästhetik diese Folgerung in der Tat gezogen. Dennoch müssen wir auch hier neben dem »genus proximum« des Ausdrucks überhaupt die spezifische Differenz des lyrischen Ausdrucks im Auge behalten. Die Lyrik ist keine bloße Steigerung oder Sublimierung des sprachlichen Empfindungslautes. Sie ist nicht lediglich die Verlautbarung einer augenblicklichen Stimmung, und sie will nicht bloß die Skala all der Töne durchmessen, die zwischen den beiden Gegenpolen des Affekts, zwischen Leid und Lust, Schmerz und Freude, Erhebung und Verzweiflung liegen. Wenn es dem lyrischen Dichter gelingt, dem Schmerz »Melodie und Rede« zu geben, so hat er damit nicht nur eine neue Hülle um ihn geworfen; er hat ihn damit innerlich gewandelt. Durch das Medium des Affekts läßt er uns in eine seelische Tiefe hineinblicken, die ihm selbst und uns bisher verschlossen und unzugänglich war. Wiederum braucht man sich nur die eigentlichen Wendepunkte und Höhepunkte in der Entwicklung des lyrischen Stils zu vergegenwärtigen, um dieses seines Grundcharakters gewiß zu werden. Jeder große Lyriker lehrt uns, indem er lediglich sein Ich aussprechen will, ein neues Weltgefühl kennen. Er zeigt uns Leben und Wirklichkeit in einer Gestalt, in der wir es niemals zuvor gesehen zu haben glauben. Ein Sapphisches Lied oder eine Pindarische Ode, Dantes »Vita nuova« und Petrarcas Sonette, Goethes Sesenheimer Lieder und sein West-östlicher Divan, Hölderlins oder Leopardis Gedichte: dies alles gibt uns nicht nur eine Reihe einzelner verschwebender Stimmungen, die vor uns auftauchen, um alsbald wieder zu verschwinden und sich ins Nichts zu verlieren. All dies »ist« und »besteht«; es erschließt uns eine Erkenntnis, die sich nicht in abstrakte Begriffe fassen läßt, die aber nichtsdestoweniger als Offenbarung eines Neuen, bisher nicht Gewußten und Gekannten, vor uns steht. Es gehört zu den größten Leistungen der Kunst, daß sie hierzu fähig ist, daß sie noch im Individuellen das Objektive erfühlen und erkennen läßt, während sie andererseits alle ihre objektiven Gestaltungen konkret und individuell vor uns hinstellt und sie damit mit dem stärksten und intensivsten Leben erfüllt.


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