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Lugano und der San Salvatore

Von Bellinzona nach Lugano

Herrliche Propyläen Italiens, Täler des Ticino und des Agno, wer euch gesehen hat, vergißt euch nie wieder, mag er euch nun auch besucht haben auf der Hinreise in die hesperische Halbinsel oder auf der Rückkehr, möget ihr den frohen, göttlichen Reigen italischer Erinnerungen beginnen oder beschließen.

Der nordische Wanderer, der die Wunder des Gotthards im Rücken hat, trifft bald auf ein hübsches, schon ganz südlich beschaffenes Städtchen; es ist Bellinzona. Schon hier umweht ihn ein milderes Klima als in Luzern oder Zürich; ja dasselbe gibt sich im Sommer als bedeutend erhöhte Hitze kund; der Straßenstaub zeigt sich um ein Gutes tiefer als auf den Chausseen der nördlichen Schweiz. Die große Hauptkirche zu San Stefano strotzt von marmornen Geländern und Altären, und einige gute Gemälde (unter vielen schlechten), besonders innen über den Eingangstüren, deuten darauf, daß wir uns im Lande der Kunst befinden. Schroff über der Stadt ragen drei große, majestätische Schlösser, durch Mauern von einer halben Stunde Länge miteinander verbunden; kurz, der ganze Anblick der Stadt ist durchaus fremdartig und muß dem neu Ankommenden als frohe Verheißung all der Wunder erscheinen, die er sich aufbehalten weiß in dem schönen Ausonien.

Von Bellinzona führt die große mailändische Handelsstraße über den Monte Cenere (Montkannel) ins Agnotal nach Lugano. – Zuerst ging's über eine Stunde lang durch die von wildromantischen Bergen begrenzte Ebene des Ticino. Wir passierten das schöne, wohlhabende Dorf Giubiasco; rechts, jenseits des Ticino erglänzt die Wallfahrtskirche der Dreieinigkeit über Carasso, hinter welcher sich ein Talschlund eröffnet, wo die reichen Geizhälse nach ihrem Tod spuken sollen; links dehnt sich ein, das ganze Gebirge bedeckender, prachtvoller Kastanienwald hin, aus welchem hie und da weiße Kirchtürme hervorschauen, oder terrassenförmig gebaute Dörfer mit Kapellen. Endlich in dem Dorfe Cadenazzo, unter einem ungeheuren Kastanienbaum, teilt sich die Straße; rechts führt der Weg nach Magadino am Langensee, und dies ist die Route nach dem Mittelländischen Meere; links geht die Straße über den Berg nach Lugano, von wo sie sich über Como in fast direkt südlicher Richtung gegen Mailand zieht. Wir wählten den letzteren Weg und stiegen in der Hitze des Vormittags den Berg hinan. Welche schöne Stunde ist es, die der Wanderer hier zu steigen hat! Die höchsten, kräftigsten Kastanienbäume, jeder in einiger Entfernung von dem andern, geben dichten, dunkeln Schatten zum Ausruhen, wo man nur will; Quellchen rauschen den Berg hernieder, von dichtem Moose umgeben; der Boden ist reichlich bedeckt mit schwellendem Farrenkraut; die Zickzacke der Straße schneidet ein steiler Fußweg ab. So steigt man etwa 800 Fuß (1510' über d. Meere), beständig von herrlichen Ausblicken auf das Tal und den tiefblauen Lago maggiore begleitet; weither schimmert Locarno mit den unzähligen Kapellchen ringsherum auf allen Bergen; darüber ragen hohe Gebirge herein, und der blendende Gipfel des Monte Rosa schließt das Bild.

Endlich erreichten wir das Gardistenhaus, von der tessinischen Regierung der Unsicherheit wegen angelegt. Diese Gardisten haben es wirklich gut; ein hübsches Haus mit einer Säulenhalle, von Reben umsponnen, ist ihr Wohnsitz; auf der einen Seite an den kühlen, waldigen Berg gelehnt, auf der andern den wundervollen Langensee beherrschend.

Durchs Agnotal

Von da an stiegen wir noch eine bedeutende Strecke bis zur Höhe, wo wir vom Tal des Ticino Abschied nahmen und das Agnotal betraten. Auch hier wieder steile, bewaldete Berge mit hochgelegenen Kirchen und malerischen Dörfern zu beiden Seiten; unten im Tal rauscht der Agno, ein klarer, blauer Strom, der freilich eben sehr wenig Wasser hatte. Das Tal ward immer schöner, bald sahen wir zur Seite Mezzovico liegen, ein Dorf von völlig italienischer Gestalt und Bauart, in Vergleich mit welchem die Dörfer nördlich vom Monte Cenere noch ein sehr nordisches Aussehen haben. Plötzlich scheint eine kleine Felsenreihe das Tal zu versperren; ein kleiner Engpaß öffnet sich; in demselben liegt das Dorf Taverne sopra, und fünf Minuten weiter Taverne sotto, besonders letzteres so malerisch, wie selten ein Dorf gelegen, jedoch meines Wissens nach nie gezeichnet. Das allerhübscheste Dorf war uns aber noch aufbehalten; unweit Taverne sotto nämlich sieht man an dem jenseitigen Berg den wohlhabenden, obschon abgelegenen Flecken Bedano geheimnisvoll aus dem Waldesdunkel herüberschimmern; lauter Häuser mit Bogen und Lauben, lauter Dächer mit Hohlziegeln bedeckt, alles halb terrassenförmig übereinander getürmt, ein überaus lieblicher, pittoresker Anblick. Und so geht es immer weiter; die Kapellen und Wallfahrtskirchen auf den Höhen werden immer häufiger, die Gegend immer schöner. Endlich kamen wir unweit von dem Dorfe Vezia zu einer alten zerfallenen Kirche auf einer Terrasse, und hier tat sich uns ein wundervoller Anblick auf: das ganze Agnotal lag vor uns, der hohe Monte magno, der dasselbe vom Lago maggiore trennt, glänzte schönabendlich verklärt, halb golden, halb dunkelblau, und aus den Kastanienwaldungen hervor winkten uns Kirchen und Dörfer ohne Zahl. Wer die Straße reist, versäume den schönen Ausblick nicht; die Kirche liegt hart an der Straße zwischen Lamone und Vezia und ist sehr leicht zu finden.

Dann erstiegen wir die letzte Höhe vor Lugano und sahen durch die Baumzweige hindurch ein Stück des Luganersees; rechts erhebt sich schroff in konischer Gestalt der schöne Monte San Salvatore (Berg des Erlösers), links der in zwei Gipfel gespaltene Monte Bré oder San Gottardo; jenseits ragen die Felsen von Caprino und Cavallino, und drüber hin erhebt sein kahles Haupt der hohe Monte Generoso. Das Ganze macht ein wundervolles Bild aus, ja Italien selbst dürfte wenige Gegenden darbieten, die dieser vorzuziehen wären.

Wenn man hier der großen Straße folgt, so entfaltet sich nach und nach die ganze Aussicht auf die Stadt; wir aber zogen den Fußweg durch das Gebüsch vor und befanden uns binnen weniger als einer Viertelstunde in Lugano, wo wir in dem recht empfehlenswerten Gasthof zur Krone unsern Wohnsitz aufschlugen.

Lugano

Lugano ist, wenn man will, ein unbedeutendes Nest, und mit seiner Nachbarin Como als Stadt nicht zu vergleichen. Reiche Nabobs gibt es hier fast keine; der Handel ist Transithandel ohne große Wichtigkeit, die Straßen sind enge, die öffentlichen Gebäude im Ganzen unbedeutend, und dennoch, welch unbeschreiblicher Reiz lagert sich über diesem Städtchen! Die Ursache liegt teils in der wunderbaren Schönheit der Gegend, teils in dem südlichen, für jeden Nordländer so wohltuenden Charakter des luganesischen Lebens, wie der luganesischen Gassen und Bauwerke. Wohl sind die Straßen enge, aber zu beiden Seiten laufen Arkaden hin von schlanken Säulen (nicht wie zu Bern, von vielen Pfeilern) getragen; wohl ist die Stadt weder groß noch großstädtisch, aber sie ist hübsch und macht mit ihren Bogenfenstern und offenen Lauben, besonders dem an langweilige Reihen viereckiger Fenster gewöhnten Nordländer den angenehmsten Eindruck; wohl ist sie kein großer Handelsplatz, aber doch sind ihre Gassen von früh bis spät von einem solchen Menschengewühl angefüllt, daß sie an die volksreichsten Straßen Mailands erinnern. Endlich besitzt Lugano an der Hauptkirche zu San Lorenzo ein Bauwerk, um welches es von den schönsten Städten Italiens beneidet werden dürfte. Das schönste ist und bleibt aber die Lage an dem blauen, windungsreichen, von den herrlichsten Bergen umragten See, der gerade hier am breitesten ist (doch nicht breiter als höchstens eine halbe Stunde).

Wer, der Lugano besucht hat, erinnert sich wohl nicht der schönen, in Reblauben halb versteckten Ortschaften rings um die Stadt? Zunächst an dem, einem Vorgebirg ähnlichen Fuße des Monte Bré steigt steil empor das liebliche Castagnola, das J. Peri (ein noch in Lugano lebender, geachteter Rechtsgelehrter) so schön besungen hat Frei nach dem Original. Castagnola ist der Geburtsort des Malers Giacomo Discepoli (genannt il zoppo di Lugano, der Lahme von Lugano), geboren im Jahre 1590.:

Heil dir, gastfreundlich schönes Gelände, Heil!
Du, dessen Ufer neben den rauschenden
Kastanienhainen stolz sich spiegeln
In des kristallenen Sees Wogen!

Dir schickt die Sonne täglich den ersten Strahl,
Wenn rings noch alles ruhig im Schatten schläft;
Sie nimmt von dir den spätesten Abschied,
Wenn sie im Westen sich eilt zu bergen.

Dir duftet, wenn rings alles im Schneegewand
Noch schläft, das süße dunkele Veilchen schon,
Und an dem Arme des Geliebten
Wandelt die Braut und sie sieht's und pflückt es.

Und auf dem sonnbeschienenen Hügel steigt
In stolzem Wuchs die blühende Reb' empor,
Ob sie vermählt sich mit dem Lorbeer,
Ob mit dem blassen begrünten Ölbaum.

Von den Terrassen, wo die Orange reift,
Wo blühend oft die Aloe ragt, entschwebt
Ein Wohlgeruch weit übern See, es
Streiten um ihn sich die Abendwinde.

Doch wenn in einsam schweigender Nacht sich hebt
Des Vollmonds Licht, und silbern erglänzt die Flut,
Wie bist du schön, o Castagnola!
Welche Gefühle erweckst du dann mir! –

Sehr schön ist auch die Lage von Caprino, gerade Lugano gegenüber. Hier haben die Luganeser ihre Felsenkeller; jeden Morgen früh sieht man eine Menge von Kähnen hinüberfahren, um den Tagesbedarf an Wein zu holen. Doch am allerschönsten liegt Lugano selbst.

Eine halbe Stunde nördlich vor der Stadt findet sich eine Allee, an deren Ende der besuchteste Badeplatz liegt. Die Aussicht von diesem Punkte aus umfaßt auch einen schönen, ganz pyramidalen, mir dem Namen nach nicht bekannten Berg, der von der Stadt selbst her nicht sichtbar ist; derselbe liegt östlich über Riva und Capodilago, und hat an schönen Tagen eine ganz dunkelviolette Farbe.

Es mögen hier noch einige schöne Standpunkte genannt sein:

Vor allen die Terrassen von San Lorenzo. Wer den Vollgenuß dieses Ortes haben will, der begebe sich morgens vor sechs Uhr hierher; lange verbirgt der hohe Monte Bré die Sonne, während sie schon das Tal von Lugano zur Linken und den See zur Rechten ganz hell bestrahlt, ein in seiner Art einziger Anblick. Das Tal von Lugano nimmt sich hier aus wie eine über viele Hügel ausgebreitete Stadt, die teilweise durch Parks und Gärten dem Auge entzogen wird; die ganze Gegend wimmelt von Dörfern und Weilern, die aufs malerischste an den Bergen verteilt sind.

Voll von schönen Standpunkten ist ferner die comasker Landstraße, die längs des San Salvatore hinführt; man wende sich hier gegen See und Stadt, wo man will; überall zeigt sich ein verschiedenes, prachtvoll reiches Landschaftsbild, das an die schönsten Gegenden des Mittelmeeres erinnert. Auch finden sich an dieser Landstraße die schönsten Villen des luganesischen Gebietes, welche freilich mit den großen Villen des Comersees nicht zu vergleichen sind.

Das Wundervollste aber bleibt dem aufbehalten, der den Gipfel des San Salvatore selbst besteigt. Schon eine halbe Stunde vor der Stadt, über dem Dorfe Zambia, wird die Aussicht ganz zauberhaft; weitgereiste Leute haben diesen Punkt einer berühmten Aussicht über Neapel gleichgestellt. Von da an steigt man binnen einer rechten Stunde, auf einem ganz gefahrlosen, auch für Damen völlig gangbaren Wege, zuerst im Zickzack, dann rund um den Berg herum, hoch über dem See schwebend, endlich über den untern Grat des Berges hin bis zur höchsten Höhe, der Wallfahrtskirche zu Christi Himmelfahrt. Wir waren, als wir den Berg das erstemal bestiegen, erst um halb sechs Uhr von Lugano aufgebrochen und erreichten bald nach sieben Uhr den Gipfel, obwohl wir uns unterwegs tüchtig verirrt hatten. Ich glaube es meiner Pflicht schuldig zu sein, vor allen Seitenwegen des San Salvatore zu warnen, so sehr dieselben auch zu scheinbarer Abkürzung einladen mögen. Man kann sich auf denselben so verklettern, daß an gar kein Vorwärtsdringen mehr zu denken ist, während andererseits auch das Zurückkehren sehr schwierig wird.

Auf dem Gipfel nun entfaltet sich eine Aussicht, wie vielleicht Europa nur sehr wenige darbietet. Wir wollen den Anbetern des Rigi (zu welchen übrigens Schreiber dieses ebenfalls mit Leib und Seele gehört), nicht das Herz schwer machen mit einer Parallele, die sich von selbst aufdrängt, und die ohne Widerrede zugunsten des San Salvatore ausfallen müßte. Kommt und sehet, was ihr für einen Berg in der Schweiz habt und wißt es nicht! –

Wir haben gestochene und lithographierte Panoramas von ganz mittelmäßigen Aussichten der Kantone Zürich, Aargau und Bern, aber ein Panorama vom San Salvatore zu zeichnen, davon ist noch Niemandem der Gedanke gekommen. Auch wird der Berg selten bestiegen; der bequeme Fußweg ist auch keineswegs um der Aussicht willen da, sondern nur der an gewissen Tagen im Jahr, besonders am Himmelfahrtstage sehr zahlreichen Wallfahrt willen; so wenig wird die über alle Beschreibung herrliche und erhabene Aussicht im Lande selbst geachtet. Denn der Italiener ist faul und haßt die hohen Berge Der San Salvatore ist 2800' ü. M., also gerade etwa 2000' über Lugano.. Freilich droben wird nur an den wenigen Wallfahrtstagen gewirtet, und von Schottenkuren, Bädern, Wirtstafel usw. ist keine Rede; aber der Berg in seiner Einsamkeit, ermangelnd all jener Einrichtungen und Bequemlichkeiten, die dem Rigi seinen romantischen Anstrich bald gänzlich rauben werden, ist dem wahren Reisenden, wie er sein soll, nur um so lieber. Und nun die Aussicht! – Der, welcher sie sah, vergißt sie nicht wieder; die einfache Kapelle zu Christi Himmelfahrt wird einer der Brennpunkte werden, um welche sich seine schönsten Kunst- und Naturerinnerungen sammeln.

Von der Gotthardskette und den rhätischen Alpen sieht man zwar nur wenige beschneite Häupter über die sekundären Ketten herüberragen, aber die penninischen Alpen vom Monte Rosa bis zum Montblanc und weiter halten dich reichlich schadlos; besonders der Monte Rosa gewährt hier einen Anblick wie auf dem Rigi kein einziger Schneegipfel. Ich habe zweimal auf dem San Salvatore den Sonnenuntergang gesehen; einige Alpengipfel erhielten nach und nach die Farbe des glühenden Eisens, ein prachtvoller Anblick. Die Hauptsache ist übrigens bei dieser Aussicht nicht der Anblick der Alpen, sondern die traumhaft schöne, hochromantische Gestalt der nähern Berge und Umgebungen; fast von allen Seiten steht der San Salvatore geradezu im See, seine zum Teil schroffen Wände sind gleichwohl fast durchgängig bekleidet, nicht mit den traurigen, niemals hellen Tannen der nördlichen Schweiz, sondern mit Kastanien, Akazien und Walnußbäumen. Ebenso verhält sich's mit den Gebirgen ringsum; bloß der Monte Generoso ist großenteils grau und kahl. Welch herrlicher Anblick über Lugano und den See, gegen Norden wie gegen Süden! Welche Abwechslung von Gewässern, Gebirgen, Dörfern, Klöstern, Kastanienwäldern und Rebengeländen! – Man sieht zwar hier nur vier Seen Luganersee, Laghetto, Lago di Muzzano, Lago maggiore., aber diese sind alle vom schönsten, tiefsten Blau. Die Aussicht ist dem Auge weit näher als die des weit höhern Rigis und des Weißensteins, und so kann hier von malerischer Wirkung die Rede sein, während jene zwei berühmten Aussichten eigentlich gar kein Bild, kein Tableau mehr abgeben. Wer übrigens gern recht ungeheuer weit sieht, wird sich auch auf dem San Salvatore gewiß befriedigt finden. Die Berge gegen Süden lassen nämlich zwei große, weite Lücken offen; durch die westliche erblickt man die sardinische Lombardei, die Ebene des Po und die Seealpen über Genua und Savona; durch die östliche sahen wir ein graues Band, in der Mitte mit einem weißen Fleck, das große Mailand mit seinem Wunderdom, und in weiter duftiger Ferne, doch in scharfen Umrissen, die Apenninen, etwa über Lucca und Pisa. An ganz hellen Tagen soll man die Türme von Cremona sehen. Es ist also auch für Liebhaber von Fernsichten väterlich gesorgt.

Gott gebe, daß der San Salvatore noch recht lange der großen Reisewelt so unbekannt bleibe, als er jetzt ist; denn, wenn sich einmal hier oben eine italienische Wirtschaft nach dem Muster der Berneroberländer-Gasthöfe ansiedeln sollte, so würde einer der wenigen Punkte verloren gehen, wo man das Land genießen kann, ohne von dem Gesindel geplagt zu sein, das sich hier an den Wanderer zu hängen und ihm das schöne Land zu verbittern pflegt.

An die östliche Wand der Himmelfahrtskirche lehnt sich der einfache Grabstein eines polnischen Flüchtlings, vielleicht eines der am schönsten gelegenen Gräber, die es gibt. – Man betrachte gute Abbildungen des Berges Tabor; er gleicht dem San Salvatore ungemein. Erhielt vielleicht letzterer seinen Namen von zurückkehrenden Kreuzfahrern, welche über die Ähnlichkeit mit dem Tabor erstaunt sein mochten, und wurde etwa in Folge dessen die Ascensionskirche hingebaut?

Studierende Jugend der Schweiz, du, der bald kein Berg mehr steil und unwegsam genug ist, und ihr alle, die ihr euch alljährlich an den ungeheuern Dimensionen der Alpen das Augenmaß, an ihren düstern Tannen und ihren kahlen Felswänden den Geschmack für sanftere, landschaftliche Schönheiten verderbt, kommt einmal hierher und öffnet euch diese reiche Welt voll neuer Berge, Seen und Dörfer, wie ihr sie nie gesehen habt und euch sie daheim nicht vorstellen könnt!

Doch es ist Zeit, wieder nach Lugano zurückzukehren, wozu einem mittelguten Fußgänger eine Stunde genügt. Das schönste Bauwerk der Stadt ist die Vorderseite von San Lorenzo, eine viereckige Wand von gelbem Marmor, etwas breiter als hoch, durch ein prachtvolles Gesimse gekrönt; ein zweites Gesimse teilt die Fassade in eine obere kleinere Hälfte, die in der Mitte ein einfaches Rundfenster hat, und in eine untere, höhere, welche die drei Türen enthält. Das zweite Gesimse ist mit einer Reihe von Medaillons geziert, die abwechselnd Brustbilder von Propheten und Sybillen haut-relief, sämtlich von hohem Kunstwert, enthalten. Über der Mitteltüre findet sich noch eine Reihe von Medaillons, und zwar sind dies die noch wertvolleren: Maria mit dem Kinde, St. Hieronymus, St. Antonius der Abt, St. Bernhard und das schönste: ein weinender Petrus. – Die Türpfosten selbst sind überaus reich im edelsten Renaissancestil verziert; zwischen den Türen finden sich noch Hautreliefbüsten in viereckigen Einfassungen; es sind die vier Evangelisten nebst David und Salomo. Die Fassade ist das Werk eines sonst ganz unbekannten Künstlers, Rotari oder Roderi von Bissone (jenseits des Sees); dieses einzige Werk adelt den Namen. Die sämtlichen Details sind vor einigen Jahren für die Pariser Akademie abgegossen worden. Die Kirche selbst enthält u. a. in der großen Kapelle rechts, unweit vom Eingang ein schönes Altarblatt von Aurelio Lucino Sohn des Bernardino. (Madonna mit St. Lorenz und St. Rochus), voll Farbenpracht trotz des hohen Alters, und in der Sakristei u. a. einen herrlichen, sanft-orientalischen Christuskopf aus der Schule des Bernardin Lucino.

Von der Aussicht auf der Terrasse von San Lorenzo habe ich schon gesprochen; sie ist zwar auch des Abends wundervoll, doch des Morgens vor Sonnenaufgang am allerschönsten. Man sieht hier über die ganze Stadt samt ihren Gärten, Klöstern und Kirchen (Lugano hat deren zwölf auf 4500 Einwohner) hinweg und beherrscht die ganze Gegend, den San Salvatore ausgenommen.

Die größten Kunstschätze aber enthält Kirche und Klausur des Minoritenklosters Unser lieben Frauen zu den Engeln, in der Vorstadt gegen Süden gelegen. Die Gemälde des Bernardin Lucino heben dieses bescheidene Kloster an Kunstinteresse hoch über Einsiedeln, Muri, Pfäffers, St. Gallen und Rheinau. – Lucino war ein ziemlich ordinärer Maler und stand im vierzigsten Altersjahre, als 1500 Leonardo da Vinci von Florenz nach Mailand kam. Lucino saß als Schüler zu dessen Füßen; ein neuer Geist kam über ihn, und als Leonardo weiter zog, war Lucino ein großer Maler; die vorher gebundene Innigkeit des Gemüts, der Reichtum der Phantasie, der heilige Kunsteifer hatten sich auf einmal entwickelt. So malte er noch dreißig Jahre lang, und heutzutage schätzt sich jeder Galerieinspektor glücklich, wenn er ein Bild dieses Meisters, wäre es auch nur ein schadhafter Freskokopf, für seine Sammlung erhalten kann.

Gleich, wenn man in die Kirche tritt, erblickt man an der gegenüberstehenden Wand über den drei niedrigen Bogen, die ins Chor führen, ein ungeheures Freskobild von etwa 30' Breite und 20-25' Höhe; es ist Christi Kreuzigung, im ganzen einhunderteinundvierzig Köpfe enthaltend. Die flüchtigste Beschreibung dieser überaus herrlichen Komposition würde viel zu weitläufig ausfallen; diese ohnmächtig dahin sinkende Maria, dieser von hohem Gottvertrauen beseelte Johannes, diese im tiefsten Schmerz das Kreuz umschwebenden Engel, dies alles will gesehen sein Diese sämtlichen Bilder fallen um 1530 in Lucinos letzte Jahre..

Unterhalb des Bildes sieht man an den Pfeilern die Bilder: S. Sebastian, S. Rochus, S. Johannes Baptista als Knabe usw. von demselben Meister. An einem Pfeiler, unweit der Eingangstür, ist ein toter Christus, halbe Figur; auf der einen Seite S. Franziskus, die Hand der Leiche küssend, auf der andern S. Bernhard, weinend an die Schulter Christi gelehnt, ein Bild von unaussprechlicher Zartheit; leider etwas schadhaft, ebenfalls von Bernardin Lucino. Über der Tür, an dem hölzernen Türkasten, hat Lucino in den Giebel hinein noch ein kleines, doch sehr ausdrucksvolles Eccehomo gemalt.

Von andern Meistern, doch ebenfalls schätzbar, sind: an der Wand links eine Madonna mit zwei kleinen Engeln, nebst S. Franziskus und S. Bernhard, und in der Kapelle links, neben dem Choreingange, die Wunder des Rosenkranzes, sowie eine sehr alte Madonna.

Doch das Kleinod des Klosters findet sich in dem hintern Kreuzgange des Klosters, über der Türe des Refektoriums, in ein Halbrund hineingemalt; es ist Lucinos Madonna (halbe Figur) mit dem kleinen Christus, der den Fuß über ein Lamm setzt und mit dem kleinen Johannes. Wenn ich dieser Madonna, die an Schönheit vielen raffaelischen kaum nachsteht, einen Beinamen geben sollte, so würde ich sie die prophetische nennen; der schmerzliche Blick der Madonna, das Welterlösende im Antlitz des Kindes, der mit dem Finger weisende kleine Johannes, all dies deutet auf die Dinge, die da kommen sollten.

Im Refektorium, an die hintere Wand gemalt, findet sich endlich Lucinos Abendmahl, eine schöne, kunstvolle Komposition Man beachte besonders die Gruppe links. in drei Bogen geteilt; Reminiszenzen aus Leonardos berühmten Werken sind unverkennbar. Doch besonders Christus ist hier nicht, wie bei Leonardo, ruhig ergeben, sondern in Antlitz und Gebärde höchst schmerzlich bewegt.

Wer die Kirche U. L. Frauen zu den Engeln nicht gesehen hat, der kennt ein großes Stück von Lugano nicht. Dies möge einstweilen genügen; der Raum erlaubt nicht, uns über luganesisches Leben und Treiben weiter zu verbreiten. Der Zweck dieser Zeilen ist erreicht, wenn sie den hier beschriebenen schönen Gefilden auch einen Hyperboreer zuführen.

 

Anmerkungen eingearbeitet, joe_ebc, Projekt Gutenberg-DE


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