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Wenige Gegenden Italiens möchten an den Wänden ihrer Bauernhäuser und Dorfkirchen eine solche Menge von Fresken des XIV. und XV. Jahrhunderts aufzuweisen haben, wie der Kanton Tessin, wo man auf einem Raum von wenigen Quadratmeilen gegen hundert Gebäude mit Fragmenten dieser Art aufzählen könnte. Nicht nur dem Umbau, sondern auch der Übermalung ist verhältnismäßig sehr vieles entgangen. Das meiste ist bei der Milde des Himmelsstriches (welche das Klima der lombardischen Ebene übertrifft) leidlich und sogar gut erhalten. Weit entfernt, diese großenteils unbedeutenden, obwohl nicht gerade ungeschickten Malereien mit Inhalts- und Ortsbestimmung in die Kunstgeschichte einführen zu wollen, glaube ich doch, daß dieselben ein merkwürdiges Faktum beweisen helfen.
Die mailändische Malerei von 1300 bis etwa 1450 erscheint nämlich hier als fast gänzlich unberührt vom Einfluß Giottos, als eine besondere Äußerung des idealistischen, germanischen Stiles, wobei man stellenweise auf sienische, oberdeutsche u. a. Anklänge zu treffen glaubt. In dem sehr regelmäßigen Oval der Köpfe, in der überaus einfachen Gewandung, in der bloß andeutungsweisen Behandlung manches einzelnen, welche über die illuminierte Umrißzeichnung nicht weit hinaus geht, lebt hier ein früher, wenig ausgebildeter Typus lange fast unverändert fort; einzelne rituell gewordene Bestandteile, wie z. B. das starre, teppichartige Gewand des an keiner alten Dorfkirche fehlenden St. Christoph, sind sogar noch byzantinisch, während glücklicherweise der Madonnentypus zur vollen germanischen Lieblichkeit durchgedrungen ist. Die ganze primitive Einfachheit dieses Stiles zeigt sich selbst noch in einer Madonna mit Donator an der Kirche San Bartolommeo in Giubiasco, welche nach den Schriftzügen des Spruchbandes kaum lange vor 1500 gemalt sein möchte. Freilich handelt es sich hier um einen zurückgebliebenen Provinzialmaler, der indes doch hinter seinen mailändischen Zeitgenossen Foppa, Zenale, Borgognone kaum so weit zurückstand, als diese hinter den gleichzeitigen Florentinern.
Die meisten dieser Malereien stellen die zwischen zwei Heiligen (namentlich St. Rochus und St. Sebastian) thronende Madonna vor, auf Teppichgrund oder mit einem Teppichornament eingefaßt. Außerdem prangt, wie gesagt, neben jeder alten Kirchtür ein riesenhafter St. Christoph, dessen Kultus wie der der beiden eben genannten Heiligen in dieser Gegend, etwa bei Anlaß einer Pest, einen ganz besonderen Aufschwung genommen haben muß. Im Innern der Kirchen kommen dann aus lokalen Gründen noch manche andere Heilige hinzu, von welchen der geschundene St. Bartholomäus in S. Biagio bei Bellinzona (XIV. Jahrh.) ein besonderes Interesse erweckt. Diese fürchterliche Gestalt, ohne Lippen und Augenlider, mit dem idealistisch durchgeführten Angesicht, die Hand über den Arm gelegt, findet sich in den Kirchen dieser Gegend noch mehrmals, bis sie mit aller Prätention michelangelesker Darstellung in der allzuberühmten Statue des Marco Agrato im Dom von Mailand wiederkehrt. Es wäre von Wert, den Einfluß einer so abscheulichen Kultusfigur auf Sitten und Anschauungen einer ganzen Provinz berechnen zu können.
Einzelne dieser Fresken, die deshalb in die zweite Hälfte des XV. Jahrhunderts zu verweisen sein möchten, zeigen einen Anflug realistischen, paduanischen Wesens, ohne deshalb die germanische Haltung des Ganzen zu verlieren. Von einem und demselben ganz tüchtigen Maler findet sich an einem Wirthshaus in Taverne-Sopra eine Madonna, und an einem Landhaus bei Locarno (unweit der Kirche Madonna delle grazie) eine Madonna mit vier Heiligen, Stifter und Stifterin, im Stil etwa mit Bartolommeo Vivarini parallel. Im ersten Bilde ist das auf dem Schoß der Mutter erwachende, mit Händen und Füßen nach ihr zappelnde Kind sehr artig und lebendig.
Ältere Malernamen als Bernardino Luini, der für mancherlei herhalten muß, sind hierzulande nicht gang und gäbe. Vielleicht aber ließe sich ein Nachfolger Giottos, wenigstens in betreff seiner Herkunft, in diese Gegenden verpflanzen; ich meine Giovanni da Melano, von welchem jenes ausdrucksvolle Freskobild in Ognissanti zu Florenz herrührt. Wie viele Melano es in Italien gibt, mag dahingestellt bleiben; einstweilen aber läßt sich im Tessin, zwischen Lugano und Capodilago, eines namhaft machen, welches zudem an alten Kunstwerken eine hübsche Madonnenstatuette über dem Eingang der altern Kirche und ein Freskobild des XIV. Jahrhunderts an einem Hause besitzt – letzteres freilich nicht von Giovannis Hand.
Die beiden wichtigsten Kirchen des Kantons für die Malerei des XIV. und XV. Jahrhunderts sind meines Wissens die schon genannten zu S. Biagio zu Bellinzona und Madonna delle grazie bei Locarno, beide architektonisch ganz unbedeutend und nur durch ihre Vernachlässigung vor dem Umbau gerettet. Ihre Malereien sind meist planlos und allmählig entstanden, je nachdem die Gemeinde und die Donatoren Geld aufwenden konnten, um einzelne Teile der Wände oder einzelne Gräber und Altäre zu schmücken. An S. Biagio bewundert man zunächst den wohl erhaltenen Urtypus jener vielen St. Christophbilder, weniger wegen seines milden, rosenfarbigen Riesenantlitzes und des für die Zeit um 1200 ganz gut durchgeführten Nackten, als wegen des ringsum gemalten Rahmens. Dieser enthält nämlich kräftiges und schönes Blumwerk, gelb auf rotbraunem Grunde, eingefaßt von schmälern, als Steinmosaik bemalten Bändern, unterbrochen von einzelnen kleinen Brustbildern von Heiligen und Engeln, welche in ihrem lebendigen Ausdruck der Andacht und Hingebung offenbar auf giotteske Schule, etwa in der Art des Spinello, hinweisen und somit nebst einigen geringem Malereien rings um die Türlunette (am Steinbalken Maria, Eccehomo und Johannes, oben eine Verkündigung und ein segnender Christus) eine Ausnahme von den übrigen Malereien dieser Gegend bilden. Das Lunettenbild selbst, sehr verwaschen und durch Glas geschützt, könnte von Wert sein; es enthält die Madonna zwischen S. Petrus und S. Blasius. – Im Innern findet sich außer dem schon erwähnten Bartholomäus eine säugende Madonna (datiert 1377) an einen Pfeiler gemalt, eine frühgermanische S. Catharina mit S. Antonius dem Abt an der Frontwand, ein oberdeutscher geringer Schnitzaltar Geschnitzte Altäre scheinen noch im XVI. Jahrhundert aus Deutschland nach Oberitalien gegangen zu sein, obschon Italien in dieser Gattung nicht minder Prächtiges leistete, wie ein Altar im Dom zu Como beweist. Einen Altar im Stil des Evergisialtares in S. Peter zu Köln findet man in S. Nazaro zu Mailand., ein Hochaltarbild, welches die Madonna auf Wolken mit S. Blasius und S. Hieronymus darstellt (in der Lunette eine Auferstehung; die Predella unkenntlich) und ganz wohl eine mittelgute Arbeit B. Luinis sein könnte, dem man es hier zuschreibt.
Reicher und interessanter sind die Fresken der genannten Kirche bei Locarno, welche Stilproben des ganzen XIV. und XV. Jahrhunderts darbieten. Aber auch hier haben nicht bloß mailändische Hände sich verewigt. An der Fassade wird man durch eine sogenannte Messe des heiligen Gregor überrascht, welche in der zarten, edeln Innigkeit des Ausdrucks sowohl als in der Behandlung einem frühen Fra Giovanni da Fiesole ähnlich sieht. Im Innern ist die viereckige Chorkapelle hinter dem Altar ganz ausgemalt, zum Teil von geringen und ungeschickten Künstlern; zwei von den vier Gewölbefeldern aber (Mariä Krönung und eine Apostelgruppe) sind trotz ihrer Zerstörung von bedeutenderem Wert; das letztere erinnert an die Apostelgruppe Fiesoles in der Madonnenkapelle des Domes von Orvieto; die Ausführung ist mailändisch, doch wohl älter als Bramantino und Borgognone. Ganz in der Art des letztern dagegen ist eine thronende Madonna mit einem jungen Donator ausgeführt. Mit andern Kirchen dieser Stadt, namentlich mit der etwas entlegenen, durch ihr uraltes Aussehen vielversprechenden Collegiata, mache man sich keine Mühe; sie hat wie die Minoritenkirche – eine hübsche Säulenbasilika vom Anfang des XIV. Jahrhunderts – nicht viel mehr für sich, als ihre malerische Lage. Dagegen enthält die Madonna del Sasso über der Stadt wenigstens ein schönes mailändisches Bild, eine Flucht nach Ägypten, von einem der besten Schüler Leonardos; es versteht sich, daß man Luini nennt Die Nomenclatur der verschiedenen Galerien in betreff der mailändischen Schule weicht so sehr unter sich ab, daß nur der spezielle, örtliche Kenner gewisse Bilder mit Bestimmtheit einem Cesare da Steso, Franc. Melzi, A. Salaino, A. Solario, Giov. Pedrini wird zuweisen können..
In der Kirche des Seminariums zu Ascona findet sich ein großes Altarblatt, bezeichnet: Io. Antonius. De Lagaia. De. Ascona. Pinsit 1519. In sechs Abteilungen enthält dasselbe oben die Krönung Mariä und den Englischen Gruß, unten die Madonnen als Schützerin mit den knieenden Donatoren und die Heiligen Dominicus und Petrus Martyr. Der sonst meines Wissens ganz unbekannte Maler zeigt sich hier bei einiger Unentschiedenheit der Formen doch in den Köpfen als anmutiger und liebenswürdiger Nachfolger oder Mitstrebender B. Luinis; namentlich die Donatoren, in der lebensvollen, an Holbein erinnernden Charakterdarstellung des letztern, sind köstlich gelungen. Immer von neuem lernt man jenes goldene Zeitalter der Kunst beneiden, wo auch das Bedingte und Befangene bei einigem Ernst des Strebens sich zu dauerndem Wert aufschwingen konnte, weil es nicht in der Prätention und dem falschen Affekt – den Plagen der folgenden Kunstepochen – zugrunde ging.
Das Minoritenkloster Unsrer Frauen zu den Engeln in Lugano, eine der geweihten Stätten oberitalienischer Kunst, ist vor zwei Jahren aufgehoben worden und wird nun feilgeboten. Ein Gantaufruf, den 20. Juli 1849 abgehalten, ist, wenn ich recht gehört habe, ohne Resultat geblieben. Der beliebteste Gedanke in Lugano selbst wäre der Umbau des geräumigen Klosters mit seinem doppelten Kreuzgang zu einem Gasthofe; nur ließe sich bei der Spärlichkeit des jetzigen Fremdenzuges vor der Hand nicht viel gewinnen. Die Kirche mit der großen Passion und dem toten Christus von B. Luini wird allerdings erhalten bleiben; auch die unvergleichliche Madonna mit den beiden Kindern soll aus der Türlunette im Kreuzgang nach der Kirche versetzt werden – eine Operation, welche jeder mit seinen besten Wünschen begleiten wird, der den ohnedies bedenklichen Zustand dieser Freske, mit dem Riß durch die Stirn der Madonna, zu erkennen Gelegenheit hatte. Dagegen ist zu fürchten, daß der ganzen Kirche das Licht verbaut werden möchte und daß Luinis Abendmahl – die edelste freiere Reproduktion des Leonardischen – samt dem Refektorium, woselbst es sich befindet, nicht gerade den rücksichtsvollsten Händen anheimfalle.
Bei Anlaß von Luinis großer Passion, welche die umfangreiche Wand über dem Choreingang einnimmt, muß ich eines andern, fast ebenso großen Freskogemäldes erwähnen, welches in der Minoritenkirche delle grazie bei Bellinzona, unweit San Biagio, ganz dieselbe Stelle an der Hinterwand ausfüllt. Es stellt ebenfalls die Passion vor, aber nicht in einer großen Komposition (wie in Luinis Werk, wo die Nebenszenen vom Einzug in Jerusalem an in den Hintergrund der Kreuzigung verteilt sind), sondern in fünfzehn kleinern und einem großen mittlem Bilde, der Kreuzigung. Auch sind außer dem Leiden Christi noch einzelne frühere Momente, von der Verkündigung an, beigegeben. Als wohlerhaltenes Werk vom Ende des XV. Jahrhunderts und als große, wie es scheint, sorgfältige Arbeit verdient diese Malerei wenigstens genannt zu werden, obgleich dieselbe in der Anordnung ziemlich ungeschickt und in betreff der Ausführung wegen Dunkelheit der Kirche kaum zu untersuchen ist. Zwei große Schimmel, deren Köpfe beim Kreuz zusammentreffen, schneiden die Szenen gar zu gefühllos auseinander. – In einem Kreuzgang nächst der Kirche, umgeben von dem Lebenslauf des heiligen Franziskus im Stil unserer Tapetenmalereien, findet sich eine Lunette mit der Madonna zwischen S. Antonio von Padua und S. Bernardin von Siena, flüchtig hingemalt im Stil der Mitte des XVI. Jahrhunderts, nicht ohne Energie und Charakter.
Anmerkungen eingearbeitet, joe_ebc, Projekt Gutenberg-DE