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So leer war das Haus vor der Stadt, so still und so verlassen. Der Beschluß war gefaßt worden, zu verkaufen und nach Graz zu übersiedeln. Die Mutter wollte in diesen Räumen nicht mehr bleiben.
Vitus strich verloren durch die Zimmer, die nach den vielen fremden Stimmen, die sie erfüllt hatten, doppelt schweigsam lagen. Jeder Schritt rief ein Echo wach, ließ irgend etwas Leises klirren. In einem Schrank standen des Vaters Jagdgewehre, hing eine Pfeife. Vitus nahm ihre durchgebissene Spitze in den Mund und legte sie wieder an ihren Platz. Auf dem Löschblatt des Schreibtisches standen noch immer die Bleistiftzeichen, die ihm beim Schreiben der Danksagungen so plötzlich ins Auge gesprungen waren. »Wohl unter die Röslein, wohl unter dem Klee.« Eine Zeile aus einem Lied, die der Vater in wehmütigen Gedanken hierher gekritzelt hatte, in einer einsamen Stunde. An dem Tage, an dem Vitus diese Schrift entdeckt hatte, war ein erlösendes, sanftes Weinen über ihn gekommen. Heute weinte er nicht mehr, so sehr ihm auch der immer neue Schmerz in die Kehle stieg. Die schwarze Miß lag blinzelnd auf der Gemsdecke, neben des Vaters abgenutztem Stuhl. Vitus streichelte sie und der Fahnenschweif wedelte dankbar. Der Tierarzt hatte davon abgeraten, den gichtischen Hund mit nach Graz zu nehmen. Vor dem Begräbnis war der Setter in den Keller gesperrt worden, weil er immer wieder heulend und winselnd in das Zimmer wollte, in dem sein Herr lag, in das Zimmer mit der für die feine Hundenase furchtbaren Witterung. – Die Hündin war zum Tode verurteilt, um sie vor bevorstehenden Qualen zu retten, vor einer völligen Lähmung, die sich ankündigte. Und doch war das alles so grausam.
Der Sohn saß auf des Vaters Platz und betrachtete die Dinge, auf denen so oft der Blick des Entschwundenen geruht hatte. Die wassergefüllte Glaskugel, in der ein Männlein mit aufgespanntem Regenschirm lauerte – drehte man sie um und stellte sie wieder hin, dann begann es in dieser winzigen, runden und durchsichtigen Welt lustig zu schneien. Da stand im verschnörkelten Silberrahmen die junge Mutter glückselig auf den kleinen Vitus im getupften Kleidchen und Spitzenhaube herniederlächelnd, ein malayscher Ibis als Papiermesser, von Onkel Otto geschnitzt, lag neben einem Aschenbecher aus zimmtrotem, mit goldenen Flitterchen durchsetzten Aventurin. Der immerwährende Kalender mit englischen Monatsnamen stand noch da. Die kleine kostbare Altwiener Uhr, ein »Zappler« mit dem rastlos tickenden Pendel fehlte. Die hatte Onkel Otto als Andenken erhalten, schon deshalb, weil er sie immer bewundert hatte und vielleicht auch, weil sie im Augenblick des Todes unheimlich mitfühlend stehengeblieben war.
Frau Venloo war seit dem Tode ihres Mannes viel in der Kirche. Ihr tiefer Glaube war ein starker Trost und Wall für den Schmerz, der nicht abklingen wollte. Im geheimnisvollen Halbdunkel der alten Gotteshäuser, in denen es von Goldlichtern und strahlendem Schnitzwerk funkelte, im eigenartigen Gemisch der Düfte von erkaltetem Weihrauch, vom Öl, das sich in den Ampeln hinter rotem Glase in Flämmchen verzehrte und vom grauen, uralten Stein, in dieser ganzen kühlen und feierlichen Ruhe, die nur von leisen Schritten und dem Murmeln und Wispern der Gebete unterbrochen ward, fühlte sie sich dem Himmel näher gerückt, in dem ihr unaussprechlich geliebter Mann nun wohl aufgenommen worden war nach kurzer Läuterung in Fegefeuerflammen. Wenn sie nach inbrünstigem Gebet für sein Seelenheil, nach heißem Bitten um Wiedervereinigung nach Hause kam, lag ein heiterer Glanz auf ihren verhärmten Zügen, der Vitus trotz seines eigenen Unglaubens mit Ehrfurcht erfüllte. Er dachte oft an die Worte Professor Zeindls. Er war drei Tage nach des Vaters Tod bei ihm gewesen, hatte ihm die Hand gedrückt und gesagt: »Mein liebes Kind, vergessen Sie nie im Leben, daß Ihr Vater dort oben auf Sie wartet. Und wenn sich jetzt Ihr junger Verstand auflehnt gegen das Dogma, so wenden Sie Ihr Herz doch nicht ganz von Gott ab. Er, der Allgütige, ist immer da, wenn Sie seiner bedürfen und er wird Sie auch dann hören, wenn Sie in anderer Weise zu ihm beten, als ich Sie es gelehrt habe.« Sein durch die schwere Trauer geschwächtes Gemüt hatten diese Worte tief erschüttert. Vitus war einmal bei Regen zu des Vaters Grab gepilgert. Ein paar rasch gesetzte Blumen hatten sich eingelebt in den sinkenden Boden, aber das Holzkreuz stand schon schief. Im Herbst sollte die Überführung auf den Grazer Sankt-Peter-Friedhof stattfinden.
Zwei Monate blieben noch für Vitus, um Abschied von der Stadt im Inntal zu nehmen, die schönsten Monate des Jahres. Gewissenhaft suchte er alle Wege auf, die er mit dem Vater gegangen war und sah die eigene Trauer wie einen feinen Nebel auf dem Landschaftsbild liegen. Eine schwache Pein begleitete ihn stets, der Kummer, mit dem ihn nachträglich jeder, auch der allerkleinste Verdruß, den er dem Vater bereitet hatte, beständig drückte. Längst vergessene, unbedeutende Vorfälle kamen wieder zum Vorschein und wuchsen ins Große. Wie sich der Vater einmal schmerzhaft an einen Dorn gestochen hatte, an dem Vitus trotz Abmahnung in ein Gebüsch kriechend, mit dem Rock hängengeblieben war. Er sah den hellroten Blutstropfen wieder und die ärgerlich schlenkernde Bewegung der Hand, die ihn befreit hatte. Die schlimmeren Auftritte dachte Vitus nicht zu Ende, es tat zu weh. Und eines war, über das er sich zergrübelte.
Als er dem Vater in einer der letzten Wochen seines Lebens vom Geigei und von Christian erzählt hatte, war das Gespräch von der Lösung, die er erhofft hatte, abgeirrt auf die Nebensachen, auf die Spuren der vergessenen Götter. Und Vitus hätte um alles in der Welt gern gewußt, was der Vater von diesem Christian hielt. Nicht von seinem Glauben, nein, von ihm selbst, von dem Menschen Christian Prutzer. Es war versäumt worden, noch einmal diese Frage anzuschlagen, in deren Beantwortung ihm nur des Vaters Ansicht Sicherheit hätte geben können. Nun konnte er ihn nicht mehr fragen. Aber die ungewohnte Freiheit, die Vitus genoß, führte ihn auf allerlei Pfaden und mancherlei Art zur Wirklichkeit zurück und abseits von dem beständigen Versinken in sich selbst, und in das Reich der Erinnerungen. Ab und zu traf er doch mit ferienfrohen Gefährten zusammen und trank mit ihnen roten Wein oder dunkles Bier, tauchte in die kühlen grünen Wasser des Schwimmbades in Schloß Büchsenhausen.
Grete Kluibenschild lief ihm öfters über den Weg und an einem warmen Sommerabend kletterte er über die Mauer des Gartens. Aber er fand sie schnippisch und weit entfernt von jenem weichen Entgegenkommen, das ihn zur Winterszeit so sehr gerührt hatte. In ihren Augen blitzte es überlegen und spöttisch, als er sich ihr in einer Weise, zu der er sich berechtigt fühlte, nähern wollte. »Ich war schön dumm,« sagte sie und setzte sich von ihm weg. »Nein, mein Bruder kann jeden Augenblick kommen.« So plauderten sie in einem lauernden, spöttischen Ton, als ob eines das andere fühlen lassen wollte, es liege ihm nicht sehr viel an weiteren guten Beziehungen. Gretl war in der letzten Zeit gewachsen und schlanker geworden, der Zopf in einer kunstvoll geflochtenen Haarkrone von Kupferglanz verschwunden und ihr Gesicht zeigte schärfere und ausgesprochenere Züge. Sie gefiel ihm tausendmal besser als früher, aber sein Stolz war wach genug, um ihn vor Lächerlichkeit zu bewahren. Allmählich aber merkte er mit Staunen, daß ihr Gespräch sich um Herucker zu bewegen begann und daß Gretl, vorsichtig allerdings, aber doch drängend, Kunde über die Vermögensverhältnisse des Freundes verlangte und ob es wahr sei, daß er der einzige Sohn des verstorbenen reichen Gerbers Herucker sei. Ja, dies sei wahr, sagte er, aber weshalb sie sich darum bekümmere. So halt. – Herucker sei ihr doch so zuwider gewesen? Nun, mein Gott, er scheine immerhin anständiger und ernster zu sein, als mancher andere und außerdem habe er ihr vor ein paar Tagen einen reizenden Brief geschrieben, falls dies für Vitus vielleicht wissenswert sei. Er wurde gereizt, fühlte etwas wie zwiefache Eifersucht und sagte gerade heraus, er wisse nun schon um was es sich da handle. Herucker sollte eingefangen werden. Sie lachte hell auf und meinte, Vitus und Herucker seien ja beide noch Schulbuben, aber man könne nicht wissen – – Wenn es einer so treu und ehrlich meine, wie Herucker, käme es auch nicht darauf an, zu warten. Vitus erwiderte, sehr die Fassung verlierend, sie könne ja machen, was sie wolle.
Sie sah auf ihre zierlichen Lackschühlein nieder, die übereinander lagen und sagte dann leise:
»Du gehst nach Graz. Mit dir ist's also nichts.«
Vitus lachte auf.
»Ich bin, wie du richtig gesagt hast, ein Schulbub. Die Leute würden mich ja auslachen, wenn ich ans – ans Heiraten –«
»O bitte. Die Mela Ritter ist auch mit einem Studenten im ersten Jahr Medizin verlobt. Und in einem Jahr bist du ja auch auf der Universität. Der Bräutigam von der Mela ißt alle Tage bei ihren Eltern. Sie ist auch bald siebzehn, wie ich. Daß du mich nicht wirklich liebst, weiß ich. Aber der Herucker – der liebt mich und ich muß sagen, er ist nicht so übel.«
»Nun, dann heirat ihn doch, oder verlob dich wenigstens mit ihm,« sagte Vitus verletzt und stand auf. »Aber daß du mir das erzählst –«
Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Augen hochmütig an.
»Gott – warum denn nicht? Ärgert es dich vielleicht?«
»Ärgern?« er lachte. »Aber der Herucker tut mir leid, der Arme?« Zornrot sprang sie auf.
»Jetzt seh ich erst, wie gemein du bist. Ja, ein gemeiner Kerl bist du, sonst nichts. Geh doch gleich zu ihm und erzähl ihm –« Sie brach in Schluchzen aus.
Vitus geriet auf einmal in furchtbare Verlegenheit. Die Rolle, die er da spielte, kam ihm sehr unwürdig vor und ein starkes Schuldgefühl machte ihn vollends unsicher. Zudem bereitete ihm ihr lauter werdendes Weinen Angst. Er wartete, unschlüssig, was er tun sollte und rief sie sanft und versöhnend beim Namen. Aber sie winkte ihm heftig zu gehen. Er stand noch immer. Da brach sie plötzlich mit tränennassen Wangen in ein unangenehm klingendes Lachen aus und rief:
»Du kannst schon gehen, du. Wir zwei haben nichts mehr zu reden. Und daß du mir ja nicht wieder kommst. Übrigens kannst du es ihm ja sagen, wenn du willst,« setzte sie leiser hinzu und schürzte höhnisch die Lippen. »Wir werden ja sehen, wem er glaubt, dir oder mir!«
Und dann sprang sie auf und rief laut und schrill: »Theo!« »Ja, was ist denn?« kam die Stimme des Bruders vom Hause her.
»Komm her – ich muß dir was sagen!«
Da eilte Vitus zur Mauer und kletterte hinüber, erschreckt und beschämt. Er sah sich nicht mehr um.
»Hoscht Äpfel g'schtohlen?« rief ihm ein Mann nach, der stehengeblieben war und lachte.
Zu Hause schrieb er aufgeregt mit jagenden Pulsen an einem Brief, der Herucker in Vernauts finden und aufklären sollte. »Ich habe dich verraten« – »Ich halte es für meine Pflicht« – »Verzeih mir, daß ich dir Schmerz bereite.« Fünf, sechsmal fing er an, zerriß die Bogen, stopfte sie in den Ofen und ließ sie in Flammen auflodern. Es ging nicht. Er konnte das nicht tun. »Was hast du, Vitus?« fragte die Mutter beim Essen. »Du siehst so blaß aus. Fehlt dir was?«
Am anderen Tag strich er in der Nähe des Gartens herum. Hochschreck, der aus der Schwimmschule kam, rief ihn an, und so mußte er ihn begleiten, ohne Gretl gesehen zu haben. Das Näseln, das sich der Freiherr angewöhnt hatte, und die Art, wie er von seinem »Ferd« sprach, die Andeutungen, daß er nachmittags bei einer Dame zum Tee geladen sei, nötigten Vitus trotz des Unechten, das er wohl erkannte, widerwillige Bewunderung ab. Der aufgeschossene junge Mann in sorgfältiger Kleidung, die sehr von seiner früheren Unbekümmertheit in solchen Dingen abstach, die nachlässige Form, in der er von »Weibern« erzählte, waren für Vitus etwas Neues. Auch schien die Geldlage des früher so bedürftigen Freundes sich erheblich gebessert zu haben, denn er entnahm seiner wildledernen Brieftasche einen Schein und bezahlte, seine Vergeßlichkeit entschuldigend, die sämtlichen kleinen Schulden, die er in den letzten zwei Jahren bei Vitus gemacht hatte. In einer kindischen Anwandlung es ihm gleich zu tun, machte Vitus Bemerkungen, daß auch er eben von einer recht netten Zusammenkunft käme. Weise und überlegen warnte ihn Hochschreck, mit Weibern ja vorsichtig zu sein. Vitus wisse ja, daß voriges Jahr bei ihm, Hochschreck, sich unangenehme Folgen eines Erlebnisses mit »so einer Person« eingestellt hatten. »Mali, glaub ich, hat das Luder g'heißen!« sagte er wegwerfend und ließ das dünne Stöckchen durch die Luft pfeifen. Und auch Vitus fand nichts Wunderliches dabei, daß der vornehm gewordene Freund sich auf einmal nicht mehr genau an den Namen jener Köchin erinnerte, die sozusagen den Grundstein zu Hochschrecks nun offenbar sehr entwickeltem Liebesleben gelegt hatte.
Nachts hatte er einen sonderbaren Traum. Er saß mit dem Vater in dessen Arbeitszimmer und sie blickten beide in ein aufgeschlagenes dickes Buch. »Das ist von Christian,« sagte der Vater, »es ist alles so einfach erklärt. Daß wir das früher nicht gewußt haben!« Und er zeigte mit dem Finger auf eine in Buddhastellung hockende menschliche Figur, der der Kopf fehlte. Statt seiner wuchsen aus dem Halse grüne Ranken, verzweigten und verstellten sich. Ganz einfach und mit durchdringender, fast schmerzender Klarheit sah Vitus hier den Lauf und Endzweck alles Lebens, die endlose Reihe von Ursachen und Wirkungen. Als er erwachte war ihm das Bild der Gestalt, die in grüne Ästelungen auslief, deutlich im Gedächtnis geblieben, aber die überwältigende Erkenntnis, die es geweckt hatte, war mit dem Traum verschwunden und nur das tote, dem Wachen unverständliche Sinnbild blieb. Auf dem Frühstückstisch lag ein warmer und freundschaftlicher Brief von Herucker, voll von Trostesworten und auf dem freigebliebenen Blatt stand mit fremder schwerer Schrift geschrieben:
»Von Christian Prutzer an Vitus Venloo.
Die Kreatur ist mehr
in Gotte, denn in ihr –
zerwird sie, bleibt sie doch
in ihm noch für und für.
Ich sage, weil allein
der Tod mich machet frei,
daß er das beste Ding
aus allen Dingen sei.«
Und aus dem Umschlag sank langsam ein leichtes, graues, dunkelgebändertes Federchen auf die Erde. Vitus hob es auf und erkannte es. Es stammte von einer kleinen Eule, deren Augen sich todesbang geschlossen hatten.
Sein Herz schwoll und noch in den Vormittagsstunden schrieb er einen langen Brief an Herucker. In gewundenen, ängstlichen Sätzen suchte er ein Geständnis zu verbergen und ohne das Mädchen zu verraten, dem Freunde Warner zu sein. Ohne Überlegung klebte er den Umschlag zu, versah ihn mit einer Marke und warf ihn in den nächsten gelben Blechkasten.
Aber schon am Nachmittag war er angsterfüllt beim Direktor des Postamtes, einem übellaunigen, im trostlosen Einerlei verschimmelten Beamten und erzählte ihm eine lange Geschichte, um den Brief wieder herauszubekommen. Der Beamte erklärte ihm unwirsch, daß er ihm einen mit fremder Adresse versehenen Brief nicht ausfolgen könne und außerdem käme er zu spät. Die Post ins obere Inntal sei schon vor einer halben Stunde auf den Bahnhof gekommen.
Nach vier bangen und ruhelosen Tagen kam die Antwort Johann Heruckers. Er schrieb kurz und einfach. »Ich bin nicht so schmerzlich berührt, wie Du fürchtest,« hieß es. »Ich habe längst gefühlt was ich jetzt weiß, wenn Du auch jeden Namen vermeidest. Das böse Wort ›Verrat‹, das Du gegen Dich selbst gebrauchst, genügt, um alles zu wissen. Es war alles nur ein Traum. Ich glaube, ich war schon seit längerer Zeit im Begriffe zu erwachen. Nun ist es vorbei. Dein Leid um den Vater ist größer als mein kleiner Schmerz. Ich drücke Deine Hand, Du lieber Freund, den ich nun auch verlieren muß. Ich danke Dir für alles!« Und wie in jenem anderen Brief mit dem Federlein lag in diesem ein kleines Blatt, wieder von Christian beschrieben.
»Wir haben Dein gedacht und des langen Weges, der vor dir liegt. An irgendeinem Ziel werden wir uns finden.« Vitus dachte viel über diese Worte nach und ging dann unbewußt in des Vaters Zimmer, um sich von ihm Rat zu holen. Erst an der Schwelle traf ihn wie ein schwerer Schlag und wie neues Weh das jäh aufzuckende Bewußtsein ins Herz, daß der Vater ja nicht mehr da sei.
Am anderen Tag grub Vitus neben dem Rosenbeet eine tiefe Grube, legte sie mit Tannenzweigen aus und bettete den Körper der schwarzen Hündin darauf. Da sie die ganze Nacht geschrien hatte und des Morgens nicht mehr aufstehen konnte, war der Tierarzt gekommen, der das arme Tier durch einen Stich mit giftiger Lanzette blitzartig rasch tötete.
»Wenn ihr Herr nicht gestorben wäre, hätte sie noch lange ausgehalten,« sagte er, »aber Hunde stehen dem Menschen näher als dem Tier. Sie hat wollen sterben, weil ihr Herr dahin ist.« Sehr schön polsterte Vitus das kleine Grab mit Laub, Zweigen und Blumen aus und schaufelte es dann zu. Die Mutter weinte tagelang wegen des Hundes und das Haus war noch trauriger ohne die freundliche Gefährtin mit der dankbar wedelnden Rute, ohne ihre guten klugen Augen und den weichen Gang der Pfoten, deren leises Nägelklappern auf den Dielen ein so lang gewöhntes Geräusch war. In einzelnen Zimmern standen schon gepackte und vernagelte Kisten und täglich wurden die Räume leerer. Nur der Alderman Veit Pieter Venloo blickte streng und unbeugsam aus seinem schweren Goldrahmen mit dem Rosenwappen, die rechte Hand mit dem Spitzenkräuschen und dem Siegelring in den Brustausschnitt gesteckt. Nachts krachten die Möbel und in den Wänden rieselte es. Das Haus nahm Abschied von seinen Bewohnern. Am wohlsten fühlte sich Vitus in allem Trennungsfieber doch bei Plöchhammer und seinem Vater. Oft saß er lange in der Werkstätte, sah zu, wie beim Pfauchen der Bälge blaugrüne Flammen aus den Kohlen schlugen und weißes Eisen sich wie Wachs auf dem Amboß bog und formte, bis es rot und endlich dunkler wurde und zischend im Wasserkübel versank. Malzey sah wie ein Kobold aus, wenn er den Hammer schwang. Er und der Altgeselle waren ein Herz und eine Seele und beide berauschten sich an allerlei Flugblättern, die in die Arbeitsstätten flogen. Der zungenfertige und witzige »lateinische Schmied« genoß trotz seiner Lehrbubenstellung viel Ansehen in der Zunft und eine große Rolle in der allmählich erstarkenden Partei der Unzufriedenen war ihm gewiß. Selbst der Alte fand vieles von dem, was die Jugend der Arbeiterschaft zäh anstrebte, gut und gerecht und der Satz von den Gütern dieser Welt, die unrechtmäßig verteilt seien, ward immer häufiger in Gespräche eingeflochten, die er führte. Und es wäre zwischen ihm und dem Bäcker Ruhsam, der ein Anhänger strenger Zucht war und ihm riet, den vorlauten studierten Lehrbuben lieber ordentlich zu beuteln, statt ihm nachzureden, bald zu offener Fehde gekommen. Vinzenz nur blieb sich immer gleich, war meistens still und zufrieden mit seinen Erfindungen beschäftigt.
Isidor Geduldig, den der bevorstehende Abschied Venloos mit Betrübnis erfüllte, schloß sich dem Freunde des öfteren auf Spaziergängen an und legte aus einem dunklen Bedürfnis, dem anderen nahe zu kommen, lebhafte Andacht für Dinge der Natur an den Tag. Er liebte in seiner Art diesen Vitus, wenngleich er vieles nicht begriff, was den anderen bewegte. Auch von den Gedichten Heines, die er mit seinem ungewöhnlich entwickelten Gedächtnis sich zum größten Teil einverleibt hatte, gefielen dem Freunde oft die Strophen, die ihm besonders bemerkenswert erschienen, am wenigsten. Aber das gutmütige Bemühen Geduldigs, dem einstigen Beschützer und Rächer Dankbarkeit und Anhänglichkeit zu bezeigen, strahlte wie eine reine, durch nichts beeinträchtigte Flamme aus allen sonstigen Absonderlichkeiten hervor und gewann ihm dort Freundschaft, wo früher vielleicht nur ein Sichvertragen gewesen war. Und manchmal kamen sich die beiden sehr nahe.
Die Berge rundum, alle dunkel waldgrün, mit zackigen Kalkspitzen oder grünbraunen Kuppen, die sanfte Vorstufe des Mittelgebirges mit weißen Dörfern und Einzelhöfen, begannen Vitus fremd zu werden, gleichsam zurückzuweichen. Nach manchem sehnte er sich, hätte es gern noch einmal gesehen: den stahlblauen Achensee, die Merkwürdigkeiten der Feste Trotzberg, das Salzbergwerk oberhalb Hall und die Heiligengerippe in Gold und schwerer Seide, die in Glaskästen auf Altären der Pfarrkirche standen. In den letzten Tagen, in denen das Haus von neugierigen und teilnehmenden Besuchern voll war, floh er vor den Tönen echten und teilnehmenden oder geheuchelten Bedauerns, die aua den Besuchszimmern kamen, und lief in der Stadt herum, eilig noch altgewohnte Bilder sammelnd und verstärkend für die Erinnerung. Grünmoosige hölzerne Schaufelräder im dahinschießenden grauen Wasser des Sillkanals, die Bretterbude im Park, in der er so viele Ritterstücke gesehen hatte, die kunstvoll aufgebaute Zwergnachbildung der Tiroler Gebirge im Garten des Pädagogiums, die Schätze im Museum Ferdinandum. Er aß noch einmal die fein schmeckenden Napoleonschnitten bei einem Zuckerbäcker in jener Seitengasse der Lauben, in der er damals mit Gretl gesessen hatte, ruderte zum letztenmal auf dem Glasspiegel des runden Lansersees umher und lauschte auf verbotenem Wege in der Sillschlucht dem peitschenartigen Knallen der Schüsse, die in der Nähe scheibenschießende Jäger abgaben. Und mehr als einmal überschritt er den Inn auf dem Steg, legte dem alten Brückenwächter einen Kreuzer auf das Schalterbrettchen und ging langsam die Mauer jenes Gartens entlang, in dem das Kluibenschildsche Haus stand. Aber niemand war zu sehen und niemand begegnete ihm, wenn er langsam seinen Weg zurückging.
Eines Tages ging der letzte Möbelwagen ab mit seiner Last und mit den Betten, in denen man noch nachts geschlafen hatte. Die Stadt sah nun ganz fremd aus. – Das Sonnenlicht des späten Nachmittags fand Mutter und Sohn auf dem Bahnhof und bald kam jene Reihe von Augenblicken, in denen bekannte Häuser und Straßenbilder, Dörfer, Wiesen und Felder vorbeizogen, bis endlich das Aussehen der Orte und die Umrisse der Bergeshäupter neu und ungewohnt wurden. Die Mutter, die Vitus gegenüber saß, hatte den schwarzen Schleier zurückgeschlagen und hielt ihr Taschentuch an den Mund gepreßt. Ihre Augen waren voll Tränen. Jetzt erst kam es Vitus schmerzlich in den Sinn, wie wenig er zuletzt auf die Mutter geachtet hatte und wie sehr er mit sich und mit seinen empfindsamen Stadtgängen beschäftigt gewesen war. Er bemühte sich, mit vielen Aufmerksamkeiten und Diensten seine Reue zu zeigen. Die Mutter lächelte glückselig und dankbar, voll froher Zukunftshoffnungen bei solch ritterlicher Aufmerksamkeit des jungen Sohnes. Sie saßen allein im Abteil und sprachen über mancherlei, was sie sich von den kommenden Zeiten erhofften.