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Während meiner kurzen Reise vom Haag nach Paris hatte ich vollkommen Zeit genug, zu bemerken, daß die Seele meines Pflegesohnes nicht so schön war wie sein Persönchen.
Seine Mutter hatte, wie ich bereits erwähnte, besonders Wert darauf gelegt, ihn zur Verschwiegenheit zu erziehen. Es lag in ihrem eigenen Interesse, an ihrem Sohn diese Eigenschaft ganz besonders auszubilden; den Grund brauche ich meinen Lesern nicht zu sagen. Der Knabe war der Leitung seiner Mutter gefolgt; aber er hatte noch nicht Vernunft genug, um Maß zu halten. Er hatte die Verschwiegenheit übertrieben, und infolgedessen hatten sich dieser Eigenschaft bald drei große Fehler beigesellt: Verstellung, Mißtrauen und falsche Vertraulichkeit – ein schönes Trio von Lügen bei einem Menschen, der sich kaum dem Beginn der Geschlechtsreife näherte. Er sagte nicht nur nicht, was er wußte, sondern er stellte sich, wie wenn er wüßte, was er nicht wußte. Er fühlte, daß er undurchdringlich sein müßte, wenn ihm dies gelingen sollte; darum hatte er sich daran gewöhnt, seinem Herzen Schweigen zu gebieten und niemals etwas zu sagen, was er sich nicht zuvor im Geiste zurecht gelegt hatte. Er glaubte klug zu sein, wenn er Irrtum erregte, und da sein Herz keiner edlen Regung fähig war, so war der unglückliche Knabe allem Anschein nach dazu verdammt, niemals die Freundschaft kennen zu lernen und niemals einen Freund zu haben.
Ich sah voraus, daß Frau von Urfé auf ihn rechnen würde, um ihre phantastische Mannwerdung zu vollbringen, und daß ihr Geist um so tollere Dinge aushecken würde, je mehr ich ihr aus seiner Herkunft ein Geheimnis machte. Deshalb befahl ich ihm, von seinen Verhältnissen nichts zu verbergen, wenn eine Dame, der ich ihn vorstellen würde, ihn im geheimen ausfragen würde. Er versprach mir Gehorsam; aber mein Befehl, aufrichtig zu sein, kam ihm unerwartet.
In Paris galt mein erster Besuch meinem Gönner, den ich in zahlreicher Gesellschaft fand. Ich sah in seinem Kreise den venetianischen Gesandten, der so tat, als kenne er mich nicht.
»Seit wann sind Sie in Paris?« sagte der Minister, indem er mir die Hand schüttelte.
»Seit diesem Augenblick, ich steige eben aus dem Postwagen.«
»Gehen Sie doch nach Versailles; Sie werden dort den Herzog von Choiseul und den Generalkontrolleur finden. Sie haben Wunder vollbracht; lassen Sie sich bewundern und besuchen Sie mich nachher. Sagen Sie dem Herrn Herzog, ich habe Voltaire einen Paß des Königs geschickt, der ihn zu seinem wirklichen Kammerherrn ernennt.«
Man fährt nicht mittags nach Versailles; aber so redeten die Minister, wenn sie in Paris waren, wie wenn Versailles am Ende der Straße gelegen sei.
Statt mich nach der prunkvollen Residenz der französischen Könige zu begeben, ging ich zur Frau von Urfé.
Die Dame empfing mich mit den Worten: »Mein Genius hatte mir enthüllt, daß ich Sie noch heute sehen würde; ich bin entzückt über seine Zuverlässigkeit. Corneman hat mir gesagt, daß man das Gelingen Ihres Geschäftes in Holland als ein Wunder ansehe. Ich aber erblicke darin ein Wunder von ganz anderer Art; denn ich bin überzeugt, daß Sie selber die zwanzig Millionen übernommen haben. Die Staatspapiere sind im Steigen, und es werden im Laufe der Woche mindestens hundert Millionen umgesetzt werden. Sie werden keine Beleidigung darin erblicken, daß ich es gewagt habe, Ihnen ein so armseliges Geschenk zu machen; denn zwölftausend Franken sind für Sie eine Kleinigkeit. Sie werden darin nur meine Freundschaft erblicken, die sich gerne äußern wollte.«
»Ich weiß ihre Sprache vollkommen zu würdigen.«
»Ich werde dem Schweizer befehlen, niemanden vorzulassen; denn Ihre Rückkehr macht mich so glücklich, daß ich Sie ganz für mich allein haben muß.«
Ich antwortete auf dieses schmeichelhafte Kompliment nur mit einer tiefen Verbeugung, und sie zitterte vor Freude, als ich ihr sagte, daß ich einen zwölfjährigen Knaben aus Holland mitgebracht hätte, den ich in der besten Schulanstalt von Paris unterzubringen gedächte, um ihm eine gute Erziehung geben zu lassen.
»Ich nehme es auf mich, ihn bei Viar unterzubringen, wo meine Neffen sind. Wie heißt er? wo ist er? Ich weiß wohl, was dies für ein Knabe ist! Ich kann es gar nicht erwarten, ihn zu sehen. Warum, Herr Casanova, sind Sie nicht bei mir abgestiegen?«
Ihre Fragen und Antworten folgten einander blitzschnell; es wäre mir unmöglich gewesen, auch nur eine Silbe dazwischen zu sprechen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Aber es war mir ganz recht, daß sie ihr erstes Feuer verprasselte; daher unterbrach ich sie auch nicht. Als ein Augenblick des Schweigens eingetreten war, sagte ich ihr, ich würde die Ehre haben, ihr am zweitnächsten Tag meinen Jüngling vorzustellen, denn der folgende Tag wäre für Versailles bestimmt.
»Spricht dieser kostbare Knabe französisch? Sie müssen ihn unbedingt bei mir lassen, bis ich wegen der Erziehungsanstalt alles in Ordnung gebracht habe.«
»Darüber werden wir übermorgen sprechen, gnädige Frau.«
»Wäre doch dieses Übermorgen erst da!«
Von Frau d'Urfé begab ich mich nach meinem Bureau, wo ich zu meiner Befriedigung alles vollkommen in Ordnung fand. Hierauf ging ich in die italienische Komödie. Sylvia spielte an diesem Abend; ich suchte sie in ihrem Ankleidezimmer auf, wo sie und ihre Tochter waren.
»Lieber Freund,« sagte sie bei meinem Anblick, »ich weiß, Sie haben in Holland sehr gute Geschäfte gemacht, und ich wünsche Ihnen Glück dazu.«
Ich überraschte sie angenehm, indem ich ihr sagte, ich hätte für die Tochter gearbeitet; Manon errötete und schlug auf recht bezeichnende Art die Augen nieder.
»Zum Abendessen bin ich bei Ihnen; dann können wir in aller Behaglichkeit plaudern.«
Ich verließ sie und ging ins Amphitheater. Welche Überraschung! In einer der ersten Logen sah ich Frau X. C. V. mit ihrer ganzen Familie. Ich werde meinen Lesern ein Vergnügen machen, indem ich hier ihre Geschichte erzähle.
Frau X. C. V. war eine Griechin von Geburt und Witwe eines Engländers, von dem sie sechs Kinder hatte, darunter vier Töchter. Auf seinem Totenbett trat er zum katholischen Glauben über, da er nicht die Kraft hatte, den Tränen seiner Frau zu widerstehen. Da aber seine Kinder ein Kapital von vierzigtausend Pfund Sterling, das der Verstorbene in England hinterlassen hatte, nicht erben konnten, wenn sie sich nicht zur anglikanischen Kirche bekannten, so war die Familie nach London gegangen, wo die Witwe alle von den englischen Gesetzen verlangten Formalitäten erfüllt hatte. Was tut man nicht um des Geldes willen! Übrigens darf man Personen die wie in diesem Fall nur gesetzlich festgelegten Vorurteilen fremde, Nationen nachgeben, keinen Vorwurf machen.
Wir befanden uns damals im Jahre 1758; fünf Jahre vorher hatte ich mich in Padua in die älteste Tochter verliebt, mit der ich Theater gespielt hatte, aber einige Monate später in Venedig befand Frau X. C. V. es für gut, mich von ihrer Gesellschaft auszuschließen. Ihre Tochter veranlaßte mich durch einen reizenden Brief, den ich noch jetzt mit Vergnügen lese, den mir von ihrer Mutter angetanen Schimpf ruhig zu ertragen. Ich muß übrigens gestehen, daß es mir damals um so leichter wurde, mich in Geduld zu fassen, weil ich mit meiner schönen Nonne M. M. und mit meiner reizenden C. C. beschäftigt war. Fräulein X. C. V. war damals freilich erst fünfzehn Jahre alt, aber eine vollkommene Schönheit und um so entzückender, da sie nicht nur ein reizendes Gesicht, sondern auch alle Vorzüge eines gebildeten Geistes besaß, der oft eine größere Anziehungskraft besitzt als alle körperlichen Vollkommenheiten.
Graf Algarotti, der Kammerherr des Königs von Preußen, gab ihr Unterricht, und mehrere junge Patrizier suchten ihr Herz zu erobern. Der Bevorzugte schien der älteste Sohn der Familie Memmo di San Marcuola zu sein. Der junge Mann starb ein Jahr darauf als Prokurator von San Marco.
Man kann sich denken, wie erstaunt ich war, diese Familie wieder zu sehen, die ich bereits aus den Augen verloren hatte. Fräulein X. C. V. erkannte mich sofort und zeigte mich ihrer Mutter; diese winkte nur mit dem Fächer, und ich suchte sie in ihrer Loge auf.
Sie empfing mich auf das liebenswürdigste und sagte mir, sie seien nicht mehr in Venedig, und sie hoffe daher, daß ich ihr nicht das Vergnügen abschlagen werde, sie oft im Hotel de Bretagne in der Rue St.-André-des-Arts zu besuchen. Ich sagte ihr, ich wolle an Venedig nicht mehr denken, und da die Tochter ihre Bitten mit denen der Mutter vereinigte, so versprach ich ihrer Einladung Folge zu leisten.
Ich fand Fräulein X. C. V. außerordentlich schön geworden, und meine Liebe, die fünf Jahre lang geschlummert hatte, erwachte mit einer Stärke, die ich nur der Vollendung vergleichen kann, zu der die Geliebte während dieser Zeit aufgeblüht war. Sie sagten mir, sie wollten vor ihrer Rückkehr nach Venedig sechs Monate in Paris verbringen. Ich erzählte ihnen, daß ich die Absicht hätte, mich dauernd in Paris niederzulassen, daß ich soeben von Holland zurück käme und daß ich am nächsten Tage nach Versailles fahren müßte, ihnen daher erst am folgenden Tage meine Aufwartung machen könnte. Zugleich bot ich ihnen meine Dienste an, indem ich durchblicken ließ, daß ich unter Umständen in der Lage wäre, ihnen sehr bedeutende zu leisten.
Fräulein X. C. V. sagte mir, sie wisse, daß mein Erfolg in Holland mir Anspruch auf den Dank Frankreichs gebe; sie habe stets gehofft, mich wieder zu sehen, und meine berühmte Flucht aus den Bleikammern habe ihnen die größte Freude gemacht; »denn wir haben Sie immer geliebt.«
»Von Seiten Ihrer Frau Mutter habe ich dies nicht immer bemerkt«, sagte ich leise zu ihr.
»Sprechen wir nicht mehr davon,« antwortete sie halblaut; »wir haben alle Umstände Ihrer wunderbaren Flucht aus einem sechzehn Seiten langen Brief erfahren, den Sie an Herrn Memmo schrieben. Wir haben vor Freude gebebt und vor Furcht geschaudert.«
»Und wie haben Sie erfahren, daß ich in Holland war?«
»Herr de la Popelinière hat es uns gestern erzählt.«
Der Generalpächter de la Popelinière, den ich sieben Jahre vorher in seinem Hause in Passy kennen gelernt hatte, kam gerade in dem Augenblicke, als Fräulein X. C. V. seinen Namen aussprach, in die Loge. Nachdem er mir eine leichte Verbeugung gemacht hatte, sagte er zu mir: »Wenn Sie auf dieselbe Art der Indischen Kompagnie zwanzig Millionen verschaffen können, werde ich Sie zum Generalpächter ernennen lassen, übrigens rate ich Ihnen, Herr Casanova, sich in Frankreich naturalisieren zu lassen, bevor man erfährt, daß Sie eine halbe Million verdient haben.«
»Eine halbe Million! Ich möchte wohl, daß dies wahr wäre.«
»Weniger können Sie nicht verdient haben.«
»Ich versichere Ihnen, mein Herr, dies Geschäft richtet mich zugrunde, wenn man mir meine Maklergebühr vorenthält.«
»Sie haben recht, daß Sie so sprechen. Übrigens möchte alle Welt Sie gerne kennen lernen, denn Frankreich hat Ihnen viel zu verdanken. Sie haben ein glückliches Steigen der Kurse bewirkt.«
Nach dem Theater ging ich zu Sylvia und wurde dort wie ein Kind vom Hause gefeiert; aber auch ich gab ihnen Beweise, daß ich als solches angesehen werden wollte. Ich hatte das Gefühl, dem Einfluß ihrer beständigen Freundschaft mein ganzes Glück zu verdanken. Ich bat Vater, Mutter, Tochter und die beiden Söhne, die Geschenke anzunehmen, die ich für sie bestimmt hätte. Das reichste, das ich schon in der Tasche hatte, bot ich der Mutter, die es sofort ihrer Tochter gab. Es waren ein Paar Ohrringe mit Diamanten von größter Schönheit; ich hatte fünfzehntausend Franken dafür bezahlt. Drei Tage später gab ich ihr eine Kiste voll von prachtvollem Calencar, holländischer Leinewand und feinen Mechelner, und Alençonspitzen. Mario, der gerne rauchte, erhielt eine schöne goldene Pfeife. Eine schöne goldene Tabaksdose mit Emaille gab ich meinem Freunde, und dem jüngeren Sohn, den ich leidenschaftlich gerne hatte, eine Repetieruhr. Ich werde noch Gelegenheit haben, von diesem schönen Jungen zu sprechen, den seine natürlichen Eigenschaften weit über seinen Stand erhoben.
War ich aber auch reich genug, um solche Geschenke zu machen? Nein. Ich wußte dies auch sehr gut; aber ich machte diese Geschenke in der Befürchtung, es später nicht mehr zu können, wenn ich mir die Gelegenheit entgehen ließe.
Mit Tagesanbruch fuhr ich nach Versailles, und Herr von Choiseul empfing mich wie das erste Mal: er wurde gerade frisiert. Diesmal aber legte er die Feder hin, was mir bewies, daß ich in seinen Augen gewachsen war. Nachdem er mir eine anmutige leichte Verbeugung gemacht hatte, sagte er mir: wenn ich imstande zu sein glaubte, eine Anleihe von hundert Millionen Gulden zu vier Prozent zustande zu bringen, würde er mir einen ehrenvollen Rang zuweisen lassen, um mich bei meinen Unterhandlungen zu unterstützen. Ich antwortete ihm, ich würde mir die Sache überlegen, sobald ich gesehen hätte, welche Belohnung man für das bereits abgeschlossene Geschäft gäbe.
»Aber man sagt allgemein, Sie haben zweihunderttausend Gulden verdient.«
»Das wäre nicht übel; ein halbe Million Franken wäre ein hübscher Anfang; aber ich kann Eurer Exzellenz versichern, daß am Gerede nichts ist. Man bringe mir den geringsten Beweis bei, und ich werde mich bescheiden. Ich glaube die Maklergebühr beanspruchen zu können.«
»Das ist wahr. Setzen Sie sich mit dem Generalkontrolleur darüber auseinander.«
Herr von Boulogne unterbrach seine Arbeit, um mich auf das liebenswürdigste zu empfangen; als ich ihm aber sagte, er sei mir hunderttausend Gulden schuldig, lächelte er ironisch und sagte: »Ich wußte, daß Sie dreihunderttausend Franken in Wechseln auf Ihre Ordre bei sich haben.«
»Allerdings; dies hat aber nicht das geringste damit zu tun, daß ich meinen Auftrag ausgeführt habe. Dies ist eine bewiesene Tatsache, und ich beziehe mich auf Herrn d'Affry. Übrigens habe ich einen unfehlbaren Plan, die königlichen Einkünfte um zwanzig Millionen zu vermehren, ohne daß diejenigen, die sie bezahlen werden, sich darüber beklagen können.«
»Vortrefflich! Bringen Sie den Plan zur Ausführung, und ich verpflichte mich, Ihnen vom König ein Jahrgeld von hunderttausend Franken geben zu lassen und Ihnen den Adelsbrief zu verschaffen, wenn Sie Franzose werden wollen.«
»Dies will überlegt sein.«
Von Herrn de Boulogne begab ich mich nach den kleinen Gemächern, wo die Marquise von Pompadour gerade eine Ballettprobe abhalten ließ.
Sobald sie mich sah, grüßte sie mich; ich trat näher, und sie sagte mir, ich sei ein geschickter Unterhändler, und die Herren da unten hätten mich nicht zu würdigen gewußt. Sie erinnerte sich immer noch der Worte, die ich in Fontainebleau vor acht Jahren im Theater zu ihr gesagt hatte. Ich antwortete ihr: alles Gute komme von oben, und ich hoffe, ebenfalls meinen Anteil zu erhalten, wenn ich so glücklich sei, ihre Billigung zu finden.
Ich fuhr nach Paris zurück und begab mich in das Hotel Bourbon, um meinem Beschützer über dns Ergebnis meiner Reise zu berichten. Er riet mir, auch weiterhin gute Geschäfte für die Regierung zu machen; denn dies sei das sicherste Mittel, auch für mich selber gute Geschäfte zu machen. Ich erzählte ihm hierauf, daß ich im Theater die Familie X. C. V. getroffen habe, und er sagte mir, Herr de la Popelinière werde die älteste Tochter heiraten.
Als ich nach Hause kam, fand ich meinen Sohn nicht mehr. Meine Wirtin sagte mir, eine vornehme Dame habe dem Herrn Grafen einen Besuch gemacht und ihn mitgenommen. Ich erriet, daß es Frau von Urfé war, und legte mich ohne Unruhe zu Bett. Am anderen Morgen in aller Frühe brachte mein Geschäftsführer mir einen Brief; er war von dem alten Sachwalter, dem Oheim von Gaetanos Frau, der ich mitgeholfen hatte, sich den Mißhandlungen ihres eifersüchtigen, rohen Gatten zu entziehen. Er bat mich, ihn im Gerichtspalast zu einer Besprechung aufzusuchen oder ihm einen Ort zu bestimmen, wo er mich treffen könne. Ich suchte ihn im Palast auf und der brave alte Mann sagte mir: »Meine Nichte hat sich in ein Kloster begeben müssen, von wo aus sie mit der Hilfe eines Parlamentsrates, der alle Kosten übernimmt, den Prozeß gegen ihren Gatten führt. Damit dieser einen guten Ausgang nehme, brauchen wir Sie, den Grafen Tiretta und die Bedienten, die bei dem blutigen Auftritt, der den Anlaß zur Klage bildet, zugegen waren.«
Ich besorgte alles Notwendige, und vier Monate später machte Gaetano selber der Sache ein Ende durch einen betrügerischen Bankerott, der ihn nötigte, Frankreich zu verlassen. Ich werde später sagen, wo ich den unglücklichen Menschen wiederfand. Seine junge hübsche Frau bezahlte ihren Freund, den Parlamentsrat, in Liebesmünze. Sie zog in sein Haus und lebte glücklich mit ihm; vielleicht ist sie es noch – aber ich habe sie gänzlich aus den Augen verloren.
Nach meiner Unterredung mit dem alten Sachwalter ging ich zu Frau ***, um ihr einen Besuch zu machen und Tiretta zu sehen. Ich fand ihn nicht zu Hause. Die Dame war immer noch verliebt in ihn, und er machte immer noch eine Tugend aus der Not. Ich hinterließ ihm meine Adresse und begab mich in das Hotel de Bretagne, um Frau X. C. V. meinen ersten Besuch zu machen. Sie liebte mich nicht, aber sie empfing mich trotzdem sehr wohlwollend. In Paris und in meinen augenblicklichen glücklichen Umständen mochte ich in ihren Augen wohl etwas mehr sein als in Venedig. Wer wüßte nicht, daß das Glänzende den Blick verblendet und bei den meisten Menschen den Platz einnimmt, der nur dem Verdienst gebührt!
Bei Frau X. C. V. befand sich ein alter Grieche namens Zandiri, ein Bruder des kürzlich verstorbenen Haushofmeisters des Herrn von Bragadino. Ich sprach ihm mein Beileid aus, aber das dumme Vieh antwortete mir nicht. Für seine alberne Kälte entschädigten mich die Liebkosungen, mit denen die ganze Familie mich überhäufte. Das Fräulein, ihre Schwestern und ihre beiden Brüder überschütteten mich mit Freundschaftsbeweisen. Der älteste war erst vierzehn Jahre alt; er war ein reizender Junge, aber er überraschte mich durch die Unabhängigkeit, die er in seinem ganzen Wesen an den Tag legte. Er sehnte bereits den Augenblick herbei, wo er sich in dem Besitz seines Vermögens sehen würde, um sich allen Ausschweifungen zu überlassen, zu denen er die besten Anlagen hatte. Fräulein X. C. V. verband mit einer seltenen Schönheit die Ungezwungenheit und den Ton der besten Gesellschaft, und besaß außerdem noch Anlagen und gründliche Kenntnisse, die sie stets nur am rechten Ort und ohne jede Anmaßung zur Geltung brachte. Man konnte kaum näher mit ihr bekannt werden, ohne das zärtlichste Gefühl für sie zu empfinden; aber sie war keine Kokette, und ich bemerkte bald, daß sie in solchen, die nicht das Glück hatten, ihr zu gefallen, keine Hoffnung aufkommen ließ. Sie verstand es ohne Unhöflichkeit kalt zu sein; um so schlimmer für diejenigen, denen nicht durch ihre Kälte ihre Einbildungen benommen wurden.
Während der einen Stunde, die ich bei ihr verbrachte, fesselte sie mich an ihren Wagen; ich gestand es ihr, und sie sagte mir, es sei ihr recht angenehm. Sie nahm in meinem Herzen den Platz ein, den acht Tage vorher Esther gehabt hatte; aber ich gestehe offen, daß Esther nur darum zurücktrat, weil sie abwesend war. Meine Neigung für Sylvias Tochter war von der Art, daß sie mich nicht abhalten konnte, mich in eine andere zu verlieben. In dem Herzen eines Wüstlings stirbt die Liebe, wenn sie keine Nahrung erhält, an einer Art von Auszehrung. Alle Frauen, die einige Erfahrung besitzen, wissen dies sehr wohl. Die junge Baletti war noch ganz neu in der Welt und konnte nichts davon wissen.
Um ein Uhr kam ein edler Venetianer, Herr Farsetti, Komtur des Malteserordens, ein Gelehrter, der im Wahne der abstrakten Wissenschaften befangen war und ziemlich gute lateinische Verse schrieb. Wir sollten gerade zu Tisch gehen, und Frau X. C. V. beeilte sich, ein Gedeck für ihn auflegen zu lassen. Sie bat auch mich zu bleiben; da ich jedoch bei Frau von Urfé speisen wollte, so schlug ich für diesen Tag die Ehre aus.
Herr Farsetti, der in Venedig viel mit mir verkehrt hatte, sah mich kaum an, und ich zahlte ihm in gleicher Münze heim, ohne jedoch den Hoffärtigen zu spielen. Er lächelte, als das Fraulein meinen Mut pries. Sie bemerkte es und fügte, gleichsam um ihn zu strafen, hinzu: ich hätte alle Venetianer gezwungen, mich zu bewundern, und die Franzosen legten Wert darauf, mich zu ihren Mitbürgern zählen zu dürfen. Herr Farsetti fragte mich, ob mir meine Stelle als Lotterieeinnehmer viel einbrächte. Ich antwortete ihm in gleichgültigem Ton: »Vollkommen genug, um meine Schreiber glücklich zu machen.« Er fühlte die Bedeutung meiner Antwort, und das Fräulein lächelte darüber.
Ich fand meinen angeblichen Sohn bei Frau von Urfé, oder besser gesagt, in den Armen meiner lieben Geisterseherin. Sie bat mich tausendmal um Entschuldigung, daß sie ihn entführt habe, und ich gab der Sache eine scherzhafte Wendung, da dies das beste war, was ich tun konnte. Ich sagte zu dem kleinen Mann, er müsse Frau d'Urfé als seine Königin ansehen und dürfe nichts vor ihr geheim halten. »Ich habe ihn«, sagte sie zu mir, »bei mir schlafen lassen; aber ich werde mir dieses Vergnügen versagen müssen, wenn er mir nicht verspricht, in Zukunft artiger zu sein.« Ich fand dies köstlich, und der kleine Mann wurde dunkelrot, bat sie aber trotzdem, ihm zu sagen, womit er sie beleidigt haben könnte.
»Wir werden«, sagte die Marquise zu mir, »den Grafen St. Germain zu Tische haben; ich weiß, daß dieses Original Ihnen Spaß macht, und ich wünsche, daß es Ihnen bei mir gefalle.«
»Damit es mir bei Ihnen gefalle, gnädige Frau, brauche ich nur Sie selber; indessen bin ich Ihnen dankbar für Ihre freundlichen Aufmerksamkeiten.«
St.-Germain kam und setzte sich, nach seiner Gewohnheit, nicht um zu essen zu Tisch, sondern um zu sprechen. Er erzählte mit unerschütterlicher Sicherheit unglaubliche Dinge; man mußte sich so stellen, als glaube man sie, denn er war stets Augenzeuge gewesen oder war selber der Held der Geschichte. Ich mußte aber doch laut auflachen, als er uns etwas erzählte, was ihm begegnet war, als er mit den Vätern des Konzils von Trient zusammen speiste.
Frau von Urfé trug an ihrem Halse als Schmuckstück einen großen Magneten. Sie behauptete, dieser Magnet würde eines Tages den Blitz anziehen, und sie würde auf diese Weise zur Sonne aufsteigen. Ich hatte Lust, ihr zu sagen, daß sie dort sich nicht höher befinden würde, als auf unserem Planeten; aber ich beherrschte mich. Der berühmte Betrüger beeilte sich, ihr zu versichern, die Tatsache sei unbestreitbar, aber nur er besitze die Macht, die Stärke des Magneten um das tausendfache zu vermehren. Ich sagte ihm kühl, ich wäre bereit, um zwanzigtausend Taler zu wetten, daß er die Stärke des Magneten, den Frau von Urfé an ihrem Halse trüge, nicht einmal um das Doppelte vermehren würde. Frau von Urfé legte sich ins Mittel, um die Wette zu verhindern, und sagte mir nach Tisch unter vier Augen, ich würde verloren haben, denn St.-Germain wäre Magier. Wie man sich wohl denken kann, gab ich ihr recht.
Einige Tage später reiste der angebliche Magier nach Chambord; der König hatte ihm dort eine Wohnung angewiesen und hunderttausend Franken ausgesetzt, um in aller Freiheit an seinen Farben arbeiten zu können, die den französischen Tuchfabriken die Überlegenheit gegenüber den Fabriken aller anderen Länder sichern sollten. St.-Germain hatte den Herrscher verführt, indem er ihm im Trianon ein chemisches Laboratorium einrichtete, wo er sich zuweilen amüsierte, obgleich seine Kenntnisse in der Chemie sehr unbedeutend waren; aber der König langweilte sich überall, ausgenommen auf der Jagd; der Hirschpark betäubte ihn nur, indem er ihn immer mehr abstumpfte; denn um eines Harems zu genießen, in den fortwährend die anziehendsten Schönheiten und oftmals Jungfrauen von zartestem Alter, bei denen der Genuß nicht so leicht war, aufgenommen wurden, hätte er ein Gott sein müssen, und Ludwig der Fünfzehnte war nur ein Mensch.
Die Bekanntschaft des Adepten war dem Herrscher von der gefälligen Marquise vermittelt worden; sie hoffte, ihm die Langeweile zu vertreiben, indem sie ihm Geschmack an der Chemie beibrachte. Übrlgens glaubte Frau von Pompadour, von St.-Germain das Wasser der Jugend empfangen zu haben, und wollte ihm dafür irgend einen großen Vorteil verschaffen. Dieses Wunderwasser, von dem man genau die von dem Betrüger vorgeschriebene Menge einnehmen mußte, besaß nicht die Kraft, das Alter rückgängig zu machen, um neue Jugend zu verleihen (denn er gab zu, daß dies unmöglich sei), aber es besaß die Gabe – wenn man ihm glauben wollte – einen Menschen mehrere Jahrhunderte in statu quo zu erhalten.
Dieses Wasser oder der Erfinder desselben hatte in der Tat, wenn auch nicht auf den Körper, so doch auf den Geist der berühmten Frau eingewirkt; sie hatte dem Monarchen versichert, sie fühle, daß sie nicht altere. Der König war ebenfalls von dem erhabenen Verdienste des Betrügers gänzlich eingenommen; denn er zeigte eines Tages dem Herzog von Zweibrücken einen zwölf Karat schweren Diamanten von reinstem Wasser, den er selber gemacht zu haben glaubte. »Ich habe«, sagte Ludwig der Fünfzehnte, »vierundzwanzig Karat kleinere Diamanten geschmolzen; daraus erhielt ich diesen hier, der durch das Schleifen auf zwölf Karat verkleinert worden ist.« Infolge dieser Voreingenommenheit hatte der König einem berühmten Abenteurer dieselbe Wohnung gegeben, die er vorher dem Marschall von Sachsen angewiesen hatte. Ich habe diese Anekdote aus dem eigenen Munde des Herzogs von Zweibrücken, der sie mir erzählte, als ich eines Tages in Metz die Ehre hatte, mit Seiner Hoheit und dem schwedischen Grafen Löwenhaupt zu Nacht zu speisen.
Bevor ich Frau d'Urfé verließ, sagte ich ihr, der junge Knabe könnte wohl derjenige sein, durch den ihre Wiedergeburt bewirkt werden würde; aber sie würde alles verderben, wenn sie nicht seine Mannbarkeit abwartete. Der Leser wird sich wohl denken können, in welcher Absicht ich so sprach, nachdem ich den leisen Vorwurf gehört hatte, den sie ihm machte. Sie brachte ihn in der Anstalt von Viar unter, ließ ihm die besten Lehrer geben und schmückte ihn mit dem Namen eines Grafen Aranda, obwohl er in Bayreuth geboren war, und seine Mutter niemals mit einem Spanier dieses Namens Umgang gehabt hatte. Ich ließ drei oder vier Monate verstreichen, ehe ich ihn besuchte; denn ich befürchtete stets irgen welche Unannehmlichkeit wegen des Namens, den die Geisterseherin ihm ohne mein Wissen gegeben hatte.
Tiretta besuchte mich in einer hübschen Kutsche. Er sagte mir, seine alte Geliebte wolle seine Frau werden, aber darein wolle er niemals willigen, obgleich sie ihm ihr ganzes Vermögen anbiete. Er hätte mit ihr nach Treviso gehen, dort seine Schulden bezahlen und ein angenehmes Leben führen können. Ich riet ihm dies, aber sein Schicksal hielt ihn ab, meinem Rat zu folgen.
Ich wollte ein Landhaus mieten und entschied mich für eins, die Petite Pologne, das mir besser gefiel als mehrere andere, die ich mir ansah. Es war gut eingerichtet und lag nur hundert Schritte vor der Barrière de la Madeleine. Das Haus lag auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe des königlichen Jagdreviers hinter dem Garten des Herzogs von Gramont, und der Besitzer hatte es Varsovie en bel air genannt. Es hatte zwei Gärten, von denen der eine in der Höhe des ersten Stockes lag, drei herrschaftliche Wohnungen, große Ställe, Remisen, Bäder, einen guten Keller und eine prachtvolle Küche mit vollständiger Einrichtung. Der Besitzer wurde der Butterkönig genannt und unterschrieb stets mit diesem Namen. Ludwig der Fünfzehnte hatte ihn ihm eines Tages gegeben, als er bei ihm abgestiegen war und seine Butter ihm ausgezeichnet gefallen hatte. Es war ein Seitenstück zum Dinde en Val des guten Heinrich. Der Butterkönig vermietete mir sein Haus für hundert Louis jährlich und gab mir eine ausgezeichnete Köchin, die Perle genannt, und in der Tat ein wirkliches Großkreuz des Küchenordens; er übergab ihr alle Möbel und das Tischgerät, das für ein großes Diner zu sechs Personen nötig war; außerdem verpflichtete er sich, mir jederzeit so viel Silbergeschirr, wie ich wünschte, zu einem Sou für die Unze, zu leihen. Ferner versprach er mir, alle von mir gewünschten Weine in erster Güte und billiger, als ich sie in Paris haben könnte, zu liefern. Dies konnte er tun, weil er keinen Eingangszoll zu bezahlen brauchte, der in Paris sehr hoch ist. Ich halte solche Zölle für höchst unpolitisch, weil sie besonders schwer auf den niederen Klassen lasten, denen man im Gegenteil stets die Mittel, möglichst billig zu leben, erleichtern sollte.
Nachdem dies alles in Ordnung war, verschaffte ich mir in weniger als einer Woche einen guten Kutscher, zwei schöne Wagen, einen Stallknecht und zwei Lakaien. Die Marquise d'Urfé, der ich mein erstes Diner gab, war entzückt von meiner Wohnung; sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ich hätte alle diese Anordnungen nur ihr zuliebe getroffen, und ich beließ sie bei diesem Irrtum, der ihr angenehm war; denn ich bin der Meinung, man soll den Sterblichen nicht die Illusionen rauben, die sie glücklich machen. Ich ließ sie bei dem Glauben, der kleine Aranda, der junge Graf von ihrer eigenen Mache, gehöre zum Großen Orden; er sei für eine allen übrigen Menschen unbekannte Operation geboren, deren Geheimnis nur mir anvertraut sei – worüber allerdings kein Zweifel sein kann – und er müsse sterben, werde aber trotzdem weiterleben. All dieses aberwitzige Zeug entsprang ihrem Gehirn, das sich nur in den Regionen des Unmöglichen bewegte; man konnte nichts Besseres tun, als ihr in allem beizustimmen; hätte ich versucht, ihr ihren Irrtum zu benehmen, so würde sie mich des Mangels an Vertrauen beschuldigt haben; denn sie war überzeugt, daß sie alles nur durch die Enthüllungen ihres Genius wisse, der nur nachts zu ihr spreche. Ich begleitete sie nach ihrem Hause zurück, und sie schwelgte in der höchsten Seligkeit.
Camilla schickte mir den Zettel eines kleinen Ternos, den sie in meinem Bureau gewonnen hatte; sie bat mich, zu ihr zum Abendessen zu kommen und das Geld mitzubringen; es waren, glaube ich, ungefähr tausend Taler. Ich folgte der Einladung und fand bei ihr alle ihre hübschen Freundinnen und deren Liebhaber. Nach dem Essen lud man mich ein, mit nach der Oper zu gehen; kaum waren wir dort angekommen, so verlor ich in dem Gedränge meine Gesellschaft. Ich war nicht maskiert. Bald sah ich mich von einem schwarzen Domino angegriffen, den ich leicht als eine weibliche Maske erkannte. Sie sagte mir mit Falsettstimme hundert Wahrheiten; dadurch machte sie mich neugierig, und ich wollte sie kennen lernen. Schließlich überredete ich sie, mit mir in eine Loge zu kommen; dort nahm sie ihre Maske ab, und ich sah zu meiner großen Überraschung X.C.V. »Ich bin«, sagte sie mir, »mit meiner Schwester, meinem ältesten Bruder und Herrn Farsetti auf den Ball gekommen; ich habe sie verlassen, um in einer Loge einen anderen Domino anzuziehen.«
»Sie müssen unruhig sein.«
»Ich glaube es, aber ich werde ihrer Unruhe erst mit dem Schluß des Balles ein Ende machen.«
Da ich mit ihr allein war und sicher sein konnte, daß sie die ganze Nacht bei mir bleiben würde, so fing ich an von meiner alten Liebe zu sprechen, und sagte ihr natürlich, diese sei stärker denn je wieder erwacht. Sie hörte mich mit der größten Sanftmut an und entzog sich nicht meinen Armen. Da sie meinen Angriffen nur schwachen Widerstand entgegensetzte, so merkte ich, daß das Schäferstündchen nur hinausgeschoben war. Ich glaubte daher mich für diesen Abend zurückhaltend zeigen zu müssen, und sie ließ mich merken, daß sie mir dafür dankbar war.
»Ich vernahm in Versailles, mein liebes Fräulein, daß Sie Herrn de la Popelinière heiraten werden.«
»Man glaubt es, und meine Mutter wünscht es. Der alte Generalpächter glaubt mich schon zu besitzen; aber er ist weit vom Ziel, denn ich werde niemals einwilligen.«
»Er ist alt, aber sehr reich.«
»Sehr reich und sogar freigebig; denn er setzt mir eine Million als Witwengeld aus, falls er ohne Kinder stirbt, und hinterläßt mir sein ganzes Vermögen, wenn ich ihm einen Nachkommen schenke.«
»Es wird Ihnen nicht schwer werden, sich sein ganzes Vermögen zu verschaffen.«
»Ich werde es niemals erhalten, denn ich will mich nicht unglücklich machen mit einem Manne, den ich nicht liebe und der mir mißfällt. Mein Herz ist anderswo gefesselt.«
»Anderswo! Und wer ist der glückliche Sterbliche, dem Sie diesen Schatz geschenkt haben?«
»Ich weiß nicht, ob der Mann, der meine Liebe besitzt, ein glückliches Schicksal hat. Ich liebe in Venedig, und meine Mutter weiß es; aber sie behauptet, ich würde nicht glücklich werden und jener, der mein Herz besitzt, dürfe nicht mein Gatte werden.«
»Eine eigentümliche Frau, Ihre Mutter! Sie durchkreuzt stets Ihre Neigungen.«
»Ich kann ihr darum nicht böse sein; sie irrt sich vielleicht, aber sie hat mich lieb. Es wäre ihr lieber, wenn ich die Frau des Herrn Farsetti würde, der sehr geneigt ist, seinem Malteserkreuz zu entsagen, um sich mir hinzugeben; aber ich verabscheue diesen Menschen.«
»Hat er sich bereits erklärt?«
»In sehr deutlichen Ausdrücken, und die Zeichen der Verachtung, die ich ihm unaufhörlich gebe, haben ihn nicht bewogen, von mir abzulassen.«
»Er ist hartnäckig; aber ohne Zweifel haben Ihre Reize seine Augen verblendet.«
»Dies mag sein, aber ich glaube, er ist zarten und edlen Gefühlen wenig zugänglich. Er ist ein widerwärtiger abergläubischer Mensch, boshaft, eifersüchtig und neidisch. Als er mich bei Tisch in den Ausdrücken, die Sie verdienen, von Ihnen sprechen hörte, hat er die Unverschämtheit so weit getrieben, in meiner Gegenwart meiner Mutter zu sagen, sie dürfte Sie nicht in ihrem Hause empfangen.«
»Er verdiente, daß ich ihm Höflichkeit beibrächte, aber es gibt andere Mittel, ihn zu bestrafen. Ich biete Ihnen in allem, was in meiner Macht steht, ohne jeden Rückhalt meine Dienste an.«
»Ach! Ich wäre überglücklich, wenn ich auf Ihre ganze Freundschaft rechnen könnte.« Der Seufzer, den sie ausstieß, setzte mich ganz in Feuer und Flammen. Ich versicherte ihr meine Ergebenheit und sagte ihr, ich stände mit fünfzigtausend Talern zu ihrer Verfügung und wäre bereit, mein Leben zu wagen, um mir ein Anrecht auf ihr Herz zu erwerben. Sie antwortete mir mit der lebhaftesten Dankbarkeit und umschlang mich zärtlich mit ihren Armen; unsere Lippen begegneten sich, aber ich fühlte einige Tränen ihren schönen Augen entrinnen, und aus Achtung für sie mäßigte ich das Feuer, das ihre Küsse in meinen Adern entzündeten. Sie bat mich, sie oft zu besuchen, und versprach mir, sie würde mit mir allein sein, so oft sie nur könnte. Dies war alles, was ich wünschen konnte, und nachdem ich ihr versprochen hatte, am nächsten Tage zu ihnen zum Essen zu kommen, trennten wir uns.
Ich blieb noch eine Stunde im Saal; ich folgte ihren Schritten und schwelgte in dem Glück, ihr vertrauter Freund geworden zu sein. Hierauf kehrte ich zu meiner Petite Pologne zurück. Die Fahrt dauerte nicht lange; denn obwohl ich auf dem Lande wohnte, konnte ich in einer Viertelstunde in jedem beliebigen Viertel von Paris sein. Mein Kutscher war sehr tüchtig, und ich hatte ausgezeichnete Pferde, die ich nicht zu schonen brauchte. Sie waren aus dem königlichen Marstall, wahre Luxuspferde, und wenn ich eins verlor, konnte ich es für zweihundert Franken augenblicklich ersetzen. Dies war zuweilen nötig, denn eins der größten Vergnügen in Paris besteht im Schnellfahren.
Da ich mich verpflichtet hatte, zu Frau X.C.V. zum Mittagessen zu kommen, so konnte ich nur wenige Stunden schlafen und ging dann im Überrock und zu Fuß aus. Der Schnee fiel in großen Flocken, und ich war vom Kopf bis zu den Füßen ganz weiß, als ich vor der gnädigen Frau erschien. Sie nahm mich lachend sehr gut auf und sagte mir, ihre Tochter habe ihr erzählt, wie sie mich gefoppt habe, und es sei ihr eine große Freude gewesen zu hören, daß ich an ihrem Familientisch teilnehmen wolle. »Leider ist heute Freitag, und Sie werden mager essen; indessen haben wir ausgezeichneten Fisch. Seien Sie so freundlich, bis angerichtet wird, meine Tochter zu besuchen, die noch im Bett liegt.«
Ich ließ mir dies, wie man sich denken kann, nicht zweimal sagen; denn besonders im Bett ist ein hübsches Weib schön. Ich fand Fräulein X.C.V. aufrecht im Bette sitzend und schreibend, aber sie hörte sofort auf, als sie mich sah.
»Wie, liebenswürdige Faulenzerin, noch im Bett?«
»Ja, mein Freund, aus Faulheit und um freier zu sein.«
»Ich fürchtete, Sie wären unwohl.«
»Ich bin es wirklich ein bißchen, aber sprechen wir heute nicht davon. Ich werde eine Tasse Fleischbrühe trinken, weil die Leute, die dummerweise für den Freitag Fastenspeisen vorgeschrieben haben, mir nicht die Höflichkeit erwiesen haben, mich um meine Meinung zu befragen. Die Fastenkost sagt weder meinem Geschmack noch meiner Gesundheit zu; ich werde darum auch nicht aufstehen und nicht zu Tisch gehen, obgleich ich mich dadurch des Vergnügens berauben muß, Sie zu sehen.« Natürlich sagte ich ihr, ohne sie würde das Essen mir fade erscheinen, und ich log nicht.
Da die Gegenwart ihrer Schwester sie nicht störte, nahm sie aus ihrer Brieftasche einen Brief in Versen, den ich ihr geschrieben hatte, als ihre Mutter mir ihr Haus verbot. Sie sagte ihn auswendig her und vergoß dann ganz gerührt einige Tränen.
»Dieser verhängnisvolle Brief,« sagte sie zu mir, »den Sie ›Der Phönix‹ betitelt hatten, hat mein Schicksal bestimmt und wird vielleicht die Ursache meines Todes sein.«
Ich hatte das Gedicht so genannt, weil ich darin, nachdem ich mein hartes Los beklagt, mit poetischer Übertreibung ihr geweissagt hatte, sie würde ihr Herz einem Sterblichen schenken, den man wegen seiner hervorragenden Eigenschaften den Phönix nennen würde. In hundert Versen beschrieb ich diese eingebildeten körperlichen und geistigen Vorzüge, und sicherlich konnte der Mensch, der sie alle in sich vereinigte, wohl angebetet werden, denn er mußte mehr einem Gott als einem Menschen gleichen.
»Nun, ich verliebte mich in dieses Phantasiewesen«, fuhr Fräulein X.C.V. fort, »Überzeugt, daß es auf der Welt sein müsse, begann ich es zu suchen. Nach sechs Monaten glaubte ich diesen Mann gefunden zu haben. Ich schenkte ihm mein Herz, ich empfing das seine. Wir beten uns an; aber seit vier Monaten sind wir getrennt. Seit unserer Abreise von Venedig, während unseres Aufenthaltes in London und jetzt in Paris, wo wir uns seit sechs Wochen befinden, habe ich von ihm nur einen einzigen Brief erhalten. Aber ich klage ihn nicht an; ich weiß, es ist nicht seine Schuld. Ich bin in einer Zwangslage, kann keine Nachrichten von ihm erhalten und ihm keine geben.«
Die Erzählung bestärkte meine Anschauung, daß die Handlungen, die den entscheidendsten Einfluß auf unser ganzes Dasein haben, gewöhnlich den unbedeutendsten Anlaß haben. Meine Epistel war nur eine mehr oder weniger gut ausgeführte poetische Laune, und das von mir geschilderte Wesen konnte unmöglich gefunden werden, denn es stand weit von allen menschlichen Vollkommenheiten. Aber ein Frauenherz schweift so weit und so schnell! Fräulein X.C.V. faßte meine Schilderung wörtlich auf. Sie hatte sich in eine Chimäre verliebt und wollte an deren Stelle ein lebendes Wesen setzen, ohne zu bedenken, daß ihre Phantasie unwissentlich einen unermeßlichen Schritt rückwärts machen mußte. Sobald sie sich aber eingebildet hatte, daß sie das Original des von meiner Muse gezeichneten phantastischen Porträts gefunden hatte, wurde es ihr nicht schwer, an ihm alle von mir geschilderten Eigenschaften zu entdecken, denn ihre Liebe legte sie ihm nach Herzenswunsch bei. Auch ohne meinen Brief würde Fräulein X.C.V. sich verliebt haben, aber auf eine andere Art, und ihre Liebe würde wahrscheinlich andere Folgen gehabt haben. Hienieden, und vielleicht da oben, ist alles Zusammentreffen; wir veranlassen Ereignisse, ohne dazu mitzuwirken. Alles, was uns geschieht, ist durchaus nur das, was uns geschehen muß; denn wir sind nur denkende Atome, und der Wind treibt uns dahin. Ich weiß wohl, daß mein Leser mich beschuldigen wird, mich zum Fatalismus zu bekennen; aber ich mache nur vom Naturrecht des Urteilens Gebrauch und bestreite keinem Menschen das gleiche Recht.
Als angerichtet war, wurde ich gerufen, und wir hatten eine köstliche Mahlzeit von ausgezeichneten Seefischen, die Herr de la Popelinière geschickt hatte. Frau X.C.V. konnte als Griechin von beschränktem Geiste nur eine abergläubische Frömmlerin sein. Die an meisten entgegengesetzten Wesen, Gott und der Teufel, sind unfehlbar in dem Kopfe eines eitlen, schwachen, sinnlichen und ängstlichen Weibes vereinigt. Ein Priester hatte ihr gesagt, sie würde sich die ewige Seligkeit sichern, wenn sie ihren Gatten bekehrte; denn die heilige Schrift verspricht in aller Form Seele für Seele jedem Bekehrer, der einen Ketzer oder einen Heiden in den Schoß der Kirche führt. Da nun Frau X.C.V. ihren Gatten bekehrt hatte, so war sie über ihre Zukunft vollkommen beruhigt; sie brauchte nichts weiter dazu zu tun. Sie aß allerdings an den vorgeschriebenen Tagen Fastenspeisen, aber nur, weil sie diese der Fleischkost vorzog.
Nach dem Essen begab ich mich wieder an das Bett des Fräuleins und blieb bei ihr bis um neun Uhr; ich hatte genügend Selbstbeherrschung, um meine Begierde zu zügeln. Meine Eitelkeit veranlaßte mich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle nicht weniger heftig seien als meine Liebesglut, und ich wollte mich nicht weniger zurückhaltend zeigen als sie, obwohl ich schon damals wie jetzt wußte, daß dies bei einem Mann eine falsche Berechnung ist. Von der Gelegenheit gilt dasselbe wie vom Glück: man muß sie beim Schopf packen, sobald sie sich darbietet; sonst entschwindet sie für gewöhnlich ohne Wiederkehr.
Da ich Farsetti nicht bei Tisch gesehen hatte, so vermutete ich einen Bruch und bat das Fräulein um Auskunft darüber; sie benahm mir jedoch meinen Irrtum, indem sie mir sagte, ihr Verfolger sei bis zum Wahnwitz abergläubisch und nichts könne ihn dazu bewegen an einem Freitag sein Haus zu verlassen. Der verrückte Mensch hatte sich von einer Zigeunerin wahrsagen lassen und hatte erfahren, ihm sei vom Schicksal bestimmt, an einem Freitag ermordet zu werden; um das ihm drohende Unglück abzuwenden, müsse er sich am Freitag völlig von der Welt abschließen. Man machte sich über ihn lustig, aber er blieb standhaft, und er hatte recht, die Leute reden zu lassen; denn er ist vor vier Jahren im Alter von siebzig Jahren ruhig in seinem Bette gestorben. Er glaubte beweisen zu können, daß das Schicksal des Menschen von seiner guten Aufführung, von seiner Klugheit und von seinen Vorsichtsmaßregeln zur Vermeidung vorausgesehenen Unglücks abhänge. Dies trifft für alle Fälle zu, nur nicht für den Fall, daß es sich um ein Horoskop im Sinne der Astrologen handelt: denn entweder ist das prophezeite Unglück vermeidlich – dann ist die Weissagung kindisch, oder das Horoskop gibt den Willen des Schicksals kund – dann können alle Vorsichtsmaßregeln nichts nützen. Der Ritter Farsetti war also ein Dummkopf, wenn er sich einbildete, irgend etwas bewiesen zu haben. Er hätte in den Augen vieler Leute viel bewiesen, wenn er jeden Tag ausgegangen und zufällig an einem Freitag ermordet worden wäre. Picus von Mirandola, der an die Astrologie glaubte, sagte: Astra influent, non cogunt – Die Gestirne üben einen Einfluß, aber keinen zwingenden. Daran zweifle ich nicht, aber hätte man an die Astrologie glauben müssen, wenn Farsetti an einem Freitag wäre ermordet worden? Nein, gewiß nicht.
Graf d'Aigreville hatte mich seiner Schwester, der Gräfin du Rumain vorgestellt, die mich gerne kennen lernen wollte, seitdem sie von meinem Orakel gehört hatte. In wenigen Tagen gewann ich die Freundschaft ihres Mannes und ihrer jungen Töchter, von denen die älteste, Cotenfeau genannt, später Herrn von Polignac heiratete. Frau du Rumain war nicht nur hübsch, sondern sogar schön, aber man liebte sie besonders wegen ihrer Sanftmut, der Güte ihres Charakters, wegen ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Bereitwilligkeit, ihren Freunden gefällig zu sein. Von herrlichem Wuchs, war sie eine Bittstellerin, deren Erscheinen allen Beamten in Paris imponierte. Ich machte bei ihr die Bekanntschaft der Frau de Valbelle, der Frau de Roncerolles, der Fürstin de Chimay und mehrerer anderer Damen, die damals in der sogenannten guten Gesellschaft die erste Rolle spielten. Obgleich Frau du Rumain sich nicht mit den abstrakten Wissenschaften beschäftigte, brauchte sie mein Orakel noch mehr als Frau von Urfé. Sie wurde mir sehr nützlich bei einer bösen Angelegenheit, die ich berichten werde.
Am Tage nach meiner langen Unterhaltung mit Fräulein X.C.V. sagte mir mein Kammerdiener, ein junger Mensch wünsche mir einen Brief zu eigenen Händen zu übergeben. Ich ließ ihn eintreten. Auf meine Frage, wer ihn mit der Bestellung beauftragt habe, antwortete er mir, der Brief werde mich über alles aufklären, und er habe Befehl, auf meine Antwort zu warten. Der Brief lautete folgendermaßen:
»Es ist jetzt zwei Uhr nach Mitternacht; ich habe Ruhe nötig, aber eine Last, unter der ich erliege, verhindert mich Schlaf zu finden. Das Geheimnis, das ich Ihnen, mein Freund, anvertrauen will, wird für mich keine Last mehr sein, sobald ich es in Ihren Busen niedergelegt habe. Ich werde mich erleichtert fühlen, sobald Sie der Mitwisser dieses Geheimnisses sind. Ich bin schwanger, und meine Lage bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe mich entschlossen, Ihnen dies zu schreiben, weil ich fühle, daß es mir unmöglich sein würde, es Ihnen mündlich zu sagen. Gönnen Sie mir ein Wort der Erwiderung!«
Man kann sich denken, wie mir beim Lesen dieses Briefes zumute war. Ich war wie versteinert und konnte nur die folgenden Worte schreiben:
»Ich werde um elf Uhr bei Ihnen sein.« Ein Unglück kann nur dann wirklich groß genannt werden, wenn der, den es trifft, den Kopf darüber verliert. Das Eingeständnis, das Fräulein X.C.V. nur schriftlich machte, bewies mir, daß ihre wankende Vernunft einer Stütze bedurfte. Ich fühlte mich glücklich, daß sie vor allen anderen Menschen an mich gedacht hatte, und ich nahm mir vor, ihr beizustehen, und wenn ich mit ihr zugrunde gehen sollte. Kann man anders denken, wenn man liebt?
Allerdings konnte ich mir die Unklugheit ihres Schrittes nicht verhehlen. Man muß auf alle Fälle entweder sprechen oder schweigen; das Gefühl, das einen unter ähnlichen Umständen die Feder dem Worte vorziehen läßt, kann nur einer falschen Scham entspringen, die im Grunde nur Feigheit ist. Wäre ich nicht in das liebenswürdige, unglückliche Mädchen verliebt gewesen, so wäre es mir leichter gewesen, ihr meine Dienste schriftlich zu verweigern als mündlich. Aber ich betete sie an.
»Ja«, rief ich aus, »sie kann um so mehr auf mich rechnen, da ihr Unglück sie mir noch teurer macht.« Außerdem sagte mir ein geheimes Gefühl – ein Gefühl, das nicht weniger laut spricht, weil es scheinbar schweigt – daß mir meine Belohnung sicher wäre, wenn ich das Glück hätte, sie retten zu können. Ich weiß wohl, mehr als ein strenger Moralist wird dadurch einen Stein auf mich werfen; aber ich darf wohl bezweifeln, daß ein solcher je verliebt war; ich aber war es sehr.
Ich stellte mich pünktlich ein und fand meine schöne Betrübte vor der Tür des Hotels.
»Sie gehen aus? wohin?«
»Zu den Augustinern in die Messe.«
»Ist denn heute Freitag?«
»Nein, aber meine Mutter verlangt, daß ich jeden Tag zur Messe gehe.«
»Ich werde Sie begleiten,«
»Ja, bitte. Geben Sie nur den Arm; wir wollen im Kreuzgang miteinander sprechen.«
Fräulein X. C. V. war von ihrer Zofe begleitet, aber diese störte uns nicht; wir ließen sie in der Kirche und gingen in den Kreuzgang. Dort fragte das Fräulein mich sofort:
»Haben Sie meinen Brief gelesen?«
»Ja, gewiß! aber hier ist er, ich gebe ihn Ihnen zurück, verbrennen Sie ihn!«
»Nein, ich will ihn nicht; verbrennen Sie selber ihn.«
»Ich sehe. Sie haben viel Vertrauen zu mir; aber ich werde es auch nicht mißbrauchen.«
»Davon bin ich überzeugt. Ich bin im vierten Monat schwanger; die Sache ist gewiß, und das bringt mich zur Verzweiflung.«
»Seien Sie getrost, wir werden ein Mittel dagegen finden.«
»Ja, ich überlasse mich ganz Ihnen; suchen Sie mich abortieren zu lassen!«
»Niemals, meine Liebe; das ist eine Schändlichkeit.«
»Ach, ich »weiß es wohl; aber es ist keine größere, als sich das Leben zu nehmen. Mir bleibt nur die Wahl, entweder den unglücklichen Zeugen meiner Schande zu vernichten oder mich zu vergiften. Das Mittel, um einen zweiten Plan auszuführen, besitze ich. Sie sind mein einziger Freund; von Ihnen hängt mein Schicksal ab. Sprechen Sie! Tut es Ihnen leid, daß ich Ihnen nicht den Ritter Farsetti vorgezogen habe?«
Da sie mich sprachlos sah, schwieg sie plötzlich und hielt ihr Taschentuch an die Augen, um die Tränen zu trocknen, die diesen entströmten. Mir blutete das Herz.
»Abgesehen von der Schändlichkeit, mein liebes Fräulein,« sagte ich zu ihr, »steht es nicht in unserer Gewalt, eine Frühgeburt herbeizuführen. Wenn die Mittel, die man anwendet, nicht gewaltsam sind, ist ihre Wirkung zweifelhaft; sind sie aber gewaltsam, so bringen sie das Leben der Mutter in die größte Gefahr. Niemals werde ich mich der Möglichkeit aussetzen, Ihr Henker zu werden; aber zählen Sie auf mich, ich werde Sie nicht verlassen. Ihre Ehre ist mir ebenso teuer wie Ihr Leben. Beruhigen Sie sich und nehmen Sie von Stund an an, ich befände mich in Ihrer Lage. Verlassen Sie sich darauf, ich werde Sie aus Ihrer üblen Lage befreien, ohne daß Sie nötig haben, Ihr Leben, für dessen Erhaltung ich das meinige hergeben würde, in Gefahr zu bringen. Unterdessen gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich beim Lesen Ihres Briefes unwillkürlich ein Gefühl der Freude darüber empfunden habe, daß Sie bei diesem so wichtigen Anlaß mir den Vorzug vor allen anderen gegeben haben. Sie haben sich nicht getäuscht, indem Sie Ihr Vertrauen auf mich setzten, denn in ganz Paris ist kein Mensch, der Sie so zärtlich liebt wie ich; und auf der ganzen Welt kann kein Mensch so lebhaft wünschen, Ihnen nützlich zu sein, wie ich. Spätestens morgen werden Sie beginnen, die Heilmittel einzunehmen, die ich Ihnen zubereiten werde; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie gar nicht vorsichtig genug in der Wahrung des Geheimnisses sein können; denn es handelt sich für uns darum, die strengsten Gesetze zu verletzen, es gilt unser Leben. Haben Sie sich vielleicht schon irgend jemandem anvertraut, etwa Ihrer Kammerzofe oder einer Ihrer Schwestern?«
»Keinem Menschen außer Ihnen, mein Freund; nicht einmal dem Urheber meines Unglückes, ich schaudere, wenn ich daran denke, was meine Mutter sagen, was sie tun würde, sobald sie von meinem Zustande erführe. Ich fürchte, sie wird ihn erraten, wenn sie meine Taille beobachtet.«
»Ihre Taille verrät noch gar nichts; sie hat noch nichts von ihrer Feinheit verloren.«
»Aber sie wird mit jedem Tage unförmlicher werden, und darum müssen wir uns beeilen. Sie werden mir einen Wundarzt ausfindig machen, der mich nicht kennt, und werden mich zu ihm führen; er wird mir nach Belieben zu Ader lassen können.«
»Solcher Gefahr werde ich mich nicht aussetzen; denn er könnte uns verraten. Ich selber werde Ihnen zu Ader lassen, die Sache ist leicht.«
»Wie dankbar bin ich Ihnen! Mir ist schon, wie wenn Sie mir das Leben wieder schenkten; aber um eine Gefälligkeit bitte ich Sie: Führen Sie mich zu einer Hebamme, um sie um Rat zu fragen. Während des nächsten Opernballes können wir uns leicht zu einer solchen begeben, ohne bemerkt zu werden.«
»Ja, liebe Freundin, aber es ist nicht notwendig, und ein solcher Schritt könnte uns bloßstellen.«
»Durchaus nicht. In der Riesenstadt gibt es überall Hebammen, und wir können unmöglich erkannt werden, da es ja in unserer Macht steht, maskiert zu bleiben. Tun Sie mir den Gefallen! Die Ratschläge einer Hebamme können mir nur nützlich sein.«
Ich hatte nicht die Kraft, ihr ihre Bitte abzuschlagen; aber ich bewog sie, bis zum letzten Ball zu warten, weil auf diesem gewöhnlich die Menge größer ist, wir also Aussicht hatten, ihn sicherer verlassen zu können. Ich versprach ihr, im schwarzen Domino mit einer weißen venezianischen Maske zu erscheinen, auf welche neben dem linken Auge eine Rose gemalt wäre. Sobald sie mich hinausgehen sähe, sollte sie mir folgen und in denselben Fiaker steigen, in den ich einsteigen würde. Alles ging so vor sich; aber wir werden noch darauf zurückkommen.
Ich ging mit ihr nach Hause und speiste mit der Familie, ohne auf Farsetti zu achten, der ebenfalls mitaß, und der mich mit ihr hatte zurückkommen sehen. Wir sprachen kein Wort miteinander; er liebte mich nicht, und ich verachtete ihn.
Ich muß hier einen schweren Fehler berichten, den ich beging und den ich mir heute noch nicht verziehen habe.
Da ich mich verpflichtet hatte, Fräulein X. C. V. zu einer Hebamme zu begleiten, so hätte ich sie natürlich zu einer anständigen Matrone führen sollen; denn es handelte sich nur darum, diese wegen der Verhaltungsmaßregeln zu befragen, die eine Frau während ihrer Schwangerschaft beobachten mußte. Leider veranlaßte mich ein böser Geist eines Tages, als ich nach den Tuilerien wollte, durch die Rue St.-Louis zu fahren. Ich sah die Montigny mit einer hübschen Person, die ich nicht kannte, in ihr Haus eintreten. Aus Neugier ließ ich meinen Wagen halten und ging zu ihr hinauf. Nachdem ich mich amüsiert hatte, fiel mir die Angelegenheit des Fräulein X. C. V. ein, und ich bat die Frau, mir die Wohnung einer Hebamme zu sagen, da ich eine solche nach etwas fragen müßte. Sie bezeichnete mir ein Haus im Marais und sagte, ich würde dort die Perle aller Hebammen finden. Hierauf erzählte sie mir eine Menge Heldentaten, wodurch diese sich ausgezeichnet hätte, und die mir alle bewiesen, daß es ein nichtswürdiges Weib war. Da ich jedoch wußte, daß ich sie nicht zu unerlaubten Zwecken gebrauchen wollte, so wählte ich sie. Ich ließ mir ihre Adresse geben, und da ich nachts hingehen wollte, so sah ich mir gleich am nächsten Tage ihr Haus von außen an.
Fräulein X. C. V. begann die Arzneien zu nehmen, die ich ihr brachte und die sie schwächen und dadurch das Werk der Liebe zerstören sollten; da sie aber gar keine Wirkung bemerkte, so war sie ungeduldig, eine Hebamme zu Rate zu ziehen.
Die Nacht des letzten Opernballs kam heran; sie erkannte mich an dem verabredeten Zeichen, folgte mir hinaus und stieg mit mir in einen Fiaker. In kaum einer Viertelstunde befanden wir uns in der Wohnung des alten niederträchtigen Weibes.
Eine Frau von etwa fünfzig Jahren empfing uns sehr beflissen und bot uns sofort ihre Dienste an.
Das Fräulein sagte ihr, sie glaube schwanger zu sein und wolle gerne wissen, wie sie ihre Schwangerschaft bis zur Entbindung nach Möglichkeit verbergen könne. Das Weib antwortete ihr lächelnd, sie könne ihr ohne Umschweife sagen, daß sie gerne das Kind abtreiben möchte. »Für fünfzig Louis bin ich bereit, Ihnen zu dienen; davon ist die Hälfte im voraus zahlbar, um die Mittel einzukaufen, der Rest aber sofort nach dem glücklichen Gelingen. Da ich Ihrer Ehrlichkeit vertraue, so werden Sie auch der meinigen vertrauen. Geben Sie mir zuerst die fünfundzwanzig Louis und kommen Sie morgen wieder oder lassen Sie die Mittel mit der Gebrauchsanweisung abholen.«
Nachdem sie dies gesagt hatte, hob sie dem Fräulein ohne Umstände die Röcke hoch, und diese bat mich schüchtern, ich möchte nicht hinsehen. Nachdem die Alte sie mit den Fingern untersucht hatte, ließ sie den Vorhang wieder fallen und sagte zu ihr, sie könne höchstens im vierten Monat schwanger sein. »Sollten meine Mittel unwirksam bleiben, was ich nicht glaube, so werde ich Ihnen andere Mittel angeben; auf alle Fälle gebe ich Ihnen Ihr Geld zurück, wenn es mir nicht gelingt, Sie vollkommen zufriedenzustellen.«
»Daran zweifle ich nicht,« sagte ich zu ihr; »aber was sind das, bitte, für andere Mittel?«
»Ich werde Ihnen Anweisung geben, den Fötus zu zerstören.«
Ich hätte ja antworten können, daß es unmöglich ist, das Kind zu töten, ohne die Mutter tödlich zu verletzen; aber ich fühlte keine Lust, mich mit einem so gemeinen Geschöpf herumzustreiten. »Wenn Madame sich entschließt, Ihre Mittel zu nehmen,« sagte ich zu ihr, »so werde ich Ihnen morgen das zum Ankauf der Kräuter notwendige Geld bringen.«
Ich gab ihr zwei Louis, und wir gingen.
Fräulein X.C.V. sagte mir, sie halte das Weib für eine verruchte Verbrecherin; denn sie sei überzeugt, daß man die Frucht nicht zerstören könne, ohne das Leben der Trägerin in Gefahr zu bringen. Sie habe nur zu mir allein Vertrauen. Ich bestärkte sie in dieser Ansicht und suchte sie von dem Gedanken an strafbare Eingriffe immer mehr abzubringen; zugleich versicherte ich ihr abermals, daß ich ihr Vertrauen rechtfertigen würde. Plötzlich beklagte sie sich über die Kälte und sagte zu mir: »Hätten wir nicht noch Zeit, uns in der Petite Pologne ein wenig zu wärmen? Ich habe große Lust, Ihre hübsche Wohnung zu sehen.«
Diese Laune überraschte mich und gefiel mir. Da die Nacht sehr dunkel war, konnte sie von den äußerlichen Schönheiten des Ortes nichts sehen; das Innere mußte ihr genügen, aber die Phantasie fliegt ja so schnell und so weit. Ich hütete mich, ihr meine Gedanken mitzuteilen; denn in der Liebe gibt es gewisse Gedanken, die man für sich behalten muß; aber ich glaubte tatsächlich, der Augenblick des Glückes sei da. Ich ließ den Fiaker am Pont-au-change halten, und wir stiegen aus; an der Ecke der Rue de la Feronnerie nahmen wir einen anderen Wagen; ich versprach dem Kutscher sechs Franken Trinkgeld, und in einer Viertelstunde hielt er vor meiner Tür.
Ich klingle als Hausherr, die Küchenperle macht mir auf und meldet mir, es sei niemand dort. Ich wußte das sehr gut; aber es war bei uns so Gewohnheit.
»Schnell, zünde ein Bündel Reiser an und gib uns irgend etwas, um dazu eine Flasche Champagner zu trinken.«
»Einen Eierkuchen?«
»Gut.«
»Einen Eierkuchen, ausgezeichnet!« sagte das Fräulein.
Sie war entzückend, und ihr lachendes Gesicht schien mir einen köstlichen Augenblick zu verkünden.
Vor einem guten Feuer sitzend, nehme ich sie auf den Schoß, bedecke sie mit Küssen, die sie zärtlich erwidert, und bin dem Augenblick des Triumphes nahe, als sie mich mit der sanftesten Miene bittet, mich zu mäßigen. Ich glaubte ihr zu gefallen, indem ich ihr gehorchte, denn ich war überzeugt, sie wolle meinen Sieg nur verzögern, um ihn schöner zu machen, und werde sich nach dem Champagner ergeben. In ihren Zügen las ich Liebe, Sanftmut, Vertrauen und größte Dankbarkeit, und ich hätte mich geärgert, wenn sie hätte glauben können, ich wünschte Beweise der Zärtlichkeit oder einfache Gefälligkeit als Belohnung von ihr. Ich war so großmütig, nur Liebe zu verlangen.
Als wir unser letztes Glas Champagner geleert hatten, standen wir auf, und halb mit Leidenschaft, halb mit sanfter Gewalt lege ich sie auf ein Sofa und umschlinge sie liebend mit meinen Armen; aber anstatt sich zu ergeben, widersetzt sie sich meinem Willen, zunächst durch sanfte Bitten, die ja für gewöhnlich den Angreifer nur noch unternehmender machen, dann durch ernsthafte Vorstellungen und endlich durch Anwendung ihrer Körperkräfte. Dies war zuviel; der bloße Gedanke an Vergewaltigung hat mich stets empört; denn ich denke noch heute, daß zwei Liebende in ihrer Vereinigung nur glücklich sein können, wenn sie sich in völligem Vertrauen einander hingeben. Ich führe alle möglichen Wunder an; ich spreche als Liebhaber, der zuerst bevorzugt, dann getäuscht, endlich verschmäht worden ist, schließlich sage ich ihr, sie habe mich auf grausame Weise enttäuscht; ich sehe sie schmerzlich bewegt, ich falle ihr zu Füßen, bitte sie um Verzeihung.
»Ach«, sagte sie in traurigstem Tone zu mir, »ich bin nicht mehr Herrin meines Herzens und darum bin ich tausendmal mehr zu beklagen als Sie.«
Ihre Tränen flossen in Strömen; ihr Kopf sank auf den meinigen, und mein Mund heftete sich an ihre Lippen. Aber das Stück war aus. Ich dachte nicht einmal an einen neuen Angriff, ich hätte einen solchen Gedanken mit Verachtung von mir gewiesen. Es folgte ein ziemlich langes Schweigen, dessen wir beide gleich sehr bedurften – sie, um das Gefühl der Scham zu ersticken; ich, um meiner Vernunft die Zeit zu geben, den Zorn zu beschwichtigen, der mir wohl berechtigt erschien. Dann legten wir unsere Masken wieder an und kehrten nach dem Opernhause zurück. Unterwegs wagte sie mir zu sagen, sie würde genötigt sein, auf meine Freundschaft zu verzichten, wenn ich einen solchen Preis dafür verlangte.
»Die Gefühle der Liebe, mein Fraulein, müssen denen der Ehre nachstehen, und Ihre Ehre sowohl wie die meinige zwingt mich, Ihr Freund zu bleiben, wäre es auch nur, um Sie in Ihren eigenen Augen der Ungerechtigkeit zu überführen. Ich werde aus Ergebenheit tun, was ich gerne aus Liebe getan hätte, und ich werde lieber sterben, als mich in Zukunft noch einmal um Gunstbezeigungen zu bewerben, von denen ich annahm, daß Sie mich ihrer für würdig hielten.«
Wir trennten uns im Opernhause, wo ich sie in dem ungeheuren Gedränge sofort aus den Augen verlor. Am nächsten Tage sagte sie mir, sie habe die ganze Nacht hindurch getanzt: vielleicht hoffte sie in der heftigen körperlichen Bewegung ein Heilmittel zu finden, das sie von der Medizin wohl nicht mehr erwartete.
Ich kam in sehr schlechter Laune nach Hause. Vergeblich suchte ich nach Gründen, um meine Abweisung zu erklären, die mir demütigend und beinahe unglaublich erschien. Ich konnte die Beweggründe des Fräuleins X. C. V. mir nur erklären, indem ich Sophismen auf Sophismen häufte. Die gesunde Vernunft zeigte mir, daß ich schnöde beschimpft war, allen Anstandsrücksichten und sittlichen Vorurteilen unserer gesellschaftlichen Erziehung zum Trotz. Ich dachte an den Witz der Populia, die sich Verstöße gegen die eheliche Treue nur erlaubte, wenn sie schwanger war:
Non tollo vectorem nisi navi plena – Ich nehme keinen Schiffer auf, wenn das Schiff nicht schon voll ist.
Ich ärgerte mich, die Überzeugung erlangt zu haben, daß ich nicht geliebt wurde, und es schien mir meiner unwürdig zu sein, noch weiterhin ein Weib zu lieben, das ich nicht mehr zu besitzen hoffen konnte. Ich schlief mit dem Entschluß ein, mich dadurch zu rächen, daß ich sie ihrem Schicksal überließe; im entgegengesetzten Benehmen hätte sie allerdings Heroismus finden müssen, aber dies war mir gleichgültig. Ich glaubte, meine Ehre erfordere, mich von keinem Menschen zum besten haben zu lassen.
Aber guter Rat kommt über Nacht. Als ich erwachte, war ich wieder ruhig und immer noch verliebt. Ich faßte einen neuen Entschluß: mich großmütig gegen die Unglückliche zu benehmen. Ohne mich war sie sicherlich verloren; ich mußte ihr also auch fernerhin meine Dienste widmen und mich gleichgültig gegen ihre Gunst zeigen. Die Rolle war nicht leicht; aber ich hatte den Mut, sie ausgezeichnet zu spielen, und die Belohnung kam später von selbst.