Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 13.
Ein tüchtiger Sozius aus Sachsen. Das Stahlschienen-Werk. Schriftstellerei und Weltreise.

Als Mr. Kloman seine Beziehungen zu uns gelöst hatte, schwankten wir keinen Augenblick, William Borntraeger die Leitung der Eisenwerke zu übertragen. Es hat mir stets das größte Vergnügen bereitet, Williams Entwicklung zu kennzeichnen. Er kam als junger Mann, der nicht einmal Englisch sprechen konnte, direkt aus Deutschland, wurde aber als entfernter Verwandter von Mr. Kloman zunächst einmal in untergeordneter Stellung im Werke untergebracht; er lernte schnell Englisch und wurde Expedient mit einem Gehalt von 6 Dollar wöchentlich. Von technischen Dingen hatte er keine Ahnung; aber durch seinen unermüdlichen Fleiß und seinen Eifer für das Interesse seiner Arbeitgeber erwarb er sich bald den Ruf, an allen Stellen des Werkes zugleich zu sein, jede Einzelheit zu kennen und auch auf das kleinste aufzupassen.

William war ein eigenartiger Mensch. Seinen heimatlichen sächsischen Dialekt konnte er, selbst wenn er Englisch sprach, nie verleugnen und sein verkehrtes Englisch machte seine Äußerungen oft komisch und äußerst drastisch. Unter seiner Leitung haben sich die Union-Eisenwerke zu einer besonders gewinnbringenden Abteilung unseres Geschäftes entwickelt. Als er sich nach einigen anstrengenden Jahren etwas überarbeitet hatte, beschlossen wir, ihm Urlaub zu einer Reise nach Europa zu geben. Über Washington kam er nach Neuyork. Als er mich dort aufsuchte, meinte er, er wolle lieber auf den Besuch der Heimat verzichten und gleich nach Pittsburg zurückfahren; beim Besuch des Washington-Denkmals hatte er nämlich die Carnegiebalken im Treppenhause gesehen, und das veranlaßte ihn zu der Äußerung: »Das macht mich so schdolz, daß ich lieber gleich zerickfahren un im Werk nach'm Rächden sähn mechde.« William war im Eisenwerk von den frühesten Morgenstunden bis zum späten Abend zu finden. Sein ganzes Leben ging darin auf. Er gehörte zu den ersten jungen Leuten, die wir am Geschäft beteiligten; bei seinem Tode hatte es der arme deutsche Junge zu einem Einkommen von – wenn ich mich recht erinnere – 50 000 Dollar jährlich gebracht, von dem er wahrhaftig jeden Cent verdient hat.

Ich könnte manches Geschichtchen von ihm erzählen. Als bei einem Essen, das unsere Teilhaber zur Feier des Jahresabschlusses veranstalteten, jeder eine kurze Rede halten sollte, faßte William seine Gedanken in folgende Worte zusammen: »Was mer zu duhn hamm, meine Härrn, is': Vergoofsbreise nauf und Herschdellungsgosten nunder, und jeden Mann uff seinen richdchen Fleck Der gute Deutsche bediente sich auf Englisch eines Wortes (bottom), das auch für einen gewissen Körperteil gebraucht wird. setzen.« Ein schallendes, nicht enden wollendes Gelächter war die Folge.

Kapitän Evans (der »kriegerische Bob«) war eine Zeitlang Regierungsinspektor für unser Eisenwerk und ein sehr gestrenger Herr. William ärgerte sich manchmal recht über ihn und beleidigte schließlich einmal den Kapitän, der sich infolgedessen über sein Betragen beschwerte. Wir versuchten, William klarzumachen, wie wichtig es sei, sich das Wohlwollen eines Regierungsbeamten zu sichern. Er antwortete darauf: »Ja, aber där gommt ja bloß un roocht mer meine Zigarrn wech (ein Beweis für den Mut des Kapitäns, denn William schwelgte in 1 Cent-Glimmstengeln aus Wheeling!) un dann geht er un macht mei Eisen runder. Was halden Sie von so'n Menschen? Aber ich währe mich schon entschuld'chen un ihn morchen nedder behandeln.« Wir gaben dem Kapitän die Versicherung, daß William gebührende Besserung versprochen hätte, aber später erzählte er uns lachend, wie William sich entschuldigt hatte: »Ja also, Herr Gabidän, ich hoffe, es geht Ihnen heide morchen recht gud. Ich hawe iebrichens weider gar nischt gechen Sie, Herr Gabidän.« Damit hatte er ihm seine Hand hingestreckt, in die der Kapitän schließlich einschlug, und damit war der Vorfall erledigt.

Eines Tages verkaufte William unserem Nachbar James Park, dem ersten Stahlfabrikanten von Pittsburg, einen großen Posten alter Schienen, mit denen wir nichts anzufangen wußten. Mr. Park beschwerte sich über die schlechte Qualität und beanspruchte Schadenersatz. So wurde William mit Mr. Phipps zu Mr. Park geschickt, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Mr. Phipps ging zu Mr. Park ins Bureau, während William sich ein wenig im Werk nach dem beanstandeten Material umsah, das jedoch nirgends zu finden war. William wußte aber ganz gut, wo es hingekommen war. Er trat schließlich ins Bureau und, ehe Mr. Park noch ein Wort sagen konnte, fing er schon an: »Mr. Park, es hat mich sähr gefreit, daß die allden Schienen, die ich Ihnen vergooft hawe, für die Schtahlfawrigazion nich geechnet sin. Ich goofe Ihnen den ganzen Schub wieder ab und gäbe Ihnen noch fimf Dollar mehr pro Tonne.« William wußte recht gut, daß sie alle verarbeitet worden waren. Mr. Park saß in der Klemme, und damit war die Angelegenheit erledigt. William triumphierte.

Als ich einmal nach Pittsburg kam, sagte mir William, er hätte mir etwas ganz Besonderes zu erzählen, das er keinem anderen anvertrauen könnte. Es war kurz nach seiner Rückkehr aus Deutschland. Er war dort einige Tage zum Besuch bei einem alten Schulfreund gewesen, der es bis zum Professor gebracht hatte. »Ja, Mr. Carnegie, seine Schwester, die ihm den Haushalt besorcht, war immer sähr nedd zu mir, un wie ich nu nach Hamburg gam, dachte ich, ich schicke ihr eene kleene Uffmerksamkeet. Da schrieb se mer eenen Brief un dann schrieb ich ihr wieder eenen Brief. Un dann schrieb se mer un dann hawe ich se gefracht, ob se mich heiraden wollde. Sie is een sähr gebildedes Mächen, awer sie schrieb: Ja. Un da haw ich geschrieben, se sollde nach Neuyork gommen, un da wollden wir uns dreffen. Aber, Mr. Carnegie, die Leide da drieben verstähn ehben nischt von Geschäft un Fawrigazion. Ihr Bruder hat mer geschriewen, ich soll noch ämol riwwergommen und sie in Deitschland heiraden, aber ich gann doch nich noch emal von der Fawrik fort. Un da haw ich gedacht, Sie gennden mir vielleicht eenen Rad gäwen.« – »Natürlich können Sie noch einmal fort. Selbstverständlich, William! Sie müssen sogar reisen. Ich schätze Ihre Angehörigen um so höher, weil sie so denken. Fahren Sie sofort hinüber und bringen Sie Ihre Braut mit. Ich werde schon alles für Sie ordnen.« Als er abfuhr, sagte ich: »Nun, William, Ihre Herzliebste ist sicher so ein richtiges großes, schönes deutsches Mädel, frisch und rosig wie ein reifer Pfirsich.« – »Ach, wissen Sie, Mr. Carnegie, se is ä bißchen ze dicke. Wenn ich se under de Finger krieche, da wäre ich se gerade noch eemal auswalzen.« Alle Bilder, die William in seiner Sprache verwandte, stammten aus dem Eisenwalzwerksbetrieb. –

Das Stahlschienenwerk war 1874 so weit gediehen, daß es eröffnet werden sollte. Man unterbreitete mir einen Plan, der das Werk in zwei Abteilungen zerlegte; der einen sollte Mr. Stevenson, ein Schotte, der später ein bedeutender Fabrikant wurde, vorstehen, die andere sollte ein gewisser Mr. Jones leiten. Nichts ist, das kann ich mit Bestimmtheit behaupten, jemals von solcher Wichtigkeit für die Entwicklung der Stahlgesellschaft gewesen, wie meine Stellungnahme zu dieser Vorlage. Unter keinen Umständen durfte es zwei Männer mit gleicher Machtvollkommenheit in demselben Werk geben. Eine Fabrik mit zwei Leitern in demselben Hause, selbst wenn sie in verschiedenen Abteilungen saßen, mußte ebenso zugrunde gehen wie ein Heer mit zwei Oberbefehlshabern oder ein Schiff mit zwei Kapitänen. Ich sagte also: »Das geht auf keinen Fall. Ich kenne weder Mr. Stevenson noch Mr. Jones, aber nur einer von beiden darf das Kommando übernehmen und dieser allein darf Ihnen verantwortlich sein.«

Die Entscheidung fiel für Mr. Jones. So bekamen wir den »Kapitän«, dessen Name späterhin berühmt wurde, wo immer man etwas von der Bessemer-Stahlfabrikation weiß. Der Kapitän war damals noch sehr jung, dürftig und lebhaft; seine walisische Abstammung war sogar in seinem Äußeren erkennbar, denn er war ganz klein. Er kam von dem benachbarten Werk in Johnstown zu uns, wo er bisher als Mechaniker für einen Tagelohn von 2 Dollar gearbeitet hatte. Aber wir sahen bald, daß er eine starke Persönlichkeit war. In jeder Bewegung kam das zum Ausdruck. Während des Bürgerkrieges hatte er freiwillig als gemeiner Soldat gedient und sich so gut geführt, daß er schließlich zum Hauptmann einer Kompagnie aufrückte, die dafür berühmt war, daß sie nie zurückging.

Der Erfolg der Edgar Thomson-Werke ist nicht zum mindesten sein Verdienst. In späteren Jahren lehnte er eine Beteiligung am Geschäft ab, die ihn zum Millionär gemacht hätte. Eines Tages erzählte ich ihm, daß einige der jungen Leute, denen wir einen Anteil am Geschäft gegeben hätten, bedeutend mehr verdienten als er, und daß wir beschlossen hätten, auch ihn zum Teilhaber zu machen. Dies würde keinerlei finanzielle Verantwortlichkeit nach sich ziehen, da wir es immer so hielten, daß die Beteiligungssumme nur aus dem künftigen Gewinn gedeckt würde. »Nein«, sagte er, »ich möchte meine Gedanken nicht auf das Geschäftliche richten. Die Fabrikation selbst nimmt mich schon genug in Anspruch. Wenn Sie aber meinen, daß ich es wert bin, dann geben Sie mir eine anständige Gehaltszulage.« – »Schön, Kapitän, Sie sollen ein Gehalt haben wie der Präsident der Vereinigten Staaten.« – »Das läßt sich hören«, sagte der kleine Waliser. [Man erzählt sich, daß Mr. Carnegie bei der Auswahl seiner jüngeren Teilhaber eines Tages einen jungen Schotten, Alexander R. Peacock, holen ließ und ihn ziemlich unvermittelt fragte: »Peacock, was würden Sie wohl geben, wenn wir Sie zum Millionär machten?« – »Einen anständigen Diskont für Barzahlung«, antwortete er. Als die Carnegie-Stahlgesellschaft in der »Stahlgesellschaft der Vereinigten Staaten« aufging, besaß er einen zweiprozentigen Geschäftsanteil.]

Unsere Konkurrenten auf dem Gebiete der Stahlfabrikation schenkten uns zuerst keine Beachtung; da sie an die Schwierigkeiten dachten, die sie zuerst in ihren eigenen Betrieben gehabt hatten, konnten sie nicht glauben, daß wir schon im nächsten Jahre Schienen würden liefern können, und betrachteten uns daher überhaupt nicht als ernsthafte Konkurrenz. Der Preis der Stahlschienen betrug, als wir anfingen, ungefähr 70 Dollar pro Tonne. Wir schickten unsere Agenten im Lande herum, um Aufträge zu den günstigsten Preisen einzuholen; und ehe noch unsere Konkurrenten eine Ahnung davon hatten, hatten wir schon zahlreiche Aufträge beisammen, vollkommen genug für den Anfang.

Die Maschinen, die Kapitän Jones einführte, die Pläne, nach denen er arbeitete, die Leute, die er auswählte, waren so hervorragend und er selbst ein so glänzender Geschäftsführer, daß der Erfolg unsere kühnsten Erwartungen bei weitem überstieg. Es ist wohl ein Ergebnis, das einzig in seiner Art dasteht, wenn ich sage, daß wir im ersten Monat einen Gewinn von 11 000 Dollar hatten. Auch das war bemerkenswert, daß unser Berechnungssystem uns instand setzte, unseren Nutzen bei Heller und Pfennig zu berechnen. Die Erfahrungen in unseren Eisenwerken hatten uns gelehrt, welche Bedeutung ein exaktes Abrechnungssystem hat. Nichts bringt einem Geschäft mehr ein als ein paar Bureauleute, die genau Buch führen über jede Materialüberweisung zwischen den verschiedenen Abteilungen eines Fabrikbetriebes. –

Da das neue Unternehmen in der Stahlbranche sich so verheißungsvoll anließ, dachte ich nun daran, mir einmal längere Ferien zu gönnen, und der lange gehegte Wunsch, eine Weltreise zu machen, tauchte wieder auf. Mr. J. W. Vandevort (»Vandy«) und ich fuhren also im Herbst 1878 los. Ich nahm einige Notizblöcke mit und machte jeden Tag ein paar Aufzeichnungen, zunächst ohne die geringste Absicht, sie etwa als Buch zu veröffentlichen; ich hatte nur daran gedacht, sie vielleicht für private Zwecke in ein paar Exemplaren vervielfältigen zu lassen. Es ist aber doch ein erhabenes Gefühl, wenn man seine Gedanken zum ersten Male richtig als Buch gedruckt vor sich sieht. Als ich das Päckchen aus der Druckerei bekam, las ich das Buch noch einmal durch, um zu sehen, ob es sich lohne, meinen Freunden ein Exemplar zu senden. Ich entschloß mich, dies zu tun und ihr Urteil abzuwarten.

Wenn jemand ein Buch für seine Freunde schreibt, so hat er keinen Grund, zu erwarten, daß es unfreundlich aufgenommen würde, aber es besteht doch immer die Gefahr, daß es mit matten Lobesversuchen abgelehnt wird. In meinem Falle jedoch übertrafen die Antworten all meine Erwartungen und verschafften mir die befriedigende Überzeugung, daß die Briefschreiber an dem Buche wirklich Freude gehabt hatten oder zum mindesten doch einen Teil von dem, was sie darüber sagten, ehrlich meinten. Jeder Autor ist leicht geneigt, Lobreden zu glauben. So beklagte sich z. B. Anthony Drexel, der große Bankier in Philadelphia, in seinem Briefe darüber, daß ich ihn um Stunden seiner Nachtruhe gebracht hätte; als er das Buch einmal angefangen hätte, habe er es nicht wieder aus der Hand legen können und sei erst um 2 Uhr nachts schlafen gegangen, nachdem er es ganz durchgelesen habe. Noch mehrere ähnliche Briefe gingen mir zu. Mr. Huntington, der Präsident der Zentral-Pazifik-Eisenbahn, sagte mir eines Morgens, als er mir begegnete, er müsse mir ein großes Kompliment machen. »Welches denn?« fragte ich. – »Ich habe Ihr Buch von Anfang bis zu Ende gelesen.« – »Aber«, antwortete ich, »das ist doch kein besonderes Kompliment, das haben doch auch andere unserer gemeinsamen Freunde getan.« – »Das mag sein, aber wahrscheinlich sind Ihre Freunde alle nicht so wie ich. Seit Jahren schon habe ich kein anderes Buch aufgeschlagen als mein Hauptbuch. Ich wollte auch Ihres zuerst nicht lesen, aber als ich einmal angefangen hatte, konnte ich es nicht wieder weglegen. Ihr Buch ist außer meinem Hauptbuch tatsächlich das einzige Buch, das ich in den letzten fünf Jahren gelesen habe.«

Ich glaubte durchaus nicht alles, was meine Freunde mir sagten; aber auch anderen, die das Buch von ihnen bekamen, hat es sehr gefallen. So lebte ich einige Monate lang umgeben von berauschender Schmeichelei, die aber hoffentlich keine nachhaltigen üblen Wirkungen auf mich gehabt hat. Einige neue Auflagen des Buches wurden gedruckt, um all denen, die darum baten, ein Exemplar zu verschaffen, Notizen und Auszüge kamen in die Zeitungen, und schließlich baten Charles Scribner's Sons um die Erlaubnis, es für den öffentlichen Büchermarkt herausgeben zu dürfen. So wurde mein »Rund um die Welt« veröffentlicht Round the World von Andrew Carnegie, im Verlag von Charles Scribner's Sons, Neuyork 1884; deutsche Übersetzung von Joseph M. Grabisch: »Meine Reise um die Welt«, Leipzig u. Berlin, Franz Moeser Nachf. 1908., und ich war nun also ein »Autor«. –

Die Weltreise hat mir einen ganz neuen Horizont eröffnet. Mein geistiges Leben bekam eine ganz andere Richtung. Spencer und Darwin standen damals auf der Höhe ihres Schaffens, an dem ich lebhaftes Interesse gewann. Ich begann die verschiedenen Stadien des Lebens der Menschheit vom Standpunkt der Entwicklungslehre aus zu betrachten. In China studierte ich Konfuzius, in Indien Buddha und die heiligen Bücher der Hindu, bei den Parsen in Bombay Zoroaster. So brachte mir meine Reise als Ergebnis eine gewisse innere Ruhe. Wo vorher ein Chaos gewesen war, herrschte jetzt Ordnung. Meine Seele war still geworden. Ich hatte endlich eine Philosophie gewonnen. Die Worte Christi »Das Himmelreich ist in euch« bekamen jetzt einen ganz neuen Sinn für mich. Weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern in der Gegenwart hier auf Erden liegt das Himmelreich. Alle unsere Pflichten liegen in dieser Welt und in dieser Zeit, und alles Bestreben, einen Blick in das Jenseits zu gewinnen, ist eitel.

All die Reste der kirchlichen Anschauungen, unter denen ich aufgewachsen war, auch die Eindrücke, die ich von Swedenborgs Lehre empfangen hatte, beeinflußten und beschäftigten mein Denken nun nicht mehr. Ich hatte gefunden, daß kein Volk in der bei ihm als göttlich geltenden Offenbarung die ganze Wahrheit besitzt, aber daß auch keines so tief steht, daß es ganz ohne jede Wahrheit wäre. Jedes Volk hat seine großen Lehrer: das eine Buddha, das andere Konfuzius, das dritte Zoroaster, das vierte Christus. Alle ihre Lehren erschienen mir in ethischer Hinsicht miteinander verwandt, so daß ich mit Matthew Arnold, auf dessen Freundschaft ich so stolz bin, sagen konnte:

O Menschensohn! Der große Unbekannte,
Dess' Auge nie die Sterblichen verläßt,
Sah nie verachtungsvoll auf einen Glauben,
Den Menschengeist ersann.

Weist jeder doch dem Schwächsten seine Kraft
Und fällt wie Tau in ein verschmachtet Herz
Und sagt dem mattgewordnen Lebenswandrer
Sein »Stirb und werde!«

Um diese Zeit erschien Edwin Arnolds »Das Licht Asiens« Das 1879 erschienene Buch The Light of Asia des englischen Schriftstellers Sir Edwin Arnold (1832-1904) verherrlicht Leben und Lehre Buddhas., das mir einen größeren Genuß als je zuvor ein ähnliches Dichtwerk bereitete. Ich war gerade in Indien gewesen und fühlte mich wieder dahin versetzt. Der Verfasser hörte von meiner Vorliebe für das Buch und schenkte mir, als ich ihn in London später kennenlernte, das Manuskript. Dieses ist einer meiner wertvollsten Schätze.

Jeder, der es nur irgendwie, und wenn es auch erhebliche Opfer kostet, ermöglichen kann, eine Weltreise zu unternehmen, sollte das tun. Im Vergleich damit erscheint jede andere Reise nur unvollkommen, da sie uns nur unzureichende Eindrücke von bloßen Bruchstücken des Ganzen vermittelt. Wenn man aber alle Länder bereist hat, so hat man bei der Heimkehr das Gefühl, daß man (natürlich nur in großen Umrissen) alles gesehen hat, was es zu sehen gibt. Die Teile fügen sich zu einem symmetrischen Ganzen, und man lernt die Menschheit in den verschiedensten Gestaltungen nach ihren verschiedenen Idealen und Zielen kennen.

Der Weltreisende, der sich eingehend mit den heiligen Schriften der verschiedenen Religionen des Ostens beschäftigt, wird reichen Lohn finden. Er wird zu dem Schluß kommen, daß jedes Land seine eigene Religion für die beste hält. Jedes Volk freut sich über das Los, das ihm zuteil geworden ist, und bemitleidet die weniger Glücklichen, die dazu verurteilt sind, jenseits seiner geheiligten Grenzen zu leben. Die große Masse in allen Völkern ist gewöhnlich glücklich, denn sie hält es mit dem alten Wort: »Ost oder West, – daheim am best.«

Ich möchte dies noch durch zwei Zitate aus meinem »Rund um die Welt« belegen:

Wir besuchten eines Tages die Tapioka-Arbeiter in den Wäldern bei Singapore. Sie waren fleißig bei der Arbeit. Die Kinder liefen ganz nackt herum, die Eltern notdürftig in Lumpen gehüllt. Unsere Gesellschaft erregte natürlich in hohem Maße ihre Verwunderung. Wir ließen durch unseren Führer den Leuten sagen, daß wir aus einem Lande kämen, wo zu dieser Jahreszeit das Wasser in solch einem Teiche so fest sei, daß man darauf laufen und manchmal sogar mit Pferd und Wagen hinüberfahren könne. Ganz erstaunt fragten sie, warum wir denn da nicht lieber zu ihnen zögen. Sie fühlten sich wirklich in ihren Verhältnissen sehr wohl.

Und dann die andere Stelle:

Auf dem Wege zum Nordkap besuchten wir ein Renntierlager in Lappland. Ein Matrose vom Schiff sollte mit der Gesellschaft gehen. Ich schritt auf dem Heimweg neben ihm; als wir an den Fjord kamen, sahen wir hinunter und nach dem jenseitigen Ufer, wo wir ein paar verstreut liegende Hütten und ein im Bau befindliches zweistöckiges Haus gewahrten. »Was für ein Haus ist das?« fragte ich. »Das wird die Wohnung eines Mannes, der in Tromsö geboren ist, im Ausland viel Geld verdient hat und jetzt zurückkommt, um den Rest seines Lebens hier zu verbringen. Er ist sehr reich.« – »Sie haben mir erzählt, daß auch Sie die ganze Welt auf Ihren Fahrten gesehen haben. Sie kennen London, Neuyork, Kalkutta, Melbourne und andere Städte. Wo möchten Sie wohl im Alter leben, wenn Sie einmal ebenso reich würden wie dieser Mann?« Seine Augen strahlten, als er antwortete: »O, es gibt auf der ganzen Welt keinen Ort wie Tromsö.« Das liegt in der arktischen Zone und hat sechs Monate lang Nacht, aber er war in Tromsö geboren. Heimat, liebe, liebe Heimat!

So viele Lebensverhältnisse und Naturgesetze uns auch unzulänglich oder sogar ungerecht und grausam erscheinen mögen, es gibt doch eine ganze Reihe, die uns durch ihre Schönheit und Zartheit in Erstaunen setzen. Zu diesen gehört ohne Zweifel die Liebe zur Heimat, die nicht danach fragt, wie diese Heimat aussieht und wo sie liegt. Und wie schön ist es doch, zu finden, daß das höchste Wesen seine Offenbarung nicht auf ein Volk oder eine Rasse beschränkt hat, sondern daß jedes Volk die Verkündigung besitzt, die für seinen gegenwärtigen Entwicklungszustand angemessen ist. Der »unbekannte Gott« hat niemand vernachlässigt.


 << zurück weiter >>