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Amalfi ist eine der glücklichen Städte ererbter und bewahrter Berühmtheit. Im fernen Mittelalter war es berühmt als Schöpferin des Seerechtes, das es den Meeren auferlegt hatte – so daß die tabula Amalfitana wohl noch für lange Zeit zu dem toten Wissenskram gehören wird, mit dem unsere jungen Juristen sich belasten müssen. Dann wurde es berühmt durch seine herrliche Kathedrale, eines der Denkmale normannisch-römischer Baukunst. Und heute ist es berühmt durch seine liebliche Lage und die wundervolle Aussicht, die man von dem alten Kapuzinerkloster aus, aus den Fenstern und Erkern der kleinen gewölbten Mönchszellen, in denen jetzt die Fremden als Hotelgäste hausen, auf das tiefblaue Meer hat.
Den größten Ruhm haben Amalfi aber vielleicht die Gassenbuben und Gassenmädchen verschafft, die den ganzen Tag auf der Fahrstraße, welche in der Richtung gegen Sorrent führt, herumlungern und jeden Wagen und jeden Radfahrer bettelnd endlose Strecken begleiten. Denn alle Reisehandbücher heben von ihnen hervor, 42 daß sie den Abschaum der Gassenjugend von ganz Italien darstellen, und dies will nach ihrer Ansicht offenbar nicht wenig heißen. Freilich, das steht in den Reisebüchern nicht zu lesen, daß die Fremden es sind, von denen die Kinder ihre besondere Ausbildung erlangt haben, daß die Buben ihre wilden Kämpfe um einzelne ihnen zugeworfene Soldistücke nicht aufführen würden, wenn ihnen niemand Soldistücke zuwürfe, um solche Kämpfe zu entfachen, und daß die Mädchen, die neben den Wagen herlaufen, nicht beim Bitten zugleich mit den Händen auch die Kleider bis über die Grenzen der Möglichkeit erheben würden – wenn sie nicht von dem in den vornehmen Wagen »fahrenden Volke« für derartige Scherze besonders belohnt würden. Und auch das steht nicht in den Reisehandbüchern, daß man nur ein kleines Stück vom Wege ab auf die Höhen zu schweifen braucht, um sich zu überzeugen, daß die kleinen Leute in Amalfi nicht um ein bißchen weniger manierlich und gesittet sind, als es die kleinen Leute allenthalben sind, wo die großen Leute sie nicht verdorben haben.
Auf die hangenden Berglehnen und die ragenden Höhen zu kommen, ist nun aber freilich in der Umgegend Amalfis nicht viel leichter als sonst in Italien, und es kann einer auch hier lange suchen, bis er die Stelle findet, wo sich zwischen den hohen Mauern, die scheinbar in undurchdringlicher Geschlossenheit die Straßen 43 geleiten, ein schmales, steiles Steiglein öffnet, das hinaufführt in das Gebiet der einzelnen Höfe. Solch eines Steigleins bedurfte es aber dort gar nicht für mich. Schon ziemlich oben im Gehänge liegt der Garten des alten Kapuzinerklosters. Ein herrlicher Garten! Dort blühen im ersten Frühling Tausende von Rosen, und mächtige Sträuche mit Millionen von Margueriten erfüllen das Ganze mit einer Flut von weißem Schimmer und Glanz. Wer diese Blumenwildnis nicht selbst gesehen hat, kennt übrigens den Garten wohl trotzdem aus den Bildern des Kunsthandels und dann kennt er auch den »ehrwürdigen« Padrone des Hotels, der auf einigen der Bilder in einem Kapuzinerhabit, zwischen den Säulen der Pergola sitzend, diesen Aufnahmen den Charakter von Bildern aus alten Tagen verleiht. Ja, auch die eine oder andere der Lieblingskatzen des Padrone, die sich gerade in wilder Lust in einem Büschel berauschend duftenden Thymians wälzt, mag er auf dem Bilde erspähen.
Herrlich ist er, der duftende Garten. Aber was ist der schönste Garten, wenn hinter den Gartenmauern eine unbekannte Welt sich dehnt, und gar, wenn ein Deutscher, der seit Monaten und Monaten keinen nordländischen Wald gesehen hat, lockend grünende Buchenwipfel über die Mauer grüßen sieht? So hatte ich denn gar bald Stellen erspäht, an denen man die alte Klostermauer überklettern konnte, und nachdem 44 ich geringschätzig einen unermeßlichen, wallenden, wogenden Blütenflor zurückgelassen hatte, freute ich mich nun kindisch über die frisch sprossenden grünen Buchenblätter und über die ersten Veilchen und Zyklamen, die aus der duftenden Walderde sprießten. Und von dem Walde ging es dann wieder hinüber zu Weingärten und Höfen, und da lernte ich auch die wirklichen Kinder von Amalfi kennen. Ganz seltsame Kinder. Nicht solch schwarze Wildlinge, wie sie in Horden unten an den Straßen herumstreifen, längs des Strandes, an dem noch verwitterte Sarazenentürme sich erheben, Denkmale, die vielleicht von ihren Ahnherren errichtet worden sind. Nein, stille, schüchterne Kinder, Kinder mit hellen Augen und falben Haaren und mit Wangen, unter deren dunklem Sonnenbraun es leuchtend durchschlägt wie germanisches Rot.
Ich hatte in des alten Pansa und in Matteo Cameras Geschichte von Amalfi allerhand gelesen über die Entstehung der Stadt und ihres Namens. Alte italienische Dichter sangen von einer Nymphe Amalfi, die in der Gegend gehaust habe; diese Nymphe habe dem Herkules ihre Liebe geschenkt und von ihm, da er siegreich aus Spanien zurückkehrte, einen der Äpfel der Hesperiden zum Gegengeschenk erhalten, so daß diese herrlichen Gefilde dem Herkules ihre Fruchtbarkeit, der Nymphe Amalfi aber ihren Namen zu verdanken hätten. Die alten Chronisten wieder 45 leiteten den Namen der Stadt von einem Flüßchen Molpa oder Melfi in der Nähe des palinurischen Vorgebirges ab, wohin einige römische Familien verschlagen worden seien und wo sie eine Stadt gegründet hätten: von dort hätten dann diese Melfitaner, da sie später ihre Wohnsitze wechselten, ihren Namen in die Gegend unseres Amalfi gebracht.
Als ich aber nun diese blonden Kinder gesehen hatte und wieder dahinschritt durch den rauschenden deutschen Buchenwald, da konnte ich über die Dichter und Chronisten nur lächeln. Was Nymphen, was Römer, was Molpa! Was alle Historiker! Das Geschlecht der alten Amaler und ihr Volk, das Volk der Goten, stieg auf einmal auf vor meinen Augen, Namen wie Amalafridas und Amalaswintha klangen in meinen Ohren, und in diesem Augenblicke wußte ich, woher die Kinder hier ihre blonden Haare und ihre fragenden hellen Augen hatten, und daß Amalfi nichts war als der vicus des Volkes, in dem der Name des alten Geschlechtes Theodorichs, des Geschlechtes der Amaler so noch in dankbarer Erinnerung stand. Ja, ich wußte auf einmal, was mit den Mannen des Königs Teja geschehen war, die im letzten Kampf mit den Römern am Flusse Drakon (Sarno) nächst dem Vesuv der Vernichtung entgangen waren. Nach Verlust ihrer Flotte hatten sich die Goten auf dem Milchberg, einem Berg in der Kette, die vom Flusse gegen Sorrent 46 hinzieht, gelagert. Dort starb König Teja den Heldentod, den uns Prokopius geschildert hat. Zwei volle Tage nach Tejas Tod dauerte das mörderische Ringen noch fort, dann erst erlahmte der Widerstand der Goten. Tausend Mann waren schon aufgebrochen: sie zogen durch ganz Italien und setzten sich in Tirinum fest. Der Rest erbat und erhielt freien Abzug mit aller Habe: sie werden wohl nicht weit gegangen sein.
Freilich, seit dem Jahre 553 sind schon fast eineinhalb Jahrtausende verstrichen, und das wäre Zeit genug, solch ein versprengtes Häuflein spurlos verschwinden zu lassen in der Menge des rundum siedelnden fremden Volkes. Und das wäre wohl auch sicher geschehen, wenn nicht die natürliche Abgeschlossenheit der Halbinsel einen gewissen Schutz gegen völlige Vermischung gewährt hätte. So zeigen viele der Kinder noch ganz rein den germanischen Einschlag, aber freilich, je größer sie werden, desto dunkler werden ihre Haare und Augen, und wenn sie herangewachsen sind, dann bieten die meisten von ihnen das Bild richtiger Welscher. Denn das ist nun einmal das Gesetz der Ontogenie, daß die Entwicklung des ganzen Ahnengeschlechtes in der Entwicklung des Individuums ihr verkleinertes Abbild findet.
Und auch zu der germanischen Art jener Altvordern, wenigstens wie sie Tacitus uns überliefert hat, paßt dann die Art dieser heranwachsenden Amalfitaner und Amalfitanerinnen 47 nicht mehr so ganz. Ich habe sogar einmal solch eine Amalfitanerin kennen gelernt, die sich noch völlig ihre dunkelflachsfarbigen Haare und das leuchtende Rot ihrer Wangen bewahrt hatte, und über die doch der alte Tacitus sehr befremdet das Haupt geschüttelt hätte. Ich hatte mir nämlich in den Kopf gesetzt, ganz in die Höhe zu klettern auf den Bergrücken der Halbinsel, um von dort hinunter zu sehen nach dem Golf von Neapel. In dem Jungholz des Buchenwaldes hatte ich mich aber schließlich so verstiegen, daß ich alle Orientierung verloren hatte, weil das schon üppig hervorschießende Grün jeden Ausblick verhinderte.
Da hörte ich in der Ferne das Klingen einer Axt. Ich arbeitete mich durch Strauch- und Buschwerk und bald stand ich vor einer emporgeschossenen jungen Goten-Enkelin, die wacker im Holzwerk hantierte. Schüchtern und sittsam, um jede Besorgnis fern zu halten, die sich etwa aus der entlegenen Einsamkeit des Ortes hätte ergeben können, nahte ich mich dem Mädchen und trug ihm meine Bitte vor, mir behilflich zu sein, den Aussichtspunkt zu erreichen, dem ich zugestrebt hatte. Das junge Mädchen blickte mich erst etwas verwundert an, daß ich, ohne durch die Notwendigkeit einer Arbeit gezwungen zu sein, da auf den Bergrücken hinaufklettern wolle; dann legte sie unbefangen ihre Axt zu dem Holz, das sie gemacht hatte, und erklärte sich bereit, mir ein Stück weit das Geleite zu geben.
48 Als wir an eine Stelle gekommen waren, von der aus ich einigen Überblick gewinnen konnte, dankte ich ihr für ihre Gefälligkeit und bat sie, eine Kleinigkeit von mir anzunehmen. Hierzu erklärte sie sich gern bereit, ja, ohne das geringste Zaudern und Bedenken nannte sie mir gleich selbst den Betrag, den sie gern von mir gehabt hätte; und mit der größten Unbefangenheit, aber ohne irgend ein häßliches Wort zu gebrauchen, fügte sie auch hinzu, daß, wenn ich ihr die zwei Lire gäbe, die sie gern haben wollte, sie mir auch anders noch, denn als bloße Führerin, zur Verfügung stehen würde.
Ich habe die schlechte oder doch jedenfalls seltsame Eigenschaft, daß mich in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens oft die geringfügigsten Nebenumstände ablenken, ja, daß sie in irgendeiner Weise ein Sonderinteresse erwecken können, das mich dann oft weit abführt von der Hauptsache. Und so hätte das reizendste Geschöpf der Welt in diesem Augenblicke nicht den geringsten Eindruck auf mich zu machen vermocht, solange ich nicht zunächst einmal gewußt hätte, warum es denn gerade zwei Lire sein müßten, die ich unter so seltsamen Umständen eingeladen wurde, auf den Altar der Göttin zu legen, nach deren Namen einer der Berge der Halbinsel, der Monte Venere, benannt war. Ich fürchtete zwar einen Augenblick, durch diese Frage könnte ich meine Schöne vielleicht irgendwie kränken oder 49 verletzen. Aber diese Sorge erwies sich als ganz unbegründet. Mit der größten Unbefangenheit und Einfachheit gab sie mir die Erklärung. Und sie blickte mich mit ihren hellen Augen ganz verwundert an, als sie, wie etwas Selbstverständliches, sagte: »Una lira per me ed una lira per mio amante.« 51