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Elftes Buch.


Einleitungs-Kapitel.

Hier folgt im Original der Untertitel »On the importance of hate as an agent in civilized life.« (Über die Bedeutung des Hasses als einer wirkenden Kraft im zivilisierten Leben.)

Wohlwollende Leute kommen nicht selten auf den Einfall, zu behaupten, Schlechtigkeit müsse eine Art Wahnsinn sein, und Niemand springe plötzlich von dem geraden Wege ab, der nicht durch den Stich einer Wespe hiezu veranlaßt werde. Wenn man freilich unsern gescheidten, sorgfältig erzogenen Freund Randal Leslie nimmt, welcher nach dem trügerischen Grundsatz handelt, »Schurkerei sei die beste Politik,« so ist es wirklich merkwürdig, zu beobachten, wie viel er mit dem Wahnsinnigen gemein hat: diese Schlauheit, die sich nie genügt; diese reizbare Unruhe, dieser Argwohn gegen die übrige Welt, der überall Verschwörungen gegen die eigene Person sieht und das Aufbieten allen Witzes für nöthig hält, um dieselben zu vereiteln und für die eigene Vergrößerung, für den eigenen Vortheil auszubeuten.

Vielleicht haben manche meiner Leser gedacht, Randal sei von mir als unnatürlich weit ausholend in seinen Plänen, als zu gedehnt und spitzfindig in seinen Spekulationen geschildert worden; allein diese Erscheinung findet sich häufig bei Leuten von ausgebildetem Verstande, wenn es ihnen gefällt, sich auf den Spitzbuben zu spielen. Sie bemänteln damit vor sich selbst die Häßlichkeit ihres Ehrgeizes, gerade wie sich ein Philosoph über das Scharfsinnige eines metaphysischen Prozesses freut, welcher auf dasjenige hinausläuft, was man sonst im Leben »Atheismus« nennt, während sich derselbe höchlichst entsetzen und beleidigt fühlen würde, wenn man ihn einen Atheisten nennen wollte. Wie ich früher einmal sagte oder andeutete, ist es für uns einfältige Leute schwer, die Wonne zu begreifen, mit welcher ein verschlagener Kopf seinen Scharfsinn arbeiten läßt.

»Nachdem ich so viel über das »Naturgemäße« in Randal Leslie's Charakter vorausgeschickt habe, muß ich mir eine Abschweifung erlauben behufs einer kurzen Bemerkung über den Einfluß einer Leidenschaft auf die menschlichen Handlungen, welche in unserem höflichen und civilisirten Zeitalter selten ohne Maske auftritt – ich meine den Haß.

In den guten alten Tagen unserer Voreltern, als derbe Sprache und derbe Hiebe noch Mode waren, als der Mann sein Herz auf der Zunge trug und vier Fuß scharfen Eisens an seiner Seite baumelten, spielte der Haß auf dem Welttheater ein ehrliches, offenes Spiel. Ja, wenn wir die Geschichte lesen, scheint er auf der Bühne etwas Stehendes gewesen zu sein. Wo aber ist jetzt der Haß? – Wer erblickt jemals sein Gesicht? Ist er jenes lächelnde, gutmüthige Wesen, welches deine Hand so herzlich drückt? Oder diese hohe, würdevolle Gestalt, die dich ihren »sehr Ehrenwerthen Freund« nennt? Ist er jener sich bückende und sich bedenkende Untergebene – oder dort die schmachtende Amaryllis? Frage nicht, mache dir keine Gedanken; daß es der Haß ist, wirst du erst dann erfahren, wenn das Gift in deinem Becher ist, oder der Dolch in deiner Brust steckt. In dem gothischen Zeitalter malte grausiger Humor den »Todtentanz;« in unserem verfeinerten Jahrhundert sollte uns der Witz eines Satyrikers die »Maskerade des Hasses« vorführen.

Die entgegengesetzte Leidenschaft verräth sich dem Auge allerdings mit Leichtigkeit. Die Liebe ist selten eine Heuchlerin. Aber der Haß – wie ihn entdecken und wie sich gegen ihn schützen? Er lauert, wo man ihn am wenigsten vermuthet; er entsteht aus Ursachen, die man am wenigsten vorhersehen kann; und die Civilisation vervielfältigt seine Schattirungen, während sie seine Vermummung begünstigt. Denn die Civilisation vermehrt die Zahl widerstreitender Interessen, und die Verfeinerung macht die Eigenliebe nur um so empfindlicher gegen die geringste unzarte Berührung.

Der Haß aber kommt mit schleichenden Schritten aus irgend einem selbstsüchtigen Interesse, welches wir gekreuzt, oder aus irgend einer Eigenliebe, welche wir verletzt haben, hervor; – und Einfaltspinsel, die wir sind – in den meisten Fällen merken wir unsere Fehler gar nicht! Du kannst von einem Manne gehaßt werden, den du im Leben nie gesehen hast; du kannst ebenso oft von einem Solchen gehaßt werden, den du mit Wohlthaten überhäuft hast; du gehst vielleicht einem Wurme aus dem Wege, um nicht darauf zu treten; aber du mußt fest in deinem Lehnstuhl sitzen bleiben, bis man dich herausnimmt und in die Bahre legt, wenn du sicher sein willst, nicht auf eine Schlange von Feind zu treten.

Aber dann – welches Leid kann uns der Haß anthun? Sehr oft bleibt dasselbe der Welt ebenso verborgen, wie uns der Haß selbst: Vielleicht überholt er uns unversehens auf einem einsamen Nebenpfade unseres Lebens, oder trifft uns im engsten Kreise, wo wir uns ganz geborgen glaubten, oder zerstört er unser liebstes Hoffen, das wir Niemand anvertraut; denn in dem Augenblicke, da die Welt steht, daß es der Haß ist, der über uns hereinbricht, hat er auch schon sein Schlimmstes vollbracht.

Wir haben eine Menge Namen für eine und dieselbe Leidenschaft – Neid, Eifersucht, Verachtung, Vorurtheil, Nebenbuhlerschaft; sie sind aber nur ebenso viele gleich bedeutende Ausdrücke für den nämlichen alten heidnischen Dämon. Als der todbringende Speer Apollo's den unglücklichen Achäern die Pest brachte, kümmerte es das Opfer nicht viel, ob der Gott Helios oder Smintheus Wie Helios (Sonnengott) ein anderer Beiname Apollos. hieß.

Niemand auf der weiten Welt schien von der Bosheit des Hasses weniger erreichbar, als Audley Egerton: selbst in den heißen politischen Kämpfen hatte er kaum einen persönlichen Feind; und im Privatleben hielt er sich von Anderen so ferne und abgesondert, daß er eigentlich nur durch die Wohlthaten bekannt war, zu welchen er seinen Reichthum verwendete. Der Gedanke, daß der strenge, auf so hohem Gipfel der Achtung stehende Staatsmann von dem Hasse irgend eines Sterblichen zu leiden haben könne, würde dir ein Lächeln entlockt haben. Aber der Haß ist noch jetzt, wie er es immer war, eine wirkliche Macht unter den »Wechselformen des Lebens;« und ungeachtet der Riegel an den Thüren und der Polizeidiener auf den Straßen kann man von keinem Menschen sagen, sein Schlaf sei ungefährdet, so lange das Auge eines einzigen Feindes wacht.


Zweites Kapitel.

Die Herrlichkeit von Bond-Street ist nicht mehr. Der Titel eines Bond-Street-Läufers ist von unseren Lippen verschwunden – vergebens das Gedränge der Equipagen und die Pracht der Kaufläden: die Berühmtheit von Bond-Street lag in seinem Pflaster, in seinen Fußgängern. Bist du alt genug, Leser, dir den Bond-Street-Läufer und seine unvergleichliche Generation in das Gedächtniß zurück zu rufen?

Ich für meinen Theil kann mich gerade noch des Zerfalls der großen Aera erinnern. Sie war im Abnehmen, als sich meine Gedanken im Ehrgeize der Knabenjahre zum ersten Male mit hohen Halsbinden und Wellingtonstiefeln beschäftigten. Aber die alten habitués – die magni nomines umbrae Die Schatten großer Namen. (Nach Lucan, Pharsalia, I. 135). – die Zeitgenossen Brummell's Siehe Anm. 335. auf dem Zenith seiner Größe – die lustigen Kumpane Georg's während seiner Regentschaft – spukten dort noch immer. Von 4 – 6 Uhr, in dem heißen Monat Juni, schlenderten sie gemessen ab und zu, schon damals mit einem Zug von Trauer im Gesichte, als ahnten sie das Aussterben ihrer Race.

Der Bond-Street-Läufer wurde selten allein gesehen: er war ein geselliges Thier und wandelte Arm in Arm mit seinem Nebenmenschen. Er schien nicht geboren für die Sorgen jener rauhen Zeiten; nicht geschaffen für ein Zeitalter, in welchem Finsbury Londoner Stadtteil. Vertreter in's Parlament schickte. Er liebte sein gemütliches Geplauder; und nie mehr seitdem war ein Geplauder so entschieden gemüthlich.

Der ächte Bond-Street-Läufer sah sehr ungebunden aus. Seine Jugend hatte er unter Helden zugebracht, welche die Flasche liebten. Er selbst hatte vielleicht mit Sheridan zu Nacht gespeist. Er war von Natur ein Verschwender: man sah dies an der Nachlässigkeit seines Ganges. Leute, die Geld machen, pflegen nicht zu schlendern, und Solche, welche Geld zurücklegen, pflegen nicht zu schwadroniren. Aber das Schlendern und das Schwadroniren, beides zusammen drückte dem Bond-Street-Läufer den Stempel des lockeren Zeisig auf. Und so vertraut er mit Seinesgleichen war, so köstlich rümpfte er die Nase gegen den gemeinen Rest der Sterblichen, deren Gesichter in Bond-Street fremd waren.

Aber Er ist dahin. Die Welt, wiewohl sie ob seines Verlustes trauert, sucht sich indessen bestmöglichst ohne ihn zu helfen; und unsere jungen Männer sinnen heutzutage über Modellhüte nach und neigen zum Tractarianismus Auch Puseyismus; siehe Anm. 137. hin – ich meine diejenigen jungen Männer, die so ruhig und harmlos sind, wie ein Bond-Street-Läufer von ehemals – redeant Saturnia regna Mögen die Goldenen Zeiten zurückkehren. (Nach Virgil, 4. Ekloge; bei Virgil steht statt redeant dem Zusammenhang gemäß redeunt)..

Für einen nicht kritischen Beobachter hat übrigens der Ort ein glänzendes, geschäftiges Aussehen. Aber er ist ein Durchgangsweg, kein Spazierweg. Und diesen Durchgangsweg kamen einige Zeit vor der Stunde, wo das Gewühl am größten ist, zwei Gentlemen, deren Erscheinung zu der Oertlichkeit in keiner Weise paßte. Doch schienen sich Beide zur Aristokratie zu zählen – sie hatten einen altväterischen Anstrich von Achtbarkeit und Einfluß auf dem Lande in staatlichen und kirchlichen Dingen. Der beleibtere von Beiden war sogar in seiner Art ein beau. In der That hatte er sich zuerst kleiden gelernt, als Bond-Street in seiner höchsten Blüthe und Brummell in seinem Glanze war. Noch immer behielt er den in seiner Jugend modern gewesenen Schnitt für seinen Anzug bei; nur gab dieser jetzt nicht mehr von dem Stadt-, sondern von dem Landleben Kunde. Die weite, hohe, schneeweiße Halsbinde hob das glatt rasirte Gesicht von frischer, blühender Farbe vortheilhaft heraus; der königsblaue Rock mit Knöpfen, so blank wie ein Spiegel, war leicht zugeknöpft über einer Taille, die ein rüstiges, mittleres Alter verrieth, frei von dem Ehrgeiz, der Habsucht und den Aengsten, welche die Bewohner Londons wie ein böser Geist umtreiben; die grauen, oben weiten und an den Knieen engen kurzen Beinkleider waren von Brummell's eigenem Kleiderkünstler gefertigt, und die entsprechenden Gamaschen (welche das Bein noch zur Hälfte bedeckten) zeugten von einer Stutzerhaftigkeit, die dem beau-ideal eines Grafschaftsmitglieds Ehre gemacht haben würde.

Der Beruf des andern Gentlemans war nicht zu verkennen – der länglicht geschweifte Hut, der geistliche Schnitt des Gewandes, die Halsbinde ohne Hemdkragen, welche für die Zubehör, die Bäffchen, gemacht zu sein schien, und eine gewisse milde Würde in der ganzen Erscheinung, alles das deutete auf einen Mann hin, an dem jeder Zoll ein Gentleman und ein Pfarrer war.

»Nein,« sagte der stattlichere der beiden Herren, »nein, ich kann durchaus nicht sagen, daß mir Frank's Aussehen gefällt. Gewiß hat er etwas auf dem Herzen. Aber ich denke, heute Abend bringe ich alles aus ihm heraus.«

»Er speist mit Ihnen in Ihrem Hotel, Squire? Seien Sie ja freundlich gegen ihn. Wir können nicht alte Köpfe auf junge Schultern setzen.«

»Ich habe nichts dagegen, daß sein Kopf jung ist,« erwiderte der Squire; »aber ich wollte, er hätte ein bischen von Randal Leslie's gesundem Verstande darin. Ich sehe, wie es enden wird. Ich muß ihn auf das Land zurück nehmen; und wenn er Beschäftigung braucht, nun, so soll er Jagdhunde halten, und ich will ihn auf Brooksby-Farm setzen.«

»Was die Jagdhunde betrifft,« sagt der Pfarrer, »so gehören hiezu auch Pferde; und nach meiner Ansicht erwächst für einen lebhaften jungen Mann aus den Ställen mehr Unheil, als aus irgend einem anderen Platze in der Welt. Von der Kanzel aus sollten sie gerügt werden, diese Ställe!« fügte Mr. Dale nachdenklich bei; »sehen Sie, was sie Nimrod übrig gelassen haben! Aber der Ackerbau ist eine gesunde und edle Beschäftigung, geehrt von heiligen Völkern und von den größten Männern des klassischen Alterthums gepflegt. So zum Beispiel waren die Athener –«

»Schwatzen Sie mir da von den Athenern!« rief der Squire unehrerbietig; »Sie brauchen nicht so weit zurück zu gehen für Ihre Beispiele. Einem Hazeldean muß es genügen, daß sein Vater und sein Großvater und sein Urgroßvater vor ihm ihre Güter bewirtschaftet haben, und ein gut Theil besser, denk' ich wohl, als einer jener verrosteten alten Athener – ohne ihnen zu nahe treten zu wollen. Aber Eines sage ich Ihnen, Pfarrer, ein Mann, der seine Güter recht bewirtschaften und auf dem Lande leben will, sollte eine Frau haben; er hat dann nur mit halb so viel zu kämpfen.«

»Was das Kämpfen anbelangt, so kann ein verheirateter Mann mit Sicherheit darauf rechnen, die Hälfte, obwohl nicht immer die bessere Hälfte, davon abzubekommen,« entgegnete der Pfarrer, der heute besonders scherzhaft gestimmt schien. »Ah, Squire, ich wollte, Mrs. Hazeldean hätte Recht mit ihrer Vermuthung! Sie bekämen die hübscheste Schwiegertochter in den drei Königreichen und ich denke, wenn ich Gelegenheit fände, mit der jungen Dame in Abwesenheit ihres Vaters ein vernünftiges Wort zu sprechen, so könnten wir den einzigen Einwand, den ich gegen die Heirath wüßte, beseitigen. Diese papistischen Irrthümer –«

»Ah, sehr wahr!« rief der Squire. »Dieser Pabst drückt auf mich wie ein Alp. Ich könnte es verzeihen, daß sie eine Ausländerin ist und wahrscheinlich nicht einen Schilling in der Tasche hat – der Herr segne ihr schönes Gesicht! – aber in ihrem Zimmer Bilder anzubeten, anstatt die Pfarrkirche zu besuchen, das geht nun und nimmer mehr. Aber Sie glauben, ihr den Pabst aus- und sie in den Familienkirchenstuhl hineinreden zu können?«

»Oh, ich hätte auch ihrem Vater den Pabst ausreden können, nur sprang er, wenn er um eine Antwort verlegen war, zum Fenster hinaus. Die Jugend ist aufrichtiger in dem Bekenntnisse ihrer Fehler.«

»Ich gestehe,« sagte der Squire, »wir Beide, Harry und ich, hatten unsere Lieblingsidee; bis uns dieses italienische Mädchen dazwischen kam. Sie müssen wissen, daß wir Beide großen Gefallen an Randal's kleiner Schwester fanden – ein so hübsches, erröthendes, englisches Gesichtchen, wie Sie je eines gesehen haben. Und es ging Harry sehr zu Herzen, als sie bemerkte, wie diese einfältige Mutter, die nie zur Ruhe kommen kann, sie vernachlässigte, und wie ihr die Haare über die Ohren herunter hingen; und ich dachte, es wäre eine ganz gute Art, Randal und Frank näher zusammen zu bringen, und ich könnte denn auch für Randal selbst etwas thun – ein guter Junge mit Hazeldeanblut in seinen Adern. Aber Violante ist so schön, daß mich die Wahl des Jungen nicht wundert; und dann ist es unser Fehler: wir ließen sie als Kinder immer beisammen stecken. Schwer ärgern würde ich mich indessen, wenn Rickybocky den Fuchs gemacht hätte und von dem Casino nur deßhalb fortgelaufen wäre, um Frank den heimlichen Verkehr mit seiner Tochter fernerhin zu ermöglichen.«

»Ich glaube nicht, daß dies Riccabocca gleich sehen würde. Viel eher möchte ich den Grund seines Weggehens in der Absicht suchen, Frank die gute Gelegenheit zur Bewerbung um Violante, wenn er nicht damit einverstanden war, abzuschneiden; denn wo könnte Frank sie öfters sahen, als in dem Casino?«

Squire. – »Gut gesagt. In Betracht, daß er nur ein ausländischer Doctor war und, so viel wir wissen, mit seinen sieben Sachen im Lande herumzog, ist er ein ganz gentlemanischer Bursche, dieser Rickybocky. Ich beurteile die Leute nach ihrem Auftreten. Aber was ist Ihre Ansicht über Frank? Am Ende glauben Sie gar nicht, daß er in Violante verliebt ist? Heraus damit, Mann; sprechen Sie offen!«

Pfarrer. – »Da Sie so sehr in mich dringen, so gestehe ich Ihnen, dass ich an die Existenz dieser Liebe nicht glaube; und ebenso geht es meiner Carry, die in solchen Dingen einen ungewöhnlich scharfen Blick hat.«

Squire. – »Ihre Carry? Was Sie nicht sagen! Als ob sie auch nur einen halb so scharfen Blick hätte, wie meine Harry. Carry – Unsinn!«

Pfarrer (roth werdend). – »Ich habe keine Lust, gehässige Bemerkungen zu machen; aber, Mr. Hazeldean, wenn Sie über meine Carry spotten, so müßte ich kein Mann sein, wenn ich nicht erklären würde, daß –«

Squire (ihn unterbrechend). – »Sie ist ein ganz gutes Frauchen, aber sie mit meiner Harry zu vergleichen!«

Pfarrer. – »Ich vergleiche sie nicht mit Ihrer Harry; ich vergleiche sie mit keiner einzigen Frau in England, Sir. Aber Sie erhitzen sich, Mr. Hazeldean!«

Squire. – »Ich!«

Pfarrer.– »Und die Leute blicken auf Sie, Mr. Hazeldean. Um des Anstands willen fassen Sie sich und sprechen wir von etwas Anderem. Hier sind wir gerade bei dem Albany Ende des 18. Jh. in klassizistischen Stil errichtete exklusive Wohnanlage in London, die viele berühmte Bewohner und Besucher aufwies.. Ich hoffe, wir finden den armen Kapitän Higginbotham nicht so schlimm, wie er sich in seinem Briefe schildert. Ah! Ist es möglich? Nein, es kann nicht sein. Sehen Sie – sehen Sie!«

Squire. – »Wo – was wo? Kneipen Sie mich doch nicht so. Gerechter Gott, sehen Sie einen Geist?«

Pfarrer. – »Dort – den schwarzgekleideten Herrn!«

Squire. – »Schwarzen! Wie! – am hellen Tag! Unsinn!«

Der Pfarrer hatte mit Einem Satze den fraglichen Herrn, der seinerseits stehen geblieben war und die Beiden aufmerksam betrachtete, erreicht, ergriff seinen Arm und rief:

»Sir, verzeihen Sie; aber ist Ihr Name nicht Fairfield? Ah, es ist Leonard – er ist's – mein lieber, lieber Junge! Welche Freude! So verändert, zum Vortheil verändert, aber noch immer das nämliche ehrliche Gesicht. Squire, kommen Sie her – Ihr alter Freund, Leonard Fairfield.«

»Und er wollte mich überreden,« sagte der Squire, Leonard herzlich die Hand schüttelnd, »Sie seien der Schwarze; er hat aber auch heute Morgen sonderbare Launen und Grillen. Ei, Master Lenny, Sie sind ja ein ganzer Gentleman geworden! Die Welt meint's gut mit Ihnen – he! Sie sind wohl Obergärtner bei irgend einem großen Herrn?«

»Das nicht, Sir,« sagte Leonard lächelnd. »Aber die Welt hat es zuletzt doch gut mit mir gemeint, freilich nicht, ohne mich vorher rauh genug durchzuschütteln. Ah, Mr. Dale, Sie glauben nicht, wie oft ich Ihrer und Ihrer Lehren über das Wissen gedachte; und, was mehr ist, wie ich die Wahrheit Ihrer Worte im Leben bestätigt fand und Ihren Unterricht segnete.«

Pfarrer (gerührt und geschmeichelt). – »Weniger erwartete ich auch nicht von Ihnen, Leonard; Sie waren immer ein Junge von großem Verstande und gesundem Urtheil. Sie haben also meiner kleinen Vorlesung über das Wissen gedacht, wirklich!«

Squire. – »Zum Kukuk mit dem Wissen! Ich habe allen Grund, das Wort zu hassen. Es hat mir drei Heuschober niedergebrannt, die schönsten, die Sie je gesehen haben, Mr. Fairfield.«

Pfarrer. – »Das war nicht das Wissen, Squire; das war die Unwissenheit.«

Squire. – »Unwissenheit! der Teufel war's. Sagen Sie selbst, Mr. Fairfield. Wir haben schlimme Tumulte im Bezirke gehabt, und der Rädelsführer war gerade so ein Bursche, wie Sie einer gewesen sind!«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Mr. Hazeldean. In wiefern?«

Squire. – »Je nun, er war ein Dorfgenie und las immer so verwünschte Traktätchen, und wurde mächtig unzufrieden mit dem König, den Lords und den Gemeinen D.h. mit dem Ober- und Unterhaus., vermuthe ich, und lief herum und predigte von der Bedrückung der Armen und den Verbrechen der Reichen, bis, beim Jupiter, Sir, der ganze Haufe sich eines Tags mit Mistgabeln und Sicheln erhob und Farmer Smart's Dreschmaschinen Den historischen Hintergrund bilden die Swing-Aufstände (Swing riots) zwischen 1830 und 1833, eine Bewegung englischer Landarbeiter gegen den Einsatz von Landmaschinen, insbesondere der Dreschmaschine, und für die Zahlung höherer Löhne. zertrümmerte; und in derselben Nacht gingen meine Heuschober in Flammen auf. Wir erwischten die Hallunken, und sie erhielten Alle ihren Lohn; aber die armen betrogenen Arbeiter kamen mit einer kurzen Haft davon. Das Dorfgenie ist, Gott sei Dank, nach Botany-Bay Steht hier für Australien als Strafkolonie. 1770 wurde die Bucht beim heutigen Sydney Schauplatz der ersten Landung der Briten in Australien durch James Cook. Dieser hatte der Regierung die Anlandung deportierter britischer Strafgefangener ab 1788 in der Botany Bay empfohlen; sie erfolgte aber in der nördlich gelegenen und später Port Jackson benannten Bucht. befördert.«

Leonard. – »Aber lehrten ihn denn seine Bücher, Heuschober niederzubrennen und Maschinen zu zertrümmern?«

Pfarrer. – »Nein; er behauptete gerade das Gegentheil und erklärte, er habe bei diesen Verirrungen die Hand nicht mit im Spiele gehabt.«

Squire. – »Aber er wurde überwiesen, mit seinen wilden Reden die Tölpel, welche es gethan, aufgereizt zu haben! Ja wohl, Sir, da war einmal ein heuchlerischer Quäker, der zu seinem Feinde sagte: ›Ich kann nicht dein Blut vergießen, Freund, aber ich will deinen Kopf unter das Wasser halten, bis du ertrunken bist.‹ Und so ist da eine Bande demagogischer Spitzbuben, die fortwährend schreien: ›der Farmer So ist ein Leutebedrücker, und der Squire So ist ein Blutsauger! Aber keine Gewalttätigkeiten! Zertrümmert nicht ihre Maschinen, verbrennt nicht ihre Heuschober! Moralische Kraft – und Fluch allen Tyrannen!‹ Wenn nun aber der arme Taglöhner meint, die moralische Kraft liege in seinem Arme und jener Wahlspruch sei von hinten herein zu lesen, wie es der Teufel mit dem Vaterunser macht, so möchte ich doch wissen, welcher von Beiden nach Botany Bay gehört: der Taglöhner, der sich wehrt, wie ein Mann, wenn er glaubt, es sei ihm Unrecht geschehen, oder der andere schleichende Hallunke, der sein Wissen benützt, um sich aus der Schlinge zu ziehen?«

Pfarrer. – »Das mag sehr wahr sein; aber als ich den armen Burschen mit seinem verständigen Gesichte vor den Gerichtsschranken sah und seine kühne, klare Verteidigung hörte und daran dachte, wie schwer er sich sein Wissen erkämpfen mußte, und wie alles endete, weil er vergaß, daß Wissen Feuer ist und nicht zwischen Hobelspäne geworfen werden darf – gerne hätte ich da meine rechte Hand darum gegeben, ihn zu retten. Und ach, Squire, erinnern Sie sich des Verzweiflungsschreis seiner armen Mutter, als das Urtheil auf lebenslängliche Deportation lautete? Jetzt noch höre ich ihn! Und was, Leonard, was, glauben Sie, leitete ihn auf diese falsche Bahn? All' das Unheil kam aus dem Sacke des Kesselflickers. Sie können Sprott nicht vergessen haben?«

Leonard. – »Sack des Kesselflickers! – Sprott!«

Squire. – »Dieser Schurke, Sir, war so schwer zu fangen, daß man es gar nicht glauben sollte, so voll Kniffe und Pfiffe, wie ein alter Advokat von Old Bailey Krongericht in London, zuständig für Kapitalverbrechen.. Aber wir haben dafür gesorgt, daß es ihm wieder heim gegeben wurde. Sein Sack war vollgestopft mit Traktätchen gegen Jeden, der einen guten Rock aus dem Leibe hatte; und als wäre dies nicht genug gewesen, befanden sich bei den Traktätchen in brüderlicher Eintracht Zündhölzchen, die, nach einem neuen Princip verfertigt, meine Heuschober die Theorie der Selbstverbrennung lehren sollten. Die Arbeiter kauften die Zündhölzchen –«

Pfarrer. – »Und das arme Dorfgenie kaufte die Traktätchen.«

Squire. – »Alle mit dem Motto an der Spitze: ›Belehrung der arbeitenden Klassen, daß Wissen Macht ist.‹ Mithin hatte ich Recht, wenn ich sagte, daß das Wissen meine Heuschober niederbrannte; das Wissen entzündete das Dorfgenie, das Dorfgenie entzündete Bursche, die unwissender waren als er selbst, und diese zündeten meine Scheune an. Indessen sind jetzt Zündhölzchen, Traktätchen, Dorfgenie und Sprott – alles miteinander unterwegs nach Botany Bay; und der Bezirk hat dadurch nur gewonnen. Bleiben Sie mir deßhalb mit Ihrem Wissen vom Halse – thut mir leid, Mr. Fairfield. Und noch dazu so ungewöhnlich schöne Heuschober! Wahrhaftig, Pfarrer, Sie sehen aus, als fühlten Sie Mitleid mit Sprott; und wenn mich nicht alles täuscht, so sah ich Sie mit ihm flüstern, als man ihn auf dem Gerichtssaale abführte.«

Pfarrer (mit verlegenem Zögern). – »Ich? – Ich frug ihn nur, was aus seinem Esel, einem harmlosen Geschöpfe, geworden sei.«

Squire. – »Harmlos? Warf mich mitten in ein Distelbeet hinein auf meiner eigenen Dorfwiese. Hab's nicht vergessen. Nun, was sagte er, daß aus dem Esel geworden sei?«

Pfarrer. – »Er sagte nur ein einziges Wort; aber dasselbe zeigte die ganze Rachsucht seines Charakters. Er sagte es mit einem schrecklichen Blinzeln, daß mir das Blut in den Adern gerann. ›Was ist aus Ihrem armen Esel geworden?‹ sagte ich, und er antwortete –«

Squire. – »Weiter. Er antwortete –«

Pfarrer. – »›Würste!‹«

Squire. – »Würste! Sieht ihm gleich; unverkaufte sie an die Armen; und soweit bringen es diese noch, wenn sie auf solche revolutionirenden Bösewichte hören. Würste! Eselswürste!« (spuckt aus.) »Das ist so schlimm, wie seinen Nächsten auszehren; vollständiger Canibalismus.«

Leonard, in welchem die Geschichte von Sprott und dem Dorfgenie ernste Gedanken geweckt hatte, drückte dem Pfarrer die Hand und bat um die Erlaubniß, ihn vor seiner Wiederabreise aufsuchen zu dürfen. Er wollte sich eben entfernen, als ihn der Pfarrer sanft zurück hielt und sagte:

»Nein, nein, verlassen Sie mich noch nicht, Leonard – ich habe so Vieles zu fragen, über so Vieles mit Ihnen zu sprechen. Ich werde bald Herr meiner Zeit sein. Wir sind eben auf dem Wege zu einem Verwandten des Squire's, dessen Sie sich erinnern müssen, gewiß – Kapitän Higginbotham – Barnabas Higginbotham. Er ist in einem sehr traurigen Zustand.«

»Und ich bin überzeugt, er würde Ihnen Dank wissen, wenn Sie mit uns zu ihm gehen wollten,« sagte der Squire gutmüthig.«

Leonard. – »Aber, Sir, würde ich mir damit nicht eine zu große Freiheit heraus nehmen?«

Squire. – »Freiheit! Wenn man einen armen kranken Gentleman nach seinem Befinden frägt? Unsinn! Und, was ich sagen wollte, Sir, vielleicht, da Sie ohne Zweifel hier in der Stadt leben und von diesen neu erfundenen Methoden mehr wissen, als ich – vielleicht können Sie uns sagen, ob alles das Schwindel ist, oder nicht – diese neue Art, an den Leuten zu doktern?«

»Welche neue Art, Sir? Es gibt deren so viele.«

»Wirklich? Die Leute in London sehen auch ganz besonders kränklich aus. Aber mein armer Vetter (er war nie ein Salomo) gerieth, wie er sagt, an einen Home – Homo – wie heißt das Wort, Pfarrer?«‹

Pfarrer. – »Homöopath.«

Squire. – »Richtig. Sehen Sie, der Kapitän lebte bei einem gewissen Sharpe Currie, einem Verwandten, der viel Geld und sehr wenig Leber besaß – machte sich ersteres und ließ dafür einen großen Theil der letzteren in Indien, müssen Sie wissen. Der Kapitän hatte Aussicht auf das Geld. Sehr natürlich, meine ich; aber was glauben Sie wohl, daß passirte? Sharpe Currie hat ihm dafür gethan! Im Original »has done him«: hat ihn angeführt. Wollte nicht sterben, Sir, bekam seine Leber wieder, und der Kapitän verlor die seinige. Das Seltsamste, was mir je vorkam! Und dann hieß der undankbare alte Nabob den Kapitän gehen, weil er, wie er sagte, ›es nicht ertragen könne, Invaliden um sich zu haben‹; und geht jetzt mit dem Heirathen um und wird ohne Zweifel Kinder dem Dutzend nach bekommen!«

Pfarrer. – »Es war in Deutschland, in einem der dortigen Bäder, wo Mr. Currie genas; und da er in seinem Egoismus an den Kapitän die unmenschliche Forderung stellte, zu gleicher Zeit mit ihm alle Brunnen durchzutrinken, so hat es sich so gefügt, daß das nämliche Wasser, welches Mr. Currie's Leber curirte, die des Kapitän Higginbotham zerstörte. Ein englischer homöopathischer Arzt, welcher sich damals dort aufhielt, brachte den Kapitän hier her und verspricht, ihm durch unendlich kleine Dosen, aus chemischen Bestandtheilen desselben Wassers bereitet, welches ihn krank machte, die Gesundheit wieder zu geben. Kann eine solche Theorie etwas für sich haben?«

Leonard. – »Ich kannte einmal einen sehr tüchtigen, obgleich excentrischen Homöopathen, und ich bin geneigt, zu glauben, daß an dem Systeme etwas ist. Mein Freund ging nach Deutschland; vielleicht ist es der nämliche, der den Kapitän behandelt. Darf ich fragen, wie er heißt?«

Squire. – »Vetter Barnabas nennt ihn nicht. Sie können ihn selbst fragen; denn hier sind seine Zimmer. Hören Sie, Pfarrer,« (mit schlauem Flüstern) »wenn eine kleine Dosis von dem, was den Kapitän krank machte, ihn wieder gesund machen soll, glauben Sie nicht, das geeignete Mittel wäre ein – Legat? Begriff des Erbrechts. Während ein Erbe das ganze Vermögen oder einen Teil davon erbt und insoweit Rechtsnachfolger wird, erhält der Vermächtnisnehmer in Form des Legats nur einen bestimmten Vermögensgegenstand aus dem Nachlass, ohne dass er gleichzeitig Rechtsnachfolger würde. Ha! ha!«

Pfarrer (versucht, nicht zu lachen). – »St! Squire. Arme Menschennatur! Wir müssen mit ihren Schwächen Nachsicht haben. Kommen Sie herein, Leonard.«

Leonard, der sich zu überzeugen wünschte, ob seine Vermuthung richtig sei und ihn der Zufall wieder mit Doktor Morgan zusammenführe, folgte mit seinen beiden Begleitern der Frau, welche »den Kapitän und seine Zimmer besorgte«, in ein kleines Vorzimmer, durch das sie zu dem Leidenden gelangten.


Drittes Kapitel.

Das kummervolle Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Kapitäns benahm dem Squire auf einmal jede Lust, seinen Vetter zum Gegenstand seiner Scherze zu machen.

»Recht gut von dir, daß du in die Stadt kommst, um nach mir zu sehen – recht gut von dir, Vetter, und auch von Ihnen, Mr. Dale. Wie herrlich Sie Beide aussehen. Ich bin ein trauriges Wrack. Sie könnten jede Rippe an meinem Leibe zählen.«

»Hazeldeaner Luft und Rostbeef werden dir bald wieder aufhelfen, mein Junge,« sagte der Squire freundlich. »Du warst ein großer Thor, zuerst Hazeldean und dann deine behaglichen Zimmer in dem Albany zu verlassen.«

»Sie sind behaglich, obgleich nicht prunkhaft,« sagte der Kapitän mit Thränen in den Augen. »Ich habe mein Möglichstes gethan, sie so herzurichten. Neue Teppiche – sogar dieser Stuhl hier (Maroquin) – diese japanesische Katze (hält geröstete Butterschnitten und Brödchen) – gerade als – gerade als –« (die Thränen ließen sich nicht länger zurückhalten, und der Kapitän schluchzte förmlich) – »gerade als mir dieser undankbare, hartherzige Mann schrieb, ›er sei – sei sterbend und allein in der Welt‹; und – und – wenn ich denke, was ich alles für ihn durchgemacht habe – und wie er mich behandelt hat! Vetter William, er ist so gesund geworden, wie du selbst, und – und –«

»Muth, Muth!« rief der teilnehmende Squire; »es ist ein sehr harter Fall, ich gebe es zu. Aber es ist eben auch schlimm, Jemand, wie man sagt, bei lebendigem Leibe beerben zu wollen; und für die Zukunft – ohne daß ich dir damit zu nahe treten möchte – meine ich, wenn du weniger auf die Lebern deiner Verwandten rechnen würdest, käme solches deiner eigenen zu gut. Nimm mir's nicht übel.«

»Vetter William,« versetzte der arme Kapitän; »gewiß, ich rechnete nie darauf; aber wenn du das Gesicht dieses hinterlistigen Mannes gesehen hättest – nichts als Haut und Knochen und dabei gelb wie eine Zitrone – und hättest an alles das durchgemacht, was ich durchgemacht habe, du würdest dich ebenso im innersten Herzen gekränkt fühlen, wie ich. Ich kann Undankbarkeit nicht ertragen. Ich konnte es nie. Aber lassen wir das Vergangene ruhen. Will dieser Gentleman einen Stuhl nehmen?«

Pfarrer. – »Mr. Fairfield war so freundlich, uns zu begleiten, weil er von der Homöopathie, welche Sie anwenden, etwas versteht und vielleicht Ihren Arzt kennt. Wie heißt derselbe?«

Kapitän (auf seine Uhr sehend). – »Dies erinnert mich –« (nimmt ein Kügelchen) »eine große Erleichterung, diese kleinen Pillen – nach den Arzneien, die ich diesem boshaften Manne zu Gefallen schlucken mußte. Immer versuchte er das von seinem Arzte umschriebene Zeug zuerst an mir. Aber es gibt eine andere Welt, und eine gerechtere!«

Mit diesem frommen Schlusse fing der Kapitän von Neuem an zu weinen.

»Hier ist's nicht richtig,« murmelte der Squire, mit dem Finger auf seine Stirne deutend. »Du scheinst da eine recht gewandte Pflegerin zu haben, Vetter Barnabas. Ich hoffe, sie ist heiter und lebhaft; und läßt es dich nicht so zu Herzen nehmen.«

»St! Sprich nicht von ihr. Durch und durch Miethling; alles Kriecherei! Solltest du es glauben? Ich gebe ihr wöchentlich zehn Schillinge und außerdem alle Butterschnitten und Brodreste, und ich hörte die falsche Person zu der Waschfrau sagen, ›es könne bei mir nicht mehr lange dauern, und sie habe – Aussichten.‹ Ah, Mr. Dale, wenn man an die Sündhaftigkeit dieser Welt denkt! Aber ich will nicht daran denken. Nein – ich will nicht. Sprechen wir von etwas Anderem. Sie frugen nach dem Namen meines Arztes? Es ist –«

Hier riß die Frau ›mit Aussichten‹ die Thüre auf und meldete plötzlich:

» Doktor Morgan!«


Viertes Kapitel.

Der Pfarrer sprang auf; ebenso Leonard.

Der Homöopath beachtete zuerst keinen von Beiden. Mit einer nachläßigen Verbeugung gegen die Besucher ging er gerade auf den Patienten los und frug: »Was machen die Symptome?«

Sogleich begann der Kapitän in jenem Tone zu sprechen, in welchem ein Schulknabe die Zahl der Schiffe im Homer hersagt. Er hatte die Symptome offenbar studirt und auswendig gelernt. Und es gab keinen Winkel, kein Eckchen in seiner anatomischen Organisation, soweit der Kapitän deren Bau kannte, aus welchem er nicht irgend ein Symptom hervorgezogen und an das Tageslicht gebracht hätte.

Der Squire horchte mit Entsetzen auf das Krankheitsverzeichniß, indem er bei jeder grauenhaften Pause murmelte:

»Gütiger Himmel! Grundgütiger Himmel! Was, noch mehr? Der Tod wäre da eine höchst glückliche Erlösung!«

Unterdessen hatte der Doktor dem Berichte mit musterhafter Geduld Aufmerksamkeit geschenkt, indem er sich auf den Blättern seiner Brieftasche die hervorragenden Punkte der Festung, die er hier belagerte, verzeichnete und dann, ein kleines Papierchen hervorholend, sagte:

»Vortrefflich – könnte nicht besser sein. Dies muß in acht Eßlöffeln voll Wasser aufgelöst werden. Ein Eßlöffel voll alle zwei Stunden.«

»Eßlöffel voll?«

»Eßlöffel voll.«

»›Könnte nicht besser sein,‹ sagten Sie, Sir?« wiederholte der Squire, sein Erstaunen über diese Versicherung, die sich auf des Kapitäns Beschreibung von seinen Leiden bezogen hatte, nicht länger verbergend – »›Könnte nicht besser sein?‹«

»Für die Diagnose, Sir!« versetzte Doktor Morgan.

»Für die Animosen Das englische Wort heißt »dogs noses« (Hundsnasen); im deutschen ist dieses Wortspiel nicht wiederzugeben. [ Anm.d.Übers. – Carl Kolb versucht sich mit »Dicknase« immerhin dem Wortspiel zu nähern.], wohl möglich! Aber für die Innenseite von Vetter Higginbotham, sollte man meinen, könnte es nicht schlimmer sein.«

»Sie sind im Irrthum, Sir; es ist nicht der Kapitän, der hier spricht – es ist seine Leber. Die Leber, Sir, ist, obschon ein edles, auch ein erfinderisches Organ und ergeht sich in den außerordentlichsten Fiktionen. Der Sitz der Poesie, der Liebe, der Eifersucht ist die Leber. Was sie sagt, darf man nie glauben. Sie haben keine Vorstellung davon, welche Lügnerin sie ist! Aber – ahem – ahem! Ich glaube, ich habe Sie schon früher gesehen, Sir. Ihr Name muß Hazeldean sein?«

»William Hazeldean, zu dienen, Doktor. Aber wo haben Sie mich gesehen?«

»Auf der Wahltribüne in Lansmere. Sie sprachen zu Gunsten Ihres ausgezeichneten Bruders, Mr. Egerton.«

»Der Henker hol's!« rief der Squire; »ich denke, es muß meine Leber gewesen sein, die dort gesprochen hat! Denn ich versprach den Wählern, dieser mein Halbbruder würde sich der Landwirthschaft annehmen; und nie m meinem Leben sagte ich eine größere Lüge!«

Der Patient, welcher sich jetzt seiner anderen Besuche erinnerte und mit einer Aufzählung der dem Squire widerfahrenen Unbilden und höchst wahrscheinlich auch der Einzelheiten seines Duells mit Kapitän Dashmore gelangweilt zu werden fürchtete, wandte sich mit einer matten Handbewegung um und sagte:

»Doktor, ein weiterer Freund von mir, Seine Ehrwürden Mr. Dale – und ein Gentleman, der mit der Homöopathie bekannt ist.«

»Dale? Was, noch mehr alte Freunde!« rief der Doktor sich erhebend; und der Pfarrer kam halb wiederstrebend aus der Fensterecke hervor, in welche er sich zurückgezogen hatte. Der Pfarrer und der Homöopath schüttelten sich die Hände.

»Wir haben uns einst bei einem sehr traurigen Anlaß getroffen,« sagte der Doktor mit Gefühl.

Der Pfarrer hielt den Finger an die Lippen und deutete mit den Augen auf Leonard; allein Doktor Morgan erkannte in der Gestalt vor ihm nicht eher den hageren, von Sorgen verzehrten Knaben, den er bei Mr. Prickett untergebracht hatte, als bis Leonard lächelte, und seine Stimme ihm jeden weiteren Zweifel benahm.

»Was! Und dies ist wirklich der Knabe!« rief Doktor Morgan, packte Leonard und schloß ihn stürmisch in seine Arme. Seine Aufregung über diese verschiedenen Ueberraschungen hatte aber einen solchen Grad erreicht, daß er plötzlich inne hielt, ein Kügelchen hervorzog und mit den Worten verschluckte: »Aconit – gut gegen Nervenerschütterungen.«

»Blitz!« sagte der Squire, nicht wenig erstaunt, »das ist der erste Doktor, den ich seine eigene Arznei hinunterschlucken sah! Es muß etwas daran sein.«

Der Kapitän, höchst unzufrieden, daß alle Aufmerksamkeit von seiner eigenen Person abgezogen wurde, frug jetzt mit klagender Stimme:

»Und wegen der Diät? Was soll ich zum Mittagessen bekommen?«

»Einen Freund!« sagte der Doktor, sich die Augen wischend.

»Alle Wetter!« rief der Squire, sich zurückziehend, »wollen Sie damit sagen, Sir, daß die britischen Gesetze (an denen freilich in letzter Zeit viel herumgedoktort worden) Ihnen gestatten, Ihre Patienten mit ihren Nebenmenschen zu verköstigen? Wahrhaftig, Pfarrer, das ist noch schlimmer, als die Eselswürste.«

»Sir‹« versetzte Doktor Morgan ernst, »ich will damit sagen, daß weniger darauf ankommt, was wir essen, als mit wem wir essen. Es ist besser, in Gesellschaft eines Freundes etwas zu viel thun, als die strengste Diät beobachten und allein essen. Sprechen und Lachen befördern die Verdauung und sind bei Leberleiden unentbehrlich. Ich zweifle nicht, Sir, daß es meines Patienten angenehme Gesellschaft war, welche dazu diente, seinen obstruktionskranken Verwandten, Mr. Sharpe Currie, wieder gesund zu machen.«

Der Kapitän stöhnte laut.

»Deßhalb, wenn einer der Gentlemen hier bleiben und mit Mr. Higginbotham speisen will, so wird dies die Wirkung der von mir angewandten Mittel sehr unterstützen.«

Der Kapitän sah mit flehendem Blicke zuerst auf seinen Vetter und dann auf den Pfarrer.

»Ich habe verabredet, mit meinem Sohne zu speisen – thut mir sehr leid,« sagte der Squire. »Aber Dale hier –«

»Wenn er so freundlich sein will,« ergänzte der Kapitän; »wir könnten uns den Abend mit einer Partie Whist verkürzen – zwei Blinde.«

Nun hatte sich der arme Mr. Dale längst darauf gefreut, in Gesellschaft eines alten Universitätsfreundes zu speisen und nicht mit zwei einfältigen, prosaischen Blinden, bei welchen man auf das Vergnügen, seinen Partner zu zanken, verzichten muß, zu spielen, sondern einen förmlichen regelrechten Rubber zu machen mit der angenehmen Aussicht, alle drei Mitspieler zu zanken. Da ihm aber sein ruhiges Leben verbot, in großen Dingen ein Held zu sein, so war er es in kleinen und nahm daher, allerdings mit einem ziemlich kläglichem Gesichte, die Einladung des Kapitäns an und versprach, sich um sechs Uhr zu Tische wieder einzufinden. Bis dahin mußte er die Stadt nach allen Enden durcheilen und sich von der früher genossenen Verabredung los machen. Er gab Leonard seine Karte mit der Adresse eines ruhigen Familienhotels und verabschiedete sich – wie es schien, von Doctor Morgan bei weitem nicht mehr so entzückt, wie vor diesem unwillkommenen Recepte. Auch der Squire, der ein neues Butterfaß zu besichtigen und für seine Harry verschiedene Aufträge zu besorgen hatte, ging seines Weges (übrigens nicht, ehe Doctor Morgan ihn versichert hatte, in wenigen Wochen werde der Kapitän ohne Gefahr nach Hazeldean gebracht werden können); und Leonard wollte eben folgen, als Mr. Morgan seinen Arm in den seines alten Schützlings legte und sagte:

»Ich muß noch ein Plauderstündchen mit Ihnen haben; und Sie müssen mir erzählen, wie es dem armen kleinen Mädchen gegangen ist.«

Leonard konnte dem Vergnügen nicht widerstehen, von Helene zu sprechen, und stieg in den Wagen des Homöopathen, welcher vor der Thüre auf ihn wartete.

»Ich bin im Begriffe, einige Meilen auf's Land hinaus zu fahren, um einen Patienten zu besuchen,« sagte der Doctor; »wir werden deßhalb ganz ungestört sein. Ich hätte so oft gerne gewußt, was aus Ihnen geworden ist. Da Prickett nichts von sich hören ließ, so schrieb ich ihm und erhielt eine Antwort, so trocken wie ein Stück Brod – von seinem Erben. Armer Bursche! Ich fand, daß er seine Kügelchen vernachlässigt und die Erdkugel verlassen hatte. Ach, pulvis et umbra sumus! Staub und Schatten sind wir. (Nach Horaz, Oden IV, 7) Ich konnte nichts über Sie erfahren. Pricketts Nachfolger erklärte, er wisse nichts von Ihnen. Ich hoffte das Beste; denn ich bildete mir immer ein, Sie gehörten zu denjenigen Menschen, welche auf die Beine fallen – gallig nervöses Temperament. Solche Menschen haben in ihren Unternehmungen Glück, besonders wenn sie bei jeder Ueberreizung einen Löffel voll Chamomilla nehmen. So, und jetzt zu Ihrer und des kleinen Mädchens Geschichte – nettes kleines Ding – sah nie eine Constitution, die empfänglicher und geeigneter gewesen wäre – für Pulsatilla.«

Leonard erzählte kurz seine Kämpfe und Erfolge und benachrichtigte den guten Doctor, wie sie endlich den Edelmann entdeckt hätten, auf welchen der arme Kapitän Digby sein Vertrauen gesetzt und wie derselbe dieses Vertrauen durch seine Sorgfalt für die Waise vollkommen gerechtfertigt habe.

Doctor Morgan blickte erstaunt auf, als er Lord L'Estrange's Namen hörte.

»Ich erinnere mich seiner recht gut,« sagte er, »als ich noch in Lansmere die mörderische Allopathenpraxis trieb. Aber wenn ich mir hätte denken sollen, daß dieser wilde Knabe, voll Launen, voll Leben und Geist so gesetzt werden würde, um für dieses liebe kleine Mädchen mit seinen schüchternen Augen und Pulsatillaorganen den Vormund abzugeben! Wahrhaftig, die Zeit der Wunder ist noch nicht vorüber. Und mit Ihnen hat er auch Freundschaft geflossen, sagen Sie. Ah, er kennt Ihre Familie.«

»So behauptet er. Glauben Sie wohl, Sir, daß er je – meine Mutter gesehen hat?«

»He? Ihre Mutter? Nora?« rief der Doctor rasch. Dann schien plötzlich ein Gedanke in ihm aufzusteigen, seine Stirne zog sich zusammen, und er blieb einige Momente schweigend und nachdenklich, bis er Leonards Augen ernst und unverwandt auf sich gerichtet sah und jetzt die gestellte Frage dahin beantwortete:

»Ohne Zweifel hat er sie gesehen; sie wurde in Lady Lansmere's Hause erzogen. Sagte er Ihnen das nicht?«

»Nein.« Ein unbestimmter Verdacht durchzuckte Leonard, verschwand aber eben so schnell wieder. Sein Vater! Unmöglich! Sein Vater mußte seine verstorbene Mutter mit Ueberlegung in's Unglück gestürzt haben. Und war Harley L'Estrange einer solchen Handlungsweise fähig? Und wäre er Harley's Sohn gewesen, hätte es nicht Harley auf der Stelle errathen, ihn sofort anerkannt und seine Rechte an ihn geltend gemacht? Ueberdies sah Lord L'Estrange so jung aus; – alt genug, um Leonards Vater zu sein? Er konnte dem Gedanken nicht Raum geben. Er raffte sich auf und sagte stotternd:

»Sie theilten mir mit, Sie wüßten den Namen meines Vaters nicht.«

»Und ich sagte Ihnen die Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen.«

»Bei Ihrer Ehre, Sir?«

»Bei meiner Ehre, ich weiß ihn nicht.«

Das Gespräch stockte. Der Wagen hatte längst London verlassen und fuhr auf einer Landstraße hin, die nicht sehr besucht war und zu beiden Seiten weniger Häuser hatte, als andere, auf welchen man zu der ungeheuern Hauptstadt gelangt. Leonard sah gedankenvoll zum Fenster hinaus, und die Gegenstände, die sich seinem Blicke darboten, nahmen nach und nach eine bekannte Färbung an. Ja, es war die Straße, auf welcher er sich zum ersten Male London genähert hatte – Hand in Hand mit Helene – die Hoffnung so geschäftig in seinem Dichterherzen! Er seufzte tief. Er dachte, wie gerne er auf alles Errungene verzichten würde – auf Unabhängigkeit, Ruhm, alles – um nur wieder den Druck jener zarten Hand zu fühlen – wieder der einzige Beschützer dieses jungen Lebens zu sein.

Des Doctors Stimme unterbrach seine Träumerei.

»Ich gehe eben zu einem sehr interessanten Patienten – die Magenhäute ganz zerstört, Sir – Mann von großer Gelehrsamkeit mit einem sehr entzündeten kleinen Gehirn. Ich kann ihm nicht viel nützen, und er schadet mir ein gut Theil.«

»In wie ferne schaden?« frug Leonard, sich zu irgend einer Erwiderung zwingend.

»Trifft mich mitten in's Herz und macht meine Augen naß – sehr tragischer Fall – großartiges Geschöpf, das sich selbst weggeworfen hat. Fand ihn von den Allopathen aufgegeben, mit dem delirium tremens in hohem Grabe behaftet – stellte ihn für eine Weile wieder her – faßte große Zuneigung zu ihm – konnte nicht anders – schluckte eine Menge Kügelchen hinunter, um mich hart gegen ihn zu machen – half nichts – brachte ihn nach England herüber mit den andern Patienten, die mich Alle gut bezahlen (außer Kapitän Higginbotham). Aber dieser arme Bursche zahlt mir nichts – kostet mich viel Zeit und Chausseegeld und Verpflegung und Wohnung. Gottlob, ich bin ein Junggeselle und kann es erschwingen! Mein Junge, alle die andern Patienten könnten mir zu den Allopathen gehen, wenn ich nur diesen armen, dicken, fürstlichen Burschen retten könnte. Aber was kann man mit einem Magen anfangen, an dessen Haut nicht Ein guter Fetzen mehr ist? Halt –« (der Doctor zog die Schnur) »Hier ist die Anhöhe, ich steige jetzt aus und gehe über die Felder.«

Diese Anhöhe –– diese Felder – mit welcher Deutlichkeit erinnerte sich Leonard derselben. Ach, wo war Helene? Würde sie wohl je, je wieder sein kindlicher Engel sein?

»Ich will mit Ihnen gehen, wenn Sie erlauben,« sagte er zu dem guten Doctor. »Und während Sie Ihren Krankenbesuch machen, will ich nach einem kleinen Bache sehen, der hier herum sein muß.«

»Der Brent – Sie kennen diesen Bach? Ah, Sie sollten meinen armen Patienten davon sprechen hören, und von den Stunden, die er damit zugebracht hat, darin zu angeln – Sie würden nicht wissen, ob Sie lachen oder weinen sollen. Gleich am ersten Tage, als er in diese Gegend gebracht worden war, wollte er ausgehen und noch einmal einen Versuch machen, wie er sagte, mit seinem alten hinterlistigen Dämon – einem einäugigen Barsch.«

»Himmel!« rief Leonard, »sprechen Sie von John Burley?«

»Allerdings, so heißt er – John Burley.«

»O, ist es dahin gekommen? Heilen Sie ihn, retten Sie ihn, wenn es in menschlicher Macht steht. In den letzten zwei Jahren, seit ich eigenes Geld und eine eigene Heimath habe, suchte ich seine Spur überall und vergebens. Armer, irrender, herrlicher Burley! Nehmen Sie mich mit zu ihm. Sagten Sie, es sei keine Hoffnung mehr vorhanden?«

»Das sagte ich nicht,« versetzte der Doctor. »Aber die Kunst kann nur die Natur unterstützen; und obgleich die Natur fortwährend daran arbeitet, das Unrecht, welches wir ihr zufügen, wieder gut zu machen, so geräth sie eben doch, wenn die Häute eines Magens alle fort sind, in Verlegenheit, und ich ebenso. Sie müssen mir ein anderes Mal erzählen, wie Sie dazu kamen, Burley kennen zu lernen; denn hier sind wir an seinem Hause, und ich sehe ihn am Fenster auf mich warten.«

Der Doctor öffnete die Gartenpforte zu der stillen Hütte, in welche sich der arme Burley aus der reinen Nähe von Leonards kindlichem Engel geflüchtet hatte. Mit schwerem Schritte und schwerem, kummervollem Herzen folgte Leonard, um das Wrack desjenigen zu sehen, dessen Witz die Orgie verherrlicht und »das tolle Jauchzen des ganzen Tisches hervorgerufen« hatte. – Ach, armer Yorick! Yorick ist Ich-Erzähler und Alter Ego des Autors in A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) von Laurence Sterne, der auch an labiler Gesundheit litt und sich eben deshalb auf diese Reise begab.


Fünftes Kapitel.

Audley Egerton steht allein an seinem Herde. In der kurzen Zwischenzeit, seit wir ihn zum letzten Mal gesehen, haben sich in der englischen Geschichte denkwürdige Ereignisse zugetragen, mit welchen eine Erzählung nichts zu thun hat, worin alle Parteipolitik vermieden ist, selbst wenn es sich um politische Charaktere handelt.

Die neuen Minister hatten das Programm ihrer Politik ausgegeben und insbesondere jene Maßregel beantragt, durch welche sie so rasch auf die schwindelnde Höhe der Volksgunst erhoben wurden. Allein es zeigte sich bald, daß diese Maßregel nicht ohne eine wiederholte Berufung an das Volk durchgeführt werden konnte. Eine Auflösung des Parlaments war, wie Audley's erfahrener Scharfsinn vorausgesehen hatte, unvermeidlich. Und Audley Egerton hatte keine Aussicht, für die große Handelsstadt, deren Namen mit dem seinigen identisch war, von Neuem den früheren Platz einzunehmen. Ein trauriges, aber nicht seltenes Beispiel von der Wandelbarkeit eben jener Volksgunst, deren sich jetzt seine Nachfolger erfreuten. Das große Mitglied der Gemeinen, der gewaltige Redner, der gewiegte Geschäftsmann, der Staatsmann, der als der Typus des ruhigen, praktischen Verstandes galt, für welchen unsere Mittelklasse berühmt ist – er, der vor noch nicht drei Jahren unter den größten Korporationen des Königreiches die ehrenvolle Wahl gehabt hätte – er, Audley Egerton, kannte keine einzige (von Privatinteressen unberührt gebliebene) Stadt, in welcher nicht der unbedeutendste Kandidat, der sich für die neue populäre Maßregel heiser schrie, ihn vollständig geschlagen haben würde. Wo wäre eine Wahltribüne zu finden gewesen, auf welcher nicht diese ernste, tönende Stimme, die so oft das Geschrei der Parteien zum Schweigen gebracht hatte, durch das Gebrüll des übermüthigen Pöbels erstickt worden wäre?

Allerdings existirten noch die sogenannten geschlossenen Wahlbezirke Close borough: ein Wahlbezirk, der ein Parlamentmitglied entsenden kann, dessen Nominierung in der Hand einer einzelnen Person, eines Großgrundbesitzers, liegt. – Wir haben es hier mit den Verhältnissen vor der Wahlrechtsreform von 1832 zu tun., allerdings wäre mancher Parteiführer nur zu stolz auf die Ehre gewesen, Audley Egerton seinen Auserwählten nennen zu dürfen. Aber dieser Gegensatz zu seiner früheren Stellung sagte dem stolzen Sinne des Exministers nicht zu. Und als Inhaber eines der Sitze, welche beim Volk am anrüchigsten waren, gegen eine populäre Maßregel anzukämpfen – einen solchen Posten in der großen Armee der Parteien einzunehmen, widerstrebte seiner Würde, wie seinem ganzen Wesen und Charakter. Und wenn vielleicht in wenigen Monaten diese Sitze verschwanden – wenn sie in der Parlamentsliste gestrichen wurden – was war dann mit ihm?

Ueberdies hatte Egerton jetzt, nachdem seine Hände nicht mehr durch Rücksichten auf eine am Ruder stehende gleichgesinnte Partei gebunden waren, keineswegs den Wunsch, der Auserwählte Anderer zu sein, er wollte wenigstens frei und allein auf dem Boden der von ihm geleisteten Dienste stehen, sich nur von seiner eigenen Einsicht leiten lassen und kein Gesetz für seine Handlungen anerkennen, als seine strengen Rechtsbegriffe und sein tapferes englisches Herz. Deßhalb waren alle Anerbietungen Solcher, welche noch Parlamentssitze zu vergeben hatten, von ihm abgelehnt worden. Diejenigen Sitze, die mit schwerem Gelde erkauft werden mußten, standen ihm noch offen. Und die von Levy entlehnten fünftausend Pfund lagen noch Unberührt da.

Für diesen einsamen öffentlichen Mann war das öffentliche Leben, wie wir gesehen haben, alles in allem. Aber jetzt war es mehr als je für ihn eine Existenzfrage. Rings um ihn gähnte der Ruin. Er wußte, daß es in Levy's Macht stand, jeden Augenblick seine verpfändeten Güter mit Beschlag belegen und die Wechsel und Verschreibungen aus ihren Rosenholzverstecken, die sich längs der verhängnißvollen Wände des glatten Wucherers hinzogen, herauswandern zu lassen – ja sogar auf das Haus, in welchem sich jetzt der ganze Pomp eines, mit der valetaille Domestiken, Hausangestellte. von Herzogen wetteifernden Gefolges bewegte, die Hand zu legen und »den kostbaren Hausrath des sehr ehrenwerthen Audley Egerton« im Executionswege zum öffentlichen Aufstreich zu bringen.

Aber seine vollendete Weltkenntniß gab Egerton die Beruhigung, daß Levy zu solchen Maßregeln gegen ihn nicht greifen werde, so lange er in dem Vordertreffen des politischen Krieges eine hervorragende Rolle spielen, so lange er die volle Möglichkeit vor sich sehen würde, wieder zur Macht, vielleicht zu einer höheren Macht, als vorher – vielleicht zur höchsten nach dem Throne – zu gelangen.

Daß Levy, dessen Haß er ahnte, obschon er dessen Gründe nicht alle kannte, bis jetzt einen Besuch, ja sogar eine Drohung verschoben hatte, war ihm ein Zeichen, daß Levy ihn immer noch zu denjenigen rechnete, welchen »geholfen werden müsse«, oder die wenigstens zu mächtig seien, um zermalmt zu werden.

Wenn er sich seine Stellung im Parlamente nur noch Ein weiteres Jahr unerschüttert und frei von allen Fesseln erhielt, konnten sich ja später neue Parteicombinationen bilden, ein neuer Umschwung in der öffentlichen Meinung stattfinden! Und die Hand auf das Herz gedrückt murmelte der strenge Mann vor sich hin:

»Wo nicht, so verlange ich nur, im Harnisch zu sterben und meine Armuth vor den Menschen so lange zu verbergen, bis ich nichts mehr von meinem Vaterlande brauche, als ein Grab.«

Kaum waren diese Worte seinen Lippen entflohen, als ein zweimaliges Pochen an der Hausthüre ertönte. Einen Augenblick nachher trat Harley ein, und zu gleicher Zeit näherte sich der dienstthuende Bediente Audley und meldete Baron Levy.

»Bitte den Baron, zu warten, wofern er es nicht vorziehen sollte, eine andere Stunde für seinen Besuch zu bestimmen,« antwortete Egerton, während er unmerklich die Farbe wechselte. »Du kannst sagen, Lord L'Estrange sei bei mir.«

»Ich hatte gehofft, du seiest mit diesem Verführer der Jugend für immer fertig,« sagte Harley, sobald sich der Kammerdiener entfernt hatte. »Ich erinnere mich, daß du in den lustigen Jahren, als die Zeit des Austobens noch nicht vorüber war, dich nur zu viel mit ihm abgegeben hast; aber jetzt kannst du doch gewiß keines Anlehens mehr benöthigt sein; und wäre es je der Fall – ist nicht Harley L'Estrange an deiner Seite?«

Egerton. – »Mein lieber Harley! Ohne Zweifel kommt er nur, um mit mir wegen irgend eines Wahlfleckens zu sprechen. Er hat viel mit dergleichen zartem Handel zu thun.«

Harley. – »Und ich komme in der gleichen Absicht und nehme mein Vorrecht in Anspruch. Ich erfahre nicht nur aus dem Munde der Leute, sondern auch aus den Zeitungen, daß Josiah Jenkins, Esquire, der bei seinen Reden bekanntlich nie ein H ausspricht, und der junge Lord Willoughby Whiggolin Engl. wiggle: wackeln, zucken, schlängeln., den man eben zum Lord der Admiralität gemacht hat, weil seine Gesundheit für die Armee zu zart ist, sichere Aussicht haben, in der Stadt gewählt zu werden, deren Vertretung du und dein gegenwärtiger College ebenso sicher aufgeben werden. Dies ist richtig, nicht wahr?«

Egerton. – »Mein altes Comite stimmt jetzt für Jenkins und Whiggolin; und vermutlich wird es dort nicht einmal einen Wahlkampf geben. Fahre fort.«

»Deßhalb sind mein Vater und ich übereingekommen, daß du dich aus alter Freundschaft herablassen mußt, noch einmal Vertreter von Lansmere zu werden!«

»Harley,« rief Egerton – und seine Wange wurde weit blässer, als bei der Meldung von Levy's unheilverkündendem Besuche – »Harley – nein, nein!«

»Nein? Aber warum? Woher diese Aufregung?« frug L'Estrange überrascht.

Audley blieb stumm.

Harley. – »Ich sprach mit einigen der früheren Minister darüber. Sie alle rathen dir, den Vorschlag nicht zu verwerfen. Für's Erste, wenn du die Stadt, um deren willen du Lansmere aufgegeben hast, nicht länger vertreten willst, was ist natürlicher, als daß du auf den früheren Sitz zurückgreifst? Fürs Zweite ist Lansmere weder ein anrüchiger Bezirk, der um Geld zu haben wäre, noch ein sogenannter geschlossener Wahlbezirk, dessen Stimmen von einem einzigen Manne abhängen. Es ist eine ziemlich große Korporation. Mein Vater hat allerdings beträchtlichen Einfluß darin, aber nur, was man den gesetzlichen Einfluß des Grundbesitzers nennt. Jedenfalls ist es sicherer, als ein Kampf um eine größere Stadt, und ehrenvoller, als die Vertretung einer kleineren. Noch immer zauderst du? Selbst meine Mutter dringt in mich, dir zu sagen, wie sehr sie wünsche, daß du diese Beziehungen wieder aufnehmen mögest.«

»Harley,« rief Egerton abermals und richtete seine Augen, die, wenn sie in Folge von Aufregung ihre Strenge verloren, wunderbar schön in ihrem Ausdruck waren, auf des Freundes ernstes Antlitz – »Harley, wenn du nur in diesem Augenblicke in meinem Herzen lesen könntest, du würdest –« Die Stimme versagte ihm, und er ließ sein stolzes Haupt sanft auf Harley's Schulter sinken, während er die Hand, die er gefaßt hatte, krampfhaft fester und fester umschlang – »Harley, wenn ich je deine Liebe, deine Freundschaft verlieren sollte! – Nichts sonst ist mir aus der Welt geblieben.«

»Audley, mein lieber, lieber Audley, bist du es, der so zu mir sprichst? Du, mein Schulfreund, der Vertraute meines Lebens – du?«

»Ich bin sehr schwach und thöricht geworden,« sagte Egerton, indem er zu lächeln versuchte. »Ich kenne mich selbst nicht mehr – ich, den du so oft den ›Stoiker‹ genannt und mit dem eisernen Manne in jenem Gedichte verglichen hast, welches du an dem Flußufer in Eton zu lesen pflegtest.«

»Aber selbst damals, mein Audley, wußte ich, daß ein warmes, menschliches Herz kräftig unter den eisernen Rippen schlug, was du auch thun mochtest, es niederzukämpfen. Und ich wundere mich jetzt oft bei dem Gedanken, daß du so frei von allen wilderen Leidenschaften durch das Leben gegangen bist. Glücklicher so!«

Egerton, der sein Gesicht abgewandt hatte, blieb einige Augenblicke stumm, dann suchte er das Gespräch auf etwas Anderes zu lenken und raffte sich zu der Frage auf, in wie weit Harley bei seinem Plan mit Beatrice und bei seiner Beobachtung des Grafen vom Erfolg begünstigt worden sei.

»Was Peschiera betrifft,« antwortete Harley, »so glaube ich, daß wir die Gefahr, die uns von ihm droht, überschätzt haben, und daß seine Wette nur eine leere Prahlerei war. Er verhält sich ganz ruhig und scheint dem Spiele ergeben. Seine Schwester hat mir und meinem jungen Bundesgenossen die letzten Paar Tage ihre Thüre verschlossen. Ich fürchte beinahe, daß sie ihm ungeachtet meiner sehr weisen Warnungen den Dichterkopf berückte, und daß entweder seine unvorsichtige Bewunderung eine geringschätzende Zurückweisung erfahren, oder daß er selbst die Gefahr bemerkt hat und sich ihr nicht mehr aussetzen will; denn er ist ungemein verlegen, so oft ich auf Beatrice zu sprechen komme. Wenn aber der Graf keine Besorgnisse einflößt, dann brauchen wir auch seine Schwester nicht; und ich hoffe noch vermittelst der gewöhnlichen Kanäle für meinen italienischen Freund Gerechtigkeit zu erlangen. Ich habe mir einen Verbündeten in einem jungen östreichischen Fürsten gewonnen, der sich gegenwärtig in London aufhält und mir versprochen hat, mit seinem ganzen Einfluß eine Denkschrift zu unterstützen, die ich nach Wien befördern werde. Apropos, mein lieber Audley, jetzt, da du ein wenig Zeit zum Ausruhen hast, mußt du mir eine Stunde bestimmen, in welcher ich dir meinen jungen Dichter – den Sohn ihrer Schwester – vorstellen darf. Zuweilen hat der Ausdruck seine Züge so viel Aehnlichkeit mit den ihrigen.«

»Ja, ja,« erwiderte Egerton schnell, »ich will ihn sehen, da du es wünschest, aber später. Die Zeit des Ausruhens, von der du sprichst, ist für mich noch nicht angebrochen; aber du sagst, es gehe ihm gut, und mit deiner Freundschaft ist er seines Glückes sicher. Ich freue mich, dies denken zu dürfen.«

»Und dein protégé, dieser Randal Leslie, gegen den du bei mir keinen Widerwillen aufkommen lassen willst – schwere Aufgabe! – wofür hat er sich entschieden?«

»Leib' und Freud' mit mir zu theilen. Harley, wenn es dem Himmel gefallen sollte, es mich nicht erleben zu lassen, daß ich wieder zur Macht komme und diesem jungen Manne eine passende Versorgung verschaffe, so vergiß nicht, daß er im Unglück bei mir ausgehalten hat.«

»Wenn er dies noch immer thut, so werde ich es nie vergessen. Vergessen will ich nur alles Dasjenige, was mich jetzt an ihm zweifeln macht. Aber du sprichst von nicht erleben, Audley! Pah! Wer dich sieht, würde dir ein Alter von achtzig Jahren prophezeien.«

»Es war nur eine jener allgemeinen Redensarten, die man so oft von menschlichen Lippen hört. Und jetzt lebe wohl – ich muß diesen Baron sehen.«

»Noch nicht – du mußt mir vorher versprechen, daß du meinen Vorschlag annimmst und noch einmal Lansmere vertrittst. St! Schüttle nicht den Kopf. Ich kann mich nicht abweisen lassen. Unter Berufung auf unsere Freundschaft fordere ich dein Versprechen und fühle mich ernstlich gekränkt, wenn du dich noch länger besinnst.«

»Gut, gut – ich weiß nicht, wie ich es dir abschlagen soll, Harley; aber du selbst warst noch nicht in Lansmere seit – seit jenem traurigen Ereigniß. Du mußt nicht alte Wunden aufreißen – du mußt nicht hingehen; und – und ich gestehe dir, Harley, die Erinnerung daran schmerzt sogar mich. Ich ginge lieber nicht nach Lansmere.«

»Ah, mein Freund, das ist ein Uebermaß von Sympathie, und ich darf nicht darauf hören. Ich fange an, meine eigene Schwäche zu tadeln und zu fühlen, daß wir kein Recht haben, uns zu weichlichen Sklaven der Vergangenheit zu machen.«

»Du kommst mir in letzter Zeit verändert vor,« rief Egerton plötzlich mit einem Zug der Freude im Gesichte. »Sage mir, daß dich der Gedanke an deine neuen Bande glücklich macht – daß ich es erleben werde, dich noch einmal deinem früheren Selbst zurückgegeben zu sehen.«

»Alles, was ich dir darauf antworten kann, Audley,« sagte L'Estrange mit gedankenvoller Stirne, »ist, daß du in Einem Punkte Recht hast – ich bin verändert und ringe nach Kraft, der Pflicht und Ehre zu genügen. Adieu! Ich werde meinem Vater sagen, daß du unsere Wünsche erfüllst.«


Sechstes Kapitel.

Kaum war Harley's Gestalt verschwunden, als Egerton in seinen Stuhl zurücksank, während sich in den abgespannten Linien seines Gesichtes die äußerste körperliche und geistige Erschöpfung kundgab.

»Wieder an diesen Ort zurückkehren – dorthin – dorthin – wo – Muth, Muth – was ist Eine Qual weiter?«

Er erhob sich mit Anstrengung und schritt, die Arme fest über der Brust gekreuzt, langsam in dem großen, traurigen, einsamen Zimmer auf und ab. Allmälig erlangten seine Züge wieder die gewohnte kalte und ernste Fassung – das unerforschliche Auge, die behutsamen Lippen, die stolze, gesammelte Stirne. Der Mann der Welt war wieder er selbst.

»Jetzt heißt es, Zeit gewinnen und den Wucherer irre führen,« murmelte Egerton in jenem leisen Tone ruhiger Verachtung, der von dem Bewußtsein überlegener Macht und sicherer Herrschaft über feindliche Naturen zeugt. Er läutete. Der Diener erschien.

»Ist Baron Levy noch da?«

»Ja, Sir.«

»Laß ihn vor.«

Levy trat ein.

»Ich bitte um Entschuldigung, Levy,« sagte der Exminister, »daß ich Sie so lange warten ließ. Ich stehe jetzt zu Ihren Diensten.«

»Mein lieber Junge,« erwiderte der Baron, »keine Entschuldigungen zwischen so alten Freunden, wie wir; und ich fürchte, mein Geschäft ist nicht so angenehmer Natur, daß Sie ungeduldig werden sollten, es zu verhandeln.«

Egerton (mit vollkommener Fassung). – »Ich muß hieraus entnehmen, daß Sie unsere Rechnungen zum Abschluß zu bringen wünschen. Wann Sie wollen, Levy.«

Baron (verwirrt und überrascht). – Peste! mon cher, Sie nehmen die Dinge kühl. Aber wenn unsere Rechnungen abgeflossen sind, so fürchte ich, werden Sie nur wenig zum Leben übrig haben.«

Egerton. – »Ich kann künftig von meinem Einkommen als Kabinetsminister leben.«

Baron. – »Möglich, aber Sie sind nicht mehr Kabinetsminister.«

Egerton. – »Sie haben nie gefunden, daß ich mich in einer politischen Prophezeiung getäuscht hätte. Innerhalb zwölf Monaten werde ich, soferne ich noch das Leben habe, wieder im Amte sein. Wenn es Ihnen gleichgültig ist, so möchte ich lieber diesen Zeitpunkt abwarten und Ihnen dann meine Ländereien und dieses Haus förmlich und auf gütlichem Wege abtreten. Gestatten Sie mir diese Frist, so können sich unsere Beziehungen ohne éclat und ohne vielen Lärmen lösen, was Ihnen Gehässigkeit und mir Unannehmlichkeiten ersparen würde. Paßt Ihnen aber dieser Aufschub nicht, so will ich einen Rechtsbeistand nehmen, der Ihre Rechnungen prüfen und meine Befindlichkeiten fest stellen soll.«

Baron (mit sich selbst redend). – »Dies gefällt mir nicht. Einen Rechtsbeistand! Der könnte unbequem werden.«

Egerton (den Baron mit einem Kräuseln der Lippen betrachtend). – »Nun, Levy, wie soll es gehalten werden?«

Baron. – »Sie wissen, mein lieber Junge, es liegt nicht in meinem Charakter, gegen irgend Jemand hart zu sein, am allerwenigsten gegen einen alten Freund. Und wenn Sie wirklich für Ihren Wiedereintritt in das Kabinet Aussicht zu haben glauben, wobei, wie sie begreifen, ein esclandre Skandal. im Punkte Ihrer Privatangelegenheiten von Nachtheil sein könnte, nun, so wollen wir sehen, ob wir die Sache in Güte abmachen können. Aber vor allem, mon cher, müssen Sie, um Minister zu werden, wenigstens einen Sitz im Parlamente haben; und, entschuldigen Sie die Frage, wie zum Teufel wollen Sie einen solchen finden?«

Egerton. – »Er ist gefunden.«

Baron. »Ah, ich vergaß die fünftausend Pfund, die Sie kürzlich entlehnten.«

Egerton. – »Nein, diese Summe habe ich zu einem anderen Zwecke bestimmt.«

Baron (mit erzwungenem Lachen). – »Vielleicht zu ihrer eigenen Vertheidigung gegen die Schritte, die Sie von mir befürchten?«

Egerton. – »Sie sind im Irrthum. Um aber ihren Argwohn zu zerstreuen, erkläre ich Ihnen Folgendes. Da jede Summe, die ich zu Versicherung meines Lebens benützen wollte, für früher contrahirte Schulden haften und nach meinem Tode auf Sie, als meinem einzigen Gläubiger, übergehen würde, da ich ferner zweifle, ob überhaupt irgend eine Bank meine Versicherung anzunehmen geneigt wäre, so soll mir dieses Geld zur Erleichterung meines Gewissens dienen. Ich beabsichtige, es noch bei meinen Lebzeiten dem Verwandten meiner verstorbenen Frau, Randal Leslie, auszufolgen. Und nur der Wunsch, das zu thun, was ich für einen Act der Gerechtigkeit halte, hat mich vermocht, aus den Händen von Harley L'Estrange eine Gunst anzunehmen und wieder Vertreter von Lansmere zu werden.«

Baron. – »Ha! – Lansmere! – Sie wollen sich um den Sitz von Lansmere bewerben?«

Egerton (mit gepreßter Stimme). – »Ich habe im Sinne, dies zu thun.«

Baron. – »Ich glaube, Sie werden auf Widerstand stoßen, sogar einen scharfen Kampf zu bestehen haben.Vielleicht setzen Sie Ihre Wahl nicht einmal durch.«

Egerton. – »In diesem Falle ergebe ich mich in das Unvermeidliche, und Sie können meine Güter mit Beschlag belegen lassen.«

Baron (mit gerötheter Stirne). – »Hören Sie, Egerton, es würde mich überglücklich machen, Ihnen eine Gunst erweisen zu dürfen.«

Egerton (mit Würde). – »Gunst! Nein, Baron Levy, ich verlange von Ihnen keine Gunst. Geben Sie jeden solchen Gedanken auf. Es handelt sich auf beiden Seiten lediglich um Geschäftsrücksichten. Wenn Sie es für besser halten, daß wir unsere Rechnungen sofort bereinigen, so wird sie mein Advokat prüfen. Sind Sie mit dem Aufschub einverstanden, um den ich nachsuche, so wird Sie mein Advokat nicht belästigen, und alles, was ich habe, geht unbestritten in Ihre Hände über, außer – die Hoffnung und mein guter Ruf.«

Baron. – »Unbeugsam und stolz! Gunst oder nicht – nehmen Sie es, wie Sie wollen – ich bewillige Ihre Bitte, vorausgesetzt für's Erste, daß Sie mir gestatten, eine neue Urkunde aufzusetzen, welche den Sie betreffenden Theil des Vertrags enthalten wird; und zweitens, daß wir an den vorgeschlagenen Aufschub die Bedingung Ihrer Wiedererwählung knüpfen.«

Egerton. – »Zugestanden. Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«

Baron. – »Nichts, außer daß ich, wenn Sie noch mehr Geld brauchen, nach wie vor zu Ihren Diensten stehe.«

Egerton. – »Ich danke Ihnen. Nein, ich bin außer Ihnen Niemand etwas schuldig. Mein Austritt aus dem Amte wird mir einen Grund an die Hand geben, meinen Haushalt einzuschränken. Ich habe bereits die Berechnung gemacht und für die bis zu der bezeichneten Zeit benöthigten Unterhaltsmittel gesorgt, und ich werde keine Veranlassung haben, die fünftausend Pfund, die mir noch bleiben, anzugreifen.«

»Ihr junger Freund, Mr. Leslie, darf Ihnen recht dankbar sein,« sagte der Baron, sich erhebend. »Ich bin mit ihm in der Welt zusammen getroffen – ein viel versprechender, höchst talentvoller Jüngling. Sie sollten es versuchen, ihn gleichfalls in das Parlament zu bringen.«

Egerton (nachdenklich). – »Sie verstehen praktische Fähigkeiten und Verdienste hinsichtlich etwaigen Erfolgs in der Welt richtig zu beurtheilen. Glauben Sie wirklich Randal Leslie für das öffentliche Leben, für eine parlamentarische Laufbahn geschaffen?«

Baron. – »Allerdings.«

Egerton (mehr zu sich selbst als zu Levy). – »Parlament ohne Vermögen – eine starke Versuchung. Indessen ist er klug, enthaltsam, thatkräftig, ausdauernd; und wenn er unter meinem Schutz und Rath den Anfang macht, so könnte er sich eine Stellung über seine Jahre gründen.«

Baron. – »Soeben kommt mir der Gedanke, daß wir ihn möglicher Weise in das nächste Parlament bringen könnten – oder, da dieses voraussichtlich nicht lange beisammen sein wird, auf jeden Fall in das übernächste – nicht für einen der Bezirke, die wahrscheinlich gestrichen werden, sondern für einen ständigen Sitz und ohne Kosten.«

Egerton. – »Ja, und wie?«

Baron. – »Geben Sie mir einige Tage zum Ueberlegen. Ich will wieder vorsprechen, wenn ich es ausführbar finde. Guten Tag, Egerton, und Glück zu Ihrer Wahl in Lansmere.«


Siebentes Kapitel.

Peschiera war nicht so unthätig geblieben, wie es Harley und wohl auch dem Leser geschienen. Im Gegentheil hatte er den Weg zur Verwirklichung seines letzten Planes mit der ganzen Geschicklichkeit und rücksichtslosen Entschlossenheit seines Wesens angebahnt.

Seine Absicht war, Riccabocca's Zustimmung zu seiner Verbindung mit Violante zu erzwingen oder, wenn dies fehlschlagen sollte, jede Aussicht auf Begnadigung seines Verwandten zu vernichten. Ruhig und heimlich hatte er unter den bedürftigsten und gewissenlosesten seiner eigenen Landsleute Diejenigen ausgesucht, welche er nötigenfalls als Zeugen dafür benützen konnte, daß sich Riccabocca noch immer bei Anschlägen und Verschwörungen gegen die österreichische Regierung betheilige. Seine frühere Verbindung mit den Carbonari ermöglichte ihm die Auffindung ihrer Spur in den Schlupfwinkeln London's und seine Kenntniß der Charaktere, mit welchen er zu thun hatte, befähigte ihn vortrefflich zu seinem schändlichen Unternehmen.

Auf diese Weise hatte er bereits Zeugen genug für seine Zwecke zusammen gebracht, indem er die Mängel in der Qualität derselben durch deren Quantität ersetzte. Auch Randal's Bewegungen hatte er, wie von Harley richtig vermuthet worden war, durch Spione beobachten lassen und, noch ehe ihm der junge Verräther Violanten's Versteck mittheilte, von dem ihres Vaters wenigstens Wind bekommen.

Daß sich Violante in einem so angesehenen und scheinbar so sicheren Hause, wie dasjenige Lord Lansmere's, befand, schreckte den kühnen und verzweifelten Abenteurer nicht ab. Wir haben gesehen, wie er sich anschickte, das Haus in Knightsbridge zu besichtigen. Er hatte es sorgfältig nach allen Seiten in Augenschein genommen und einen Punkt entdeckt, der ihm für einen coup-de-main Handstreich. günstig schien, wenn ein solcher nothwendig werden sollte.

Lord Lansmere's Behausung war von einer Mauer, an welche sich das Pförtnerhäuschen anschloß, umgeben, mit dem Eingang von der Landstraße aus. Hinten waren Felder, über die ein schmaler Nebenweg hinlief. Auf diese Felder gelangte man durch ein kleines, in der Mauer angebrachtes Pförtchen, durch welches die Gärtner bei ihrer Arbeit aus und ein gingen. Dieses Pförtchen war in der Regel verschlossen, aber das Schloß, wie gewöhnlich bei derartigen Zugängen, so roh und einfach construirt, daß es leicht mit einem Nachschlüssel geöffnet werden konnte.

Soweit bestand kein Hinderniß, das nicht der Graf bei seiner Erfahrung in Sachen der Galanterie und in Anzettelung von Complotten als unbedeutend verachtet hätte. Er hatte indessen keine Lust, von Anfang an mit plötzlichen und gewaltsamen Maßregeln vorzugehen. Er baute auf seine persönlichen Vorzüge, auf seine Gewandtheit, auf seine früheren Triumphe über das weibliche Geschlecht, welche in ihm das natürliche Verlangen erweckten, zunächst die Wirkung einer persönlichen Zusammenkunft zu versuchen; und eine solche beschloß er sofort mit gewohnter Kühnheit in's Werk zu setzen. Randal's Beschreibung von Violanten's äußerer Erscheinung und die von diesem jungen luchsäugigen Beobachter gegebenen Winke über ihren Charakter und über die Beweggründe, von welchen sie sich in ihren Handlungen am ehesten würde bestimmen lassen – dies war der ganze Beistand, den der Graf für jetzt von seinem Mitschuldigen verlangte.

Unterdessen kehren wir zu Violante selbst zurück. Wir sehen sie im Garten von Knightsbridge an Helenen's Seite sitzen Es war ein abgeschiedenes Plätzchen und von den Fenstern des Hauses aus nicht sichtbar.

Violante. – »Warum willst du mir denn nicht mehr von dieser früheren Zeit erzählen? Du bist weniger mittheilsam, als selbst Leonard.«

Helene (zu Boden blickend und zögernd). – »Wahrhaftig, es ist nichts weiter zu erzählen, was du nicht schon wüßtest; und es ist so lange her, und alles ist jetzt so ganz anders.«

Die letzten Worte waren in einem kummervollen Tone gesprochen und endeten mit einem Seufzer.

Violante (mit Begeisterung). – »Wie ich dich beneide um diese Vergangenheit, über welche du so leicht hinweggehst! Bei der Entwicklung einer edeln Natur, wenn auch als Kind, mitgeholfen, auf diesen schwachen Schultern die Bürde der schweren Arbeit eines Mannes zur Hälfte mitgetragen zu haben; und jetzt zu sehen, wie sich der Genius ruhig auf seiner lichten Bahn fortbewegt, und sich zu sagen: ›von diesem Genius bin ich ein Theil!‹«

Helene (traurig und demüthig). – »Ein Theil! O nein! Ein Theil? Ich verstehe dich nicht.«

Violante. – »Nimm das Kind Beatrice aus Dante's Leben hinweg, und hätten wir dann noch einen Dante? Was ist der Genius eines Dichters anders, als die Stimme seiner inneren Erregungen? Alle Dinge im Leben und in der Natur üben auf den Genius ihren Einfluß, aber nichts so sehr, als Kummer und Liebe.«

Helene blickte sanft in Violanten's beredtes Antlitz und schmiegte sich schweigend näher an sie an.

Violante (plötzlich). – »Ja, Helene, ja – mein eigenes Herz lehrt mich das deinige lesen. Solche Erinnerungen sind unauslöschlich. Wenige ahnen die seltsamen Verkettungen, die uns Frauen schon in früher Kindheit unsere Geschicke selbst weben lassen!« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab: »Wie konnte es anders sein, als daß Leonard dir theuer wurde – theuer, wie du ihm – theurer als alle Anderen?«

Helene (zurückbebend und verwirrt). – »Stille, stille! Du mußt nicht so zu mir sprechen; es ist Sünde – ich kann es nicht ertragen. Ich möchte nicht, daß es so wäre – es darf nicht sein – es kann nicht sein!«

Sie drückte einen Moment die Hände auf ihre Augen, und dann erhob sie ihr Antlitz – es war sehr traurig, aber sehr ruhig.

Violante (Helene mit ihrem Arm umschlingend). – »Habe ich dir irgendwie wehe gethan? – dich mit irgend etwas beleidigt? Vergib mir – aber warum ist dies Sünde? Warum darf es nicht sein? Weil er von niedrigerer Geburt ist, als du?«

Helene. – »Nein, nein. Ich dachte nie hieran. Und was bin ich? Frage mich nicht – ich kann nicht antworten. Du hast Unrecht, ganz Unrecht, was mich betrifft. Ich kann in Leonard nur – nur einen Bruder sehen. Aber – aber – du kannst freier mit ihm reden als ich. Ich möchte nicht, daß er sein Herz an mich wegwerfe, noch, daß er mich für unfreundlich und zurückstoßend halte, wie ich ihm scheinen muß. Ich weiß nicht, was ich sage. Aber – aber – bring' du es ihm bei – vorsichtig – sachte – daß uns Beiden die Pflicht verbiete – mehr zu sein als Freunde – als –«

»Helene, Helene!« rief Violante mit warmer, edler Leidenschaftlichkeit, »dein Herz verräth dich mit jedem Worte, das du spricht. Du weinst; lehne dich an mich, flüstere mir zu; warum – warum das Alles? Fürchtest du, dein Vormund möchte nicht einwilligen? Er nicht einwilligen! Er, der –«

Helene. – »Halt – halt – halt!«

Violante. – »Wie! kannst du Harley – Lord L'Estrange fürchten? Pfui! Du kennst ihn nicht.«

Helene (rasch aufstehend). – »Genug, Violante; ich bin mit einem Anderen verlobt.«

Violante erhob sich gleichfalls und stand da, wie zu Stein verwandelt – blaß wie der Tod, bis das Blut zuerst langsam, dann mit Ungestüm aus dem Herzen zurückströmte und ihr ganzes Gesicht in Eine tiefe Gluth tauchte. Sie faßte Helene fest bei der Hand und sagte mit dumpfer Stimme:

»Mit einem Anderen! verlobt mit einem Andern! Ein Wort, Helene – nicht mit ihm – nicht mit – Harley – mit –«

»Ich kann es nicht sagen – ich darf nicht. Ich habe es versprochen,« rief die arme Helene, und als Violante ihre Hand losließ, eilte sie hinweg.

Violante setzte sich mechanisch nieder. Sie fühlte sich betäubt, wie von einem tödtlichen Schlage. Sie schloß die Augen und athmete schwer. Eine Ohnmacht ergriff sie; und als sie wieder zu sich kam, schien es ihr, als sei sie nicht länger dasselbe Wesen wie früher, die Welt um sie her nicht mehr dieselbe Welt – als lebe in ihr nur Ein Gefühl, das Gefühl unendlichen, hoffnungslosen Elends, und als sei das All nur eine einzige seelenlose Oede. So merkwürdig wenig Körperhaftes ist in Wahrheit an uns menschlichen Wesen von Fleisch und Blut, daß, wenn man uns plötzlich nur einen einzigen, ungreifbaren, hehren Gedanken, den unsere Seele genährt hat, wegnimmt, uns die Luft zu zerrinnen, die Sonne zu erlöschen, jedes Band, das uns an den Stoff fesselt, zu zerreißen und alles im Tode zu erstarren scheint, nur nicht das Wehe.

Und diese warme, junge, südliche Natur, wie war sie einen Augenblick vorher so voll Leben und Freude, voll Kraft und reicher Hoffnung gewesen! Sie hatte ihre eigene Innigkeit und Tiefe bis jetzt noch gar nicht gekannt. Nie hatte die Jungfrau den Schleier von dem Herzen des Weibes gehoben.

Was war bisher Harley L'Estrange für Violante gewesen? Ein Ideal, ein Traum einer eingebildeten Vortrefflichkeit, ein Typus von Poesie in Mitte der Alltagswelt. Es war nicht Harley, der Mann, sondern Harley, das Phantom, gewesen. Sie hatte niemals zu sich selbst gesagt: »Er ist der Inbegriff meiner Liebe, meiner Hoffnung, meiner Heimath, meiner Zukunft.« Wie konnte sie auch? Er selbst hatte nie von dergleichen gesprochen; eine innere Stimme hatte ihr freilich in unbestimmten, aber unwiderstehlichen Lauten zugeflüstert, daß ungeachtet seines oberflächlichen Verkehrs mit ihr seine Gefühle für sie ernst und tief seien. O, über die falsche Stimme! Wie hatte sie dieselbe betrogen! Ihre rasche Auffassungsgabe begriff alles, was Helene ungesagt gelassen.

Und jetzt fühlte sie plötzlich, was es heißt, zu lieben, und was, zu verzweifeln. So saß sie da, vernichtet und verlassen, weder murrend, noch weinend, nur hin und wieder mit der Hand über die Stirne streichend, als müßte sie dort eine Wolke verscheuchen, die nicht weichen wolle, oder einen tiefen Seufzer ausstoßend, um damit eine Last von sich wegzuwälzen, welche fortan keine Zeit zu entfernen vermöchte.

Es gibt Momente im Leben, in welchen wir zu uns sprechen: »Alles ist vorbei; welche Veränderungen auch noch kommen mögen, uns berühren sie nicht; das, was wir unser Alles genannt haben, ist dahin – unwiederbringlich – unwiederbringlich.« Und fort und fort hallt es in unseren Ohren nach: »Unwiederbringlich – unwiederbringlich!«


Achtes Kapitel.

Unterdessen hatte sich ein Fremder zwischen den Bäumen hindurchgeschlichen und stand jetzt zwischen Violante und der Abendsonne. Sie sah ihn nicht. Er wartete einen Augenblick und begann dann leise in ihrer Heimathsprache zu reden, indem er sie bei dem Namen nannte, den sie in Italien getragen hatte. Er bezeichnete sich als einen Verwandten und entschuldigte sein Eindringen; »denn,« sagte er, »ich komme, der Tochter den Weg anzudeuten, wie sie ihrem Vater das Land seiner Geburt und seine Würden zurückgeben kann.«

Bei dem Worte »Vater« ermannte sich Violante, und das Bewußtsein all' ihrer Liebe zu diesem Vater trat mit doppelter Stärke vor ihre Seele. So ist es immer – wir lieben unsere Eltern dann am meisten, wenn ein weniger heiliges Band plötzlich reißt, und wenn das Gewissen spricht: » Hier wenigstens ist eine Liebe, die dich nie betrogen hat!«

Sie erblickte vor sich einen Mann von mildem Aussehen und fürstlicher Haltung. Peschiera (denn er war es) hatte aus seinem Anzuge sowohl, als aus seinem Gesichte alles verbannt, was an die weltliche Leichtfertigkeit seines Charakters erinnerte. Er spielte eine Rolle, welcher er seine Kleidung und den Ausdruck seiner Züge anpaßte.

»Mein Vater!« sagte sie rasch in italienischer Sprache. »Was ist mit ihm? und wer sind Sie, Signor? Ich kenne Sie nicht.«

Peschiera lächelte wohlwollend und antwortete in einem Tone, in dem sich hohe Achtung, durch eine gewisse väterliche Zärtlichkeit gemildert, aussprach.

»Gestatten Sie mir, es zu erklären, und hören Sie auf meine Worte.« Dann setzte er sich ruhig auf die Bank neben sie, sah ihr in die Augen und fuhr fort:

»Ohne Zweifel haben Sie von Graf di Peschiera gehört?«

Violante. – »Ich hörte diesen Namen als Kind, während ich in Italien war. Und als sie, bei welcher ich damals wohnte (meines Vaters Tante), krank wurde und starb, sagte man mir, meine Heimath in Italien sei für mich verloren, sie sei auf Graf di Peschiera übergegangen – meines Vaters Feind.«

Peschiera. – »Und Ihr Vater hat Sie seitdem gelehrt, diesen vermeintlichen Feind zu hassen?«

Violante. – »Nein; mein Vater verbot mir nur, je seinen Namen in den Mund zu nehmen.«

Peschiera. – »Ach! wie viele Jahre des Leidens und der Verbannung hätte sich Ihr Vater ersparen können, wäre er gegen seinen Jugendfreund und Verwandten gerechter gewesen – ja, hätte er nur nicht so grausam das Geheimniß seiner Zufluchtsstätte bewahrt. Schönes Kind, ich bin dieser Giulio Franzini, dieser Graf di Peschiera. Ich bin der Mann, welchen man Sie lehrte als Ihres Vaters Feind zu betrachten. Ich bin der Mann, welchem der Kaiser von Oestreich dessen Güter verlieh. Und jetzt urtheilen Sie, ob ich wirklich ein Feind bin. Ich bin hieher gekommen, um Ihren Vater aufzusuchen und mich der Gabe meines Souveräns zu entledigen. Ich bin gekommen nur mit dem Einen Wunsche, Alphonso seinem Heimathlande zurückzugeben und das Erbe auszufolgen, welches mir aufgedrungen worden ist.«

Violante. – »Mein Vater! mein theurer Vater! Sein großes Herz wird wieder frei athmen können. O! dies ist edle Feindschaft, ächte Rache! Ich verstehe Sie, Signor, und auch mein Vater wird Sie verstehen, denn ebenso hätte er sich an Ihnen gerächt, Sie haben Ihn gesehen?«

Peschiera. – »Nein, noch nicht. Ich wollte ihn nicht sehen, ehe ich Sie gesehen hatte; denn Sie sind in Wahrheit Herrin über sein Geschick, wie über das meinige.«

Violante. – »Ich, Graf? – Ich – Herrin über meines Vaters Geschick? Wie ist dies möglich!«

Peschiera (mit einem Blicke theilnahmsvoller Bewunderung und in noch väterlicherem Tone). – »Wie reizend ist diese unschuldige Freude; aber noch dürfen Sie sich ihr nicht hingeben.Vielleicht ist es ein Opfer, was man von Ihnen verlangt – ein allzu schweres Opfer. Unterbrechen Sie mich nicht. Hören Sie mir zu und Sie werden erfahren, warum ich nicht mit Ihrem Vater sprechen konnte, ehe ich eine Unterredung mit Ihnen erlangt hatte – erfahren, warum Ein Wort von Ihnen mich noch immer aus seiner Gegenwart verbannen kann. Sie wissen ohne Zweifel, daß Ihr Vater zu den Häuptern einer Partei gehörte, welche Oberitalien von den Oestreichern zu befreien suchte. Ich selbst war anfangs ein warmer Genosse dieses Planes. Da mit Einem Male entdeckte ich, daß einige der hervorragendsten Führer mit dem patriotischen Unternehmen Pläne, welche das Tageslicht scheuen mußten, verbunden hatten, und daß die Verschwörung selbst auf dem Punkte war, der Regierung verrathen zu werden. Ich wünschte mich mit Ihrem Vater zu besprechen; aber er war nicht in der Nähe. Ich hörte, er sei verurtheilt. Nicht eine Stunde war zu verlieren. Ich faßte einen kühnen Entschluß, der mir seinen Verdacht und den Zorn meines Vaterlandes zuzog. Allein mein Hauptzweck war, ihn, meinen Jugendfreund, vor dem Tode und mein Vaterland vor unnützem Blutvergießen zu bewahren. Ich zog mich von dem beabsichtigten Aufstande zurück. Ich suchte augenblicklich das Haupt der östreichischen Regierung in Italien auf und unterhandelte um das Leben Alphonso's und der übrigen angeseheneren Führer, das sonst verwirkt gewesen wäre. Auf meine Bitten wurde mir selbst der Auftrag zu Theil, mich meines Verwandten zu bemächtigen, damit ich ihn nach dem Auslande in Sicherheit bringen könnte – eine Verbannung, die aufhören sollte, sobald die Gefahr vorüber war. Aber unglücklicher Weise wähnte er, meine Absicht sei, ihn zu Grunde zu richten. Er flüchtete sich vor meiner wohlgemeinten Verfolgung. Die Soldaten, welche ich mitgenommen hatte, wurden von einem unberufenen Engländer angegriffen; Ihr Vater entwich aus Italien – seinen Zufluchtsort verborgen haltend; und die Art und Weise seiner Flucht vereitelte meine Bemühungen, seine Begnadigung durchzusetzen. Die Regierung übertrug mir die Hälfte seiner Einkünfte und belegte die andere Hälfte auf unbestimmte Zeit mit Beschlag. Ich nahm das Anerbieten an, um die Confiskation der ganzen Erbschaft zu verhindern. Daß ich ihm nicht die, von mir so schmerzlich herbeigewünschte Mittheilung machte, das Geschenk der Regierung sei für mich nichts weiter, als ein anvertrautes Gut, und daß ich das scheinbar Tadelnswerthe in meinem Benehmen nicht vollständig aufklärte, war die natürliche Folge des Geheimnisses, in welches er sich hüllte. Ich konnte seine Zufluchtsstätte nicht entdecken; aber nie hörte ich auf, seine Zurückberufung zu betreiben. Erst in diesem Jahre habe ich einen theilweisen Erfolg errungen: sein Erbe und sein Rang wird ihm zurückgegeben unter Einem Vorbehalt – er muß für seine Treue Bürgschaft stellen. Diese Bürgschaft hat die Regierung namhaft gemacht: es ist die Verbindung seines einzigen Kindes mit einem ihrer Vertrauensmänner. Es lag im Interesse des ganzen italienischen Adels, daß die Repräsentation eines so großen Hauses, wenn sie an die weibliche Linie falle, der geraden Linie nicht ganz entzogen werde; – mit Einem Worte, daß Sie sich mit einem Verwandten verbinden. Nur Ein Verwandter, und zwar der nächste im Blute, hat sich gefunden. Kurz – Alphonso erhält alles, was er verloren hat, wieder an dem Tage, an welchem seine Tochter Giulio Franzini, Graf di Peschiera, ihre Hand reicht. Ah,« fuhr der Graf traurig fort, »Sie erschrecken – Sie erblassen. Er, den Ihre Wahl treffen soll, ist allerdings Ihrer unwerth. Sie stehen kaum im Lenze Ihres Lebens. Ueber das seinige ist schon der Herbst hingegangen. Jugend liebt Jugend. Er verlangt nicht Ihre Liebe. Er kann nichts für sich anführen als: Liebe ist nicht die einzige Freude des Herzens – Freude ist es, einen geliebten Vater aus dem Ruin empor zu ziehen – Freude, einem Lande, das arm an allem ist, außer an Erinnerungen, ein Haupt zurückzugeben, in welchem es ein Geschlecht von Helden verehrt. Dies sind die Freuden, die ich Ihnen biete – Ihnen, einer Tochter und einem italienischen Mädchen. Noch immer stumm? O, sprechen Sie zu mir!«

Wohl wußte dieser Graf Peschiera recht gut, wie man um Frauen werben und sie gewinnen muß; und nie war eine Frau für die Berufung an die erhabenen Gefühle, welche die ächte ernste Weiblichkeit am meisten bewegen, empfänglicher, als die junge Violante. Das Glück hatte ihn einen günstigen Augenblick wählen lassen. Harley war ihren Hoffnungen entrissen und das Wort Liebe aus ihrer Sprache getilgt. In der weiten leeren Welt stand ihres Vaters Bild allein hell und deutlich vor ihr. Und sie, deren ganzes Trachten von Kindheit auf dahin gegangen war, diesem Vater zu dienen, sie, die zuerst gelernt hatte, von Harley als ihres Vaters Freund zu träumen – sie konnte ihm alles zurückgeben, wonach der Verbannte seufzte, und zwar, indem sie sich selbst zum Opfer brachte! Selbstaufopferung, die an sich schon einen halben Reiz für den Edeln hat!

Aber in dem unruhigen und verwirrten Zustande ihres Gemüths erschien ihr der Gedanke an eine Heirath mit einem Anderen so fürchterlich und empörend, daß sie ihn nicht sogleich fassen konnte; auch warnte sie bei aller ihrer Unerfahrenheit ein gewisser Instinkt, der aus der Offenheit und Ehrenhaftigkeit ihres ganzen Charakters entsprang, daß in dieser heimlichen Berufung an sie ein Unrecht liege.

Von Neuem beschwor sie der Graf, zu reden. Mit gewaltsamer Anstrengung sagte sie endlich unentschlossen:

»Wenn es so ist, wie Sie sagen, so steht es nicht mir zu, Ihnen zu antworten, sondern meinem Vater.«

»Nicht doch,« versetzte Peschiera. »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen widerspreche. Kennen Sie Ihren Vater so wenig, daß Sie glauben können, sein Stolz werde sich von seinem Interesse Bedingungen vorschreiben lassen? Er würde sich vielleicht weigern, nur meinen Besuch anzunehmen – meine Erklärungen anzuhören; ganz gewiß würde er sich aber weigern, sein Erbe damit zurückzukaufen, daß er seine Tochter mit einem Manne verbindet, den er für seinen Feind gehalten hat, und bei dem die Ungleichheit der Jahre schon die Welt zu der Annahme veranlassen dürfte, Ihr Vater habe sein Kind seinem persönlichen Ehrgeiz geopfert. Könnte ich aber vor ihn treten mit Ihrer Ermächtigung – könnte ich sprechen: ›Ihre Tochter sieht über das, was dem Vater ein Hinderniß scheinen mag, hinweg – sie hat aus eigener, freier Wahl eingewilligt, meine Hand anzunehmen – sie verbindet ihr Glück, sie vereinigt ihr Gebet mit dem meinigen‹ – dann, ja dann müßte ich meines Erfolges sicher sein, und Italien würde meinen Irrthum verzeihen und Ihren Namen segnen. Ah, Signorina, denken Sie an mich nur als an das Werkzeug zu Erfüllung so hoher und geheiligter Pflichten – denken Sie nur an Ihre Ahnen, an Ihren Vater, an Ihr Geburtsland, und weisen Sie nicht die stolze Gelegenheit von der Hand, zu beweisen, wie sehr Sie dieselben verehren!«

Violanten's Herz war an der rechten Seite berührt. Ihr Haupt erhob sich – auf die blasse Wange kehrte die Farbe zurück – sie wandte die herrliche Schönheit ihres Antlitzes dem verschmitzten Versucher zu. Sie war im Begriffe, zu antworten und ihr Geschick zu besiegeln, als sich in demselben Augenblick Harley's Stimme in geringer Entfernung vernehmen ließ, und Nero auf sie zugesprungen kam, seine Schnauze mit rauher Zärtlichkeit zwischen sie und Peschiera drängend. Der Graf wich zurück, und Violante, deren Augen noch auf seinem Gesichte ruhten, erschrak ob der Veränderung, welche dort vorging. Ein rascher Blitz der Wuth reichte hin, in einem Augenblick die dunkeln Geheimnisse seiner Natur an das Tageslicht zu bringen – es war das Gesicht eines verhöhnten Gladiators. Er hatte nur zu wenigen Worten Zeit.

»Ich darf hier nicht gesehen werden,« murmelte er; »aber morgen – in diesem Garten – um diese Zeit. Ich beschwöre Sie, um Ihres Vaters, um seiner Hoffnungen, seines Vermögens, ja um seines Lebens willen, diese Zusammenkunft geheim zu halten – mich wieder zu treffen. – Leben Sie wohl!«

Er verschwand zwischen den Bäumen – geräuschlos, geheimnißvoll, wie er gekommen.


Neuntes Kapitel.

Peschiera's letzte Worte tönten noch in Violanten's Ohren, als Harley's Gestalt sichtbar wurde und vor dem Klange seiner Stimme die träumerische Betäubung, welche sich ihrer Sinne bemächtigt hatte, zu weichen begann. Diese Stimme rief in ihr das Bewußtsein eines schweren Verlustes, das stehende Gefühl einer unerträglichen Angst zurück. Mit Harley hier und so zusammenzutreffen, schien unmöglich. Sie wandte sich hastig ab und eilte dem Hause zu. Harley rief sie bei ihrem Namen; aber sie antwortete nicht und beschleunigte nur ihre Schritte. Er blieb einen Augenblick überrascht stehen und folgte ihr dann schnell.

»Was für ein seltsames Verhängniß schwebt über mir?« sagte er heiter, während er seine Hand auf ihren zitternden Arm legte. »Ich frage nach Helene – sie ist krank und kann mich nicht sehen. Ich komme, mich in Ihrer Gegenwart zu sonnen, und Sie fliehen mich, als hätten mir Götter und Menschen das Zeichen des Fluchs auf die Stirne gedrückt. Kind! – Kind! was ist dies? Sie weinen?«

»Halten Sie mich jetzt nicht auf – sprechen Sie nicht mit mir,« versetzte Violante mit durch Schluchzen erstickter Stimme, indem sie sich von seiner Hand losriß und von Neuem dem Hause zuwandte.

»Haben Sie einen Kummer – unter dem schützenden Dache meines Vaters? Einen Kummer, den Sie mir nicht sagen wollen? Grausam!« rief Harley sanft mit unaussprechlich zärtlichem Vorwurf.

Violante traute sich nicht die Kraft zu, seine Frage zu beantworten. Beschämt, daß sie sich verrathen – erweicht durch seine flehende Stimme, hätte sie die Erde bitten mögen, sie zu verschlingen. Endlich zwang sie mit einer heldenmüthigen Anstrengung ihre Thränen zurück und sagte beinahe ruhig:

»Edler Freund, verzeihen Sie mir. Ich habe keinen Kummer, glauben Sie mir, den – den ich Ihnen mittheilen kann. Ich dachte nur an meinen armen Vater, als Sie in den Garten kamen, ich beunruhigte mich seinetwegen in vielleicht unnöthiger, abergläubischer Furcht; und so hat mich Ihr unvermuthetes Erscheinen ein wenig überrascht und mich so schwach und thöricht gemacht. Aber ich wünschte, meinen Vater zu sehen – nach Hause zu gehen – nach Hause!«

»Ihr Vater ist wohl, glauben Sie mir, und damit einverstanden, daß Sie hier sind. Keine Gefahr droht ihm; und Sie sind hier sicher.«

»Ich sicher – und vor was?«

Harley sann unschlüssig nach. Er hätte sie gerne von der Gefahr unterrichtet, welche ihr Riccabocca verbarg; aber hatte er das Recht, solches gegen ihres Vaters Willen zu thun?

»Lassen Sie mir Zeit,« sagte er, »zum Nachdenken und zum Einholen der Erlaubniß, Ihnen ein Geheimniß anzuvertrauen, welches Sie nach meiner Ansicht wissen sollten. Inzwischen kann ich Ihnen soviel sagen, daß, ehe Ihr Vater Sie der, wie ich glaube, von ihm übertriebenen Gefahr aussetzt, er Ihnen einen Beschützer geben würde – und wäre es auch in der Person Randal Leslie's.«

Violante schrak zusammen.

»Aber,« fuhr Harley mit einer Ruhe fort, in welche sich, ihm selbst unbewußt, tiefe Trauer mischte, »aber ich hoffe, es ist Ihnen ein schöneres Loos und ein edlerer Gatte vorbehalten. Ich habe gelobt, künftig in der gewöhnlichen Alltagswelt zu leben. Aber für Sie, herrliches Kind, für Sie sind meine Träume immer noch die alten!«

Violante heftete einen Moment ihre Augen auf den melancholischen Sprecher. Ihr Blick drang ihm bis in das Herz. Unwillkürlich senkte er das Haupt. Als er aufblickte, hatte sie ihn verlassen. Dieses Mal machte er keinen Versuch, ihr zu folgen, sondern kehrte sich ab und schritt unter den herbstlichen Bäumen weiter.

Eine Stunde später trat er wieder in das Haus und versuchte abermals, Helene zu sehen. Sie hatte sich jetzt soweit erholt, um ihm die gewünschte Unterredung zu gewähren.

Er näherte sich ihr mit liebevollem Ernste.

»Meine theure Helene,« sagte er; »Sie haben eingewilligt, meine Gattin, meines Lebens sanfte Gefährtin zu werden; lassen Sie es bald – bald sein; denn ich bedarf Ihrer. Ich bedarf all' der Kraft, welche dieses heilige Band verleiht. Helene, lassen Sie mich in Sie dringen, den Tag zu bestimmen.«

»Ich schulde Ihnen zu viel,« antwortete Helene, zu Boden sehend, »um einen andern Willen zu haben, als den Ihrigen. Aber Ihre Mutter,« fügte sie bei, vielleicht sich an die Möglichkeit eines Aufschubes festklammernd, »Ihre Mutter hat noch nicht –«

»Meine Mutter – richtig. Ich will zuerst mit ihr reden. Es soll Ihnen von Seiten meiner Familie alle die Achtung zu Theil werden, die Ihren edeln Tugenden gebührt. Beiläufig, Helene, hoben Sie des zwischen uns bestehenden Verhältnisses gegen Violante erwähnt?«

»Nein – das heißt – ich fürchte, ich habe es unvorsichtiger Weise verrathen – noch dazu gegen Lady Lansmere's Befehle – aber – aber –«

»Lady Lansmere hat Ihnen untersagt, mit Violante darüber zu sprechen? – Das hätte nicht sein sollen. Ich bürge für ihre Einwilligung, dieses Verbot wieder aufzuheben. Violante und Sie haben ein Recht darauf. Sagen Sie Ihrer jungen Freundin alles. Ach, Helene, wenn ich zuweilen kalt und wunderlich bin, haben Sie Geduld – haben Sie Nachsicht mit mir; Sie lieben mich ja – nicht wahr?«


Zehntes Kapitel.

Am nämlichen Abend erfuhr Randal von Levy, bei welchem er in später Stunde vorsprach, wie Peschiera mit Hülfe seines Nachschlüssels die Zusammenkunft hatte. Der Graf schien in seinen Erwartungen übertroffen – er schien des vollständigen und raschen Erfolges seines Verehlichungsplanes sicher zu sein.

»Deßhalb,« sagte Levy, »hoffe ich Ihnen recht bald zu der Erwerbung Ihrer Familiengüter Glück wünschen zu können.«

»Seltsam!« antwortete Randal; »seltsam, daß mein Glück auf diese Weise an das Geschick einer Fremden, wie Beatrice di Negra, und an ihre Verbindung mit Frank Hazeldean gekettet zu sein scheint.«

Während er so sprach, blickte er nach der Uhr hin und fügte bei:

»Jetzt wird Frank seinem Vater seine Verlobung mitgetheilt haben.«

»Und Sie sind überzeugt, daß sich der Squire seine Einwilligung nicht abschmeicheln läßt?«

»Das möchte ich nicht behaupten; aber ich bin überzeugt, der Squire wird bei der ersten Kunde davon der Art in Harnisch gerathen, daß Frank nicht die nöthige Selbstbeherrschung zu Schmeichelworten behält; und vielleicht bekommt der Squire, ehe er über diesen Punkt milder denkt, durch irgend einen Zufall Grund zur Unzufriedenheit wegen eines andern Punktes, der ihn noch mehr erbittert.«

»Aha, ich verstehe das Postobit?«

Randal nickte.

»Und was dann?« frug Levy.

»Dann erscheint vielleicht der Tag Dessen, der die nächste Anwartschaft auf die Hazeldean'schen Güter hat.«

Der Baron lächelte.

»Sie haben in dieser Richtung gute Aussichten, Leslie. Sehen wir weiter. Ich sprach mit Ihnen wegen des Wahlbezirks Lansmere. Ihr Gönner, Audley Egerton, beabsichtigt, dort aufzutreten.«

Randal hatte sich in letzter Zeit so viel mit anderen habsüchtigeren Planen getragen, daß ein Sitz im Parlament erst in zweiter Linie kam; nichtsdestoweniger empfand der ehrgeizige, nach allem haschende junge Mann einen schmerzlichen Stich, als er hörte, daß Egerton in solcher Weise zwischen ihn und jede Aussicht, sich emporzuschwingen, treten wolle.

»So!« murmelte er finster, »so, dieser Mann, der mein Wohlthäter zu sein vorgibt; wirft den Reichthum meiner Ahnen zum Fenster und mich ohne einen Kreuzer Geld in die Welt hinaus, und während er mich zur Thätigkeit im Gebiete des öffentlichen Lebens aufmuntert, beraubt er mich des –«

»Nein!« unterbrach ihn Levy, »er beraubt Sie nicht; das können wir verhindern. Der Lansmere'sche Einfluß ist in dem Bezirke nicht so bedeutend, wie derjenige Dick Avenel's.«

»Aber ich kann nicht gegen Egerton auftreten.«

»Gewiß nicht – Sie könnten ja mit ihm auftreten.«

»Wie?«

»Dick Avenel wird nie dulden, daß Egerton gewählt wird; und wenn er auch vielleicht nicht zwei seiner eigenen Kandidaten in's Parlament bringen kann, so kann er doch durch ein Zersplittern der Stimmen die Wahl auf Sie lenken.«

Randal's Augen funkelten. Er sah mit Einem Blicke, daß, wenn sich Avenel in der Stärke der verschiedenen Parteien nicht verrechnen, ein Parlamentssitz für ihn gesichert werden konnte.

»Aber,« sagte er, »Egerton hat mit mir über den Gegenstand nicht gesprochen; auch ist nicht zu erwarten, daß er mir vorschlagen sollte, mit ihm aufzutreten, wenn er die Möglichkeit voraussehen würde, durch den von ihm selbst empfohlenen Kandidaten geschlagen zu werden.«

»Weder er noch seine Partei werden eine solche Möglichkeit in Aussicht nehmen. Wenn er Sie fragt, so drücken Sie Ihre Bereitwilligkeit aus, als Bewerber aufzutreten – das Weitere überlassen Sie mir!«

»Sie müssen Egerton bitterlich hassen,« sagte Randal; »denn ich bin nicht eitel genug um zu glauben, daß Sie sich aus reiner Liebe zu mir mit solchen Entwürfen abgeben.«

»Die Triebfedern der Menschen sind verwickelt und schwer entwirrbar,« antwortete Levy mit ungewöhnlichem Ernste. »Dem Weisen genügt es, aus den Thaten Nutzen zu ziehen, und sich um die Triebfedern nicht zu kümmern.«

Einige Minuten schwiegen Beide. Dann rückten sie näher zu einander und begannen, ihre vereinten Pläne im Einzelnen zu besprechen.

Randal ging langsam nach Hause. Es war eine kalte, mondhelle Nacht. Junge Müßiggänger in gleichem Alter und von gleichem Range, wie er, kamen auf dem Heimwege von geselligen Vergnügungsorten an ihm vorüber. Sie standen noch in den ersten schönen Feiertagen ihres Lebens. Für Randal waren des Lebens Feiertage für immer dahin.

Ernstere Männer, in den verschiedenen Berufen männlicher Arbeit thätig – Handelsleute, Gewerbsleute, Staatsmänner – schritten gleichfalls an ihm vorbei. Ihre Schritte waren vielleicht nüchtern und ihre Mienen sorgenvoll; aber kein Schritt hatte das verstohlene Schleichende des seinigen – kein Antlitz diesen düstern, argwöhnischen Ausdruck. Nur Einmal in einer einsamen Nebenstraße schien auf der entgegengesetzten Seite des Weges ein anderer Fußtritt und ein anderes Auge eine mit Randal Leslie sympathische Seele zu verrathen.

Und Randal, der die Uebrigen nicht beachtet hatte, schenkte instinktmäßig diesem Einen Aufmerksamkeit. Seine Nerven zuckten bei dem geräuschlosen Dahingleiten dieser Gestalt, als sie sich, gleichen Schritt mit ihm haltend, von Lampe zu Lampe weiter bewegte. Er fühlte eine Art Grausen, als hätte er seinen Doppelgänger gesehen; und jedes Mal, wenn er argwöhnisch nach dem Fremden hinüber sah, begegnete er dessen auf ihn gerichtetem Blicke. Es war ihm eine unaussprechliche Erleichterung, als dieses Wesen in eine andere Straße einbog und verschwand.

Jener Mann war ein noch unentdeckter Verbrecher. Zwischen ihm und dem Menschengeschlechte stand nur ein Gedanke – ein luftgesponnener, aber undurchdringlicher Schleier, wie der Schleier des Bildes von Sais.

Und ebenso war Randal Leslie in seinen Bewegungen, in seinen Blicken die Verkörperung dunklen und geheimen Unheils – innerhalb der Grenzen des Gesetzes, aber in gleicher Weise von der Menschheit durch das unbestimmte Bewußtsein geschieden, daß, was auf seinem Herzen lag, Abscheu und Entsetzen hervorrufen müsse.

Einsam wandelte in der ungeheuren Stadt zwischen der Maschinerie der Civilisation hin der stille Geist des intellectuellen Bösen.


Elftes Kapitel.

In der Frühe des andern Morgens erhielt Randal zwei Billete, das eine von Frank, worin dieser in großer Aufregung Randal bat, seinen Vater, den er tief beleidigt zu haben fürchte, aufzusuchen und zu versöhnen. Hieran schlossen sich etwas unzusammenhängende Betheurungen daß seine Ehre sowohl als sein Herz ihn unwiderruflich an Beatrice fessele, und daß er nie von ihr lassen könne.

Das zweite Billet war von dem Squire selbst – kurz und weit weniger herzlich, als sonst – die Bitte enthaltend, Mr. Leslie möchte ihn besuchen.

Randal kleidete sich eilig an und begab sich sofort nach Limmer's Hotel.

Er traf bei Mr. Hazeldean den Pfarrer, der ihn vergeblich zu besänftigen suchte. Der Squire hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und sah beinahe entstellt aus.

»Oho, junger Mr. Leslie!« sagte er, indem er sich bei Randal's Eintritt in seinen Stuhl zurück warf; »ich dachte, Sie seien ein Freund – ich dachte, Sie seien Frank's Rathgeber. Erklären Sie mir, Sir; erklären Sie mir.«

»Sachte, mein lieber Mr. Hazeldean,« nahm der Pfarrer das Wort. »Sie setzen Mr. Leslie nur in Erstaunen und Aufregung. Sagen Sie ihm deutlicher, was er erklären soll.«

Squire. – »Haben Sie mir oder Mrs. Hazeldean gesagt oder nicht, daß Frank in Violante Rickybocky verliebt sei?«

Randal (scheinbar erstaunt). – »Ich? Nie, Sir, niemals. Ich fürchtete im Gegentheil, seine Liebe gelte einer ganz andern Dame. Ich deutete diese Möglichkeit an. Mehr konnte ich nicht thun, denn ich wußte nicht, in wie weit Frank's Neigung ernstlich dabei im Spiele sei. Mrs. Hazeldean hat zwar dem Gedanken, Ihr Sohn könnte eine Ausländerin und eine Katholikin heirathen, keine besondere Aufmunterung zu Theil werden lassen. Allein für unübersteiglich schien sie diese Hindernisse nicht zu halten, wenn es sich wirklich um Frank's Glück handeln sollte.«

Jetzt konnte sich der arme Squire nicht länger halten, und ein Sturm von Leidenschaft brach in Einem Athem über Frank Randal, sogar über Harry, über die ganze Sippschaft von Ausländern, Papisten und Weibern los.

Während der Squire in diesem Zustande Vernunftsgründen unzugänglich war, nahm der Pfarrer Randal auf die Seite und überzeugte sich, daß die ganze Geschichte, soweit sie Randal betraf, in einem sehr natürlichen Mißverständnisse ihren Ursprung hatte: daß, während dieser junge Gentleman auf Beatrice anspielte, Mrs. Hazeldean an Violante dachte. Mit bedeutender Schwierigkeit gelang es endlich, dem Squire dies auseinander zu setzen und seinen Zorn gegen Randal einigermaßen zu besänftigen. Und der Heuchler benützte die Gelegenheit, so viel Kummer und Erstaunen darüber zu bezeugen, daß, wie er von dem Pfarrer erfahren, die Sache schon so weit gediehen sei – daß Frank um Beatrice förmlich angehalten, ihr Jawort bekommen und sich verlobt habe, ohne seinem Vater nur eine Mittheilung zu machen; er erklärte so feierlich, er habe keine Ahnung davon haben können, daß es so schlimm stehe, er habe Frank's bestimmtes Versprechen gehabt, ohne Vorwissen seiner Eltern nicht einen Schritt zu thun; er legte so viel Theilnahme mit den verwundeten Gefühlen des Squires, so viel Leidwesen über Frank's Verblendung an den Tag, daß Mr. Hazeldean zuletzt sein ehrliches Herz dem Tröster entgegenbrachte und, Randal's Hand ergreifend, sagtet »Nun, nun, ich that Ihnen unrecht – bitte Sie um Verzeihung. Was soll jetzt geschehen?«

»Sie können in diese Heirath nicht einwilligen – unmöglich,« erwiderte Randal; »und wir müssen deßhalb hoffen, auf Frank mittelst Berufung an sein Pflichtgefühl einzuwirken.«

»So ist's,« sagte der Squire; »denn ich gebe nicht nach. In einer guten Patsche sitzen wir da! Noch dazu eine Wittwe, wie ich höre. Schlaues Weibsbild – dachte ohne Zweifel, einen Hazeldean von Hazeldean zu fangen! Meine Güter sollten an eine ausländische, papistische Bande von Mischlingsbälgen gehen! Nein, nein! Nie!«

»Aber,« sagte der Pfarrer mild, »vielleicht hegen wir gegen die Dame ein ungerechtes Vorurtheil. Wir hätten bei Violante eingewilligt – warum nicht bei ihr? Sie ist von guter Familie?«

»Gewiß,« versetzte Randal.

»Und gutem Leumund?«

Randal schüttelte den Kopf und seufzte.

Der Squire faßte ihn rauh am Arm und rief heftig: »Antworten Sie dem Pfarrer!«

»Wahrhaftig, Sir, ich kann doch nichts Schlimmes von dem Leumund einer Frau sagen, noch dazu, wenn sie vielleicht Frank's Gattin wird; und die Welt ist bösartig, und man darf ihr nicht glauben. Aber Sie können ja selbst urtheilen, mein lieber Mr. Hazeldean. Fragen Sie Ihren Bruder, ob Madame di Negra eine Frau ist, die er seinem Neffen als Gattin empfehlen würde?«

»Meinen Bruder!« rief der Squire wüthend, »den mir fremden Bruder über die Angelegenheiten meines eigenen Sohnes um Nachfragen!«

»Er ist ein Mann, der die Welt kennt,« bemerkte Randal.

»Und ein Mann von Gefühl und Ehre,« sagte der Pfarrer; »und vielleicht wird es uns durch ihn möglich, Frank aufzuklären, und ihn aus der, wie es scheint, von einem schlauen Weibe gelegten Falle zu retten.«

»Inzwischen,« sagte Randal, »will ich Frank aufsuchen und sehen, was ich bei ihm ausrichte. Entlassen Sie mich jetzt – in einer Stunde oder so bin ich wieder da.«

»Ich will Sie begleiten,« sagte der Pfarrer.

»Nein, entschuldigen Sie, aber ich glaube, wir zwei junge Leute können ohne Beisein einer dritten Person, so weise und gütig Sie auch sind, offener zusammen reden.«

»Lassen Sie Randal gehen,« brummte der Squire. Und Randal ging.

Er blieb einige Zeit bei Frank, und der Leser wird leicht errathen, wie er diese Zeit anwendete. Als er Frank's Wohnung wieder verließ, fand er sich plötzlich von dem Squire selbst gepackt.

»Ich war zu ungeduldig, um zu Hause zu bleiben und das Geschwätz des Pfarrers mit anzuhören,« sagte Mr. Hazeldean gereizt. »Ich habe mir Dale vom Halse geschafft. Sagen Sie mir, wie es steht. O, fürchten Sie nichts – ich bin ein Mann und kann das Schlimmste ertragen.«

Randal zog den Arm des Squires in den seinigen und führte o ihn in den naheliegenden Park.

»Mein theurer Sir,« sagte er kummervoll, »die Mittheilung, welche ich Ihnen jetzt machen werde, geschieht im tiefsten Vertrauen. Ich muß solches wiederholen, weil ich Ihnen nur unter dieser Voraussicht den nach meiner Ansicht zu einem erwünschten Ziele führenden Weg angeben. kann. Aber wenn ich Frank verrathe, so thue ich es zu seinem Besten und seinem eigenen Vater gegenüber. Ich bitte Sie nur, es ihm nicht zu sagen Er würde mir nie verzeihen – es würde meinen Einfluß auf ihn für immer zerstören.«

»Fahren Sie fort, fahren Sie fort,« keuchte der Squire; »sprechen Sie es aus. Ich will dem undankbaren Jungen nie sagen, daß ich seine Geheimnisse von einem Anderen erfahren habe.«

»Nun denn,« sagte Randal, »das Geheimniß seiner Verwicklung mit Madame di Negra ist einfach dies. Er fand sie in Schulden – ja, auf dem Punkte, verhaftet zu werden –«

»Schulden! – Verhaftet!«

»Und indem er ihre Schulden selbst bezahlte und sie vor dem Gefängnisse rettete, legte er ihr eine Verpflichtung auf, die eine Frau von Ehre von Niemand, als von ihrem künftigen Gatten, annehmen kann. Armer Frank! Er ist traurig eingezogen worden, aber unser Mitleid und unsere Verzeihung dürfen wir ihm nicht versagen.«

Plötzlich zu Randal's großem Erstaunen klärte sich das ganze Gesicht des Squires auf.

»Ich sehe, ich sehe!« rief er aus. »Ich hab's – ich hab's. Es ist eine Geldgeschichte! Ich kann sie abkaufen. Wenn sie von ihm Geld genommen hat, die feile, geschminkte Bagage, o, dann wird sie auch von mir Geld nehmen. Es ist mir gleichgültig, was es kostet – mein halbes Vermögen – mein ganzes! Ich wäre es zufrieden, Hazeldean-Hall nie mehr zu sehen, wenn ich damit meinen Sohn, meinen einzigen Sohn, von Schande und Elend retten könnte; denn elend wird er sein, wenn er weiß, daß er mir und seiner Mutter das Herz gebrochen hat. Und um eines Geschöpfes willen, wie dieses! Mein Junge, tausend herzlichen Dank Ihnen. Wo wohnt die Nichtswürdige? Ich will auf der Stelle zu ihr.«

Und während er sprach, riß er seine Brieftasche heraus und begann, die darin befindlichen Banknoten abzuzählen.

Randal versuchte anfangs diesen kühnen Entschluß des Squires zu bekämpfen; allein Mr. Hazeldean bestand mit ächt englischer Hartnäckigkeit auf seinem Vorsatze. Er schnitt Randal's Beredtsamkeit, womit ihn dieser zu überzeugen suchte, in der Mitte ab und sagte:

»Verschwenden Sie nicht ihren Athem. Ich habe es beschlossen; und wenn Sie mir nicht sagen, wo sie wohnt, so wird es, denke ich, leicht zu finden sein.«

Randal sann einen Augenblick nach. »Im Grunde,« dachte er, »warum nicht? Er wird ohne Zweifel durch sein Benehmen ihren Stolz gegen sich herausfordern und Frank zum Aeußersten reizen. Er soll hingehen.«

Er gab demgemäß die gewünschte Auskunft und nahm dem Squire nur das ernstliche Versprechen ab, gegen Madame di Negra der von Frank geleistete pekuniären Hülfe nicht zu erwähnen (weil dies Randal als Gewährsmann verrathen würde). Wohl oder übel mußte er sich bei der Versicherung des Squires, »er wisse recht gut, wie die Sache zu bereinigen sei, ohne über das Warum und Wozu Rechenschaft zu geben, so lange man die Börse weit genug offen habe,« beruhigen.

Er begleitete Mr. Hazeldean eine Strecke weit zurück und verließ ihn dann, nachdem er für den Abend eine bestimmte Stunde zu einer Besprechung in Limmer's Hotel ausgemacht und zu verstehen gegeben hatte, daß es am Besten sein würde, wenn der Pfarrer hiebei nicht zugegen wäre.

»Ein vortrefflicher, braver Mann,« sagte Randal, »besitzt aber nicht die nöthige Weltkenntniß für derartige Angelegenheiten, aus deren Abwickelung Sie sich so gut verstehen.«

»Ich sollte es meinen,« versetzte der Squire, der seine gute Laune wieder vollständig gewonnen hatte. »Und der Pfarrer ist so weich, wie Butter. Hier gilt es, fest zu sein. Sir – fest.«

Und der Squire stieß das Ende seines Stockes auf das Pflaster, nickte Randal zu und ging so muthig und zuversichtlich in der Richtung gegen Mayfair weiter, als handle es sich um den Kauf einer preisgekrönten Kuh bei einer Viehausstellung.


Zwölftes Kapitel.

» Setzen Sie das Licht näher her,« sagte John Burley – »noch näher.«

Leonard gehorchte und stellte den Leuchter auf einen kleinen Tisch neben dem Bette des kranken Mannes. Burley phantasirte; allein in seinem Irrsinn war Methode. Nach Hamlet, II, 2. Horace Walpole Britischer Schriftsteller, Politiker und Künstler; gilt sowohl als Begründer der Gothic Novel (The Castle of Otranto, 1764) sagte, »sein Magen werde seinen ganzen übrigen Körper überleben.« Was in Burley alles Andere überlebte, war sein eigentümlicher, wilder Genius. Er blickte aufmerksam in die ruhige Flamme der Kerze und sagte: »Es lebt immer in der Luft!«

»Was lebt immer?«

Burley's Stimme hob sich. – »Das Licht!« Er wandte sich von Leonard ab und betrachtete von Neuem die kleine Flamme. »In dem Fixsterne, in dem Irrlicht, in der großen Sonne, die eine halbe Welt beleuchtet, oder in dem schlechten Talglicht, bei welchem der zerlumpte Student seine Augen abmüht – immer dieselbe Blume der Elemente. Licht in dem All, Gedanken in der Seele – ja – ja – weiter in dem Gleichnisse! Der Kopf schwindelt mir. Lösch' das Licht aus! Du kannst es nicht; Thor, es verschwindet vor deinem Auge, aber es ist noch immer in dem Raume. Welten müssen untergehen, Sonnen einschrumpfen, Materie und Geist – beide in Nichts zerfallen, ehe die Stoffe, deren Zusammensetzung diese kleine Flamme erzeugt, die der Hauch eines Kindes in die Dunkelheit zurückwerfen kann, die Macht verlieren, sich von Neuem zu Licht zusammenzufügen. Die Macht verlieren? – nein, die Nothwendigkeit; sie ist das einzige Muß in der Schöpfung. Ja, ja, sehr dunkle Räthsel werden mir jetzt klar – jetzt, da ich nicht die Summe einer Bäckerrechnung zusammenzählen könnte! Welcher weise Mann leugnete, daß zwei mal zwei vier macht? Macht es nicht vier? Ich kann ihm nicht darauf antworten. Aber eine andere Frage könnte ich beantworten, die gewisse weise Männer viel schwieriger zu machen gewußt haben.«

Er lächelte sanft und kehrte sein Gesicht einige Minuten der Wand zu.

Dies war die zweite Nacht, in welcher Leonard neben seinem Bette wachte; und Burley's Zustand hatte sich rasch verschlimmert. Es konnte nur noch wenige Tage, vielleicht nur wenige Stunden bei ihm dauern. Uebrigens hatte er bei Leonard's Anblick eine Aufregung gezeigt, die mehr als bloße Freude schien. Er war seitdem ruhiger, mehr er selbst gewesen.

»Ich fürchtete, Sie durch mein schlechtes Beispiel zu Grunde gerichtet zu haben,« sagte er mit einem Anflug von Laune, welche aber gleich wieder in Pathos überging, als er beifügte: »Dieser Gedanke hat an meinem Herzen genagt.«

»Nein, nein; ich habe Ihnen viel Gutes zu verdanken.«

»Sagen Sie das oft, recht oft,« bat Burley ernstlich, »es wird mir dabei so leicht um's Herz.«

Er hatte Leonard's Erzählung mit großer Teilnahme zugehört und redete sehr gerne mit ihm über die kleine Helene. Er entdeckte das Geheimniß des jungen Mannes und ermuthigte die Hoffnungen, welche zwischen Furcht und Sorgen in dessen Herzen verborgen lagen.

Burley sprach nie ernstlich von seiner Reue, wie er sich überhaupt nie über Dinge, die er tief fühlte, im Ernste ausließ. Aber seine physischen Lebensgeister waren zugleich mit der physischen Kraft, welche sie nährte, erloschen. Wir gehen aus unserem sinnlichen Dasein erst dann heraus, wenn wir nicht mehr von der Gegenwart, dem Reiche der Sinne, beherrscht werden. Der sinnliche Mensch verschwindet, wenn uns die Vergangenheit oder die Zukunft beschäftigt. Die Gegenwart war für Burley nicht mehr da; er konnte nicht mehr ihr Sklave, nicht mehr ihr König sein.

Es war rührend, zu sehen, wie sich der innere Charakter dieses Mannes entfaltete, während die Blätter des äußeren abfielen und verwelkten – ein Charakter, den Niemand bei ihm vermuthet haben würde, von beinahe weiblicher Zartheit und mit der ganzen Selbstverleugnung eines Weibes. Er nahm die Pflege, die ihm zu Theil wurde, so demüthig hin. Wie die Züge eines alten Mannes im Tode wieder einen jugendlichen Ausdruck bekommen, die Linien sich glätten und die Runzeln verschwinden, so war jetzt Burley das Bild dessen, was er im Frühling seines Lebens zu werden versprochen hatte. Aber seinen eigenen Augen schwebte nur dasjenige vor, was er zu werden versäumt hatte – er sah nichts, als verschwendete Kräfte und ein vergeudetes Leben.

»Ich erblickte einmal,« sagte er, »in der Ferne ein Schiff in einem Sturm. Es war ein wolkiger Tag, das Wetter wechselnd, und ich konnte sehen, wie das Schiff mit allen seinen Masten einen harten Kampf auf Leben und Tod kämpfte. Dann kam die Nacht – rabenschwarz, und ich konnte nur vermuthen, daß das Schiff fortkämpfte. Gegen Tagesanbruch wurden die Sterne sichtbar, und noch einmal sah ich das Schiff – es war ein Wrack – es ging unter, gerade als die Sterne zum Vorschein kamen.«

Nachdem er diese Anspielung auf sich selbst gemacht hatte, saß er eine Weile sehr stille da; dann streckte er seine mageren Hände aus und betrachtete dieselben, sowie seine abgezehrten Glieder.

»Gut,« sagte er, leise lachend; »diese Hände waren zu groß und rauh, um das zarte Gewebe meines Mechanismus zu handhaben, und diese starken Glieder sind mit mir durchgegangen. Wäre ich ein kränklicher, schmächtiger Bursche gewesen, vielleicht hätte mein Geist freieres Spiel gehabt. An diesem Körper hier war zu viel Thierisches. Man sehe jetzt diese Hand an! Das Licht scheint hindurch. Gut, gut!«

An jenem Abende war Burley, ehe er sich zu Bette legte, ungewöhnlich munter gewesen und hatte viel und beredt, wie in alten Zeiten, wenn auch nicht ganz mit dem alten Humor, gesprochen. Unter Anderem hatte er mit lebhaftem Interesse verschiedener Gedichte und Papiere in Manuskript erwähnt, welche von einer früheren Mietherin in dem Hause zurückgelassen, und die ihm, wie sich der Leser erinnern wird, von Mrs. Goodyer bei seinem letzten Besuche in der Hütte vergeblich zum Lesen empfohlen worden waren. Aber damals hatte er ihren Gatten Jakob zum Plaudern und die Branntweinflasche zum Leeren gehabt, und das wilde Sehnen nach Aufregung hatte seine Gedanken zu den Londoner Gelagen zurückgezogen. Jetzt war der arme Jakob todt, und es war kein Branntwein, was der kranke Mann aus dem Krügchen der Wittwe trank. Und London lag weit weg, gleich einer in Nebeln aufgelösten Welt. So hatte er sich, seiner Wirthin zu lieb und um sich in seiner Einsamkeit zu zerstreuen (unmittelbar ehe ihn Leonard ausfindig machte), herbeigelassen, die Aufzeichnungen eines von der Welt unbeachtet gebliebenen und ihm, der nur rohe Freuden und Leiden gekannt hatte, vollständig neuen und fremden Lebens durchzugehen.

»Ich habe zu meiner Unterhaltung aus dem Inhalte dieser Papiere einen Roman gefertigt,« sagte er. »Sie können Ihnen von Nutzen sein, Bruder Schriftsteller. Ich habe Mrs. Goodyer angewiesen, sie in Ihr Zimmer zu bringen. Unter diesen Schriften ist ein Tagebuch – das Tagebuch einer Frau; es hat mich tief bewegt. Ein Mann betritt eine ganz andere Welt, eine Welt, die ihm fremd ist, wie das Sternbild des Sirius, wenn er sich mitten in das Herz einer Frau hinein versetzen und dort ein von seinem eigenen so verschiedenes Leben schauen kann. Was uns von Bedeutung erscheint, kommt diesem Leben kleinlich vor, und umgekehrt. So ist es auch in diesem Tagebuche, dessen Daten mich an stürmische Perioden in meinem eigenen Dasein und an große Weltereignisse erinnern, während sie hier nur die geheimnisvolle, dunkle Geschichte eines liebenden Herzens beleuchten! Und, Meister Dichter, es ist darin so viel Genius, Kraft des Gedankens und Lebensfrische ausgegossen und vergeudet, als nur je, nach dem Urtheil liebevoller Freundschaft John Burley auf die rauhe Außenwelt verschwendete. Genius, Genius! So sind wir Alle gleich, außer wenn wir uns an das grobe Materielle festkoppeln und aus einem hölzernen Brett oder auf einem Häringsfasse über die brausende See hintreiben?«

Nachdem John Burley diesen Schrei geheimer Angst ausgestoßen hatte, begannen sich Symptome stärkeren Fiebers und wiederkehrenden Irrsinnes zu zeigen; und als sie ihn zu Bette gebracht, lag er vor sich hinmurmelnd da, bis er gegen Mitternacht Leonard bat, das Licht näher an sein Lager zu stellen.

Jetzt war er wieder ruhig – mit dem Gesichte gegen die Wand zugekehrt; und Leonard stand bekümmert neben seinem Bette, und Mrs. Goodyer, die auf Burley's Reden nicht achtete und nur an seinen körperlichen Zustand dachte, tauchte Leinwand in Eiswasser, um es ihm auf die Stirne zu legen. Als sie aber damit zu ihm hintrat und ihn beruhigen wollte, richtete sich Burley auf und wies die Umschläge zurück.

»Ich brauche sie nicht, sagte er mit sicherer Stimme. »Ich fühle mich jetzt besser. Ich und dieses freundliche Licht verstehen einander, und ich glaube alles, was es mir erzählt. Pah, pah! rede nicht irre.

Er blickte ihr so liebevoll lächelnd in das Gesicht, daß die arme Frau, die ihn wie ihren eigenen Sohn liebte, in helle Thränen ausbrach. Er zog sie zu sich her und küßte sie auf die Stirne.

»Ruhig, alte Thörin,« sagte er zärtlich. »Du sollst späteren Anglern erzählen, wie John Burley kam, um nach dem einäugigen Barsch zu fischen, den er nie gefangen hat; und wie du, als er es endlich aufgab, weil ihm all sein Köder ausgegangen und die Schnur in dem Unkraut abgerissen war, den betrogenen Mann tröstetest. Es gibt noch viele wackere Bursche in der Welt, die es freuen wird, daß der arme Burley nicht auf einem Dunghaufen gestorben ist. Küsse mich! Komm, Junge, auch du. Jetzt möchte ich schlafen; Gott segne euch!«

Seine Wangen waren naß von den Thränen, die auf ihn fielen, und etwas wie Feuchtigkeit drang auch in seine Augen, die nichtsdestoweniger durch die Feuchtigkeit hindurch hell glänzten. Er legte sich wieder nieder, und die alte Frau wollte das Licht entfernen. Er machte eine unruhige Bewegung. »Nicht, nicht,« murmelte er, »Licht bis zuletzt!« und indem er seine Hand ausstreckte, zog er den Vorhang auf die Seite, so daß ihn das Licht voll beschien. In wenigen Minuten war er eingeschlafen und athmete ruhig und regelmäßig, wie ein Kind.

Die alte Frau wischte sich die Augen und zog Leonard leise in ein anstoßendes Gemach, in welchem ein Bett für ihn aufgeschlagen worden. Er hatte das Haus nicht verlassen, seit er mit Doktor Morgan gekommen war.

»Sie sind jung, Sir,« sagte sie freundlich, »und die Jugend braucht Schlaf. Legen Sie sich ein wenig nieder; ich will Sie rufen, wenn er aufwacht.«

»Nein, ich könnte nicht schlafen,« sagte Leonard. »Ich will statt Ihrer wachen.«

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich muß bleiben, bis es mit ihm zu Ende geht, Sir; aber ich weiß, er wird böse werden, wenn er seine Augen öffnet und mich sieht; er ist sehr rücksichtsvoll für Andere geworden.«

»Ach, wenn er nur für sich selbst ebenso rücksichtsvoll gewesen wäre,« murmelte Leonard. Dann setzte er sich an den Tisch und stützte den Ellenbogen auf, wobei er verschiedene da liegende Papiere in Unordnung brachte. Sie fielen mit einem dumpfen klagenden, seufzenden Tone zu Boden.

»Was ist dies?« sagte er aufspringend.

Die alte Frau las die Manuskripte auf und strich sie sorgfältig wieder glatt.

»Ach, Sir, er hieß mich diese Papiere hierher legen. Er dachte, sie würden Ihre Sorgen um ihn vertreiben, für den Fall, daß Sie aufbleiben und wachen sollten. Und auch an mich hat er dabei gedacht; denn ich habe mich so abgemüht, die arme junge Dame aufzufinden, welche sie vor Jahren hier zurückgelassen hat. Sie war mir beinahe so theuer, wie er mir ist; noch theurer vielleicht, bis jetzt – da – da ich nahe daran bin, ihn zu verlieren.«

Leonard wandte sich von den Papieren ab, ohne einen Blick in dieselben zu werfen; sie hatten in einem solchen Augenblicke kein Interesse für ihn.

Seine Wirthin fuhr fort:

»Vielleicht ist sie ihm in den Himmel vorangegangen; sie sah nicht aus, als hänge sie sehr an dieser Welt. Sie verließ uns so plötzlich. Noch viele andere Sachen, die ihr gehören, sind da; aber ich habe sie immer fleißig gelüftet und abgestäubt und Lavendel darüber gestreut für den Fall, daß sie wiederkommen und sie holen sollte. Sie hörten nie von ihr reden, Sir?« fügte sie mit großer Einfalt und einem halben Knix hinzu.

»Von ihr? – von wem?«

»Sagte Ihnen Mr. John nicht ihren Namen? – Ei – ei – Mrs. Bertram.«

Leonard fuhr empor. Derselbe Name, der sich seinem Gedächtnisse durch Harley L'Estrange's Reden so tief eingeprägt hatte.

»Bertram!« wiederholte er. »Wissen Sie das gewiß?«

»O freilich, Sir! Und viele Jahre, nachdem sie uns verlassen und wir nichts mehr von ihr gehört hatten, kam ein an sie adressirtes Paket hier an – über's Meer, Sir. Wir nahmen es ab und behielten es, und John glaubte das Sigel erbrechen zu sollen, um zu erfahren, ob es Nachrichten von ihr bringe; aber es war alles in einer fremden Sprache – wir konnten kein Wort lesen.«

»Haben Sie das Paket noch? Bitten zeigen Sie es mir. Vielleicht ist es von größtem Werthe. Doch nein – lieber morgen – ich habe in diesem Augenblicke keine Gedanken dafür. Armer Burley!«

Mrs. Goodyer sah, daß Leonard nicht weiter zu sprechen und allein zu sein wünschte; sie verließ ihn deßhalb und schlich auf den Zehen in Burley's Zimmer zurück.

Der junge Mann blieb einige Zeit in tiefes Träumen versunken. »Licht,« murmelte er. »Wie oft ist Licht das letzte Wort derjenigen, um welche sich die dunkeln Schatten lagern Jedermann weiß, daß Göthe's letzter Ausruf gewesen sein soll: »Mehr Licht!« und man könnte vielleicht die Burley und Leonard in den Mund gelegten Worte für Plagiat halten. Allein es ist Thatsache, daß das Verlangen und die Sehnsucht nach Licht kurze Zeit vor dem Tode zu den gewöhnlichen Erscheinungen gehört. Wer die letzten Augenblicke eines Kranken schon bewacht hat, kann hierin seine eigenen schmerzlichen Erfahrungen zu Rathe ziehen. Was ist häufiger, als die Bitte, die Läden zu öffnen und die Sonne hereinzulassen. Welche Klage wird öfter gehört und ist ergreifender, als die, »es werde dunkel?« Ich kannte einen Leidenden, der, ohne daß er sich in unmittelbarer Gefahr zu befinden schien, plötzlich den Befehl gab, das Krankenzimmer wie für eine große Gesellschaft zu erleuchten. Als man dies dem Arzte mittheilte, sagte er ernst: »Ein sehr schlimmes Zeichen.« [ Anm.d.Verf.]!« Und während er so zu sich sprach, strömte ihm durch das Gitterfenster wirklich Licht entgegen – keine ärmliche, von Menschenhand angezündete Flamme, sondern die stille, heilige Pracht eines Mondscheinhimmels. Es bedeckte den bescheidenen Fußboden, überschritt die Schwelle der Kammer des Todes und gränzte sich scharf gegen deren Schatten ab.

Leonard stand regungslos, und sein Auge folgte dem ruhigen, silbernen Glanze.

»Und,« setzte er sein Selbstgespräch fort, »und wird diese mächtige, irrende, durch ihre genialen Fehler verdorbene Natur, wird diese Seele, die gleich jener Kugel, groß genug gewesen wäre, ein ganzes Land mit einem Lichte zu erfüllen, das Himmel und Erde verbunden hätte – wird sie dahin gehen in die Dunkelheit und keinen Strahl zurücklassen? Nein, wenn die Elemente des Lichts immer in dem Raume sind und, sobald die Flamme erlöscht, in die lebendige Luft zurückkehren, dann lebt auch der Gedanke, einmal entzündet, immer fort als ein Theil der Atmosphäre, die wir einathmen. Mancher Denker, mancher Dichter kann noch die Welt erleuchten mit Gedanken, deren Vater jener Genius ist, der keinen Namen haben wird; und sie werden fort und fort durch die Lüfte wandern, um sich zuletzt wieder zu einer neuen Lichtform zu vereinigen.«

Mit solchen sophistischen Betrachtungen Verzerrende Übersetzung Winterfelds; nichts könnte der Figur Leonard fremder sein als Sophismus! – Carl Kolb schreibt richtig: »So erging er sich in unbestimmten Spekulationen …« (»Thus he went on in vague speculations …«) – Das kommt dabei heraus, wenn man als heimlicher Bearbeiter (Winterfeld) gezwungen ist, sich von seiner Leitübersetzung (Kolb) zu unterscheiden! suchte er einerseits, was die nach Ruhm dürstende Jugend so gerne thut, zu bewahren, daß der Geist nie, auch wenn er sich auf Irrwegen befindet, vergeblich arbeite, und andererseits die Seele, welche sich eben weit über die Atmosphäre, welche die ruhmschaffenden Elemente in sich birgt, zu erheben im Begriffe stand, ihrer Einwirkung auf die Erde zu erhalten. Nicht so hatte sich der sterbende Mann die Fortdauer des Lichts und der Gedanken gedeutet!

Plötzlich mitten in seiner Träumerei schlug ein dumpfer Schrei an sein Ohr. Ein Schauder durchrieselte ihn bei diesem Tone, und er eilte ahnungsvoll in das anstoßende Zimmer. Die alte Frau kniete neben dem Bette, rieb Burley's Hand und sah erwartungsvoll in sein Gesicht. Ein Blick genügte Leonard. Alles war vorüber. Burley hatte im Schlafe geendet – ruhig und ohne Kampf.

Die Augen waren halb offen mit jenem Ausdrucke unaussprechlicher Weichheit, welche der Tod bisweilen zurückläßt; und noch immer waren sie dem Lichte zugewendet; und das Licht brannte hell. Leonard drückte sanft die schweren Lider zu; und als er das Antlitz bedeckte, lächelten ihm die Lippen ein heiteres Lebewohl zu.


Dreizehntes Kapitel.

Wir haben gesehen, wie Squire Hazeldean, stolz auf den Inhalt seiner Brieftasche und auf seine Kenntniß von der Feilheit ausländischer Weiber, sich zu Beatrice di Negra auf den Weg machte.

Randal, der allein und sinnend in den belebten Straßen zurückblieb, berechnete mit schlauer Selbstgefälligkeit die wahrscheinlichen Folgen von Mr. Hazeldean's rauher Geschäftsbehandlung; und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die eine seiner Aussichten auf Vermögen immer klarer wurde, begann er mit der rastlosen Thätigkeit eines Städtegründers in einer neuen Ansiedelung die Zweige, welche den anderen Luft und Licht versperrten, abzukippen. Denn wie sich ein Mann in einem ungeheuren Urwalde bald mit der stets bereiten Axt, bald mit dem langsamer wirkenden Feuer sich begnügend, freie Bahn schafft, so kämpfte dieses Kind des civilisirten Lebens gegen die ihn umgebenden Hindernisse, stets entschlossen, hier zu zerstören, dort neu aufzubauen.

Und jetzt hat Randal Levy's zierliches Arbeitszimmer erreicht und ist tief im Gespräche über die Mittel, wie ihm auf Kosten seines Gönners der Sitz für Lansmere gesichert, und wie der Vertrag, der seinem verlorenen Erbe einige Trümmer des früheren Reichthums hinzufügen soll, erfüllt werden kann.

Unterdessen begünstigte ihn das Glück in dem Boudoir zu May Fair. Der Squire hatte die Marchese zu Hause getroffen, mit wenigen Worten sich und den Zweck seines Besuches genannt, ihr erklärt, daß sie sich im Irrthum befinde, wenn sie sich einbilde, in seinem Sohne einen reichen Erben gefangen zu haben, daß er, Gott sei Dank, seine Güter, wenn er Lust habe, seinem Ackerknecht hinterlassen könne, daß er aber Willens sei, sich liberal finden zu lassen, und sich hiermit erbiete, jede Stimme zu bezahlen, die Frank in ihren Augen werth sei.

Zu einer andern Zeit würde vielleicht Beatrice über diese sonderbare Anrede gelacht haben oder in beleidigtem Adels- und Frauenstolze aufgebraust sein; aber jetzt war ihr Geist gebrochen, ihre Nerven herabgestimmt: das Gefühl ihrer unwürdigen Stellung, ihrer Abhängigkeit von ihrem Bruder, in Verbindung mit dem heißen Schmerze über den Verlust jener Träume, mit welchen Leonard eine Zeit lang in ihr müdes Leben einen neuen Zauber gebracht hatte – alles das kam über sie.

Bleich und sprachlos hörte sie zu; und der arme Squire glaubte bereits einen günstigen Erfolg erzielt zu haben, als sie endlich in ein krampfhaft leidenschaftliches Weinen ausbrach und in diesem Augenblick Frank selbst in das Zimmer trat. Der Anblick seines Vaters und Beatricen's stummer erstickten in ihm das Gefühl der Kindespflicht. Er war wahnsinnig vor Zorn über die Beschimpfung, welche der Gegenstand seiner Liebe, wie ihm ihr bebender Mund erklärte, erfahren hatte – wahnsinnig noch mehr aus Furcht, diese Beschimpfung möchte sie ihm geraubt haben. Zwischen Vater und Sohn fielen warme Worte, die mit dem bestimmten Befehl und der heftigen Drohung des Letzteren schloßen.

»Du gehst auf der stelle von hier fort. Du gehst mit mir, oder, ehe der Tag vorbei ist, streiche ich dich aus meinem Testamente!«

Die Antwort des Sohnes galt nicht dem Vater. Er warf sich zu Beatricen's Füßen .

»Vergeben Sie ihm – vergeben Sie uns Beiden –«

»Wie? Du ziehst diese Fremde mir – du ziehst sie dem Erbe von Hazeldean vor?« rief der Squire, aus den Boden stampfend.

»Hinterlasse deine Güter, wem du willst. Alles, um was ich mich im Leben kümmere, ist hier.«

Der Squire blickte einen Augenblick, ohne sich zu rühren, auf seinen Sohn mit einem seltsamen, verwirrten Staunen über die Stärke dieser geheimnisvollen Leidenschaft, welche keiner, der nicht unter ihrem fürchterlichen Zauber steht, begreifen kann – welche ein plötzliches, aller Vernunft Hohn sprechendes Götzenbild schafft und seinem verhängnißvollen Altare Vergangenheit und Zukunft opfert.

Der Vater, der sich nicht zu sprechen getraute, fuhr mit der Hand über die Augen und wischte die bittere Thräne weg, die aus einem überströmenden, entrüsteten Herzen quoll; dann stieß er einen unverständlichen Laut aus, und als er fand, daß er die Stimme verloren hatte, ging er auf die Thüre zu und verließ das Haus.

Er schritt durch die Straßen, das Haupt hoch aufrecht tragend wie ein stolzer Mann, der tief verwundet ist und eine Neigung, die er für eine Schwäche hält, abzuschütteln strebt, und seine zitternden Finger versuchten den Knopf seines Rockes zu fassen und das Kleidungsstück über der Brust zuzumachen, als müßte er sich in einem Entschlusse bestärken, der sich noch immer aus dem empörten Herzen herausarbeiten zu wollen schien.

So ging er weiter, und der Leser wird sich vielleicht wundern, wohin; und nicht weniger wird er sich wundern, wenn er den Squire in Grosvenor Square vor dem Portale des stattlichen Hauses seines »Fernbruders« entschieden Halt machen sieht.

Auf des Squires kurze Frage, ob Mr. Egerton zu Hause sei, rief der Portier dem Kammerdiener; und der Kammerdiener, der einen Fremden vor sich erblickte, wußte nicht, ob nicht sein Herr beschäftigt sei, meinte jedoch, er könne nachsehen, wenn ihm der Fremde seine Karte geben wolle.

»Ja, ja,« murmelte der Squire, »das sind die ächten Verwandten; mein Kind zieht eine Fremde mir vor – warum soll ich mich beklagen, daß ich in eines Bruders Hause ein Fremder bin? Sir,« fügte der Squire laut und sehr demüthig hinzu, »Sir, ich bitte, sagen Sie Ihrem Herrn, daß ich William Hazeldean sei.«

Der Diener verbeugte sich tief und geleitete den Besuch ohne ein weiteres Wort in das Bibliothekzimmer des Staatsmannes, woselbst er Mr. Hazeldean meldete und dann die Thüre schloß.

Audley saß an seinem Schreibtische, die grimmigen eisernen Kisten noch immer zu seinen Füßen; aber sie waren jetzt verschlossen. Und der Exminister beugte sich nicht mehr über amtliche Dokumente; Briefe ganz anderer Art lagen vor ihm ausgebreitet; in seiner Hand hielt er eine lange Locke von blondem Seidenhaare, welche er traurig und unverwandten Blicks betrachtete. Er fuhr zusammen, als er den Namen seines Besuchs nennen und den kräftigen Tritt des Squires näher kommen hörte, und mechanisch barg er das Andenken an jüngere und lebensfrohere Jahre in seiner Brust, die Hand auf das Herz gedrückt, welches krankhaft laut unter dem leichten Drucke dieses goldenen Haares schlug.

Die zwei Brüder standen an dem einsamen Herde des großen Mannes, blickten sich gegenseitig in's Gesicht und, ohne es zu wissen, dachte jeder über die Veränderung nach, welche die vielen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen, in dem Andern hervorgebracht hatte.

Der Squire mit seinem stattlichen Umfang, seinen festen, sonnverbrannten Wangen, der theilweisen Kahlheit seiner noch ungefurchten, offenen Stirne, verleugnete sein Alter in keiner Weise: er sah aus wie ein Mann tief in der Mitte des Lebens. Er schien ganz entschieden der pater familias, der Gatte und Vater, der Mann der socialen häuslichen Bande zu sein.

Aber um Audley, der allerdings einige wenige Jahre jünger war, als der Squire, schwebte ungeachtet der sorgenvollen Linien in seinem schönen Gesichte noch immer die Anmuth der Jugend. Die Stadt erhält die Leute länger jung, als das Land – eine Bemerkung, welche Buffon nicht verfehlt hat ausdrücklich hervorzuheben und zu erklären. Auch hatte Egerton nicht das Aussehen eines verheiratheten Mannes; der Stempel unaussprechlicher Einsamkeit schien dem Manne aufgedrückt, dessen Privatleben lange Zeit so strenge Zurückgezogenheit gewesen war. Kein heimatlicher Strahl spielte um diese gefaßten, freudlosen, melancholischen Brauen. Mit Einem Worte – Audley sah noch immer aus, wie ein Mann, um welchen ein junges weibliches Herz zärtlich seufzen konnte, und keinen Eintrag thaten hierin die kalten Augen und die zusammengezogenen Lippen; welche das Interesse herausforderten während sie es zu gleicher Zeit zurückzustoßen schienen.

Audley war der Erste, der sprach und die rechte Hand ausstreckte, nachdem er sie langsam von dem Platze an seiner Brust entfernt hatte, woselbst die Haarlocke sich noch immer unter dem Pochen des ringenden Herzens auf und nieder bewegte.

»William,« sagte er mit seiner weichen, tiefen Stimme, »das ist freundlich von dir. Du kömmst, nach mir zu sehen, jetzt, da die Leute mich bereits zu den gefallenen Größen zählen. Der Minister, welchen du tadeltest, ist nicht mehr; und du siehst wieder den Bruder.«

Der Squire war durch diese Anrede auf der Stelle erweicht. Er schüttelte herzlich die ihm dargebotene Hand, und dann wandte er in der ehrlichen Ueberzeugung, daß er die gute Meinung, welche Audley ausgesprochen hatte, nicht verdiene, den Kopf ab und sagte:

»Nein, nein, Audley; ich bin selbstsüchtiger, als du glaubst. Ich bin gekommen – ich bin gekommen, mir deinen Rath zu erbitten – nein, nicht gerade deinen Rath – aber deine Ansicht. Doch du bist beschäftigt?«

»Setze dich, William. Alte Zeiten lebten wieder in mir auf, als du eintratest; noch frühere Zeiten kehren jetzt wieder – Zeiten, welche keinen Schatten zurücklassen, wenn ihre Sonnen untergegangen sind.«

Der stolze Mann schien zu denken, er habe zu viel gesagt. Sein praktischer Sinn verwarf poetisch sentimentale Phrasen. Er faßte sich wieder und fügte kälter hinzu:

»Du wolltest meine Ansicht wissen? Worüber? Ueber eine öffentliche Angelegenheit – über eine Parlamentsbill, welche dich in deinem Eigenthum benachteiligen könnte?«

»Bin ich ein solcher Geizhals? Eigenthum – Eigenthum? Welchen Werth hat das Eigenthum, wenn ein Mann an seinem eigenen Herde zu Boden geschlagen wird? Eigenthum – warum nicht gar! Aber du hast keine Kinder – glücklicher Bruder!«

»Ja, ja; wie du sagst, ich bin ein glücklicher Mann! Kinderlos! Hat dein Sohn dein Mißfallen erregt? Ich habe doch gut von ihm reden hören.«

»Sprich nicht von Ihm. Ob sein Benehmen gut oder schlimm ist, geht mich an,« versetzte der arme Vater mit ärgerlicher Stimme; denn er war eifersüchtig auf Audley's Aeußerungen des Lobes wie des Tadels über seinen rebellischen Sohn. Dann stand er einen Augenblick auf, holte tief Athem, legte hierauf seine breite braune Hand auf die Schulter seines Bruders und sagte:

»Randal Leslie versichert mich, du seiest weise – ein vollendeter Weltmann. Ohne Zweifel ist es so. Und Pfarrer Dale versichert mich, er wisse gewiß, daß du warme Gefühle habest, was mir sonderbar vorkommt bei einem Manne, der so lange in London gelebt hat und weder Weib, noch Kind besitzt – bei einem Wittwer und Parlamentsmitglied – noch dazu für eine Handelsstadt. Lächle nicht; mir ist nicht lächerlich zu Muthe. Du kennst ein ausländisches Weib Namens Negra oder Negro – aber keine schwarze Mohrin, wenigstens nach ihrer Außenseite nicht. Ist sie eine Frau, von welcher ein einfacher Landedelmann wünschen könnte, daß sie sein einziger Sohn heirathe – ja oder nein?«

»Gewiß nicht,« antwortete Audley ernst, »und ich hoffe, dein Sohn wird keine so übereilte Handlung begehen. Soll ich mit ihm oder mit ihr reden? Sprich, mein lieber William. Was soll ich thun?«

»Nichts, du hast genug gesagt,« erwiderte der Squire düster, und sein Haupt sank auf seine Brust.

Audley nahm seine Hand und drückte sie brüderlich.

»William,« sagte der Staatsmann, »wir sind uns lange fremd gewesen; aber ich habe unser letztes Zusammentreffen in – in Lord Lansmere's Hause nicht vergessen. Als ich dich damals auf die Seite nahm und zu dir sagte: ›William, wenn ich in dieser Wahl unterliege, so muß ich jede Aussicht, mich dem öffentlichen Leben zu widmen, aufgeben; meine Angelegenheiten sind nicht geordnet; ich könnte Geld nöthig haben und würde es doch von dir nicht annehmen; wenn ich mich aber nach einem Beruf umsehen wollte, so könntest du mir dazu behülflich sein‹ – damals erriethest du, was ich im Auge hatte, und sagtest: ›Nimm die Weihe, die Hazeldeanpfründe ist eben unbesetzt. Ich will einen Stellvertreter hinsetzen, bis du ordinirt bist.‹ Das vergesse ich dir nicht. Ich wollte, ich hätte früher an diesen friedlichen Zufluchtsort gegen alles was mich damals quälte, gedacht. Mein Loos hätte weit glücklicher sein können.«

Der Squire vergaß alles, was ihn bisher so ausschließlich bewegt hatte und sah überrascht zu Audley auf. »Glücklicher? Nun, dir ist doch alles geglückt, und du bist jetzt reich genug, und – du schüttelst den Kopf? Bruder, ist es möglich! Du brauchst Geld? Pah, von seiner Mutter Sohn kein Geld annehmen zu wollen! Dummes Zeug!« Und heraus kam wieder die Brieftasche des Squires. Audley schob sie sanft bei Seite.

»Nein,« sagte er. »Ich habe für mich selbst genug; aber da du mir so liebevoll entgegen kommst, so will ich dich um eine Gunst bitten. Wenn ich sterben sollte, ehe ich für den Verwandten meiner Frau Randal Leslie, die mir wünschenswerth erscheinende Vorsorge treffen kann, willst du dann sein Bestes im Auge behalten, soweit du es thun kannst, ohne Andere – ohne deinen eigenen Sohn zu beeinträchtigen?«

»Meinen Sohn? für den ist gesorgt. Er hat das Casino – möge es ihm darauf wohl gehen. Du hast eben den Gegenstand berührt, welcher mich hieher brachte. Dieser Junge, Randal Leslie, scheint ein wackerer Bursche und hat Hazeldeanblut in seinen Adern. Du hast dich seiner angenommen, weil er mit deiner verstorbenen Frau verwandt ist. Warum sollte ich nicht das Gleiche thun, da seine Großmutter eine Hazeldean war? Ich wollte dich fragen, was du für ihn zu thun im Sinne hast; denn wenn du nicht für ihn zu sorgen gedenkst, nun, dann will ich es thun, weil ich es für meine Pflicht halte. Du hast deinen Wunsch ganz zur rechten Zeit ausgesprochen; ich gehe damit um, mein Testament abzuändern. Ich kann ihn zum Erben einsetzen und ihm nebenbei ein schönes Vermächtniß hinterlassen. Du mußt ja wissen, ob er ein guter Junge ist – und in diesem Falle wird es dir auch Freude machen, Audley!«

»Aber nicht aus Kosten deines Sohnes. Und halt, William; Von hier an bis »Kein Wort will ich mehr von ihr hören!« mussten in dem einzigen verfügbaren Text (Bayerische StaatsBibliothek, München) zwei fehlende Seiten (in Winterfelds Ausgabe die Seiten 554 und 555 des zweiten Bandes) aus der Übersetzung von Carl Kolb (S. 1186 bis S. 1188 oben) ergänzt werden (unter Angleichung an die Rechtschreibung des Jahres 1868); dasselbe gilt kurz danach für die Lücke der Seiten 558 f. (bei Kolb die Seiten 1190 bis 1192) sowie für die Seiten 584 f. (bei Kolb S. 1217-1219). Man mag dieses Verfahren für bedenklich halten; allein eingedenk der Tatsache, dass Winterfeld ohnedies stark von Kolbs qualitativ besserer Übersetzung abhängt, ist trotz durchaus unterschiedlicher Stillagen der beiden Übersetzungen der Schaden für den Leser sicherlich gering. was diesen thörichten Handel mit der Madame di Negra betrifft, wer sagte Dir, daß Frank einen solchen Schritt beabsichtige?«

»Ich hab' es aus seinem eigenen Munde. Doch an dem liegt nichts. Randal und ich, wir Beide haben unser Möglichstes gethan, ihm die Sache auszureden; auch bin ich auf Randal's Rath zu Dir gekommen.«

»Unser Vetter Randal hat also edelmüthig gehandelt, und ich freue mich, dies zu hören,« sagte Audley, und seine Stirne klärte sich einigermaßen auf. »Ich besitze keinen Einfluß auf diese Dame, kann ihr aber wenigstens einen Rath ertheilen. Die Heirath mußt Du nicht als schon abgeschlossen betrachten, weil ein junger Mensch sie sich in den Kopf gesetzt hat. Die Jugend ist immer heißblütig und vorschnell.«

»Deine Jugend war es nie,« entgegnete der derbe Squire, »und Du bist mit Deiner Heirath gut genug gefahren. Eins muß ich Dir noch zum Lobe nachsagen: Du bist zwar nach meinem Geschmack ein schlechter Politiker gewesen – ich bitte um Verzeihung – warst aber immer ein Gentleman, der seine Familie nie herabgewürdigt haben würde durch eine Heirath mit einer –«

»Bst!« unterbrach ihn Egerton sanft. »Nimm die Sachen nicht schlimmer als sie sind. Madame di Negra's Familie steht in ihrem Vaterland sehr hoch, und wenn üble Nachrede –«

»Ueble Nachrede!« rief der Squire, zusammenfahrend und erblassend. »Sprichst Du von dem Weibe eines Hazeldean? Wenigstens soll sie nie an dem Herd sitzen, an dem jetzt seine Mutter sitzt, und was ich auch für Frank thun mag, aufs seine Kinder soll das Erbe nicht kommen. Ich will keine Mischlingsbrut auf dem englischen Hazeldean haben. Schönen Dank für Deine Theilnahme, Audley – hat mich gefreut, Dich wieder zu sehen; und hör' – Du hast mich erschreckt durch Dein Kopfschütteln, als ich von Deinem Reichthum sprach; und aus dem, was Du über Randals Aussichten sagst, muß ich schließen, daß es bei euch Londoner Gentlemen nicht so gedeihlich hergeht wie bei uns. Du mußt mich ausreden lassen. Ich wiederhole, daß ich einige Tausende habe, die Dir ganz zu Dienst stehen; denn obschon kein Hazeldean, bist Du doch meiner Mutter Sohn; und nun ich im Begriff stehe, mein Testament zu ändern, kann ich eben so gut den Namen Egerton als den Namen Leslie hineinflicken. Sei daher guten Muths! Du bist jünger als ich und hast kein Kind – wirst deßhalb mich bei weitem überleben.«

»Mein lieber Bruder,« entgegnete Audley, »glaube mir, ich werde es nicht erleben, daß ich Deine Hülfe brauche. Und was Leslie betrifft, so füge den fünftausend Pfunden, die ich ihm zu geben gedenke, eine gleiche Summe in Deinem Testamente bei; dann kann ich mir sagen, daß ihm Gerechtigkeit widerfahren ist.«

Als Audley bemerkte, daß der Squire ungeachtet seines aufmerksamen Zuhörens nicht sogleich antwortete, lenkte er das Gespräch wieder auf Frank. Mit der Gewandtheit eines Weltmannes, welche noch durch die herzliche Theilnahme an dem Kummer des Bruders unterstützt wurde, verfocht er in sehr wirksamer Weise die lahme Sache des verlorenen Sohnes; auch legte er dem bekümmerten Vater die Weisheit der Geduld und des Zuwartens, deßgleichen die größeren Vortheile einer Berufung an die kindlichen Gefühle vor den strengen väterlichen Drohungen so überzeugend an's Herz, daß der Squire wider Willen milder gestimmt wurde und das Hans seines Bruders als ein ruhigerer und weniger unglücklicher Mann verließ.

Mr. Hazeldean befand sich noch in dem Square, als ihm Randal wieder begegnete, der im Geleite eines eleganten Gentlemen mit schwarzem Backenbart aus Egertons Haus zukam. Randal wechselte mit seinem Begleiter hastig einige Flüsterworte und rief dann: –

»Wie, Mr. Hazeldean, Ihr kommt eben von Eurem Bruder her? Ist's möglich?«

»Ei, Ihr habt mir ja selbst dazu gerathen, und deßhalb that ich's. Ich wußte kaum, wo mir der Kopf stand, und es ist mir sehr lieb, daß ich Euren Rath befolgte. Zum Henker mit der Politik und den Interessen des Grundbesitzes! Was kümmert mich jetzt all' dieses!«

»Bei Madame di Negra einen Fehlgang gemacht?« fragte Randal, indem er den Squire bei Seite zog.

»Kein Wort will ich mehr von ihr hören!« rief der Squire heftig, »und was diesen undankbaren jungen betrifft – aber ich will nicht hart gegen ihn sein – er soll Geld genug haben, um sie zu behalten, wenn er will – um sie mir fern zu halten – und um ihn abzuhalten, daß er auf meinen Tod rechnet und mittelst Postobit-Verschreibungen des Casino Geld entlehnt; denn dies wird das Nächste sein, was er unternimmt – doch nein, ich hoffe, ich thue ihm hier unrecht; ich bin ihm ein zu guter Vater gewesen als daß er schon jetzt auf meinen Tod rechnen sollte! Im Grunde,« fuhr der Squire ruhiger werdend, fort, »ist, wie Audley sagt, die Heirath noch nicht geschlossen, und wenn ihn das Weib eingezogen hat, so ist er eben jung und sein Herz warm. Beruhigen Sie sich, mein Junge. Ich vergesse es Ihnen nicht, wie freundlich Sie seine Partie genommen haben; und ehe ich etwas Uebereiltes thue, will ich wenigstens mit seiner armen Mutter Rücksprache nehmen.«

Randal biß sich auf die blasse Lippe, und eine Wolke der Enttäuschung glitt über seine Züge.

»Wahr, Sir,« sagte er sanft, »wahr, Sie dürfen nichts Uebereiltes thun. Eben, als ich Ihnen begegnete, dachte ich an Sie und den armen lieben Frank. Es fiel mir bei, ob nicht gerade mit Rücksicht auf Frank's Verlegenheiten Madame di Negra bewogen werden könnte, ihn aufzugeben; und ich war in Begleitung jenes Gentleman dort auf dem Wege zu Mr. Egerton, um dessen Rath einzuholen.«

»Gentleman dort! Was hat Der seine lange Nase in meine Familienangelegenheiten hineinzustecken? Wer zum Teufel ist er?«

»Fragen Sie nicht, Sir. Bitte, lassen Sie mich handeln.«

Aber der Squire fuhr fort, der schwarzbärtigen Person, welche sich so zwischen ihn und seinen Sohn hineindrängte und einige Schritte rückwärts, die Camelia sorglos in ihrem Knopfloche zurecht rückend, ruhig wartete, Seitenblicke zuzuwerfen.

»Er sieht sehr ausländisch aus. Ist er am Ende auch ein Fremder?« frug der Squire zuletzt.

»Nein, das gerade nicht. Indessen kennt er Frank's Verlegenheiten genau; und –«

»Verlegenheiten! Was, die Schuld, welche er für dieses Weib bezahlte? Wie verschaffte er sich das Geld?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete Randal, »Und eben deßhalb habe ich Baron Levy gebeten, mich zu Mr. Egerton zu begleiten, damit er ihm in vertraulicher Weise mittheile, was, wie mir scheint –«

»Baron Levy!« unterbrach ihn der Squire; »Levy, Levy ich habe von einem Levy gehört, der meinen Nachbar Thornhill beinahe zu Grunde gerichtet hat – ein Geldverleiher. Alle Wetter! Ist das der Mann, der die Angelegenheiten meines Sohnes kennt? Ich will es bald erfahren, Sir.«

Randal faßte den armen Squire beim Arme.

»Halt, halt! Wenn Sie wirklich darauf bestehen, über Frank's Schulden mehr zu erfahren, so dürfen Sie sich nicht direkt als Frank's Vater an Baron Levy wenden; er würde Ihnen keine Auskunft geben. Aber wenn ich ihm in Ihnen einen blosen Bekannten von mir vorstelle und das Gespräch wie zufällig auf Frank lenke – nun dann wird er sich wohl, da in der Londoner Welt dergleichen Dinge vor Niemand, als den Eltern der jungen Leute, geheim gehalten werden, ganz offen aussprechen.«

»Machen Sie das, wie Sie wollen,« sagte der Squire.

Randal nahm Mr. Hazeldean's Arm und ging mit ihm auf Levy zu. – »Ein Freund von mir vom Lande, Baron.«

Levy verbeugte sich tief, und die Drei gingen langsam weiter.

»Beiläufig,« sagte Randal, bedeutungsvoll Levy's Arm drückend, »mein Freund ist um eines ziemlich unangenehmen Geschäftes willen in die Stadt gekommen. Die Schulden eines Anderen in Ordnung zu bringen – eines jungen Mannes von Ton Im Original: »a young man of fashion« (eines jungen Mannes, der ›in Mode ist‹). – eines Verwandten von ihm. Niemand, Sir,« (sich zu dem Squire wendend) »kann Ihnen bei dergleichen Bereinigungen besser Hülfe leisten, als Baron Levy.«

Baron (bescheiden und mit moralisirender Miene).– »Ich habe einige Erfahrung in dergleichen Dingen und halte es für meine Pflicht, den Eltern und Verwandten junger Männer, die aus Mangel an Ueberlegung sich oft für Lebenszeit zu Grund richten, Beistand zu leisten. Ich hoffe, der fragliche junge Mann ist nicht in den Händen der Juden?«

Randal. – »Christen nehmen eben so gern hohe Zinsen von ihrem Geld, wie der Jude.«

Baron. – »Zugegeben; aber sie haben nicht immer so viel Geld auszuborgen Das Erste, Sir,« (sich an den Squire wendend) »besteht darin, daß Ihr alle Wechsel und Schuldscheine Eures Verwandten, die auf den Markt gekommen sind, aufkauft, und ohne Zweifel läßt sich dieses Geschäft mit ansehnlichem Rabatt abmachen, wenn der junge Mann nicht Erbe eines Eigenthums ist, das ihm nach dem gewöhnlichen Lauf der Natur bald zufallen muß.«

Randal. – »Von bald ist nicht die Rede – Gott verhüte dies! Sein Vater ist noch ein junger Mann – ein gesunder, kräftiger Mann,« (sich schwer auf Levy's Arm lehnend) »und was die Postobite betrifft –«

Baron. – »Der Aufkauf von Postobitverschreibungen auf gute Sicherheit kommt höher zu stehen, wie gesund auch der hindernde Verwandte sein mag.«

Randal. – »Ich hoffe, es gibt nicht viel Söhne, welche mit kaltem Blut auf den Tod ihrer Väter rechnen können.«

Baron. – »Ha, ha – er ist jung, unser Freund Randal; was meint Ihr, Sir?«

Randal. – »Nun ja, ich gebe zu, daß ich nicht bedenklicher bin als Andere, und es ist mir mit dem Geld schon oft verzwickt knapp gegangen; aber lieber wollte ich baarfuß laufen, eh' ich meines Vaters Grab als Sicherheit einlegte. Nichts wirkt vernichtender auf alle natürlichen Gefühle – nichts macht einen Charakter undankbarer und tückischer, als wenn man die Hand eines Vaters drückt und dabei schon rechnet, wann diese Hand Staub sein werde – wenn man sich mit Fremdlingen zusammensetzt,um sein Leben auf dem Maßstab einer Versicherungstabelle abzuzirkeln – wenn man in den Schwierigkeiten, von denen man sich bedrängt sieht, nur das fashionable Trostsprüchlein vor sich hinmurmeln kann: ›Es wird Alles recht werden, wenn der Alte einmal todt ist.‹ Wer sich einmal daran gewöhnt hat, zu Postobiten seine Zuflucht zu nehmen, muß nachgerade seinen Sinn zu alle dem verhärten.«

Der Squire ächzte schwer auf und würde wohl laut hinaus geweint haben, wenn Randal noch eine Weile in diesem Zuge fortgemacht hätte.

»Aber,« fuhr Randal fort, indem er den Ton seiner Stimme veränderte, »ich glaube, Levy, daß unser junger Freund, von dem wir sprachen eh' dieser Gentleman zu uns kam, über den angeregten Punkt die nämlichen Ansichten hat, wie ich. Er stellt vielleicht Wechsel aus, wird aber nie ein Postobit unterzeichnen.«

Baron (der mit der gewandten Gelehrigkeit eines geschulten Pferdes, welches jede Fingerbewegung des Reiters zu deuten weiß, Alles begreift und auf jeden leisen Wink von Randal eingeht). – »Pah! der junge Mensch, von dem wir gesprochen haben? Unsinn! Warum sollte er so thöricht sein, fünfmal so viel Interessen zu zahlen, wenn er es anders machen kann? Keine Postobite unterzeichnen! Natürlich hat er es gethan.«

Randal. – »Bst! – Ihr seid im Irrthum – müßt im Irrthum sein.«

Squire (Randals Arm loslassend und den des Barons ergreifend). – »Habt Ihr von Frank Hazeldean gesprochen?«

Baron. – »Mein theurer Sir, entschuldigt mich; aber ich nenne nie Namen vor Fremden.«

Squire. – »Schon wieder Fremde! Mensch, ich bin der Vater des Jungen. Heraus mit der Sprache, Sir.« Und seine Hand schloß sich über Levy's Arm mit der Gewalt eines eisernen Schraubstocks.

Baron. – »Gemach; Ihr thut mir weh, Sir – aber ich entschuldige Eure Gefühle. Randal, es war nicht schön von Euch, daß Ihr mich zu dieser Unbesonnenheit verleitetet; aber ich erlaube mir, Mr. Hazeldean zu versichern, daß sein Sohn, wenn er auch ein wenig verschwenderisch war –«

Randal. – »Woran die Verführungskünste eines verworfenen Weibes die Hauptschuld tragen.«

Baron. – In Folge der Verführungskünste eines verworfenen Weibes; – er doch mehr Klugheit gezeigt hat, als zu erwarten war, und gerade dieses Postobit ist ein Beweis hiefür. Dieser einfache Akt hat ihn in Stand gesetzt, Schulden abzubezahlen, die sich sonst fort und fort angehäuft und zuletzt die Hazeldean'schen Güter zu Grunde gerichtet hätten, während eine auf den künftigen Anfall des Casino's gegebene Versicherung –«

Squire. – »Er hat es gethan? Er hat ein Postobit unterzeichnet?«

Randal. – »Nein, nein; Levy muß sich täuschen.«

Baron. – »Mein lieber Leslie, ein Mann in Mr. Hazeldean's Alter kann unmöglich Ihre romantischen, knabenhaften Lebensansichten haben. Er muß zugeben, daß Frank in diesem Punkte als ein verständiger Bursche gehandelt hat; einen sehr guten Geschäftskopf hat mein junger Freund Frank! Und das Beste, was Mr. Hazeldean thun kann, ist, das Postobit in aller Stille aufzukaufen, wodurch er seinen Sohn vollständig in seine Gewalt bekommt.«

Squire. »Kann ich die Verschreibung mit meinen eigenen Augen sehen?«

Baron. – Gewiß. Wie könnte Ihnen sonst zugemuthet werden, sie aufzukaufen? Aber unter Einer Bedingung: Sie dürfen mich nicht Ihrem Sohne verrathen. Ueberhaupt möchte ich Ihnen den Rath geben, gar nicht mit ihm über die Sache zu sprechen.«

Squire. – »Lassen Sie es mich sehen, lasten Sie es mich sehen – mit meinen eigenen Augen. Sonst glaubt es seine Mutter nie – und auch ich nicht.«

Baron. – »Ich kann heute Abend bei Ihnen vorsprechen.«

Squire. – »Jetzt – jetzt.«

Baron. – »Sie brauchen mich nicht im Augenblick, Randal; und Sie können Mr. Egerton die andere Sache wegen Lansmere selbst vorlegen. Es ist keine Zeit zu versäumen, damit nicht L'Estrange einen anderen Kandidaten hineinschiebt.«

Randal (flüsternd). – »Auf mich dürfen Sie keine Rücksicht nehmen. Dieses hier ist wichtiger.« (Laut). »Gehen Sie mit Mr. Hazeldean. Mein theurer, wohlwollender Freund,« (zu dem Squire) »grämen Sie sich doch nicht über die Sache. Im Grunde ist es etwas, was unter zehn jungen Männern neun in den gleichen Verhältnissen ebenfalls thun würden. Und es ist am besten, wenn Sie es wissen; Sie können dadurch Frank vor weiterem Verderben retten und vielleicht diese Heirath verhindern.«

»Wir wollen sehen,« rief der Squire hastig. »Mr. Levy, kommen Sie jetzt.«

Levy und der Squire gingen zusammen weiter, nicht Arm in Arm, sondern neben einander. Randal begab sich zu Mr. Egerton.

»Es ist mir lieb, daß Sie kommen, Leslie,« sagte der Exminister. »Welche Bewandtniß hat es mit dem, was ich so eben gehört habe? Mein Neffe, Frank Hazeldean, macht Madame di Negra gegen den Willen seines Vaters, einen Heirathsvorschlag? Wie konnten Sie einen so tollen Gedanken bei ihm Wurzel fassen lassen? Und warum haben Sie gegen mich darüber geschwiegen?«

Randal. – »Mein theurer Mr. Egerton, erst heute wurde ich von Frank's Verlobung in Kenntniß gesetzt. Ich habe ihn bereits aufgesucht und ihm vergeblich Vorstellungen gemacht. Ich wußte zwar, daß Ihr Neffe Madame di Negra bewundere; aber nichts berechtigte mich bisher zu der Vermuthung, daß er ernste Absichten hege.«

Egerton. – »Ich muß Ihnen glauben, Randal. Ich will selbst zu Madame di Negra, obgleich mir die Macht und die Befugniß fehlt, ihr etwas vorzuschreiben. Ich habe nur wenig Zeit zu solchen Privatgeschäften. Die Auflösung des Parlaments ist vor der Thüre.

Randal (zu Boden blickend). – »Eben hierüber wünschte ich mit Ihnen zu reden, Sir. Sie haben im Sinne, für Lansmere aufzutreten. Nun hat mir Baron Levy einen Plan mitgetheilt, welchen ich, ohne mit Ihnen gesprochen zu haben, natürlich nicht unterstützen konnte. Er kennt, wie es scheint, die Stellung der Parteien in diesem Wahlbezirke. Er hat in Erfahrung gebracht nicht nur, daß zwei von unserer Seite ebensogut durchgesetzt werden können, wie Einer, sondern auch, daß Ihre Erwählung noch mehr gesichert wäre, wenn Sie es nicht ganz allein gegen zwei Gegner aufnehmen müßten; daß, wenn Sie sich nur für sich selbst bewerben, Sie nicht die nöthige Zahl handfester Stimmen bekommen und die so zersplitterten Stimmen auf den einen oder anderen Ihrer Gegenkandidaten fallen würden – mit Einem Worte, daß es für Sie geboten sei, in Gesellschaft eines Gesinnungsgenossen aufzutreten. Ob es sich wirklich so verhält, werden Sie natürlich am besten durch Ihr eigenes Comite erfahren: sollte aber dieses die Ansicht, welche sich Baron Levy gebildet hat, theilen – ist es dann nicht zu viel auf Ihre Güte gebaut, wenn ich an die Möglichkeit denke, daß Sie mir gestatten könnten, mich als zweiter Bewerber neben Sie zu stellen? Ich würde diesen Vorschlag nicht machen, wenn mir nicht Levy gesagt hätte, es sei gewissermaßen Ihr Wunsch, mich behufs der Unterstützung Ihrer Politik im Parlamente zu sehen. Und eine bessere Gelegenheit kann sich nicht bieten. Zwei durchzusetzen, wird kaum größere Kosten verursachen, als die Durchsetzung eines Einzigen. Und Levy sagt, die Partei wolle für meine Erwählung Unterschriften sammeln; Sie würden für sich selbst natürlich jede solche Unterstützung zurückweisen; und bei Ihrem großen Namen und Lord Lansmere's Einflusse kann nicht viel mehr, als der streng gesetzliche Aufwand, nöthig werden.«

Während Randal diese lange Rede hielt, beobachtete er ängstlich die ruhige, verschlossene Miene seines Gönners.

Egerton (trocken). – »Ich will es überlegen. Was mit Ihrem Ehrgeize oder mit Ihrer Beförderung zusammenhängt, können Sie getrost meinen Händen überlassen. Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß ich es für meine Pflicht halte, alles, was in meinen Kräften steht, für den Verwandten meiner verstorbenen Gattin zu thun – für den Mann, welchem ich eine Laufbahn zu eröffnen unternommen habe, und den die Ehre gezwungen hat, mein politisches Mißgeschick zu theilen.«

Egerton läutete nach Stock und Handschuhen und ging in die Halle hinunter. An der Hausthüre blieb er stehen, winkte Randal zu sich und sagte langsam:

»Sie scheinen mit Baron Levy auf sehr vertrautem Fuße zu stehen; ich warne Sie vor ihm – eine gefährliche Bekanntschaft, erstens für den Geldbeutel und zweitens für die Ehre.«

Randal. – »Ich weiß es, Sir; und ich bin selbst erstaunt über die Bekanntschaft, die sich zwischen uns gebildet hat. Vielleicht liegt der Grund in der Hochachtung, die er für Sie empfindet.«

Egerton. – »St!«

Randal. – »Was auch der Grund sein mag, er versteht es, eine eigentümliche Macht über Andere zu gewinnen, selbst wo er, wie mir gegenüber, kein sichtbares Interesse dabei hat. Woher kömmt dies? Ich werde nicht klug daraus.«

Egerton. – »Sein Interesse ist immer da am sichersten mit im Spiele, wo er es am wenigsten zu Tage treten läßt; seine Macht über die Gemüther läßt sich leicht erklären. Er wendet sich immer an zwei Leidenschaften, welchen Niemand so leicht widersteht – an die Habsucht und an den Ehrgeiz der Menschen. Guten Tag.«

Randal. – »Gehen Sie zu Madame di Negra? Soll ich Sie nicht begleiten? Vielleicht bin ich im Stande, Ihre Vorstellungen zu unterstützen.«

Egerton. – »Nein, ich werde Ihrer nicht bedürfen.«

Randal. – »Ich werde doch das Ergebniß Ihrer Unterredung mit ihr erfahren? Ich bin ungemein begierig darauf! Armer Frank!«

Audley nickte. »Natürlich, natürlich.«


Vierzehntes Kapitel.

Als Audley Egerton in Madame di Negra's Salon trat, mußte Jedem, der ihn bisher nur im geschäftlichen Verkehr mit Männern gesehen hatte, der eigene Zauber auffallen, welchen der ernste Staatsmann, wie es hieß, auf das weibliche Geschlecht ausübte. Es war ein Zauber, der zu dem gewöhnlichen Benehmen der sogenannten »Damenmänner« in strengem Gegensatze stand: Kein erkünsteltes Lächeln, keine hohle Schmeichelei, kein leichtfertiges Geplauder, keine unnatürliche Heiterkeit oder gezierte Liebenswürdigkeit. Der Zauber lag in einer, mehr als sonst zu Wohlwollen sich hinneigenden Einfachheit. Audley's Natur war, worin auch ihre Fehler und Mängel bestehen mochten, eine durchaus männliche; und das Gefühl männlicher Kraft verlieh seiner Stimme, wenn er das zarte Geschlecht anredete, einen melodischen Klang, den Ton nachsichtiger Zärtlichkeit, frei von jeder Unaufrichtigkeit und Anmaßung.

Frank war vor ungefähr einer halben Stunde weggegangen und Madame di Negra kaum über die Aufregung Meister geworden, in welche sie die beleidigendem Worte des Vaters und das Flehen des Sohnes gestürzt hatten.

Egerton nahm ihre Hand mit einem herzlichen Drucke in die seinige und setzte sich neben sie.

»Meine liebe Marchesa,« sagte er, »sollen wir denn wirklich nahe Verwandte werden? und können Sie im Ernste an eine Heirath mit meinem jungen Neffen, Frank Hazeldean, denken?« Sie wandte sich ab. »Ah, meine schöne Freundin, für ein freies Weib gibt es nur zwei Veranlassungen, am Altare das Todesurtheil ihrer Freiheit zu unterzeichnen. Ich sage, für ein freies Weib; denn Wittwen sind frei, Mädchen sind es nicht. Diese Veranlassungen sind: erstens eine Stellung und zweitens Liebe. Welcher von diesen Beweggründen kann Madame di Negra es räthlich erscheinen lassen, Mr. Frank Hazeldean zu heirathen?«

»Es gibt noch andere Beweggründe, als diejenigen, von welchen sie sprechen – das Bedürfniß eines Schutzes – das Gefühl der Verlassenheit – der Fluch der Abhängigkeit – Erkenntlichkeit für ehrenhafte Liebe. Aber Ihr Männer versteht die Frauen nie!«

»Ich gebe zu, daß Sie Recht haben – wir verstehen sie nie ganz; ebensowenig verstehen die Frauen uns Männer. Und dennoch weiß jedes Geschlecht das andere zu hintergehen und zu bethören. Hören Sie mich an. Ich bin mit meinen Neffen nur wenig bekannt, aber ich ziehe nicht in Abrede, daß er ein hübscher junger Gentleman ist, in den sich eine schöne junge Dame von neunzehn Jahren in einem Ballsaale recht gut verlieben kann. Allein Sie, die Sie die Besseren unseres Geschlechtes kennen gelernt und die Huldigungen von Männern empfangen haben, deren Geist und Gedanken das kleinliche, ärmliche Salongeschwatz müßigen Tändlern überlassen – Sie können mir nicht in's Antlitz sehen und behaupten, daß es eine an Liebe streifende Leidenschaft ist, die Sie für meinen Neffen fühlen. Und was die Stellung betrifft, so halte ich es für Pflicht, Ihnen mitzutheilen, daß ihm eine solche, wenn er Sie heirathet, nicht werden wird. Er kann sogar sein Erbe in Gefahr bringen. Sie werden seinen Eltern fremd bleiben. Sie werden arm, aber nicht frei sein. Sie werden die Unabhängigkeit, welche Sie suchen, nicht finden. Der Anblick eines unbedeutenden, unbefriedigten Gesichtes ist diesem Stuhle Ihnen gegenüber wird schlimmer sein, als die Einsamkeit. Und dankbare Zuneigung,« fügte der Weltmann bei, »ist eine höfliche Umschreibung für ruhige Gleichgültigkeit.«

»Mr. Egerton,« entgegnete Beatrice, »die Leute sagen, Sie seien aus Erz geformt. Fühlten Sie jemals den Mangel einer Häuslichkeit?«

»Ich antworte Ihnen offen,« versetzte der Staatsmann. »Wenn ich diesen Mangel nicht gefühlt hätte, glauben Sie wohl, ich würden mich zu einem freudelosen Sklaven des öffentlichen Lebens hergegeben haben und noch bis an mein Ende hergeben? Ehern nennen Sie meine Natur? Sie wäre längst hingeschmolzen, wie Wachs im Feuer, wenn ich die Hände in den Schoos gelegt und von einer Häuslichkeit geträumt hätte.«

»Aber wir Frauen,« erwiderte Beatrice mit Pathos, »haben kein öffentliches Leben, und wir legen die Hände in den Schoos und träumen. O,« fuhr sie nach einer Pause, die Hände fest zusammenpressend, fort, »Sie halten mich für weltlich, habsüchtig, ehrgeizig; wie so ganz anders würde sich mein Geschick gestaltet haben, wäre mir eine Häuslichkeit vergönnt gewesen! – ein Wesen, das ich hätte lieben und verehren können, – dessen Lächeln das Gute, das einst in mir war, entwickelt und das Schlimme durch die Furcht vor seinem Tadel oder bekümmerten Auge gebessert hätte.«

»Und doch,« sagte Audley, »ist beinahe allen Frauen in der großen Welt einmal in ihrem Leben die Gelegenheit hiezu geboten gewesen, und beinahe alle haben sie von sich gewiesen. Wie wenige Frauen von Ihrem Range denken wirklich an eine Häuslichkeit, wenn sie sich verheirathen – wie wenigen fällt es ein, verehren und lieben zu wollen – und wie viele, aus allen Ständen, haben, nachdem ihnen wirklich eine Häuslichkeit zu Theil geworden, sich des Schutzes derselben absichtlich entäußert, bald aus Ueberdruß und Gleichgültigkeit – bald in einem Anfall von Zweifel, Mißtrauen oder Laune – bald in Folge einer wilden Phantasie – eines Ausbruchs von Leidenschaft – einer Kleinigkeit – eines Strohhalms – eines Traums! Es ist wahr, Ihr Frauen seid stets Träumerinnen. Der gewöhnliche Menschenverstand, die gewöhnliche Erde steht über oder unter Eurer Fassungskraft.«

Beide schwiegen jetzt. Audley war der Erste, der sich mit einer raschen Bewegung aufraffte. »Wir Beide,« sagte er mit einem halb traurigen, halb cynischen Lächeln »wir Beide dürfen die Zeit nicht länger mit sentimentalen Reden vergeuden. Wir Beide wissen zu gut, was das Leben, je nachdem ihm unsere Fehler oder Unsere Mißgeschicke eine Gestalt verliehen, in Wirklichkeit ist. Und noch einmal bitte ich Sie dringend, sich zu besinnen, ehe Sie der thörichten Bewerbung meines thörichten Neffen nachgeben. Verlassen Sie sich darauf, Sie können entweder vom Standpunkte der Vernunft aus vortheilhaftere Anträge abwarten, oder, wenn Sie durchaus Rang und Vermögen zum Opfer bringen wollen, bei Ihrer Schönheit und Ihrem romantischen Herzen einen Gatten finden, der, wenigstens für eine schöne Feriensaison (wenn menschliche Liebe nicht mehr gestattet), Sie für Ihr Opfer entschädigt. Frank Hazeldean vermag dies nie.«

Beatrice wandte sich ab, um die Thränen zu verbergen, die ihre Augen füllten.

»Denken Sie sorgfältig hierüber nach,« sagte Audley in dem sanftesten Tone seiner weichen Stimme. »Sie erinnern sich, daß, als Sie das erste Mal nach England kamen, ich Ihnen erklärte, weder Ehestand noch Liebe hätten für mich etwas Verlockendes. Dieses rauhe Geständniß machte uns zu Freunden, und deßhalb spreche ich jetzt zu Ihnen wie ein Weiser des Alterthums – weise, weil ich über den Leidenschaften und Banden stehe, die unsere Weisheit irre führen. Nur die wahre Liebe – (und wie selten ist sie – hat Ein menschliches Herz unter einer Million sie je gekannt?) – nur die wahre Liebe kann uns entschädigen für den Verlust der Freiheit, für die bangen Sorgen der Armuth, für das kalte Mitleiden der Welt. Und alles Das und noch viel mehr wäre die Folge eines unüberlegten Schrittes – einer unklugen Heirath.«

»Audley Egerton,« sagte Beatrice, ihr dunkles, feuchtes Auge zu ihm aufschlagend, »Sie geben zu, daß wahre Liebe für eine unkluge Heirath Ersatz bietet. Sie sprechen, als hätten Sie solche Liebe gekannt – Sie! Wäre es möglich?«

»Wahre Liebe – einst glaubte ich sie zu kennen. Wenn ich aber jetzt mit Gewissensbissen darauf zurückblicke, so möchte ich es bezweifeln – ohne jenen Einen Fluch, den nur wahre Liebe, nachdem sie verloren ist, für ewige Zeiten zurückläßt.«

»Was ist dies?«

»Eine Leere hier,« antwortete Egerton, an sein Herz schlagend. »Trostlosigkeit! – Leben Sie wohl!«

Er erhob sich und verließ das Zimmer.

»Ist es,« murmelte Egerton, während er durch die Straßen schritt, »ist es die Nähe des Todes, welche uns die ersten schönen Gefühle unseres jungen Lebens in geheimnißvoller Weise wieder vorführt? So habe ich einmal gehört oder gelesen, daß in einem Lande des Alterthums Kinder, Blumen streuend, der Bahre vorausgingen.«


Fünfzehntes Kapitel.

So stand denn Leonard vor den sterblichen Ueberresten seines Freundes und beobachtete in dem unaussprechbaren Lächeln des Todes den letzten Schimmer, welchen die Seele darin zurückgelassen hatte; und nach einer Weile schlich er zurück in das anstoßende Zimmer, so geräuschlos, als habe er die Ruhe des Todten zu stören gefürchtet. Aber so erschöpft er vom Wachen war, er dachte doch an keinen Schlaf. Er setzte sich an den kleinen Tisch, barg das Gesicht in der Hand und überließ sich einem kummervollen Nachdenken.

So verstrich die Zeit. Die Uhr unter ihm schlug die Stunden. Im Hause des Todes wird der Schlag einer Uhr feierlich – hat doch die Seele, die wir vermissen, jedes Zeitmaß so weit überschritten!

Ein fröstelnder, abergläubischer Schauer befiel allmälig den jungen Mann. Er zitterte und warf einen Blick um sich, halb verächtlich, halb herausfordernd. Der Mond war verschwunden, die graue, unbehagliche Morgendämmerung brach durch das Fenster und warf ihr unreifes, kaltes Licht durch die geöffnete Thüre in das Todtenzimmer. Und dort bei dem erloschenen Feuer erblickte Leonard die vereinsamte alte Frau, die still weinend, noch immer wachte. Er ging zu ihr, um ihr ein Wort des Trostes zu sagen – sie drückte ihm die Hand, aber winkte ihm, zu gehen. Er verstand sie; die stumme Erleichterung durch Thränen war der einzige Trost, den sie begehrte.

Wieder kehrte er in sein eigenes Gemach zurück, und dieses Mal fiel sein Auge auf die Papiere, welche er bisher unbeachtet gelassen hatte. Was hieß da sein Herz stille stehen und gleich darauf sein Blut so rasch durch die Adern kreisen? Warum faßte er mit zitternder Hand nach diesen Papieren, legte sie wieder bei Seite, hielt inne, als ob er sich erst stählen müsse, und blickte dann wieder so verlangend nach ihnen hin?

Er erkannte die Hand, diese schönen, ausgeprägten Schriftzüge, so eigentümlich in ihrer weiblichen Zartheit und Anmuth – dieselben, wie in jenen milden, pathetischen Gedichten, deren Studium einen besonderen Zeitabschnitt seiner Kindheit gebildet hatte. Aus diesen Blättern stieg das Bild der geheimnisvollen Nora abermals vor ihm empor. Er fühlte sich in der Nähe einer Mutter.

Er ging hin und schloß leise die Thüre, als wolle er in eifersüchtiger Liebe jeden rauheren Schatten von der Geisterwelt ausschließen und mit diesem trauernden Phantome allein sein. Denn ein Gedanke, der in der Wärme sonnigen Gebens niedergeschrieben, plötzlich vor uns auftaucht, während die Hand, die ihn schrieb, und das Herz, das ihn hegte, Staub geworden sind – ein solcher Gedanke ist in der That einem Phantome gleich. Er ist ein Bild des warmem menschlichen Wesens. Getreuer, als Büste oder Portrait, bringt er die Thränen, welche geflossen, und den Puls, welcher geschlagen, vor unsere Augen. Welches Gespenst, dem Grabe entstiegen, kommt der Handschrift eines Todten gleich?

Die Gesammtheit der Blätter war früher leicht zusammen geheftet gewesen, jetzt waren sie, vielleicht in Burley's rauhen Händen, lose geworden, aber Ihre Reihenfolge ließ sich leicht erkennen. Leonard sah bald, daß sie eine Art Tagebuch bildeten, wenn dieses auch nicht regelmäßig Tag für Tag geführt worden war. Es fanden sich Lücken in der Zeitfolge und keine Spur, daß eine folgerichtige Erzählung beabsichtigt gewesen wäre. Bisweilen erschien statt der Prosa ein offenbar dem Herzen entströmter poetischer Erguß, ein anderes Mahl war die Erzählung ganz ausgefallen und nur durch eine einzige glühende Zeile, durch einen einzigen Ausruf des Leids oder der Freude angedeutet. Allenthalben aber waren es Berichte einer ungemein empfänglichen Seele, und wo das Genie hervortrat, da geschah es so kunstlos, daß man es eher Gefühlsaufregung nennen konnte.

Anfangs sprach die Verfasserin nicht einmal in erster Person von sich. Die Papiere begannen mit Beschreibungen und kurzen Dialogen zwischen Personen, deren Namen nur Anfangsbuchstaben bezeichneten, aber sie waren im Style einfacher, unschuldiger Frische geschrieben und athmeten eine Reinheit und Seligkeit gleich einem Frühlingsmorgen. Zwei junge Leutchen, niederer Herkunft, ein Knabe und ein Mädchen, letzteres noch in seiner Kindheit, aber Beide ihre eigenen Lehrer, wandern an Sonntag Abenden durch grüne, thauige Felder in der Nähe der geschäftigen Stadt, in welcher die Arbeit für einige Zeit ausgesetzt ist. Sie reden nur wenig zusammen. Ohne daß die Schreiberin es verrathen will, sehen wir bald, wie die Einbildungskraft des Mädchens himmelhoch über die geistige Tragweite ihres Genossen hinausfliegt. Er ist der Fragende, sie die Antwortende; und lesen mir weiter, so überzeugen mir uns bald, daß der Knabe das Mädchen liebt, aber ohne Gegenliebe zu finden. Alles das ist so zierlich, so Wahrheit athmend geschrieben! Leonard erkennt in dem ungelenken, mangelhaften Schüler den Dorfbarden Mark Fairfield. Dann wieder eine Lücke in der Erzählung, ausgefüllt durch kurze gewichtige Sentenzen, die von tieferem Denken und von reiferen Jahren der Schreiberin zeugen. Bleibt auch die Unschuld in den Blättern, so tritt doch die kindliche Glückseligkeit weniger lebendig hervor.

Beinahe unmerklich entdeckt Leonard jetzt eine neue Phase in dem Leben der Verfasserin. Andere Scenen, als die des bescheidenen, werktägigen Landlebens umgeben sie, und ein schöneres, bestechenderes Bild tritt an die Stelle des Gefährten jener Sonntagabende. Offenbar findet Nora Gefallen daran, dieses Bild zu malen, es ist ja ihrem eigenen Geiste verwandt, es fesselt ihre Phantasie, es ist ein Bild, von dem sie, die geborene und ihrer Kunst sich bewußte Künstlerin, fühlt, daß es einer glänzenderen und höheren Schule des Schönen angehört. Gleichwohl ist das Herz der Jungfrau noch nicht berührt – noch keine Spur von seinem Erwachen zeigt sich.

Das neu eingeführte Bild ist in ihrem eigenen Alter, vielleicht sogar noch etwas jünger, denn es ist ein Knabe mit üppigen, schönen Locken und klaren Augen, welchen der Schmerz noch fremd ist, die wie der junge Adler in die Sonne schauen. Seine Adern strotzen vom Wein des Lebens und strömen über in sprudelnder Lust, seine Nerven zittern vor Sehnsucht nach Ruhm, und seine offene, edle Natur ist vorschnell bereit, eine Welt zu verachten, die sie noch nicht kennen gelernt hat.

Wer der Knabe war, vermochte Leonard nicht zu errathen, und er fürchtete sich, Vermuthungen anzustellen. Bald aber ging aus Andeutungen hervor, daß sein Umgang mit Gefährten die Schreiberin mit Furcht und Kummer erfüllte. Wiederum (wie zuvor bei Mark Fairfield) ist die Liebe nur auf der einen, nicht auch auf der anderen Seite; das Mädchen fühlt wohl ein inniges, fast schwesterliches Interesse, Bewunderung, Dankbarkeit– aber etwas wie Stolz oder Furcht läßt die Liebe nicht aufkommen.

Jetzt stieg Leonard's Interesse auf's Höchste. Lagen hier Winke vor, die eine Vermuthung zur Gewißheit machten, und sollte er in dem jugendlichen Liebhaber, Jahre zurück, seinen eigenen edelmüthigen Wohlthäter erkennen?

Bruchstücke aus Gesprächen ließen nun die Liebeswerbung einer heißen, leidenschaftlichen Natur, so wie die einfache Verwunderung und außerordentliche Beunruhigung einer Hörerin errathen, die wohl Mitleid, aber keine Liebe empfand. Eine große Kluft in der äußeren weltlichen Stellung der Beiden trat jetzt an das Licht, und dieser Unterschied schien die Tugend der niedriger Geborenen zu wappnen, deren Herz zu stählen. Weiterhin erzählten einige halb von Thränen verwischte Gedenksprüche von verletzten und gedemüthigten Gefühlen, und einige darunter trugen Zeichen einer gewissen Autorität, als ob ein Verwandter des Liebhabers sich eingemischt, Erkundigungen eingezogen, Vorwürfe gemacht oder Rathschläge ertheilt hätte. Es wurde klar, daß die Werbung keine entehrende war – daß sie zwar zur Flucht, aber zugleich zur Ehre drängte.

Und immer kürzer wurden diese Sentenzen, – wie es schien, in Folge eines festen Entschlusses. Dann aber folgte eine so meisterhaft wiedergegebene Episode, daß Leonard beim Lesen derselben, ohne daß er es wußte, die Thränen kamen. Es war dies die Schilderung eines kurz vor einer sorgenschweren Abreise zu Hause gemachten Besuches. Sie gestattete einen Blick auf eine stolze und eitle, aber liebevolle und ernste Mutter und auf eines Vaters zärtliche, aber unüberlegte Liebe.

Und dann kam eine ruhige, besänftigende Scene zwischen dem Mädchen und ihrem ersten ländlichen Liebhaber, die folgendermaßen schloß:

»Damit legte sie M.'s Hand in die ihrer Schwester und sagte: ›Du hast mich mit der Phantasie geliebt, liebe sie mit dem Herzen!‹ und verließ sie in gegenseitigem Verständnisse und als Verlobte.«

Leonard seufzte. Er begriff jetzt, wie Mark Fairfield in den schlichten Zügen seines ungelehrten Weibes das Spiegelbild der Seele und des Antlitzes ihrer Schwester erblickte.

Wenige Worte schilderten die endliche Trennung, aber sie schufen ein wirkliches Gemälde. Die lange, freundlose Landstraße, die weiter und weiter zur unbarmherzigen Hauptstadt führte – die Thore der Heimath, die sich auf den verlassenen Weg öffneten – der alte Baumstumpf an der Schwelle, um den die Raben kreisten, ihren Jungen lockend. Auch Leonard hatte von demselben verödeten Wege auf diese Schwelle bewacht; auch er hatte das Gekrächze der Raben gehört. Und wieder folgten einige Seiten voll schwermüthiger Verse oder düsterer Betrachtungen.

Die Schreiberin war nun in London, in dem Hause einer hochgeborenen Beschützerin, als jener freundlose Schatten einer Freundin, den man in der kauderwälschen Sprache des guten Tons eine »Gesellschafterin« nennt. Wie durch die Eisengitter eines Gefängnisses schaute sie auf das bunte Treiben der Welt. Armes Vögelein, fern von dem grünen Gezweig, war Singen ihr Bedürfniß, das letzte Glied, welches sie mit Freiheit und Natur verband. Die Beschützerin scheint ihre Besorgnisse in Betreff des jungen Liebhabers, dessen wilden, ungestümen Bitten die Flüchtige widerstanden hat, zu theilen; aber sie fürchtet mehr für seine Ehre, als für die der Verfolgten – sie fürchtet eine unpassende Vermählung mit einem vornehmen Erben. Diese Furcht stachelt den Stolz der Schreiberin, und sie wird hart in ihrem Urtheil über ihn, der ihr nur Leiden schafft, während er ihr Liebe bietet.

Dann kommt die Bezugnahme auf einen Bewerber um ihre Hand, den man ihr dringend empfiehlt, indem es ihre Pflicht sei, so zu wählen und damit eine hohe Familie von einer Furcht zu befreien, die andauere, so lange ihre Hand noch frei sei. Diese Furcht und dieser Bewerber rufen in ihr eine trotzige, aber pathetische Verachtung hervor.

Hierauf, nach den Daten zu schließen, ruhen die Aufzeichnungen Tage und Wochen lang, als ob die Schreiberin verdrossen und gleichgültig geworden wäre, um dann aber plötzlich in eine neue Tonart überzugehen und in bis dahin nicht gekannten Hoffnungen und Befürchtungen wortreich zu werden. Sie spricht jetzt auf Ein Mal in der ersten Person, das leibhafte »Ich« athmet und lebt in den Zeilen Wie ging das zu? Die Jungfrau war nicht länger ein Schattenbild, ein ihr selbst unbekanntes Geheimniß – sie war erfaßt von dem innigen und lebhaften Verständniß ihres individuellen Seins. Die Liebe sprach laut in dem erwachten menschlichen Herzen.

Eine ganz neue Person trat jetzt in den Blättern auf und wurde in der Folge immer »Er« genannt, als wäre sie der alleinige Repräsentant all' der Myriaden auf Erden. Die erste Kunde von dieser auf der Scene erscheinenden Figur verrieth, welch' aufregenden Eindruck sie auf die Phantasie der Schreiberin machte; denn diese Persönlichkeit war in eine Romantik eingekleidet, die ihr wahrscheinlich fremd war. Dieser Er war geschildert im Gegensatz zu dem schönen Knaben, dessen Werbung sie gefürchtet und bedauert hatte, und den sie jetzt zu fliehen trachtete; es werden ihm ernste, würdige, aber freundliche Züge, eine Achtung gebietende Stimme und Augen und Lippen verliehen, die von selbstbewußter Willenskraft zeugen. Ach, die Schreiberin verrieth sich selbst – der Zauber lag in dem Gegensatze zu ihrem eigenen Charakter, nicht zu dem ihres ersten Liebhabers.

Und nun, während wir es Leonard überlassen, sich einen Weg durch die Dunkelheiten und Lücken der Erzählung zu bahnen, ist es Zeit, den Leser von Demjenigen zu Kenntniß zu setzen, was Leonard aus dem Tagebuch allein nicht erfahren konnte.


Sechzehntes Kapitel.

Nora Avenel war vor der knabenhaften Liebe Harley L'Estrange's geflohen und hatte, von Lady Lansmere empfohlen, bei einer kranken Verwandten derselben, Lady Jane Horton, die Stelle einer Gesellschafterin angenommen. Lady Lansmere setzte aber zu geringes Vertrauen in den edeln Stolz des niedrig geborenen Mädchens, um anzunehmen, derselbe werde auf die Länge der heißen Werbung Desjenigen widerstehen, der ihr im Hintergrund eine Grafenkrone zeigen konnte. Deßhalb bestürmte sie Lady Jane, Nora an Jemand zu verheirathen, dessen Rang dem ihrigen gleichkomme, und bevollmächtigte die Dame, einem solchen Bewerber die Aussicht auf eine Mitgift weit über Nora's Verhältnisse hinaus zu eröffnen.

Lady Jane sah sich um und entdeckte an den äußersten Grenzen ihres kleinen geselligen Kreises einen jungen Sachwalter, den natürlichen Sohn eines Peers, welcher mit den fashionablen Clienten, deren Verlegenheiten den Grundstein zu seinem Reichthume legten, auf einem vertrauteren Fuße stand, als den rein geschäftlichen Verkehr. Der junge Mann war hübsch, elegant gekleidet und spielte den Liebenswürdigen. Lady Jane lud ihn in ihr Haus ein, und als sie ihn von Nora's Anmuth überwältigt sah, gab sie ihm einen Wink in Betreff her Mitgift.

Der beliebte Advokat, der sich später in den Baron Levy verwandelte, bedurfte dieses Winkes nicht; obwohl zur Zeit arm, vertraute er auf die eigene Kraft, sein Glück zu machen, und hatte, was Randal abging, heißes Blut in den Adern. Lady Jane's Andeutungen ließen ihn auf Erfolg hoffen, und als er förmlich anhielt und eben so förmlich abgewiesen wurde, schlug dies seiner Eigenliebe eine liefe Wunde. Eitelkeit war eine vorherrschende Leidenschaft in Levy's Charakter, und bei eiteln Menschen ist der Haß stark, der Durst nach Rache mächtig. Levy zog sich zurück und verbarg seine Wuth; ahnte er doch selbst nicht, wessen diese zur Bosheit abgekühlte Wuth fähig wäre, wenn der Erzfeind Gelegenheit sich einmal günstig zeigen, und ihm seine Plane zuflüstern würde.

Lady Jane war zuerst ärgerlich, daß Nora einen von ihr empfohlenen Bewerber zurückgewiesen hatte; aber die pathetische Anmuth des Mädchens hatte ihr Herz gewonnen und stimmte es sogar Familienvorurtheilen gegenüber milder, und so gestand sie sich nach und nach selbst, daß Nora eines besseren Mannes würdig sei, als Mr. Levy war.

Harley hatte sich immer dem Glauben hingegeben, Nora erwidere seine Liebe, und nur ihr Dankgefühl gegen seine Eltern, ihre instinktmäßige Delicatesse mache sie für seine Bitten taub. Um jedoch gerecht gegen ihn zu sein, müssen wir sogleich beisetzen, daß, so wild und hartnäckig er damals war, seine Werbung augenblicklich aufgehört hatte, sobald sie ihm im Lichte einer Verfolgung erschienen war. Auch war sein Irrthum erklärlich, denn, solange er nicht sein eigenes Herz verrieth, mußte ja seine Unterhaltung das Kind des Genius blenden und entzücken, und ihre aufrichtigen Augen verriethen diese Freude.

Wie konnte er in seinem Alter die Grenze zwischen der Dichterin und der Jungfrau ziehen? Die Dichterin war bezaubert von den außerordentlichen Verheißungen einer Seele, deren Irrthümer aus dem überströmenden Reichthum und der Schönheit eben dieser Seele entsprangen. Die Jungfrau dagegen verlangte nicht nach einer Natur, die, noch unentwickelt, in stürmischem, wenn auch glänzendem Kampfe mit ihren eigenen edlen Elementen stand, sondern nach einer abgeschlossenen, völlig reifen Natur. Harley war ein Knabe, und Nora eine jener Frauen, die ein Ideal finden oder ersinnen müssen, das sie gebieterisch und fast einschüchternd zur Liebe zwingt.

Nicht ohne Schwierigkeit entdeckte Harley Nora's neuen Wohnort. Er stellte sich Lady Jane vor, und sie verbot ihm mit scharfem Verweise ihr Hans; nicht einmal sprechen konnte er Nora. Er schrieb an sie, da aber nie eine Antwort kam, so überzeugte er sich, daß seine Briefe nicht an ihre Adresse gelangten, und sein junges Herz schwoll vor Zorn. Drohungen, welche er fallen ließ, erweckten alle Befürchtungen Lady Lansmere's auf's Neue und ebenso diejenigen seines vorsichtigen Freundes Audley Egerton. Aus Verlangen der Mutter und auf Wunsch des Sohnes entschloß sich Audley Lady Jane zu besuchen und Nora kennen zu lernen.

»Ich habe so großes Vertrauen zu Ihnen,« sprach Lady Lansmere, »daß ich glaube, Ihr Rath wird, wenn Sie das Mädchen einmal kennen gelernt haben, für dasselbe von Gewicht sein. Sie werden ihr auseinander setzen, wie leichfertig es ihrerseits wäre, wenn sie Harley unsere Herzen brechen und seine Stellung herabwürdigen ließe.«

»Ich habe so großes Vertrauen zu dir,« sagte der junge Harley, »daß ich glaube, du wirst, wenn du erst meine Nora kennst, nicht länger auf Seiten meiner Mutter stehen. Du wirst den Adel in ihr erkennen, welchen nur die Natur verleihen kann, du wirst zugeben, daß Nora eines noch höheren Ranges, als des meinigen, würdig ist; und meine Mutter hält so viel auf deine Klugheit, daß, wenn du meine Sache bei ihr vertreten wolltest, du sie bekehren würdest.«

Audley hörte mit seinem verständigen, halb ungläubigen Lächeln Beiden zu. Mit Lady Lansmere durchaus einverstanden und aufrichtig besorgt, Harley vor einer Verirrrung, die er nach eigener Ansicht für verderblich hielt, zu bewahren, beschloß er, die gepriesene Perle zu prüfen und deren Flecken herauszufinden.

Audley Egerton stand damals in der Blüthe seiner ersten, entschlossenen, ehrgeizigen Jugend. Sein natürliches Benehmen hatte bei aller Abgemessenheit eine Milde und Feinheit, die sich selbst in dem späteren Geschäftsleben nicht ganz verlor; denn ungeachtet der kürzeren Worte und kälteren Blicke, welche bei einem Staatsmanne die unvermeidliche Folge von Sorge und Macht sind, hatte sich der Minister stets jener persönlichen Beliebtheit erfreut, die nur durch ein gewisses Unbeschreibliches äußeres Etwas, das besticht und gefällt, gewonnen wird.

Aber auch damals schon besaß er jene glückliche Zurückhaltung, die Rochefaucault »das Geheimniß des Körpers« genannt hat, jenen dünnen und doch schützenden Schleier, der nur die kräftigen Umrisse des Charakters verräth und so viel Interesse erregt, weil er zu so vielen Vermuthungen Anlaß gibt. Einem Manne, dem diese Zurückhaltung, die mit Argwohn nichts gemein hat, angeboren ist, schreibt die Welt weit höhere Eigenschaften und Talente zu, als sie an ihm in Wirklichkeit bemerkt; und solche Charaktere üben eine Anziehungskraft auf Dritte in demselben Verhältniß aus, als diese mit einer Phantasie begabt sind, welche es liebt, das Unbekannte zu ahnen.

Der Eindruck, den dieser Mann gleich bei der ersten Unterredung auf Nora Avenel hervorbrachte, war ein tiefer und wunderbarer. Sie hatte schon von ihm gehört als von Demjenigen, welchen Harley am meisten liebte und verehrte, und sie erkannte sofort in seinen Zügen, seinem Anblick, seinen Worten, ja im Klange seiner tiefen, ruhigen Stimme die Macht, zu welcher eine Frau, wie groß auch ihr Verstand sein mag, sich nie emporschwingt, und welcher sie deßhalb einen nicht immer ächten Adel zuschreibt – nämlich die Macht wohlüberlegter Beschlüsse und eines in sich abgeschlossenen, reinen Ehrgeizes.

Der Eindruck, welchen Nora auf Egerton machte, war nicht weniger unerwartet. Er staunte über die Schönheit eines Antlitzes und einer Gestalt, die zu jenen Seltenheiten gehörte, wie sie uns nur Ein- oder zwei Mal im Leben begegnen. Er war noch mehr erstaunt, zu entdecken, daß die Aristokratie der Seele die äußere Hülle mit einer Anmuth zu bekleiden vermag, die von keiner Aristokratie der Geburt übertroffen werden kann. Er war gefaßt, ein einfaches, erröthendes Dorfkind zu sehen, und beugte unwillkürlich seine stolze Stirne bei dem ersten Anblicke dieser zarten Blüthe, dieser ausgesuchten Lieblichkeit, welche des Weibes sicherste Bürgschaft für die Achtung des Mannes ist. Die erste, zweite, dritte, ja noch manche weitere Zusammenkunft hatte statt, ohne daß er den Muth fand, seinen Auftrag zu erfüllen und Harley's zu erwähnen. Als er es endlich that, bebte seine Stimme. Aber Nora's Antwort war für ihn deutlich. Er begriff, daß sie Harley nicht liebte, und ein freudiges, von ihm als sträflich erkanntes Entzücken durchströmte ihn.

Von dieser Unterredung kam Audley höchst aufgeregt und im Kampfe mit sich selbst nach Hause. Oft genug ist im Laufe dieser Erzählung angedeutet worden, daß unter Egerton's äußerer Kälte und gemessener Selbstbeherrschung eine, heftiger und unbeugsamer Leidenschaften fähige Natur verborgen lag. Diese brachen damals hervor. Er fühlte, daß die Liebe bereits in sein Herz eingezogen war, welches doch durch das Vertrauen seines Freundes genügend davor hätte geschützt sein sollen.

»Ich gehe nicht mehr zu ihr,« sagte er kurz zu Harley.

»Warum denn nicht?«

»Das Mädchen liebt dich nicht, denke nicht mehr an sie.«

Harley glaubte ihm nicht und wurde unwillig. Aber Audley's Ehrgefühl wurde durch alle mögliche weltliche Motive unterstützt. Er war arm, wenn er auch für reich galt, er war tief verschuldet – entschlossen, sich im Leben emporzuschwingen, und zäh im Festhalten an einer, ihm die Achtung der Welt sichernden Stellung. Gegen eine Armee von feindlichen Einflüssen kämpfte die Liebe ganz allein. Audley besaß eine starke Natur, aber ach! wenn in starken Naturen der Widerstand gegen Versuchung Granit ist, so sind ihre Leidenschaften Feuer.

Es ist eine abgedroschene Bemerkung, daß das Schicksal unseres Lebens oft von den Folgen eines unbewachten Augenblicks abhängt. So war es jedoch bei diesem Manne, der dem gewöhnlichen Auge so vorsichtig, so überlegend erschien. Eines Tages kam Harley in großer Betrübniß zu ihm; er hatte gehört, daß Nora unwohl sei, und bat Audley, noch ein Mal hinzugehen und sich Gewißheit darüber zu verschaffen. Audley ging.

Lady Jane Horton, die bereits an einem, nicht lange nachher als tödtlich sich erweisenden Uebel litt, war zu krank, um ihn empfangen zu können, und er wurde in Nora's Zimmer gewiesen. Während er auf ihr Erscheinen wartete, blätterte er mechanisch in einem Album, welches Nora, plötzlich zu Lady Jane's Pflege abgerufen, auf dem Tische hatte liegen lassen. Er sah eine Skizze seiner eigenen Züge – er las Worte darunter, Worte so ungekünstelter Zärtlichkeit, so hoffnungslosen Schmerzes – Worte geschrieben von einem Wesen, das gewohnt war, seinen Geist als seinen einzigen Vertrauten auf Erden anzusehen und ihm, wie ein einsames poetisches Herz zu thun sich gedrängt fühlt, Gedanken, Empfindungen und Bekenntnisse geheimnißvoller Seufzer auszuschütten, die es nie einem lebenden Ohre anvertrauen und, außer in solchen Momenten, kaum sich selbst gestehen würde.

Audley sah, daß er geliebt war, und diese Entdeckung verzehrte mit rasch auflodernder Flamme alle Schranken, welche zwischen ihm und seiner Liebe standen. In diesem Augenblick trat Nora ein und sah ihn über das Buch gebeugt. Mit einem Schrei sprang sie vorwärts und sank dann zu Boden, die Hände vor das Gesicht gedrückt. Und zu ihren Füßen kniete Audley. Er vergaß seinen Freund, seinen Auftrag, er vergaß Ehrgeiz und Welt. Seine eigene Sache führte er, seine eigene Liebe entströmte seinen Lippen; und als die Beiden an jenem Tage schieden, waren sie Verlobte – zu ihrem und zu Harley's Unglück!

Und nun sollte der Mann, der bis dahin sich selbst als den Typus eines ächten Gentleman betrachtet hatte, der ebenso in den Augen seiner jungen Altersgenossen als solcher galt – er sollte die Hand seines vertrauenden Freundes drücken und der Wahrheit Lebewohl sagen! Er mußte seinen knabenhaften Nebenbuhler zerstreuen, hinhalten, irre führen, ihm sagen, er stehe bereits im Begriff, Nora's Unschlüssigkeit und Zweifel zu besiegen, in kurzer Zeit hoffe er, sie soweit zu bringen, daß sie Harley's Rang und den Hochmuth seiner Eltern vergesse und seine Gattin werde. Und Harley vertraute auf Egerton, ohne daß ein Verdacht den Spiegel seiner edlen Seele trübte.

Inzwischen drang Audley, ungeduldig über seine Lage – ungeduldig, wie alle starken Naturen, die Ausführung des einmal gefaßten Entschlusses möglichst zu beschleunigen und eine Ungewißheit zu beenden, welcher jede neue Zusammenkunft mit Harley noch die Qualen der Eifersucht und der Scham hinzufügte – ungeduldig, sich über seine Gewissensbisse hinwegsetzen und sagen zu können: »Recht oder nicht recht, ich darf nicht mehr rückwärts blicken; die That ist gethan;« – so von der eigenen mächtigen Willenskraft fortgetrieben, drang Audley auf eine rasche und geheime Heirath, geheim, bis seine zur Zeit schwankenden Glücksumstände mehr gesichert und seine Laufbahn mit Erfolg begonnen sein würde.

Es war dies einer seiner Gründe, wenn auch nicht der Hauptgrund. Er schrak davor zurück, sein Unrecht dem Freunde zu gestehen – er wollte das ihn selbst erniedrigende Bekenntniß hinausschieben, bis, wie er sich einredete, Harley's knabenhafte Leidenschaft vorübergegangen – neuen Lockungen gewichen wäre, die ohne Zweifel seinen Weg belagern würden. Sein Gewissen beschwichtigend suchte Audley sich selbst zu überzeugen, daß der Tag nicht ausbleiben könne, an welchem Harley mit Gleichgültigkeit hören werde, daß Nora Avenel die Gattin eines Andern sei. »In seinen Jahren,« murmelte der ältere Freund, »ist es nur der Traum einer Stunde, in den meinigen die Leidenschaft eines Lebens!«

Von diesen Gründen für die Geheimhaltung schwieg er gegen Nora; er fühlte, daß er in ihren Augen sinken müßte, wenn er die Größe seines Verraths an dem Freunde bekennen würde. Er sprach deßwegen nur leichthin von Harley und behandelte die Werbung des Jünglings als eine der Vergangenheit angehörende Sache.

Desto länger verweilte er bei den Gründen, die ihm oder ihr ein Selbstopfer auferlegten, und die Wahl wurde ihr nicht schwer. Nora liebte und glaubte so unterwürfig an die Ueberlegenheit des Geliebten, daß sie gegen die leise Mahnung ihrer eigenen stolzeren Natur taub blieb und die Zweckmäßigkeit dessen, was er für weise und gut fand, nicht in Zweifel zog.

Während so Audley in dieser wichtigsten Angelegenheit seines Lebens die Klugheit vergaß, blieb er in allen Nebendingen seiner gewohnten Vorsicht treu. Und während seines ganzen Lebens blieb es ein charakteristischer Zug an ihm, daß er in großen Dingen sorglos und in unbedeutenden behutsam war. Er mochte sein Geheimniß nicht Lady Jane Horton und noch weniger Lady Lansmere anvertrauen. Aus diesem Grunde stellte er einfach der Ersteren vor, Nora sei unter ihrem Dache vor Harley's eifrigen Nachspürungen nicht länger sicher, Nora würde, um den Jüngling über ihre Schritte irre zu führen, besser thun, auf einige Zeit in der Stille fortzugehen und sich bei einem ihrer eigenen Verwandten aufzuhalten.

So ging Nora mit Lady Jane's Zustimmung zuerst in das Haus einer sehr entfernten Verwandten ihrer Mutter und bezog später dasjenige, in welches sie Egerton unter dem Namen Mrs. Bertram als seine junge Gattin einführte. Er hatte alles in einer Weise angeordnet, daß diese Heirath vor verfrühter Entdeckung möglichst sicher war. Es fügte sich aber, daß einer der von ihm ausgewählten Zeugen (einer seiner vertrauten Diener) von einem Schlagfluß getroffen wurde. In der Eile über einen Stellvertreter nachdenkend verfiel Egerton auf Levy, seinen Specialanwalt, seinen fashionablen Gelddarleiher, einen Mann, mit welchem er damals so vertraut stand, wie überhaupt ein feiner Gentleman mit dem in gleichem Alter befindlichen Anwalt stehen kann, der alle seine Angelegenheiten kennt und aus reiner Freundschaft mitgeholfen hat, sie in die schlimme Lage zu bringen, in welcher sie sind.

Levy wurde auf der Stelle herbeigeholt. Egerton, der in großer Hast war, theilte ihm Anfangs den Namen seiner Braut nicht mit, verbreitete sich aber über die Thorheit dieser Heirath und seiner Gründe, sie geheim zu halten in einer Weise, daß er die stärksten Einwendungen dagegen hervorrief; denn Levy hatte stets darauf gerechnet, Egerton werde eine reiche Heirath schließen, und hoffte im gewöhnlichen Geschäftswege den Reichthum an sich zu bringen, während er Jenem die Frau ließ. Egerton hörte nicht auf ihn, sondern trieb ihn fort nach dem Orte, wo die Ceremonie stattfinden sollte, und so sah Levy die Braut, noch ehe er ihren Namen erfahren hatte.

Der Wucherer verbarg seinen Aerger und vollzog den ihm zufallenden Theil der Gebräuche. Das Lächeln, mit welchem er der Braut Glück wünschte, würde ihr Herz erstarren gemacht haben, wenn sie es gesehen hätte; aber ihre Blicke hafteten am Boden, und ihr Herz suchte blindlings Schutz an der Brust, der es sich für immer hingegeben hatte. Sie bemerkte nicht das Lächeln des Hasses, welcher sich hinter Worten der Freude verbarg. Nie kam es Nora später in den Sinn, Egerton zu sagen, daß Levy ein abgewiesener Liebhaber sei. Mit dem feinen Takt der Liebe erkannte sie, daß eine Mittheilung dieser Art, der Gedanke an einen solchen Nebenbuhler, den Stolz ihres vornehmen, edelgeborenen Gatten verletzen würden.

Während nun Harley L'Estrange, außer sich über die Nachricht von Nora's Verschwinden aus Lady Jane's Hause und absichtlich auf falsche Fährten geleitet, vergebens ihre Spur zu finden suchte, überließ sich Egerton unter einem anderen Namen und in einem entlegenen Stadttheil – fern von den Clubs, in welchen seine Worte als Orakel galten, fern von den Vergnügungen und Mühen, welche bisher den thätigen Geist dieses Mannes beschäftigt hatten – dem einzigen Traum von einem Feenlande, der je im Stande war, das harte, wachsame Auge des Ehrgeizes zu schließen. Die Welt verschwand für ihn auf eine Weile, und er vermißte sie nicht. Er wußte nichts mehr von ihr. Er schaute in zwei liebende Augen, die ihn nachher durch ein finsteres, freudloses Leben verfolgten, und sprach leise zu sich: »Ja, dies ist wahres Glück!« Oft, oft in der Einsamkeit späterer Jahre wiederholte er diese Worte, nur daß er an die Stelle des beseligenden ist, das schmerzliche war setzte.

Und Nora, mit ihrem großem vollen Herzen, mit dem üppigen Reichthum von Phantasie und Gedanken, sie, das Kind des Lichts und des Gesanges, entdeckte sie denn zu jener Zeit nicht, daß etwas verhältnißmäßig Engherziges, Oedes in der Natur Desjenigen lag, mit welchem sie ihr eigenes Schicksal verknüpft hatte? Nicht, so lange die Sympathie der Gefühle dauerte, glänzend und wechselnd, wie die Tinten des Regenbogens. Wenn Audley ihr Herz an das seinige drückte, fühlte er da ein reineres Pulsiren desselben? War all' das Eisen seines Geistes ein Körnchen des Goldes werth, welches sie mit Harley's Liebe weggeworfen hatte?

Waren solche Zweifel Nora schon gekommen? Gewiß nicht. Der Genius fühlt kein Bedürfniß, keine Reue, solang das Herz befriedigt ist. Ihr Geist ruhte und schlummerte; er war ihr dienstbar gewesen, als sie noch allein stand, jetzt brauchte sie ihn nicht mehr. Wenn ein Weib von tiefer Liebe erfüllt ist zu einem Mann, der unter ihrer geistigen Höhe steht, so sehen wir oft, daß sie, ohne es selbst zu wissen, ihres Rangs sich begibt und demüthig zu der Stufe des Geliebten herabsteigt; sie scheut sich, in seinen Augen als die Ueberlegene zu erscheinen, und will nicht einmal auf die gleiche Höhe Anspruch machen. Nora wußte nichts mehr von ihrem Genius – wußte blos, daß sie Liebe besaß.

Und so wandelte nun das Tagebuch, welches Leonard las, seinen Ton in den eines stillen Glückes um, das nur um seiner Tiefe willen so still ist. Dieses Zwischenspiel in dem Leben eines Mannes, wie Audley Egerton, konnte nicht von langer Dauer sein, und viele Umstände wirkten zusammen, um die Frist abzukürzen. Seine Angelegenheiten befanden sich in großer Verwirrung und standen insgesammt unter Levy's Leitung. Ansprüche, die früher schlummerten oder nur milde geltend gemacht wurden, erhoben sich jetzt laut und drohend. Auch Harley war von seinen vergeblichen Nachforschungen nach London zurückgekehrt und sah sich nach Audley um.

So war dieser genöthigt, sein verborgenes Eden zu verlassen und wieder in der gemeinen Welt zu erscheinen. Fortan kam er nur noch verstohlen nach seiner ehelichen Heimath – nicht als Bewohner, sondern als Besuch. Aber lauter und ungestümer wurden die Forderungen seiner Gläubiger, und zwar in einem Augenblicke, in welchem Egerton am meisten alles dessen benöthigt war, was Achtbarkeit, Stellung und der Glaube an pekuniäre Unabhängigkeit beizutragen vermag, um den Mann zu erheben, der seine Arme gebunden und seine Bahn zum weltlichen Glück selbst mit Hindernissen belegt hatte. Er war mit Execution, mit Gefängniß bedroht. Levy erklärte ihm, daß »weiteres Borgen nur seinen Ruin vergrößern heiße,« zuckte die Achseln und empfahl sogar einen freiwilligen Rückzug nach dem King's Bench Der High Court of Justice, das oberste Zivilgericht..

»Kein Platz ist so geeignet, um hartnäckige Gläubiger zu einem Vergleich einzuschüchtern. Aber warum –« fügte Levy bei– »warum geht Ihr nicht zu dem jungen L'Estrange, einem Knaben, der dazu gemacht ist, um angeborgt zu werden?«

Levy hatte von Lady Jane Kunde über Harleys Werbung erhalten und wußte bereits genug, um seiner Rache an Egerton sicher sein zu können. Audley konnte sich nicht an den Freund wenden, den er verrathen hatte. Und was die anderen Freunde betraf, so hatte zwar kein Londoner Lebemann ihrer eine größere Anzahl; aber kein Lebemann wußte besser als er, daß er sie alle verlieren würde, sobald einmal bekannt war, daß er ihres Geldes bedurfte. Gekränkt, geängstigt, gefoltert, immer Harley ausweichend, der ihn gleichwohl stets aufsuchte, und vor jedem Klopfen an die Thüre erbebend, entwich Audley Egerton nach dem verpfändeten Ueberrest seines väterlichen Erbes, auf welchem ein düsteres, lange unbewohntes Herrenhaus stand. Dort beschäftigte sich sein Geist, der später durch sein schnelles Auffassen von Geschäftssachen so berühmt wurde, mit Untersuchung seiner Angelegenheiten, in der Hoffnung, aus der Flut, die mit jedem Augenblick höher um ihn her aufschwoll, einige Trümmer zu retten.

Und nun, um einen Bericht, dessen dunkler Strom fortan nur Schmerz und Sorge bringt, kurz zusammen zu fassen – nun begann Levy seine rachsüchtigen Tücken zu üben, und seine Arglist gewann allmälig die Oberhand. Unter dem Vorwand, Audley in Ordnung seiner Angelegenheiten an die Hand zu gehen, obschon er es in der Stille einzuleiten wußte, daß sie immer verwickelter wurden, kam er häufig für einige Stunden nach Egerton-Hall.

Er benützte zu diesem Besuch stets die Post, um die Wirkungen zu beobachten, welche Nora's fast tägliche Briefe auf ihren durch die praktischen Sorgen des Lebens verstimmten Gatten hervorbrachten. Dies gab ihm reichliche Gelegenheit, dem ehrgeizigen Mann Reue einzuflößen über seine unkluge, vorschnelle Leidenschaft oder in Audley wegen seines Verraths an L'Estrange Gewissensbisse zu wecken. Indem er dem geängstigten Schuldner immer Bilder vorführte, die im Widerstreit lagen mit seiner Liebe und mit der Poesie des Lebens, verstimmte er so zu sagen dessen Sinn für den Empfang von Nora's Briefen, deren reine Musik nur Gedanken athmete, wie sie die zarteste Phantasie der innigsten Liebe eingibt.

Egerton war einer von jenen Männern, welche sich über ihre Angelegenheiten nie offen gegen Weiber aussprechen, und Nora, wenn sie ihr Herz gegen ihn ausströmen ließ, hatte keine Ahnung von seinem herben, prosaischen Nothstand. Und so – und so – da Levy, dieses Urbild des prosaischen Lebens in seiner cynischsten Form, stets in der Nähe war – erschien allmälig das, was ein so reicher Erguß der Liebe war – die Klage über seine Abwesenheit, die Bitten um seine Rückkehr, die sanften Vorwürfe, wenn er einen Posttag versäumte, ihr auf ihre sehnsüchtigen Seufzer eine Antwort zu senden – dem verständigen, positiven Mann des wirklichen Lebens in dem Lichte kränklicher romanhafter Uebertreibung. Die glänzenden Pfeile flogen zu hoch gen Himmel, um nicht das so nahe der Erde aufgesteckte Ziel zu verfehlen. Es ist dies das gewöhnliche Loos aller überlegenen Naturen! Welch' ein Schatz – und wie unbedachtsam wurde er verschleudert!

»Da fällt mir ein,« sagte Levy eines Morgens, als er im Begriffe war, von Audley Abschied zu nehmen und in die Stadt zurückzukehren – »da fällt mir ein, daß ich heute Abend in die Nähe von Mrs. Egerton komme.«

Egerton. – »Sagen Sie Mrs. Bertram.«

Levy. – »Gut denn; ist sie etwa in Geldverlegenheiten?«

Egerton. – »Meine Gattin? Bis jetzt nicht. Ich muß vorher gänzlich zu Grunde gerichtet sein, ehe sie Noth leidet; und ständen die Sachen so, glauben Sie, ich wäre dann nicht an ihrer Seite?«

Levy. – »Ich bitte um Verzeihung, mein lieber Freund; Ihr Stolz als Gentleman ist so empfindlich, daß es für einen Advokaten schwer hält, ihn nicht unbewußt zu verletzen. Ihre Gattin kennt also den wirklichen Stand Ihrer Verhältnisse nicht?«

Egerton – »Natürlich nicht. Wer wird einem Weibe Dinge anvertrauen, bei denen sie nichts thun kann, als uns höchstens noch mehr quälen?«

Levy. – »Wahn, und noch dazu einer Dichterin! Ich habe Sie abgehalten, Ihre Antwort auf Mrs. Bertram's letzten Brief zu beendigen. Kann ich ihn mitnehmen? Sie erhält ihn dadurch einen Tag früher das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben, daß ich heute Abend bei ihr vorspreche?‹

Egerton (zu seinem unvollendeten Briefe zurückkehrend). – »Dagegen haben? Nein.«

Levy (sieht nach der Uhr). »Machen Sie rasch, oder ich verfehle den Postwagen.«

Egerton (siegelt den Brief). – »Da. Ich bin Ihnen sogar dankbar, wenn Sie meine Frau besuchen. Ohne sie über meine Angelegenheiten zu beunruhigen, können Sie ihr doch sagen, Sie wüßten, daß mich wichtige Dinge gegenwärtig vollständig in Anspruch nehmen; dadurch mildern Sie vielleicht in etwas den übeln Eindruck meiner sehr kurzen Antworten auf –«

Levy. – »Auf diese über's Kreuze geschriebenen, sehr langen Briefe. Ich werde es thun.«

»Arme Nora!« sagte Egerton seufzend; »sie wird denken, diese Antwort sei kurz und kalt. Setzen Sie ihr meine Entschuldigungsgründe freundlich auseinander, so, daß sie auch für späterhin gelten können. Ich habe wahrhaftig nicht Zeit und bin auch nicht in der Stimmung zu Gefühlsergüssen, und das Wenige, was ich davon besaß, ist nahezu aus mir herausgezerrt. Doch liebe ich sie tief und innig.«

Levy. – »Das muß wohl der Fall gewesen sein; denn ich hätte mir nie träumen lassen, daß Sie die Welt einem Weibe opfern würden.«

Egerton. – »Ich mir auch nicht; aber,« setzte der starke Mann im Bewußtsein der Kraft, welche über die Welt unendlich mehr Herrschaft erringt, als das Wissen – der Kraft ruhigen Muthes, hinzu, »ich habe der Welt noch nicht entsagt. Dieser rechte Arm soll Nora und mich in die Höhe tragen.«

Levy. – »Gut gesagt! Vor der Hand aber versuchen Sie unter keinen Umständen, nach London zu gehen oder diesen Ort zu verlassen; denn solchenfalls – ich weiß es, würden Sie verhaftet, und dann Adieu Parlament und Carriere!«

Audley's stolze Züge verfinsterten sich. Wie der bestgelaunte Hund sich unmuthig von dem Steine wegwendet, den er aus einer Pfütze herausgeholt hat, so schleicht auch der Ehrgeiz muthlos bei Seite, wenn ihm in dem Augenblick, da er die Menschheit herausfordern will, die Worte »Schande und Gefängniß« zugeflüstert werden.

An jenem Abende zeigte sich Levy bei Nora, setzte sich bei ihr durch Worte des Lobes über Egerton in Gunst und bahnte sich den Weg zu weiteren Besuchen, indem er indirect demüthige Entschuldigungen über seine frühere Dreistigkeit einfließen ließ. War sie ja doch so allein und liebte es, Jemand zu sehen, der kurz vorher Audley gesehen hatte und ihr von ihm erzählen konnte.

Nach und nach stahl sich der freundliche, ehrerbietige Besucher in ihr Vertrauen, und dann begann er mitten in seinen Lobeserhebungen auf Audley's überlegene Eigenschaften und Gaben die weltlichen Bestrebungen des jungen Gatten und die Sorge für seine Laufbahn hervorzuheben. Er that dies in so unbestimmter Weise, daß Nora unruhig wurde – er ließ durchblicken, daß, so theuer sie ihm sei, der Ehrgeiz ihm doch höher stehe. Nachdem er so den Weg geebnet hatte, begann er ein achtungsvolles Mitleid mit ihrer zweideutigen Stellung an den Tag zu legen, ließ Winke über Klatscherei und Verleumdung fallen und sprach die Furcht aus, daß die Anerkennung der Heirath für ihren guten Namen zu spät kommen könnte. Und was würden die Gefühle des stolzen Egerton sein, wenn seine Gattin von der Welt, auf deren Meinung er so großen Werth legte, ausgeschlossen wäre?

Unbemerkt brachte er sie dahin, daß sie (wenn auch schüchtern) ihrer eigenen Furcht, ihrem eigenen natürlichen Verlangen in ihren Briefen an Audley Worte gab. Wann sollte ihre Ehe öffentlich bekannt werden? Oeffentlich bekannt werden! Audley fühlte, daß eine solche Ehe in einem solchen Augenblick bekannt machen, die letzte Aussicht auf Ruhm und Vermögen wegstoßen hieß. Und zu alledem Harley, der noch immer nicht von seiner wahnsinnigen Liebe geheilt war! Levy sorgte dafür, daß er bei dem Eintreffen solcher Briefe an Audley's Seite sich befand.

Und jetzt that Levy in Ausführung seines Planes, diese beiden Herzen einander zu entfremden, weitere Schritte. Mittelst seiner verschiedenen Agenten gelang es ihm, in Nora's Umgebung die Verleumdungen auszustreuen, auf welche er hingedeutet hatte. Er veranstaltete, daß sie beim Ausgehen beschimpft, zu Hause durch den Hohn ihrer eigenen Dienerin beleidigt wurde und an ihrem verlassenen bräutlichen Herde voll Scham vor ihrem eigenen Schatten zitterte.

Inmitten dieser unerträglichen Pein erschien Levy wieder. Die Stunde seines Triumphes schlug. Er gab zu verstehen, daß er um die Erniedrigungen wisse, die Nora zu erleiden habe, drückte sein tiefes Bedauern aus und bot sich an, bei Egerton zu vermitteln, »damit ihr Gerechtigkeit werde.« Er sprach in doppelsinnigen Phrasen, die ihr Ohr beleidigten und ihr Herz peinigten, und brachte sie dadurch so weit, daß sie Erklärungen von ihm verlangte.

Jetzt nahm er ihr zuerst das feierliche Versprechen ab, das, was er ihr mittheilen werde, vor Audley zu verschweigen, und nachdem sie dieses Versprechen in einem wilden Zustande unbestimmter Angst gegeben hatte, sagte er mit schurkischer Heuchelei und scheinbar verlegenem Widerstreben, »daß ihre Ehe nicht streng gesetzlich, daß nicht alle vorgeschriebenen Förmlichkeiten erfüllt seien, und daß Audley, ob mit oder ohne Absicht, sich die Freiheit gesichert habe, die Ceremonie nicht anzuerkennen und die Braut zu verlassen.«

Während sie betäubt und sprachlos stand vor einer Falschheit, welcher bei Nora's Unerfahrenheit die Kunst des Advokaten den Schein der Wahrheit zu verleihen wußte, beeilte er sich, in ihrem Gemüthe von Neuem die Erinnerung an Audley's Stolz, Ehrgeiz und Rücksicht auf weltliche Stellung zu wecken.

»Hierin liegt für Sie die Schwierigkeit,« sagte er; »ich denke jedoch, ihn bestimmen zu können, daß er das Unrecht wieder gut mache und Sie endlich in Ihre Rechte einsetze.«

Jetzt brach Nora's Zorn los. Sie sollte an einen solchen Flecken in Audley's Ehre glauben?

»Aber wo war diese Ehre, als er seinen Freund betrog? Wußten Sie nicht, daß er von Lord L'Estrange beauftragt war, sich für ihn zu verwenden? Und wie entsprach er diesem Vertrauen?«

Für L'Estrange! Nora hatte sich hierüber seiner Zeit keine weiteren Gedanken gemacht. Während der plötzlichen Liebe, welche der ebenso plötzlichen Vermählung voranging, war ja (mit Ausnahme von Audley's erster schüchterner Anspielung auf Harley's Werbung und ihrer ruhigen kalten Antwort) über denselben so wenig zwischen ihnen gesprochen wollen.

Levy nahm den Faden des Gesprächs wieder auf. Er verweilte lange bei dem Vertrauensbruche und fuhr dann fort:

»In Egerton's Welt halten es die Männer für eine weit größere Unehre, einen Mann zu verrathen, als ein Weib zu betrügen; konnte Egerton das Eine thun, warum nicht auch das Andere? Blicken Sie mich nicht so unwillig an. Stellen Sie ihn selbst auf die Probe; schreiben Sie ihm, daß die Verdächtigungen, unter welchen Sie leben, nicht länger zu ertragen seien – daß Sie selbst, so sehr sich Ihre Vernunft dagegen sträube, davon angesteckt werden – daß das Geheimhalten Ihrer Vermählung, seine verlängerte Abwesenheit, seine entschiedene, auf ungenügende Gründe gestützte Weigerung, Ihre Ehe bekannt zu machen, daß dies alles Sie mit einem schrecklichen Zweifel erfüllte. Bitten Sie ihn wenigstens, er möchte, wenn er die Verbindung noch nicht veröffentlichen wolle, Sie hinsichtlich der Gesetzlichkeit der Ceremonie beruhigen.«

»Ich will zu ihm,« rief Nora ungestüm.

»Zu ihm – in sein Hans? Welche Scene, welch' einen Scandal gäbe das! Er würde Ihnen nie verzeihen.«

»Dann will ich ihn bitten, zu mir zu kommen. Ich kann nicht so entsetzliche Worte schreiben, ich kann nicht – kann nicht. Gehen Sie, gehen Sie!«

Levy verließ sie und eilte zu zwei oder drei der am meisten drängenden Gläubiger Audley's, Männer, welche den Rathschlägen Levy's blindlings folgten Er befahl ihnen, Audley's Wohnung augenblicklich mit Gerichtsdienern umstellen zu lassen, so daß Egerton, ehe er zu Nora gelangen konnte, im Gefängniß sitzen mußte. Nachdem er diese Vorkehrungen getroffen hatte, begab sich Levy selbst zu Audley und langte, wie gewöhnlich, ein paar Stunden vor Abgabe der Briefe bei ihm an.

Nora's Brief kam, und nie wurden Audley's ernste Züge finsterer, als beim Lesen dieser Zeilen. Dennoch beschloß er mit seiner gewöhnlichen Entschiedenheit, ihrem Wunsche zu willfahren; läutete und befahl seinem Diener, ihm andere Kleider zu besorgen und Postpferde zu bestellen.

Levy nahm ihn nun bei Seite und führte ihn an das Fenster.

»Blicken Sie dort hin, unter die Bäume. Sehen Sie diese Leute? Es sind Gerichtsdiener, und das ist der Grund, weßhalb ich heute bei Ihnen bin. Sie können das Haus nicht verlassen.«

Egerton prallte zurück. »Und gerade jetzt dieser wahnsinnige Brief!« murmelte er und schlug mit der geballten Hand auf das offene Blatt, welches inmitten aller Schrecken eine solche Fülle von Liebe athmete.

O Weib, Weib! Wenn dein Herz tief und seine Saiten zart sind, siehe dich wohl vor, wie du den Mann liebst, dem Alles, was ihn von den schweren Sorgen dieser Werktagswelt abzieht, als Wahnsinn oder Thorheit erscheint. Er wird dein Herz brechen, dessen Saiten zerreißen und aus seinem zarten Bau jeden Ton verscheuchen, der jetzt noch die Lust zur Musik macht und zu den Accorden der Engelsharfen anschwillt.

»Sie hat schon einmal schriftlich bei mir angefragt,« fuhr Egerton fort, indem er ärgerlich mit ungleichen Schritten das Zimmer durchmaß, »wann unsere Vermählung veröffentlicht werden könne, und ich glaubte, meine Antwort hätte jedes verständige Weib zufrieden stellen können. Aber das, das ist noch schlimmer, das übersteigt alles – sie zweifelt im Ernst an meiner Ehre! Sie hält mich, der ich solche Opfer gebracht, mich, Audley Egerton, einen englischen Gentleman, allen Ernstes für fähig, so niederträchtig sein zu können, daß –«

»Was?« unterbrach ihn Levy. »Daß Sie Ihren Freund L'Estrange verrathen konnten? Wußte sie denn das nicht?«

»Sir!« rief Egerton, blaß wie der Tod.

»Werden Sie nicht böse; in der Liebe, wie im Kriege ist jede List erlaubt, und L'Estrange wird Ihnen noch Dank wissen, daß Sie ihn von einer mésalliance bewahrt haben. Aber sind Sie wirklich erzürnt auf mich? Ich bitte, verzeihen Sie mir.«

Nicht ohne Schwierigkeit beruhigte der Wucherer den Sturm, den er in Audley's Gewissen heraufbeschworen hatte, und nun vernahm er mit gutgespieltem Erstaunen den wahren Inhalt von Nora's Brief.

»Es ist unter meiner Würde, ihr auf einen solchen Zweifel zu antworten, und noch mehr, ihn zu befestigen,« sagte Audley. »Wäre ich bei ihr, Ein Blick des Vorwurfs würde genügen; aber mich hinsetzen und schreiben: ›Ich bin kein Schurke, und ich will es dir beweisen, daß ich keiner bin‹, – nie!«

»Sie haben vollkommen Recht; aber lassen Sie doch sehen, ob wir nicht Ihren Stolz und die Gefühle Ihrer Gattin mit einander versöhnen können. Schreiben Sie ihr kurz: ›Alles, was du von mir erklärt wissen willst, wird dir Levy, mein Anwalt, in meinem Auftrage sagen und erklären, und du darfst ihm Glauben schenken, wie mir selbst.‹«

»Ja, die arme Thörin verdient eine Züchtigung, und ich glaube, diese Antwort wird sie mehr strafen, als ein langer Verweis. Mein Geist ist so verstört, daß ich über diese leere Weiberfurcht und Laune kein Urtheil besitze. Da, ich habe nach Ihrem Rathe geschrieben. Geben Sie Ihr die Beweise, deren sie bedarf, und sagen Sie ihr, daß sie spätestens in sechs Monaten, komme was mag, den Namen Egerton tragen soll, wie sie künftig dessen Schicksal theilen wird.«

»Warum in sechs Monaten?«

»Das Parlament muß vor dieser Zeit aufgelöst sein. Entweder bekomme ich in demselben einen Sitz, welcher mich vor dem Schuldgefängnisse bewahrt, und habe ein Feld für meine Thätigkeit erobert, oder –«

»Oder was?«

»Oder ich verzichte auf allen Ehrgeiz und bitte meinen Bruder, mir bezüglich der Schulden, welche nach einem günstigen Verkauf meines gesammten Eigenthums noch übrig bleiben, seinen Beistand zu leihen – es können derer nicht viele sein. Er hat eine Pfründe zu vergeben, deren jetziger Inhaber alt und, wie ich höre, sehr krank ist. Ich kann mich ordiniren lassen.«

»Und zu einem Landpfarrer herabsinken!«

»Und Zufriedenheit lernen. Ich habe sie schon gekostet – aber freilich, da stand sie mir zur Seite. Setzen Sie ihr alles auseinander. Dieser Brief ist, fürchte ich, unfreundlich – aber warum auch diese kränkenden Zweifel?«

Levy steckte den Brief hastig in sein Taschenbuch und nahm Abschied, indem er fürchtete, derselbe könnte wieder zurückgenommen werden.

Von diesem Briefe machte er einen solchen Gebrauch, daß Nora am Tage nach dessen Empfang Haus und Nachbarschaft verlassen hatte und spurlos verschwunden war. Von allen Schmerzen des Lebens ist keiner so scharf, so tief einschneidend, keiner, welcher die Vernunft in der ersten Zeit mehr tödtet und mehr dazu angethan ist, unsere ganze Organisation in ein verwundetes Herz umzuwandeln, als die Ueberzeugung, da betrogen zu sein, wo wir das ganze Kapital unserer Liebe niederlegten. In dem Augenblick, in welchem der Anker bricht, zieht der Sturm herauf, und die Sterne verschwinden in den Wolken.

Als Levy zurückkehrte, erfüllt von der schändlichen Hoffnung, welche seine Rache aufgestachelt hatte – der Hoffnung nämlich, daß wenn es ihm gelänge, Nora's Liebe zu Audley in Haß und Unwillen zu verkehren, er diesen herabgewürdigten und zerbrochenen Gott auch wieder aufstellen könnte, da war seine Bestürzung und sein Unmuth über ihre Abreise groß. Mehrere Tage lang suchte er vergebens ihre Spur. Er ging zu Lady Jane Horton – Nora war nicht bei ihr gewesen. Er scheute sich, Egerton unter die Augen zu treten. Gewiß hatte Nora an ihren Gatten geschrieben und ungeachtet ihres Versprechens seine eigene Falschheit aufgedeckt.

Da indeß Tage vergingen, ohne daß sich eine Spur von ihr zeigte, so blieb ihm keine andere Wahl, als sich nach Egerton-Hall zu begeben, wobei er jedoch Sorge trug, daß die Gerichtsboten noch auf ihren Posten waren. Audley hatte keine Zeile von Nora erhalten, und der junge Gatte war darüber erstaunt, betroffen, unruhig – aber er hatte keine Ahnung von der Wahrheit.

Endlich sah sich Levy genöthigt, Audley von Nora's Flucht zu unterrichten, indem er dem Vorfalle die ihm nöthig dünkende Färbung gab. Ohne Zweifel war sie zu ihren Verwandten gegangen, um nach deren Rath Schritte behufs Veröffentlichung ihrer Ehe zu thun. Dieser Gedanke verwandelte Audley's erste Bestürzung in tiefen Groll. Er verstand Nora's Gemüth so wenig und war so sehr gewöhnt, die Dinge vom Standpunkt des sogenannten gesunden Menschenverstandes aus zu beurtheilen, daß er gar keinen andern Grund für ihre Flucht und für ihr Schweigen zu finden vermochte. Aber so ärgerlich ihm ein solches Vorgehen sein mochte, Egerton war zu stolz, um Gegenmaßregeln zu ergreifen.

»Mag sie das Aergste thun,« sagte er kalt, seine Aufregung mit gewohnter Selbstbeherrschung niederkämpfend, »die Welt wird eine Woche lang viel darüber reden – meine Gläubiger werden nur desto gieriger auf ihre gehetzte Beute stürzen –«

»Aber eine Herausforderung von Lord L'Estrange?«

»Mag sie kommen,« antwortete Egerton und legte plötzlich die Hand auf das Herz.

»Was haben Sie? Fühlen Sie sich unwohl?«

»Ein sonderbares Gefühl hier. Mein Vater starb an einem Herzleiden, und ich selbst wurde einmal gewarnt, mich während meines ganzen Lebens vor zu großer Gemüthsbewegung zu hüten. Damals lachte ich darüber. Gehen wir an die Arbeit.«

Als aber Levy fort war und Einsamkeit herrschte rings um den Mann mit der eisernen Maske, da ging ihm mehr und mehr das Verständniß eines schweren Verlustes auf. Nora's mildes, liebliches Antlitz trat aus den Schatten der verlassenen Wände heraus, ihr sanftes, nachgiebiges Temperament, ihr großherziger, sich selbst aufopfernder Geist kam wieder in seine Erinnerungen, und widerlegte den Gedanken, welcher ihr Unrecht that. Seine Liebe, für eine kurze Zeit durch Geschäftssorgen zurückgedrängt, und, wenn auch ohne viel Weichheit des Gefühls, doch immer die beherrschende Leidenschaft seiner Seele, strömte zurück in all' sein Denken und erfüllte die Luft um ihn her mit besänftigendem Zauber.

Im Dunkel der Nacht entkam er, unbemerkt von den Gerichtsdienern, und gelangte nach London. Er selbst stellte überall, wo er seine verlorene Gattin irgend zu finden hoffen durfte, Nachforschungen an. Lady Jane Horton lag zu Bette, dem Tode nahe, unfähig auch nur einen Brief von ihm zu empfangen und zu beantworten. Er sandte heimlich nach Lansmere, ob Nora vielleicht zu ihren Eltern gegangen sei, Sie war auch dort nicht, und die Avenels glaubten sie noch bei Lady Jane Horton.

Jetzt erfaßte ihn ernstliche Besorgniß, und inmitten dieser Bedrängniß gelang es Levy, einen Haftbefehl wegen Schulden gegen ihn auszuwirken; doch blieb er nicht lange im Gefängnisse. Noch ehe die Schmach bekannt wurde, waren die Befehle rückgängig gemacht – Levy's Anschlag vereitelt. Audley war frei. Lord L'Estrange hatte von dem Diener Audley's erfahren, was Letzterer ihm vor allen Andern verbergen wollte. Der großmüthige Jüngling, der außer dem von seinem Vater ihm ausgesetzten beträchtlichen Jahresgelde mit seiner Volljährigkeit Erbe eines unabhängigen, bedeutenden eigenen Vermögens wurde, borgte rasch Geld und bezahlte alle Schulden seines Freundes. Der Liebesdienst war gethan, ehe Audley es erfuhr oder es hindern konnte. Von da an folterte eine neue und kaum weniger peinigende Aufregung, als die über Nora's Verlust den Mann, der die Warnung der Wissenschaft belächelt hatte, und das seltsame Gefühl in der Gegend des Herzens machte sich mehr und mehr bemerkbar.

Und auch Harley suchte noch immer Nora, wollte nur von ihr reden und sah verstört und abgehärmt aus. Der Blüthenstaub seiner Jugend war verflogen. Konnte Audley unter solchen Umständen zu ihm sagen: »Sie, die du suchst, gehört einem Anderen an; deine Liebe ist ausgetilgt aus deinem Leben. Und vernimm zu deinem Troste, daß dein Freund zum Verräther an dir wurde!« Konnte Audley das sagen? Er wagte es nicht. Welcher von Beiden litt am meisten?

Diese beiden Freunde waren ungeachtet aller Verschiedenheit der Charaktere innig mit einander verbunden. Unzertrennlich in der Schule traten sie zusammen in die Welt mit einem Reichthum an offenem gegenseitigem Vertrauen, welches sich seit ihrer Kindheit mit jedem Tage gemehrt hatte. Selbst jetzt noch, unter allen bangen Sorgen, fuhr Harley fort, für Egerton zu denken und Pläne zu machen, während selbst anklägerische Gewissensbisse und das Gefühl peinlicher Dankverpflichtung Audley's Liebe zu Harley zu einer Art Verehrung für ein höheres Wesen vergeistigten, in die sich ehrerbietiges Mitleid mischte, welches sich sehnte zu sühnen – wieder gut zu machen – aber wie, o wie?

Die allgemeine Wahl stand vor der Thüre, und noch keine Nachricht von Nora! Levy hielt sich von Audley fern und setzte auf eigene Faust in der Stille seine Nachforschungen fort. Ein Sitz für den Flecken Lansmere wurde Audley geradezu aufgedrungen, nicht allein von Harley, sondern auch von dessen Eltern, und besonders von der Gräfin, welche in ihrem Herzen Nora's geheimnißvolles Verschwinden Audley's weisen Rathschlägen zuschrieb.

Anfangs widerstand Egerton dem Gedanken, eine neue Verpflichtung gegen seinen gekränkten Freund einzugehen; aber er brannte vor Begierde, wenigstens das Abtragen seiner Geldschuld eines Tages möglich zu machen; denn das Bewußtsein dieser Schuld demüthigte ihn mehr als alles Andere. Durch parlamentarische Erfolge konnte er ja mit der Zeit irgend eine gewinnreiche Stellung im Auslande erlangen und so im Stande sein, nach und nach diese Last von seinem Herzen und seiner Ehre zu entfernen. Eine andere Aussicht auf Rückzahlung schien ihm nicht vorhanden; er nahm deßhalb das Anerbieten an und begab sich nach Lansmere. Sein kürzlich verheiratheter Bruder wurde eingeladen, daselbst mit ihm zusammenzutreffen, ebenso war Miß Leslie dort, die reiche Erbin, von welcher Lady Lansmere heimlich hoffte, ihr Sohn Harley werde ihr sein Herz zuwenden, während diese, nicht weniger heimlich, seit langer Zeit das ihrige dem nichts ahnenden Egerton geschenkt hatte.

Indessen war die unglückliche Nora durch die List und die Vorstellungen Levy's getäuscht, und den Eingebungen ihres, dem Gefühl der Schande so leicht zugänglichen Herzen folgend, geflohen aus einer Heimathstätte, die sie für entweiht hielt – geflohen von einem Geliebten, dessen Macht über ihr Herz sie so gut kannte, daß sie fürchtete, er möchte sie sogar mit der Schande versöhnen – geflohen, um sich für immer vor Audley's Augen zu verbergen. Darum wollte sie nicht zu ihren Verwandten und ebensowenig zu Lady Jane gehen; es hätte dies einen Fingerzeig für ihre Verfolgung geben können.

Eine italienische Dame von hohem Rang hatte während Nora's Aufenthalt bei Lady Jane diese besucht, Gefallen an Nora gefunden, und da sie auf den Rath ihres Gemahls, der vor ihr nach Italien zurückkehren mußte, eine Gesellschafterin mitnehmen wollte, mit Nora und Lady Jane Horton hierüber gesprochen. Nora war von Letzterer gedrängt worden, das Anerbieten anzunehmen und sich Harley's Verfolgung durch einen zeitweiligen Aufenthalt außer Landes zu entziehen. Nora hatte es damals abgeschlagen, denn sie hatte zu jener Zeit Egerton schon gesehen.

Zu dieser Dame ging sie jetzt. Das Anerbieten wurde mit der gewinnendsten Freundlichkeit wiederholt und mit leidenschaftlicher Verzweiflung erfaßt. Die Italienerin hatte jedoch Einladungen auf englische Landsitze angenommen, ehe sie nach dem Continente abreiste. In der Zwischenzeit fand Nora in einer stillen Wohnung einer entfernten Vorstadt, die ihr von einem englischen Diener der schönen Fremden empfohlen worden war, einen Zufluchtsort. So war sie zuerst in das Häuschen gekommen, in welchem Burley starb, und bald darauf verließ sie England in Gesellschaft jener Dame, ohne daß Lady Jane – ohne daß ihre Eltern jemals etwas davon erfuhren.

Diese ganze Zeit über befand sich das arme junge Geschöpf in einem moralischen Delirium, in einem wirren Fieber, verfolgt von Träumen, welchen sie vergebens zu entfliehen suchte. Tüchtige Psychologen behaupten, daß Wahnsinn bei Personen von stark ausgeprägter Einbildungskraft sehr selten vorkomme. Nichtsdestoweniger sind solche Personen einem vorübergehenden Seelenzustand unterworfen, während dessen die Urteilsfähigkeit schläft und die Phantasie allein mit grausamer schrecklicher Tyrannei herrscht. Eine einzige Idee gewinnt die Oberhand, verdrängt alle andern und stellt sich allenthalben mit unerträglich blendendem Glanze in den Vordergrund. Nora hatte in dieser Zeit nur Sinn für den einzigen Gedanken: Flucht vor der Schande!

Als aber zwischen ihr und dem Geliebten die Wogen der See rollten, und Meile um Meile die Kluft immer mehr erweiterte, als neue Bilder auftauchten, das Fieber abnahm und die Vernunft wiederkehrte – da trat auch der Zweifel an die Stelle der früheren Verzagtheit. War sie nicht zu leichtgläubig, zu voreilig gewesen? Thörin, Thörin! Konnte Audley ein so niederer Verräther sein? Wie schuldig war sie, wenn sie ihm Unrecht gethan hatte!

Und mitten in dieser Umkehr ihrer Gefühle regte sich in ihr ein anderes Leben; sie sollte Mutter werden. Bei diesem Gedanken beugte sich ihre starke Natur, ihr Stolz kämpfte den letzten Kampf; sie wollte zurück nach England, Audley sehen, aus seinem Munde die Wahrheit hören, und, wenn die Wahrheit dem, was man sie glauben gelehrt, entspräche, nicht für sich, sondern für das Kind des Ungetreuen Schritte thun.

Wegen der kriegerischen Zustände auf dem Continente konnte sie ihren Vorsatz nicht sogleich ausführen, und verschiedene Hindernisse traten ihrer Rückreise störend in den Weg. Endlich jedoch gelangte sie in die Heimath und suchte das Vorstadthäuschen wieder auf, in welchem sie zuletzt vor ihrer Abreise aus England gewohnt hatte. Am Abend begab sie sich nach Audley's Hause in London, welches nur unter der Obhut einer Dienerin stand. Mr. Egerton war abwesend, fern in Wahlangelegenheiten, und Mr. Levy, sein Anwalt, frug täglich, ob Briefe für ihn eingelaufen seien.

Nora fürchtete sich, Levy zu sehen, fürchtete sich, einen Brief zu schreiben, der ja durch seine Hände gehen mußte. War sie betrogen worden, so war sie es durch ihn und zwar absichtlich. Aber das Parlament war ja aufgelöst, die Wahlen mußten bald beendet sein, und in einer Woche wurde Mr. Egerton zurück erwartet. So ging Nora zu Mrs. Goodyer zurück und entschloß sich zu warten, in stummem Schmerze sich verzehrend. Vielleicht konnten ihr die Zeitungen sagen, wo Audley sich aufhielt; sie ließ dieselben kommen und studirte sie Tag für Tag.

Endlich eines Morgens fiel ihr Auge auf folgende Notiz:

»Graf und Gräfin Lansmere empfangen auf ihrem Landsitze ausgezeichnete Gesellschaft. Unter den Gästen befindet sich Miß Leslie, deren Reichthum und Schönheit in der vornehmen Welt so viel Aussehen macht. Wir hören, daß diese Dame, zum Verdruß zahlreicher Bewerber aus unserer Aristokratie, Mr. Audley Egerton entschieden den Vorzug gibt. Genannter Gentleman bewirbt sich jetzt, als Anhänger der Regierung um die Vertretung von Lansmere, und sein Sieg gilt gesichert. Nach Ansicht seiner zahlreichen Freunde werden wenige neue Mitglieder sich als ein ebenso werthvoller Zuwachs für die ministerielle Partei erweisen, und eine glänzende Laufbahn läßt sich mit Gewißheit einem jungen Manne prophezeien, der um seines Talentes und Charakters willen so geschätzt ist, und von einem so ungeheuren Vermögen unterstützt wird, wie dasjenige ist, welches ihm in Kürze mit der Hand der ausgezeichneten Erbin zufallen wird.«

Wiederum brach der Anker – wieder nahte sich der Sturm – wieder verschwanden die Sterne. Nora stand von Neuem unter der Herrschaft eines einzigen Gedankens, gerade wie damals, als sie aus der bräutlichen Wohnung entwich. Damals wollte sie dem Geliebten entfliehen – jetzt wollte sie ihn sehen. Wie das Opfer auf der Folterbank steht, sofort zum Tode geführt zu werden, so gibt es Augenblicke, in welchen die Vernichtung aller Hoffnung dankenswerther erscheint, als die Qual der Ungewißheit.


Siebenzehntes Kapitel.

Wenn in einem langen Diorama Schaukasten, in dem Szenen mit Modellfiguren und -landschaften vor einem oft halbkreisförmigen, bemalten Hintergrund dargestellt werden. die Bilder feierlich an uns vorüberziehen, ist es zuweilen ein einzelner Gegenstand, der, vielleicht wegen des Gegensatzes zu dem Anblick sinnlicher Häuserreihen oder des Laufes eines mächtigen Flusses, das Auge einen Moment fesselt und dann vorüberschwebt, indem er in unserem Gemüthe einen fremdartigen, unbehaglichen, nicht näher zu bestimmenden Eindruck hinterläßt.

Weßhalb wurde uns der Gegenstand vorgeführt? An und für sich war er unbedeutend. Es war vielleicht eine zerbrochene Säule, ein einsamer Weiher, auf der ruhigen Oberfläche vom Monde bestrahlt; aber es flößt uns Scheu ein. Wir denken immer wieder daran, nachdem phantastische Gemälde des glänzenden Damaskus, kolossale Pyramiden, die Bazars von Stambul oder lange Karavanen, die sich langsam durch Arabien's Sandwüsten bewegen, längst das bewundernde Auge gesättigt haben. Warum hat uns in der Schattenreihe ein Ding gefesselt, das, wäre es nicht so allein gestanden, so gewöhnlich gewesen wäre? Es muß ein geheimes Interesse daran haften. Sträubte sich dort etwa bei der Vorahnung von Unglück das wilde Haar eines Propheten? War es hier, daß Hagar Im Alten Testament die ägyptische Magd Saras, Nebenfrau Abrahams und Mutter Ismaels, Abrahams Erstgeborenen, dem später Saras Sohn Isaak vorgezogen. die Klage ihres Kindes an der entrüsteten Brust stillte? O, wie gerne möchten wir den prunkvollen Zug zurückrufen, und den einsamen Gegenstand nochmals schauen, welcher der Hand des Künstlers so wenig werth schien, und fragen: »Warum bist du hier, und warum lässest du uns keine Ruhe?«

Steige empor – steige noch einmal empor, du einsamer Baum an der einsamen Heerstraße, die sich weiter und weiter zu dem unbarmherzigen London hinzieht – steige empor mit deinen grünen Zweigen und den tiefen Riffen in deinem Herzen, und mit den Raben, den schwarzen Vögeln des Unheils und des Kummers, die ihr Nest mitten in das Land deiner Zweige bauen und mit geräuschlosen Schwingen durch die Spalten deines Inneren niederflattern oder vielleicht im wachsenden Abenddunkel ihren Jungen locken!

Unter dem alten Baume neben John Avenel's Hause kauerte athemlos lauschend John Avenel's Tochter Nora. Als ihr der verhängnißvolle Zeitungsartikel, dessen lügenhafter Bericht wie Wahrheit klang, zu Gesicht kam, gehorchte sie dem ersten Gefühle ihres leidenschaftlichen Herzens, riß den Trauring von ihrem Finger und legte ihn nebst jenem Artikel in einen Brief an Audley – einen Brief, in welchem sie Verachtung und Stolz ausgedrückt zu haben glaubte, und der doch nur Eifersucht und Liebe verrieth. Sie hatte keine Ruhe, bis sie den Brief unter Audley's Adresse bei Lord Lansmere eigenhändig in den Postschalter geworfen hatte.

Kaum aber war er darin, so kam auch die Reue. Was hatte sie gethan? Sie hatte verzichtet auf das Geburtsrecht des Kindes, welches sie in Bälde zur Welt bringen sollte – verzichtet auf ihre letzte Hoffnung in die Ehrenhaftigkeit ihres Geliebten – sie hatte ihr Lebenselement aufgegeben – und weßhalb? Wegen eines Zeitungsartikels! Nein, nein, sie wollte selbst nach Lansmere in das Haus ihres Vaters! Sie konnte es ja ermöglichen, Audley zu sehen, noch ehe der Brief in seine Hände gelangte. Nicht sobald hatte sie diesen Entschluß gefaßt, als sie auch zu dessen Ausführung schritt. Sie fand einen offenen Platz in einem Wagen, der einige Stunden vor der Post von London abging und bis auf wenige Meilen Entfernung fuhr; diese Strecke legte sie zu Fuß zurück.

Erschöpft, beinahe ohnmächtig kam sie endlich in die Nähe des väterlichen Hauses und stand stille; denn in dem kleinen Garten vor demselben saßen ihre Eltern. Sie hörte den Ton ihrer Stimmen, und plötzlich erinnerte sie sich ihrer veränderten Gestalt, ihres schrecklichen Geheimnisses. Wie sollte sie antworten auf die Frage: »Tochter, wo und wer ist dein Gatte?« Ihr Herz drohte zu brechen, und sie kroch zu dem Baume, um sich zu sammeln, um zu beobachten und zu lauschen.

Sie sah die harten Züge ihrer haushälterischen, klugen Mutter, mit den tiefen Furchen darin, die von den Sorgen eines kummervollen Lebens zeugten, mit dem leicht erregbaren Temperament, mit dem warmen Sinne für Anstand und dem stolzen Selbstgefühle. Das theure, strenge Gesicht schien ihr heute theurer, strenger, als je.

Sie sah den behäbigen, sorglosen, gutgelaunten Vater, damals noch nicht der gelähmte Kranke, der unter Leonard's Liedern Nora's Augen wieder erkannte, sondern munter und kräftig, der erste Ballschläger im Cricketclub, die Hauptstimme im Liederkranz, der populärste Stimmenwerber der Lansmere'schen constitutionellen Partei der ächten Blauen, der Stolz und der Abgott seines spröden calvinistischen Weibes. Nie hatten ihre fest geflossenen Lippen auch nur einen frommen Tadel gegen den sorglos geselligen Mann ausgesprochen.

Wie er so da saß – eine Hand in die Weste geschoben, das Profil der Straße zugewandt – und ein leichter Rauch spielend aus seiner Pfeife sich emporringelte, über welche sich seine Lippen schlossen, die, an mildes Lächeln und herzliches Lachen gewöhnt, widerwillig schienen, daß sie überhaupt sich schließen sollten – da konnte er in der That als das Musterbild eines vermöglichen Gewerbsmannes gelten, der sich zur Ruhe gesetzt hat, und, frei von der Qual, Geld zu erwerben, in voller Lebenslust das Vergnügen, Geld auszugeben, genießen kann.

»Ich muß gleich fort, Alte,« sagte John Avenel, »und nach drei schwankenden Wählern in der Fischgasse sehen; sie werden bald ihr Tagewerk gethan haben, und dann finde ich sie zu Hause. Sie reden, als ob es eine Opposition geben sollte, und ich weiß auch, daß der alte Smikes nach London gegangen ist, um dort einen Candidaten aufzutreiben. Wir dürfen nicht dulden, daß die constitutionellen Blauen von Lansmere sich von einem Londoner aus dem Felde schlagen lassen! Ha, ha, ha!«

»Aber Du bist doch wieder zu Hause, ehe Jane und ihr Mann Mark kommen? Wie konnte sie nur einen gewöhnlichen Zimmermann heirathen!«

»Ja,« sagte John, »er ist ein Zimmermann, aber er hat eine Stimme, und dies verstärkt das Ansehen der Familie. Wäre Dick nicht nach Amerika, so wären wir zu Drei. Aber Mark ist ein ächter guter Blauer. Ein Londoner, ein Gelber von London sollte unsern Lord und die Blauen schlagen! Ha, ha!«

»Aber John, dieser Mr. Egerton ist ja auch ein Londoner.«

»Das verstehst du nicht und schwatzest Unsinn. Mr. Egerton ist der Candidat der Blauen, die Blauen sind die Landpartei, also kann er kein Londoner sein. Er ist ein ungewöhnlich kluger, gut gewachsener hübscher junger Mann und noch dazu meines jungen Lords Busenfreund.«

Mrs. Avenel seufzte.

»Was hast du denn zu seufzen und den Kopf zu schütteln?«

»Ich dachte an unsere arme liebe Nora.«

»Gott segne sie!« rief John herzlich.

Ein Rauschen ließ sich von dem alten hohlen Baume her vernehmen.

»Ha, ha! Horch! Ich sprach so laut, daß die Raben aufgescheucht wurden.«

»Wie hat er sie geliebt!« sagte Mrs. Avenel nachdenklich. »Gewiß, er liebte sie, und es ist auch kein Wunder, denn sie sieht vom Kopf bis zu den Zehen wie eine Lady aus, und warum sollte sie denn nicht Mylady werden können?«

»Er? Wer denn? Ach das ist deine närrische Einbildung mit meinem jungen Lord. Ein gescheidtes Weib wie du – und solchen Unsinn. Ich bin froh, daß meine kleine Schönheit nach London und der Gefahr aus dem Wege gegangen ist.«

»John – John – John! Kein Unheil könnte je meiner Nora widerfahren, sie ist zu rein und gut und hat zu viel Stolz in sich, um –«

»Um auf junge Lords zu hören, das hoffe ich auch« sagte John; »und doch,« fuhr er nach einer Pause fort, »könnte sie wohl eine Lady abgeben. Mein Lord, der junge nämlich, nahm mich gestern sehr freundlich bei der Hand und sagte: Haben Sie neuerdings nichts von ihr gehört, ich meine von Miß Avenel?‹ Und seine glänzenden Augen waren voll Thränen, wie wie die deinigen jetzt.«

»Nun ja, John, ja; fahre fort.«

»Das ist alles. Mylady kam dazu und zog mich mit sich weg, um über die Wahlen zu reden, und als ich gehen wollte, flüsterte sie: ›Gestatten Sie nicht, daß mein wilder Junge, mit Ihnen über Ihre hübsche Tochter spricht. Wir müssen Beide darauf Bedacht nehmen, daß sie nicht in Schande kommt.‹ Schande! Das Wort machte mich für den Augenblick ganz ärgerlich. Aber Mylady hat ihre eigene Art und brachte mich bald wieder zurecht. Gleichwohl, meine ich, muß Nora den jungen Lord geliebt haben, nur war sie zu gut, um es ihm zu zeigen. Was sagst du dazu?« Und die Stimme des Vaters war nachdenklich.

»Ich hoffe, sie wird keinen Mann lieben, ehe sie ihn geheirathet hat; es schickt sich nicht, John,« sagte Mrs. Avenel, etwas gezwungen, obwohl sehr sanft.

»Ha, ha,« lachte John und klopfte sein zimperliches Weib unter das Kinn, »so sprachst du nicht, als ich dir unter dem gestutzten Baume da, neben welchem noch kein Haus stand,den ersten Kuß raubte.«

»Still, John, still!« und die gesetzte Frau erröthete wie ein Mädchen.

»Pah,« fuhr John fröhlich fort, ich sehe nicht ein, weßhalb wir einfachen Leute heiliger und spröder thun sollten, als unsere Vornehmeren. Da ist z. B. die hübsche Miß Leslie, die den Mr. Egerton heirathet – man sieht's ja deutlich genug, wie verliebt sie in ihn ist – und nicht einmal in der Kirche kann sie die Augen von ihm abwenden, ha, ha! Aber was zum Teufel haben die Raben?«

»Sie werden ein schönes Paar geben, John; auch höre ich, hat sie schrecklich viel Geld. Wann soll denn die Hochzeit sein?«

»Es heißt, gleich nach den Wahlen, und eine feine Hochzeit wird es werden. Ich denke, der junge Lord wird Brautführer sein. Wir wollen unsere kleine Nora kommen lassen, daß sie die Festlichkeit mit ansieht.«

Aus den Zweigen des alten Baumes ertönte der Schrei eines verdammten Geistes, einer jener fremdartigen Klagetöne menschlichen Todeskampfes, die, einmal gehört, nie mehr aus dem Gedächtnisse weichen. Es klingt wie die Wehklage der Hoffnung, wenn auch sie dem Uebermaß des Leidens entflieht und in dem endlosen Raume entschwindet; es ist der Schreckensschrei der Vernunft, die vom Staube scheidet, der Seele, die sich vom Leben losringt. Einen Augenblick war alles stille – und dann folgte ein dumpfer, schwerer Fall.

Die Gatten starrten sich sprachlos an; dann schlichen sie dicht zur Umzäunung und schauten hinüber. Unter den Zweigen, an den knorrigen Wurzeln der Eiche sahen sie in grauen, unbestimmten Umrissen eine hingestreckte Gestalt. John öffnete das Thor und ging hinaus, die Mutter schlich an die Straße und stand still.

»Weib, Weib!« rief John Avenel von dem Baume her, »es ist unser Kind Nora! Unser Kind – unser Kind!«

Und während er sprach, flatterten auf dem grünen Lande die schwarzen Raben hervor, schlossen immer engere Kreise um die Stätte und riefen nach ihren Jungen!


Und als sie auf das Bett gelegt worden war, hieß Mrs. Avenel leise ihren Mann sich entfernen und mit geschlossenen Lippen und zitternden Händen begann sie das Kleid loszumachen, unter dessen Druck Nora's Herz krampfhaft schlug.

John aber verließ in wirrer Bestürzung das Zimmer, setzte sich auf dem Treppenabsatz nieder und wußte kaum, ob er wache oder träume; ein eisiges Gefühl der Betäubung erfaßte ihn auf der einen Seite, sein Kopf wurde schwer und in seinen Ohren tönte ein dumpfes Geräusch.

Plötzlich stand sein Weib neben ihm und sprach in sehr leisem Tone: »John, lauf' zu Mr. Morgan, eile dich. Aber merke wohl, sprich mit Niemanden unterwegs. Fort, fort!«

»Stirbt sie?«

»Ich weiß nicht. Warum auch nicht vorher sterben?« murmelte Mrs. Avenel zwischen den Zähnen. »Doch, Mr. Morgan ist ein verschwiegener, freundlicher Mann.«

»Ein ächter Blauer!« stotterte der arme John wie geistesabwesend, und mit Mühe sich erhebend, starrte er einen Augenblick sein Weib an, schüttelte den Kopf und war fort.

Ein oder zwei Stunden später hielt vor Mr. Avenels Hütte ein kleines bedecktes Wägelchen, auf dem ein junger Mann mit blassem Gesichte und von magerer Gestalt, in die Sonntagstracht eines Handwerkers vom Lande gekleidet, ausstieg; dann beugte sich ein einfaches, aber angenehmes, ehrbares Gesicht lächelnd zu ihm herab, und zwei Arme, die unter der Hülle eines rothen Mantels hervorkamen, boten ihm ein Kind hin, welches der junge Mann zärtlich in Empfang nahm. Der Säugling war übel gelaunt und sehr kränklich und fing an, zu weinen. Der Mann beschwichtigte ihn und wiegte ihn hin und her in einer Weise, die bewies, daß ihm diese Beschäftigung nichts Neues war.

»Er wird brav sein, wenn wir innen sind, Mark,« tröstete die junge Frau, während sie aus den Tiefen der Wagens einen großen Korb mit Geflügel und hausbackenem Brod hervor holte.

»Vergiß die Blumen nicht, die uns der Gärtner des Squires gegeben hat,« sagte Mark, der Dichter.

Ohne Hülfe ihres Mannes nahm die Frau Korb und Blumen heraus, ordnete ihren Mantel, strich das Kleid glatt und sagte: »Wie seltsam! Sie scheinen uns gar nicht zu erwarten, Mark. Das Haus ist ganz stille. Geh' und klopfe an, sie können noch nicht zu Bett gegangen sein.«

Mark klopfte an die Thüre – keine Antwort. Ein Licht glitt rasch an den Fenstern des oberen Stockes hin, aber Niemand zeigte sich. Mark klopfte nochmals. Ein Herr in geistlicher Tracht, welcher auf der andern Seite der Straße aus Lansmere Park kam, blieb bei dem zweiten, ungeduldigeren Klopfen Mark's stehen und sagte höflich –

»Seid Ihr nicht die jungen Leute, die mein Freund Avenel, wie er mir heute morgen sagte, zum Besuch erwartet?«

»Ja wohl, Mr. Dale,« sagte Mrs. Fairfield und machte ihren Knicks. »Sie erinnern sich meiner? und dies hier ist mein lieber guter Mann.«

»Wie, der Dichter Mark?« frug der Pfarrer von Lansmere mit einem Lächeln. »Sind Sie gekommen, Spottlieder für die Wahl zu schreiben?«

»Spottlieder, Sir!‹ rief Mark beleidigt.

»Nun, auch Burns schrieb Spottlieder,« sagte der Pfarrer beruhigend.

Mark gab keine Antwort und klopfte von Neuem an die Thüre.

Dieses Mal erschien auf der Thürschwelle ein Mann, dessen Antlitz selbst im Scheine des Sternenlichtes stark geröthet war.

»Mr. Morgan!« rief der Pfarrer in liebender Besorgniß aus, »es ist doch Niemand krank hier, hoffe ich?«

»Sie sind es, Mr. Dale! Kommen Sie herein, ich habe mit Ihnen zu sprechen. Aber wer zum Geier sind diese Leutchen?«

»Sir,« sagte Mark und drängte sich durch die Thüre, »mein Name ist Fairfield, und mein Weib ist Mr. Avenel's Tochter.«

»O, Jane – und ihr Kind auch noch! Gut, gut! Treten Sie ein, aber leise, verstanden? Still, still – still wie der Tod!«

Die Gesellschaft trat ein, und hinter ihnen schloß sich die Thüre.

Der Mond ging auf und beschien ruhig das schweigende Haus, die schlummernden Blumen des kleinen Gärtchens und den alten Baumstumpf mit seinem hohlen Inneren. Das Pferd am Wagen, welches vergessen worden war, träumte, und das Licht glitt noch zuweilen oben an den Fenstern hin und her. Dies waren die einzigen Lebenszeichen, außer, daß hin und wieder eine Fledermaus, von dem Lichtscheine, der durch die Fenster brach, angelockt, an die Scheiben stieß, dann, niedertauchend, die Nase des schlafenden Pferdes streifte und zuletzt lustig der Motte nachschoß, welche um das Rabennest in dem alten Baume herum flatterte.


Achtzehntes Kapitel.

Diesen ganzen Tag über war Harley L'Estrange ungewöhnlich traurig und niedergeschlagen gewesen. Die Erinnerung an Scenen, welche sich mit Nora's Anwesenheit verknüpften, vermehrte noch die Düsterheit, die auf seinen Geist drückte, seit er sie aus dem Gesichte und nun auch jede Spur von ihr verloren hatte.

In reuevoller Zärtlichkeit für den gekränkten Freund hatte Audley gegen Abend L'Estrange bewogen, den Park zu verlassen und sich nach einem einige Meilen entfernten Distriktsorte zu begeben, um, wie Egerton vorgab, bei Erwerbung einiger wichtigen Wahlstimmen für ihn thätig zu sein. Die veränderte Umgebung, hoffte er, würde ihn aus seinen Träumereien wecken. Harley selbst war froh, den Gästen in Lansmere zu entfliehen, und willigte gerne ein. Er wollte diese Nacht nicht zurückkehren; denn da die entscheidenden Wähler entfernt und zerstreut wohnten, so konnte ihn das Geschäft für einen oder zwei Tage in Anspruch nehmen.

Sobald Harley fort war, versank Egerton in tiefes Sinnen. Es verlautete von einer unerwarteten Opposition. Seine Anhänger waren beunruhigt und ängstlich. Es war klar, daß der Einfluß von Lansmere, wenn angefochten, schwächer war, als der Graf glauben mochte; Egerton konnte bei der Wahl unterliegen. Was sollte dann aus ihm werden? Wie sollte er seine Gattin erhalten, auf deren Rückkehr zu ihm er fortwährend rechnete, und welche er dann auf jede Gefahr hin als solche anerkennen mußte?

An jenem Tage hatte er mit William Hazeldean über das Familienpatronat gesprochen. »Frieden, zum wenigsten,« dachte der ehrgeizige Mann, »ich werde Frieden haben!« und der Squire hatte ihm für den Nothfall die Pfarrei versprochen, freilich nicht ohne geheime Unruhe, denn seine Carry machte bereits ihren ehrlichen Einfluß zu Gunsten des Gatten ihrer alten Schulfreundin, Mrs. Dale, geltend; und der Squire dachte, Audley werde nur einen gewöhnlichen Landpfarrer geben, Dale aber – wenn er nur ein wenig beleibter würde, als seine jetzige Pfarrei ihm zu sein erlaubte – ein Pfarrer, wie unter zehntausend kein Zweiter zu finden wäre.

Während Audley sich zwar so auf das Schlimmste gefaßt machte, wendete er doch seine ganze Energie der glänzenderen Alternative zu, hielt Sitzung mit seinem Comite, studirte mit demselben die Wählerlisten und besprach sich über den Charakter, die politische Meinung und das lokale Interesse jedes einzelnen Wählers, bis die Nacht beinahe um war.

Als er sich in sein Zimmer zurückzog, waren die Läden offen; er trat an das Fenster und betrachtete einen Augenblick den Mond. Bei diesem Anblick stieg der Gedanke an die verlorene, ferne Nora vor seiner Seele auf. Audley hatte, wie wir wissen, in seiner Natur wenig Romantik und Sentimentalität. Selten kam es ihm in den Sinn, nach dem Mond oder nach den Sternen zu sehen. Aber wenn je ein Hauch von Romantik sein hartes, starkes Gemüth erweichte, oder wenn je Mond und Sterne seinen Blick von der Erde hinweg zauberten, dann erblickte er Nora's sinniges Gesicht, Nora's süße Liebesaugen in den Strahlen des Mondes und der Sterne; dann vernahm er Nora's zärtliche Stimme in dem Geflüster jenes unbestimmten Etwas, das wir Romantik nennen, und das nur der Klang der geheimnißvollen Poesie ist, die ewig in der Lust lebt, wenn wir nur auf sie hören wollten.

Seufzend wandte er sich ab, kleidete sich aus, warf sich auf das Bett und löschte das Licht. Aber der Mond wollte durchaus das Gemach mit seinem Lichte erfüllen und hielt ihn eine Weile munter. Entschlossen kehrte Audley das Auge von dem ruhigen himmlischen Strahle ab gegen die unempfindliche blinde Wand zu und schlief ein. Im Schlafe aber war er bei Nora, wieder unter dem bescheidenen bräutlichen Dache. Noch nie in seinen Träumen war sie ihm so deutlich, so lebendig erschienen, ihre Augen auf die seinigen geheftet, die Hände nach ihrer Gewohnheit auf seiner Schulter in einander gefaltet, und mit weicher Stimme murmelnd: »Ist es denn mein Fehler gewesen, daß wir geschieden sind? Vergib, vergib mir!« Und dem Schläfer schien es, als antworte er: »Scheide nie mehr von mir – nie, nie mehr!« und als beuge er sich wieder, die keuschen Lippen zu küssen, welche so zärtlich die seinigen suchten.

Plötzlich hörte er ein Klopfen wie von einem Hammer – regelmäßig, aber sanft, schwach, gedämpft. Hörtest du je, lieber Leser, den Schlag des Hammers auf den Deckel des Sarges in einem Trauerhause, wenn der rücksichtsvolle Diener des Leichenbestatters fürchtet, die Ueberlebenden könnten es hören, wie er zwischen ihnen und dem Todten die Scheidewand zieht? So erschien Audley der Ton – aber der Traum entschwand plötzlich. Er erwachte und vernahm wieder das Klopfen; es war Morgen. »Wer ist da?« rief er verdrießlich.

Eine leise Stimme von außen flüsterte: »Still, ich bin es; ziehen Sie sich rasch an, ich muß Sie sprechen.«

Egerton erkannte Lady Lansmere's Stimme. Erschrocken und beunruhigt sprang er auf, kleidete sich in Eile an und ging an die Thüre. Lady Lansmere stand außen, bleich und verstört; sie legte den Finger auf die Lippen und winkte ihm zu folgen. Mechanisch gehorchte er. Sie traten in ihr Ankleidezimmer, wenige Schritte von seinem eigenen Gemach entfernt, und die Gräfin schloß die Thüre ab.

Dann, ihre zarte, feste Hand auf seine Schulter legend, sprach sie mit unterdrückter, leidenschaftlicher Aufregung:

»O, Mr. Egerton, Sie müssen mir einen Dienst leisten, und zwar auf der Stelle – Harley, Harley, – retten Sie meinen Harley – gehen Sie zu ihm – hindern Sie ihn, hieher zurückzukehren – bleiben Sie bei ihm – verzichten Sie auf Ihre Erwählung – es ist ja nur ein Verlust von ein oder zwei Jahren Ihres Lebens – es wird sich Ihnen sonst Gelegenheit bieten – bringen Sie dieses Opfer für Ihren Freund.«

»Sprechen Sie – um was handelt es sich? Kein Opfer ist mir zu groß für Harley.«

»Dank, Dank! Ich wußte es ja. So gehen Sie augenblicklich zu Harley, halten Sie ihn, unter welchem Vorwande es sei, fern von Lansmere, bis Sie ihm die traurige Nachricht beibringen können – aber vorsichtig, in zarter Weise. O, wie wird er das ertragen – wie von dem Schlage sich erholen! Mein Sohn, mein armer Sohn!«

»Beruhigen Sie sich! Erklären Sie sich! Welche Nachricht soll ich ihm beibringen? Von welchem Schlage soll er sich erholen?«

»Richtig – Sie wissen es noch nicht – Sie haben nichts davon gehört. Nora Avenel liegt drüben in ihres Vaters Hause – todt – todt!«

Audley wankte rückwärts, preßte die Hand auf das Herz und sank dann, wie von einem Blitzstrahle getroffen, in die Kniee.

»Mein Weib – meine Gattin!« murmelte er. »Todt – es kann nicht sein!«

Lady Lansmere war so erschrocken über diesen Ausruf, so betäubt von diesem völlig unerwarteten Geständniß und so gänzlich unvorbereitet auf den wilden Seelenkampf des Mannes, den sie immer so gemessen und kalt gesehen hatte, daß sie nicht im Stande war, zu besänftigen und zu erläutern, als er plötzlich wieder aufsprang, und das ganze Gefühl seines ewigen Verlustes auf sein Herz einstürmte.

Endlich bewältigte er seine Aufregung und hörte mit anscheinender Ruhe, schweigend und nur von Zeit zu Zeit nach Athem ringend, auf Lady Lansmere's Bericht.

Ein Gast des Hauses, eine Verwandte Lady Lansmere's, war Morgens gegen ein oder zwei Uhr plötzlich unwohl geworden; das Haus wird aufgestört, die Gräfin selbst geweckt und Mr. Morgan, der Hausarzt, herbeigeholt. Von ihm erfuhr sie, daß Nora Avenel spät Abends in ihr Vaterhaus zurückgekehrt, von einer Hirnentzündung erfaßt worden und in wenigen Stunden verschieden sei.

Audley hörte noch immer schweigend zu und schritt nach der Thüre.

Lady Lansmere faßte seinen Arm. »Wohin gehen Sie? Kann ich Sie jetzt noch bitten, meinem Sohne die Schreckensnachricht zu ersparen, da Sie selbst so schwer betroffen sind? und doch, doch – Sie kennen sein hastiges, aufbrausendes Wesen – wenn er erfährt, daß Sie sein Nebenbuhler – ihr Gatte waren – Sie, auf den er so sehr vertraute! Was würde die Folge sein? – Ich zittere.«

»Zittern Sie nicht – ich zittere ja nicht! Lassen Sie mich gehen – ich werde bald zurück sein – und dann« (seine Lippen zuckten) – » dann wollen wir von Harley reden.«

Betäubt, mit schwindelndem Kopfe ging Egerton hinweg und schlug mechanisch quer durch den Park hindurch die Richtung nach John Avenel's Hause ein. Er war vor ein paar Tagen Formens halber genöthigt gewesen, dasselbe in Wahlangelegenheiten zu betreten, und es hatte seinen weltlichen Stolz empfindlich berührt, als er die Heimath, die Stellung und die Sitten der Eltern Nora's kennen lernte. Ja, er hatte sich gesagt: »Und das Kind solcher Leute muß ich, Audley Egerton, der Welt als meine Gattin vorstellen!«

Heute – und wäre sie die Tochter eines Bettlers, ja eines Verbrechers, gewesen, wie schaal und niedrig hätte ihm diese gefürchtete vornehme Welt gedäucht, wenn er im Stande gewesen wäre, sie in das Leben zurückzurufen! Zu spät – zu spät! Die Thautropfen glitzerten in der Sonne, die Vögel sangen über seinem Haupte, rings um ihn erwachte Leben, nur sein eigenes Herz war wie ein Beinhaus. Nichts darin als der Tod und die Todte – nichts!

Er kam an die Thüre, sie war offen; er rief, Niemand antwortete; er stieg die enge Treppe hinauf, ungestört, ungesehen; er trat in die Kammer des Todes. Dem Bette gegenüber saß John Avenel, aber, wie es schien, in tiefem Schlafe versunken. In der That hatte ihn eine Lähmung getroffen, aber weder er selbst, noch irgend sonst Jemand wußte es. Wer konnte an den starken, gesunden Mann in einem solchen Augenblick denken? Nicht einmal sein armes, bekümmertes Weib. Er war als Hüter des Hauses zurückgelassen worden, um die Todte zu bewachen – er, der bewußtlose, durch eine unsichtbare, eisige Hand der Empfindung beraubte Mann.

Audley schlich zum Bette und hob das Tuch, welches über das bleiche, stille Antlitz gelegt war, in die Höhe. Was in jener Minute die er dort verweilte, in ihm vorging, wer vermag es zu sagen? Aber als er das Gemach verließ und langsam die Treppe hinabstieg, da ließ er Liebe und Jugend, alle die süßen Hoffnungen und Freuden menschlichen Familienlebens hinter sich – für immer, für immer!

Er kehrte zu Lady Lansmere zurück, die seine Ankunft mit zitternder Unruhe erwartete.

»Jetzt,« sagte er trocken, »will ich zu Harley gehen und ihn abhalten, hieher zu kommen.«

»Sie haben ihre Eltern gesehen. Gütiger Himmel, wissen dieselben um Ihre Vermählung?«

»Nein, Harley muß sie zuerst erfahren. Bis dahin Schweigen!«

»Schweigen!« wiederholte Lady Lansmere, und ihre brennende Hand ruhte in derjenigen Audley's – Audley's Hand war kalt wie Eis.

In der nächsten Stunde hatte Egerton das Haus verlassen, und noch vor Mittag war er bei Harley.

Es ist hier eine Erklärung notwendig, wie es kam, daß mit Ausnahme des armen gelähmten Vaters, die gesammte Familie Avenel von Hause abwesend war.

Nora war während der Geburt ihres Kindes im Fieberwahnsinn gestorben. In ihrem Delirium hatte sie von Schande, von Entehrung gesprochen und an ihrem Finger fehlte der heiligende Trauring. Ungeachtet ihres Schmerzes ging doch Mrs. Avenel's Trachten vor allem dahin, den guten Namen ihrer verlorenen Tochter, die unbefleckte Ehre aller lebenden Avenel's zu retten. Keine Matrone, nicht der Abkömmling einer langen Reihe von Königen und Rittern, besaß einen zäheren Stolz auf Namen und Charakter, als die unscheinbare, pünktliche, calvinistische Bürgersfrau. »Der Kummer später, jetzt die Ehre!«

Mit harten, trockenen Augen sann und sann sie nach und machte ihren Plan. Jane Fairfield sollte das Kind sofort, ehe der Tag graute, mitnehmen und mit ihrem eigenen auferziehen. Mark sollte sie begleiten, denn Mrs. Avenel fürchtete, sein wilder Schmerz möchte ihn zu Unvorsichtigkeiten verleiten. Sie selbst wollte ein Stück Weges mit ihnen gehen, um ihnen gebieterisch oder mit Vernunftsgründen Stillschweigen anzuempfehlen. Nach Hazeldean aber konnte sie mit einem zweiten Kinde nicht zurückkehren – Jane mußte an einen Ort, wo sie Niemand kannte; die zwei Kinder konnten als Zwillinge gelten. Und Mrs, Avenel, obwohl von Natur eine menschenfreundliche Frau, mit einem Mutterherzen für Kinder, blickte doch mit beinahe frohlockender Strenge auf Jane's winzigen Säugling und dachte bei sich: »Jede Schwierigkeit wird gehoben sein, wenn nur noch Eines da ist. Nora's Kind könnte dann während seines ganzen Lebens als dasjenige Jane's gelten.«

Die Bewahrung des Geheimnisses begünstigte der Umstand, daß die Avenels keinen eigenen Dienstboten, sondern nur zur Aushülfe einen Knecht hielten, welcher den Tag über auf ein paar Stunden kam und Nachts zu Hause schlief. Auf Mr. Morgan's Verschwiegenheit bezüglich der wahren Ursache von Nora's Tod konnte Mr. Avenel rechnen. Und aus welchem Grunde hätte Mr. Dale die Schande der Familie enthüllen sollen? Heute noch oder spätestens morgen wollte sie ihren Gatten veranlassen, sich auf kurze Zeit zu entfernen, weil bei ihm jetzt noch der Kummer größer war, als der Stolz, und er deßhalb in seinem Schmerz den wahren Sachverhalt ausplaudern konnte. Sie allein wollte dann im Hause des Todes bleiben, bis sie versichert wäre, daß allen Anderen die Klugheit Schweigen auferlegen würde. Ja, sie fühlte, daß bei gehöriger Vorsicht die Ehre des Namens gerettet war.

Und so trieb und drängte sie Mark und sein Weib eilends hinweg, setzte sich zu ihnen in den bedeckten Wagen, der sie alle drei verbarg, und ließ auf einige Stunden das Haus und die Todte unter dem Schutze ihres Mannes zurück, der zu allen ihren Ermahnungen mit dem Kopfe nickte, aber sie nicht hörte.

Sollen wir diese Frau für gefühllos und roh halten? Hätte Nora vom Himmel herab in das Herz ihrer Mutter geblickt, sie würde nicht so gedacht haben. Ist erst der Grabstein über den Staub gelegt, dann ist der gute Name immer noch ein Gut auf Erden; auf Erden ist er ohnehin unser einziges Gut. Besser, unsere Freunde bewahren uns diesen Schatz, als daß sie hinsitzen und über zerbrechlichen Thon weinen. Und weinen – o strenge Mutter, lange Jahre bleiben dir zum Weinen! Keine Thränen, um Nora vergossen, machten tiefere Furchen in die Wangen, als die deinigen! Und doch, wer sah sie je fließen?

Harley war höchst überrascht, Egerton zu sehen, und noch mehr, als ihm dieser mittheilte, er stoße auf Opposition, er habe keine Aussicht, in Lansmere zu siegen, und sei darum entschlossen, von dem Kampfe zurückzutreten. Er schrieb auch in diesem Sinne an den Grafen; aber die Gräfin kannte den wahren Grund und gab ihrem Gatten einen Wink, so daß, wie wir zu Anfang dieser Erzählung gesehen haben, Egerton's Sache durch das Erscheinen des Capitän Dashmore im Flecken keineswegs Schaden litt und Audley, Dank den Bemühungen und Reden Mr. Hazeldean's, mit zwei Stimmen – John Avenel's und Mark Fairfield's Stimmen – siegte. – Denn obwohl Ersterer auf ärztlichen Rath eine Ortsveränderung in die Nachbarschaft vorgenommen und ihn seine Krankheit in Beziehung auf andere Dinge so lenksam wie ein Kind gemacht hatte, so wollte er doch hören, wie die Blauen sich hielten, und das Bett verlassen, um sein Wort zu halten. Selbst seine Frau sagte: »Er hat Recht – besser sterben, als sein Wort brechen!« Die Menge machte Platz, als der Mann, den sie noch vor wenigen Tagen so munter und gesund gesehen hatte, jetzt gelähmt in einem Stuhle zu der Wahlurne getragen wurde und mit seiner zitternden Stimme sagte: »Ich bin ein ächter Blauer – Blau für immer!«

Wahlen sind ein wunderbares Ding! Wer noch nie eine solche mit angesehen hat, der kann nicht begreifen, wie der Eifer bei denselben über Krankheit, Kummer und das alltägliche Privatleben triumphirt.

Von Lansmere Park traf Nora's letzter Brief bei Audley ein. Der Postbote hatte ihn eine oder zwei Stunden nach dessen Abreise gebracht. Der Trauring fiel auf den Boden und rollte unter seine Füße. Diese verzehrend leidenschaftlichen Vorwürfe, dieser Zorn der verwundeten Taube erklärten ihm das Geheimniß ihrer Heimkehr, ihrer ungerechten Vermuthungen, die Ursache ihres Todes, welchen er noch immer einer durch Aufregung und Ermüdung herbeigeführten Gehirnentzündung zuschrieb. Denn Nora sprach nicht von dem Kinde, welches sie in Bälde zur Welt bringen sollte; sie dachte nicht hieran, als sie schrieb; denn sonst hätte sie gar nicht geschrieben.

Nach Empfang dieses Briefes hielt es Egerton in dem trübseligen Dorfe allein mit Harley nicht länger aus. Er erklärte kurzweg, er müsse nach London, und bestimmte L'Estrange, ihn dahin zu begleiten. Als er sodann von Lady Lansmere erfuhr, daß das Begräbniß stattgefunden habe, setzte er Harley mit todesblassen Lippen, die Hand auf's Herz gepreßt, gegen welches sein Erbübel rasch einstürmte, vor der schrecklichen Wahrheit, daß Nora nicht mehr sei, in Kenntniß. Die Wirkung dieser Mittheilung auf Gesundheit und Gemüth des jungen Mannes war zermalmender noch, als Audley vermuthet hatte. Von Trauer erwachte er nur zu Selbstvorwürfen.

»Wäre nicht meine wahnsinnige Leidenschaft gewesen,« sagte der edelgesinnte Harley, »und meine ungestüme Verfolgung, nie hätte sie ihr sicheres Asyl, ja nie ihren Heimathsort verlassen. Und dazu der Widerstreit zwischen ihrem Pflichtgefühl und ihrer Liebe zu mir! O, ich verstehe alles – alles! Wäre ich nicht gewesen, sie wäre noch am Leben!«

»O, nicht doch!« rief Egerton, und das Geständniß trat auf seine Lippen. »Glaube mir, sie hat dich nie so geliebt, wie du denkst. Nein, nein, höre mich! Glaube lieber, sie habe einen Anderen geliebt – sei mit ihm entflohen – vielleicht mit ihm verheirathet gewesen und –«

»Halt ein!« rief Harley mit einem furchtbaren Ausbruch der Leidenschaft, »du tödtest mir sie zwei Mal, wenn du das sagst. Ich fühle noch immer, daß sie lebt – hier in meinem Herzen lebt – während ich träume, daß sie mich liebte – oder wenigstens, daß keiner anderen Lippe der Kuß zu Theil wurde, welchen sie der meinigen verweigerte! Aber wenn du mir sagst, ich solle hieran zweifeln – du, du« – des Jünglings Schmerz war zu heftig für seinen Körper, er fiel plötzlich rückwärts in Audley' s Arme; ein Blutgefäß war ihm gesprungen.

Mehrere Tage schwebte er in großer Gefahr, aber seine Augen hafteten fortwährend mit ausdrucksvollem, gespanntem Blicke auf Audley.

»Sage mir,« murmelte er – auf die Gefahr hin, einen neuen Anfall, ja augenblicklichen Tod herbeizuführen, »sage mir, du habest das nicht gemeint. Sage mir, du habest keinen Grund, zu glauben, daß sie einen Anderen liebte, einem Anderen angehörte!«

»Ruhig, ruhig – nein, keinen Grund – keinen, keinen. Es sollte dich nur trösten, wie ich mir einbildete – Thor, der ich war! Das ist alles,« rief der Unglückliche Freund. Von dieser Stande an verzichtete Audley auf den Gedanken, sich in seinen eigenen Augen zu rechtfertigen, und ergab sich stumm in sein Schicksal, die lebendige Lüge zu sein – er, der stolze Gentleman!

Während Harley noch immer sehr schwach und leidend war, kam Mr. Dale nach London und ließ sich bei Egerton melden. Der Pfarrer hatte Mrs. Avenel nur unter Einer Bedingung Schweigen gelobt, nämlich, daß hieraus kein entschiedener Nachtheil für Nora's lebenden Sohn erwachse. Wenn sie nun doch verheiratet gewesen wäre! Wenigstens den Namen des Vaters des Kindes sollte man erfahren! Es könnte ja ein Tag kommen, an welchem es einen Vater nöthig hätte.

Mrs. Avenel mußte sich diese Vorbehalte gefallen lassen. Gleichwohl bat sie Mr. Dale, keine Nachforschungen anzustellen. Was könnten sie helfen? Wenn Nora verheiratet gewesen war, so würde sich ihr Gatte aus freien Stücken nennen; war sie verführt und verlassen worden, so würde es bis jetzt vor Schimpf gesichert, ihr Andenken nur entehren, wenn man den Vater eines Kindes auffände, von dessen Existenz die Welt noch nicht einmal etwas wisse. Diese Einwände brachten den guten Pfarrer in große Verlegenheit. Aber Jane Fairfield glaubte zuversichtlich an die Unschuld ihrer Schwester, und ihr Verdacht richtete sich natürlich auf Lord L'Estrange. Vielleicht waren dies auch Mrs. Avenel's Gedanken, obwohl sie dieselben nie gestand.

Mr. Dale war von der Richtigkeit dieser Verdachtsgründe vollkommen überzeugt: des jungen Lords Bewunderung und Lady Lansmere's Befürchtungen waren für ihn, der so oft den Park besuchte, kein Geheimniß geblieben; Harley's plötzliche Abreise, gerade vor Nora's Rückkehr, Egerton's rascher Rücktritt von der Wahlbewerbung, ehe noch eine Opposition sich geltend machte, um gerade an Nora's Todestage seinen Freund aufzusuchen – das alles bestärkte ihn in dem Glauben, nur Harley könne der Verführer oder der Gatte sein.Vielleicht hatte – wahrscheinlich außer Landes – eine heimliche Trauung stattgefunden, weil Harley bis zu seiner Mündigkeit noch ein paar Jahre fehlten. Er wollte es wenigstens versuchen, Lord L'Estrange zu sehen und auszuforschen, und da er hieran durch Harley's Krankheit verhindert wurde, so entschloß er sich zu einer Unterredung mit Egerton, um zu sehen, wie weit er in das Geheimniß eindringen könne. Die hohe Achtung, welche sich letzterer Gentleman erworben hatte, und sein bekannter hoher Sinn für Wahrheit und Ehre bestimmten den Pfarrer zu diesem Schritte. Demgemäß besuchte er Egerton, in der Hoffnung, dem neuen Mitgliede für Lansmere auf diplomatische Weise eine, für die Familie der beiden Wähler, die ihm seine Mehrheit von zwei Stimmen verschafft hatten, vorteilhafte Kunde zu entlocken.

Er erwähnte als rührende Thatsache, wie der bedauernswerthe John Avenel, obgleich durch den Verlust seines Kindes und in Folge des Schlaganfalls in seinen Gliedern gelähmt und an seinem Geiste geschwächt, doch sich vom Bette erhoben habe, um sein Wort zu halten. Und da Audley's Bewegung so tief und aufrichtig schien und ein so gutes Herz verrieth, so ging er allmälig weiter, sprach von seinem Verdachte, Nora möchte verführt worden sein, dann von seinen Hoffnungen, daß eine heimliche Ehe stattgefunden habe, und endlich, als Audley mit eiserner Selbstbeherrschung gerade nur das nöthige Maß von Theilnahme zeigte, berichtete er so lange fort, bis Audley erfuhr, daß er Vater sei.

»Forschen Sie nicht weiter nach!« sagte der Weltmann. »Achten Sie die Gefühle und Wünsche von Mrs. Avenel, ich bitte Sie darum; sie sind die richtigen. Ueberlassen Sie mir das Uebrige. In meiner Stellung – ich meine als Bewohner London's – vermag ich ruhig und leicht mehr auszukundschaften, als Sie, ohne einen Scandal hervorzurufen. Kann ich dieser – dieser – armen – armen –« (seine Stimme bebte) – »dieser unglücklichen Mutter oder dem lebenden Kinde zu ihrem Rechte verhelfen, so sollen Sie früher oder später von mir hören; wenn nicht, dann begraben Sie dieses Geheimniß da, wo es jetzt ist, in dem Grabe, welches die Verleumdung nicht erreicht hat. Aber das Kind – geben Sie mir die Adresse, wo es zu finden ist – für den Fall, daß ich den Vater entdecken und sein Herz erweichen sollte.«

»Mr. Egerton, vielleicht kann ich sagen, wo Sie ihn finden können, und wer er ist.«

»Sir!«

»Werden Sie nicht ungehalten; zudem kann ich nicht von Ihnen verlangen, daß Sie das Vertrauen täuschen sollen, welches ein Freund in Sie gesetzt haben mag. Ich weiß, wie Ihr Männer von hohem Ehrgefühl zu einander haltet – auch wenn Einer davon gesündigt hat. Nein, nein, ich bitte um Verzeihung; ich lasse alles in Ihren Händen. Ich werde also von Ihnen hören?«

»Wenn nicht, dann seien Sie versichert, daß alle Nachforschungen erfolglos sind. Ein Freund! wenn Sie damit Lord L'Estrange meinen – er ist unschuldig. Ich – ich – ich –« (stotternd) – »bin überzeugt davon.«

Der Pfarrer seufzte, gab aber keine Antwort. »O ihr Weltmenschen!« dachte er, gab die Adresse, um welche ihn das Mitglied für Lansmere gebeten hatte, ging seines Weges und hörte nie wieder von Audley Egerton. Er glaubte fest, daß der Mann, der ein so tiefes Gefühl zeigte, vergebens an Harley's Gewissen appellirt habe oder es für das Beste halte, den auf Nora's Namen ruhenden Frieden nicht zu stören und die Sorge für das Kind ihren Verwandten und dem Himmel zu überlassen.

Harley L'Estrange, kaum hergestellt, eilte auf den Continent und trat in die Armee, um den Tod zu suchen, der, wie sein Halbbruder Der Schlaf., selten kömmt, wenn man ihn ruft.

Kaum war Harley fort, so begab sich Egerton in das ihm von Mr. Dale bezeichnete Dorf, um Nora's Kind ausfindig zu machen.

Aber hier verfiel er auf einen Irrthum, der wesentlich auf seine eigene Lebensbahn und auf Leonard's künftige Geschicke einwirkte. Mrs. Fairfield hatte nämlich auf Anrathen ihrer Mutter in dem Dorfe, wohin sie mit den zwei Kindern gegangen war, einen anderen Namen angenommen, so daß ihre Verwandtschaft mit der Familie Avenel nicht ermittelt werden und zu Nachfragen und Geklatsch keinen Anlaß geben konnte. Kummer und Aufregung hatten die Nahrungsquelle in ihrer Brust versiegen gemacht; sie vertraute deßhalb Nora's Kind der Pflege einer etwas entfernt vom Dorfe wohnenden Pächterin an und wechselte ihre bisherige Wohnung, um dem Kleinen näher zu sein. Ihr eigenes Kind war so schwach und kränklich, daß sie sich nicht entschließen konnte, es in fremde Pflege zu geben. Sie versuchte, es mit künstlicher Nahrung aufzuziehen, aber das arme Kind zehrte bald ab und starb. Sie und Mark konnten den Anblick des Grabes ihres Lieblings nicht ertragen und eilten, nach Hazeldean zurückzukehren, wohin sie Leonard mit nahmen, der von nun an für ihren verstorbenen Sohn galt.

Als Egerton in das Dorf kam und nach der Frau frug, deren Adresse er erhalten hatte, wurde er in das Haus gewiesen, in welchem sie zuletzt gewohnt hatte, und hörte hier, sie sei vor einigen Tagen weggezogen – am Tage nach der Beerdigung ihres Kindes. Ihr Kind begraben! Egerton forschte nicht weiter nach und erfuhr somit nichts von dem Kinde, welches in Pflege gegeben worden war.

Langsam ging er auf den Friedhof und betrachtete während einiger Minuten den frisch aufgeworfenen, kleinen Grabhügel; dann preßte er die Hand auf das Herz, welchem jede Aufregung untersagt war, stieg wieder in seinen Wagen und kehrte nach London zurück. Der einzige Grund zu Veröffentlichung seiner Ehe schien jetzt weggefallen zu sein. Nora's Name war vorwurfsfrei geblieben. Ja, hätte ihn auch nicht seine peinliche Stellung zu Harley genöthigt, sein Geheimniß zu bewahren, so hatte der weise und hochmüthige Sohn der Welt doch noch andere vollwichtige Gründe, eine ihm nachtheilige und thörichte Heirath nicht offen anzuerkennen – jetzt, da Niemand mehr lebte, dem durch die Verheimlichung ein Unrecht geschah.

Audley nahm daher mechanisch sein früheres Leben wieder auf und bestrebte sich, seine Gedanken wieder den großen Zielen ehrgeiziger Männer zuzuwenden. Seine Armuth drückte ihn noch immer; seine Geldschuld an Harley riß seinem eigentümlichen Ehrgefühle fortwährend neue Wunden. Er sah kein anderes Mittel, seine Güter schuldenfrei zu machen und seinem Freunde das Geliehene zurückzuerstatten, als eine reiche Heirath. Erstorben für die Liebe, faßte er die sich ihm bietende Aussicht zuerst mit Widerwillen, dann mit apathischer Gleichgültigkeit in das Auge.

Levy, von dessen Verrätherei gegen ihn selbst und Nora er keine Ahnung hatte, besaß noch immer jene Macht über ihn, welche ein Geldborger nie einem Manne gegenüber verliert, der Schulden gehabt hat, noch hat oder auf's Neue zu machen in die Lage kommen kann. Levy drängte ihn unaufhörlich, um die reiche Miß Leslie anzuhalten; Lady Lansmere that das Nämliche, um ihn, wie sie dachte, für seinen häuslichen Verlust zu entschädigen und Harley schrieb ihm unter dem Einfluß seiner Mutter in gleichem Sinne vom Continent aus.

»Ordnen Sie die Angelegenheit, wie Sie wollen,« sagte Egerton zuletzt zu Levy; »aber so, daß ich nicht der Pensionär eines Weibes bin.«

»Halten Sie für mich an, wenn Sie wollen,« sagte er zu Lady Lansmere; »ich kann nicht den Hof machen, nicht von Liebe reden.«

Auf die eine oder andere Weise kam die Heirath mit allen ihren großen Vortheilen für den ruinirten Gentleman zu Stande, und Egerton war, wie wir gesehen haben, vor der Welt der artige, würdevolle Gatte – verbunden mit einer Frau, welche ihn anbetete. Es ist das gewöhnliche Schicksal von Männern, wie er, daß sie zu sehr geliebt werden.

Als sie auf dem Todtenbette lag, wurde sein Herz von dem melancholischen Vorwurf seiner Gattin gerührt:

»Nichts, was ich für dich thun konnte, hat mir deine Liebe erworben!«

»Es ist wahr,« antwortete Audley mit Thränen in Augen und Stimme, »die Natur hat mir nur eine geringe Summe von dem verliehen, was Frauen wie du, ›Liebe‹ nennen, und ich habe sie völlig vergeudet.«

Und nun erzählte er ihr, wenn auch nicht ganz rückhaltslos, einen Theil seines früheren Lebens, und dies besänftigte sie; denn als sie sah, daß er geliebt hatte und des Schmerzes fähig war, da that sie einen Blick in das menschliche Herz, wie nie zuvor. Sie starb, indem sie ihm verzieh und ihn segnete.

Audley's Lebensgeister wurden durch diesen neuen Verlust noch gedrückter. Er beschloß innerlich, nie wieder zu heirathen. Anfangs hatte er den flüchtigen Gedanken, seine Ausgaben zu beschränken und den jungen Randal Leslie zu seinem Erben einzusetzen; als er aber zum ersten Male den gewandten Schüler von Eton sah, fühlte er sich nicht zu ihm hingezogen, obwohl sein Verstand Randal's Talente und dessen lebhaften Geist würdigte. Er begnügte sich mit dem Vorsatze, dem jungen Mann vorwärts zu helfen und alles das zu thun, was die Gerechtigkeit für den entfernten Verwandten seiner verstorbenen Frau zu thun gebot.

Stets sorglos und verschwenderisch in Geldangelegenheiten, großmüthig und fürstlich – nicht weil es ihm Freude machte, Anderen einen Dienst erweisen zu können, sondern weil er dasjenige, was er sich selbst und seiner Stellung schulde, von dem Standpunkte eines Grand Seigneur aus beurtheilen zu müssen glaubte – hatte Audley eine traurige Entschuldigung für die rücksichtslose Verschwendung des bedeutenden Vermögens, das ihm zur Verfügung stand.

Die Störung der Funktionen des Herzens war zu einem organischen Leiden geworden. Es ist wahr, er konnte noch manches Jahr leben und zuletzt unter Umständen an einer anderen Krankheit sterben; aber jede Aufregung beschleunigte den Fortschritt des Uebels, und er konnte eben so gut plötzlich – jeden Tag – in der Blüthe seiner Jahre und scheinbar in voller Manneskraft aus dem Leben scheiden. Der einzige Arzt, dem er dasjenige, was er vor der Welt geheim zu halten wünschte, anvertraute, (denn ehrgeizige Männer möchten für unsterblich gehalten werden), sagte ihm offen, daß er inmitten der Kämpfe und Sorgen des politischen Wirkens schwerlich auf viel mehr, als auf ein mittleres Lebensalter, rechnen dürfe.

Ohne einen Sohn als Erben, während seine nächsten Verwandten alle reich waren, überließ sich nun Egerton völlig seiner herkömmlichen Verachtung des Geldes; er kümmerte sich nicht um seine Angelegenheiten, wenn nur Geld genug für die Bedürfnisse des prunkliebenden Mitgliedes der Gemeinen in den Händen seines Bankiers war. Alles Andere überließ er der Sorge seines Rentmeisters und Levy's. Levy wurde schnell reich – sehr, sehr reich – und auch der Rentmeister kam nicht zu kurz.

Der Wucherer behauptete seine Macht über den gebieterischen, großen Mann. Er wußte um Audley's Geheimniß und konnte es an Harley verrathen. Und gerade die sanfte und zärtliche Seite in der Natur des Staatsmannes – der einzige Theil in ihm, welcher nicht in den neunfachen Styx des gegen jede Zuneigung abstumpfenden, praktisch prosaischen Lebens eingetaucht war – bildete seine reuevolle Liebe für den Schulfreund, den er noch immer täuschen mußte.

Dies ist der Schlüssel zu den geheimen Gemächern in Audley Egerton's Charakter, zu dem festen Schlosse seines Gemüthes. Er war der beneidete Minister und ein freudloser Mann; das Orakel für den Haushalt eines Reiches und ein Verschwender in der Hand eines Wucherers; der erhabene, hoch herabblickende Gentleman, den Fürsten in den kitzlichsten Ehrenpunkten um Rath gefragt hätten, und dabei ein schuldbeladener Mann, welcher zitterte, der am innigsten geliebte Freund könnte seine Lüge entdecken.

Hülle dich in den sittsamen Schleier, den die Künste oder die Grazien für dich weben, o menschliche Natur! Nur die Nacktheit der Marmorstatue ist es, welche das Auge ohne Scheu und ohne Aergerniß betrachten kann!


Neunzehntes Kapitel.

Aus der Erzählung, wie sie dem Leser vorliegt, geht hervor, daß Leonard nur oberflächliche Bruchstücke sammeln konnte. Er ersah daraus blos, daß seine unglückliche Mutter mit einem Manne verbunden gewesen, den sie mit ausnehmender Zärtlichkeit liebte; daß sie auf den Verdacht gekommen, diese Ehe sei eine betrügerische gewesen; daß sie in Verzweiflung außer Landes gegangen und reuig und voll Hoffnung zurückgekehrt war, worauf ihr sodann unbestimmte Gerüchte über die nahe bevorstehende zweite Vermählung ihres Geliebten zu Ohren kamen. Hier endete das Manuskript mit den Spuren bitterer Thränen. Das traurige Ende Nora's, ihre einsame Rückkehr, um unter dem väterlichen Dache zu sterben – dies hatte er schon vorher von Doktor Morgan erfahren.

Aber der Name ihres vermuthlichen Gatten blieb ihm ein Geheimniß. Hinsichtlich der Person desselben fehlte es Leonard an jedem Anhalte; nur Eines war klar, daß derselbe einem viel höheren Range angehöre, als Nora. Harley L'Estrange schien ihm in dem jugendlichen Liebhaber ziemlich kenntlich geschildert. War dies der Fall, so mußte er alles dasjenige wissen, was Leonard dunkel blieb und darum beschloß Leonard, ihm die Manuskripte anzuvertrauen. Mit diesem Vorsatze verließ er das Landhaus, um später wieder zurückzukehren und dem Leichenbegängnisse seines abgeschiedenen Freundes beizuwohnen. Mrs. Goodyer erlaubte ihm gerne, die Papiere, die sie ihm geliehen hatte, mitzunehmen, und fügte denselben das Packet bei, welches, an Mrs. Bertram adressirt, vom Continent gekommen war.

In trübes Nachdenken über den Bericht, den er gelesen hatte, versunken, betrat der junge Mann London zu Fuß und lenkte seine Schritte nach Harley's Hotel. Er wollte eben in Bondstreet einbiegen, als ein Gentleman in Gesellschaft des Baron Levy, mit welchem Jener, nach der Röthe seiner Stirne und dem mürrischen Ton seiner Stimme zu schließen, ein ziemlich gereiztes Gespräch geführt zu haben schien, auf einmal Leonard's ansichtig wurde und, den Wucherer ohne Weiteres stehen lassend, den jungen Mann am Arme faßte.

»Entschuldigen Sie, Sir,« sagte der Gentleman, Leonard voll in das Gesicht blickend, »aber wenn mich meine guten Augen nicht täuschen, was sie selten thun, so sehe ich einen Neffen vor mir, der, wenn ich auch vielleicht zu rauh mit ihm umgesprungen bin, doch nicht das Recht hat, Richard Avenel zu vergessen.«

»Mein lieber Onkel,« rief Leonard, »das ist in der That eine freudige Ueberraschung, und noch dazu in einer Zeit, in welcher ich der Freude so sehr bedarf. Nein, ich habe ihre Güte nie vergessen und stets unsere Entfremdung beklagt.«

»Gut gesagt; noch ein Mal deine Hand! Laß mich dich ansehen – bist ein ganzer Gentleman geworden, und siehst noch dazu recht hübsch aus. So waren wir Avenels immer. Leben Sie wohl, Baron Levy; warten Sie nicht auf mich; ich gehe Ihnen nicht durch. Ich sehe Sie wieder.«

»Aber,« flüsterte Levy, der Avenel über die Straße gefolgt war und Leonard mit einem raschen, neugierig prüfenden Blicke musterte, »aber in Betreff des Wahlfleckens bleibt es bei dem, was ich gesagt habe, oder Sie müssen, um mich deutlich auszudrücken, die Wechsel am Verfalltage einlösen.«

»Schon gut, Sir, schon gut. Sie meinen, Sie können mir die Schraube ansetzen, wie einem armen Zehnpfund-Hausmiether. Ich verstehe – mein Geld oder meinen Wahlstecken?«

»Ganz richtig,« sagte der Baron mit mildem Lächeln.

»Sie sollen von mir hören – Sie sollen von mir hören!«

(Beiseite, nachdem der Baron sich entfernt hat.) »Verd– höllischer Schurke!«

Dick Avenel schlang seinen Arm in den seines Neffen und suchte sich für einige Minuten seine eigenen Sorgen dadurch aus dem Sinne zu schlagen, daß er die ihm angeborne Neugierde für die Angelegenheiten eines Andern befriedigte – eine Neugierde, welche im vorliegenden Falle noch durch seine aufrichtige Zuneigung für Leonard erhöht wurde.

Es gelang ihm jedoch vor der Hand nicht ganz; denn ehe noch Leonard seine gewöhnliche Scheu, von seinen wissenschaftlichen Erfolgen zu sprechen, überwunden hatte, wanderten Dick's Gedanken zurück zu seinem Nebenbuhler in Screwstown und zu dem Fluche einer »übermächtigen Concurrenz« – zu den Wechseln, welche Levy discontirt hatte, damit Dick der zermalmenden Wucht eines größeren Capitalisten, als er selbst, begegnen konnte – und zu dem »höllischen Schurken«, welcher jetzt zwei Sitze in Lansmere haben wollte, einen für Randal Leslie und den anderen für einen reichen Nabob, den Levy kürzlich zum Clienten gewonnen hatte. Dick hatte aber, wenn er auch Leslie zu unterstützen bereit war, den zweiten Sitz sich selber zugedacht.

Aus diesem Grunde unterbrach er bald die zögernden Bekenntnisse Leonard's mit Ausrufen, die gar nicht zur Sache gehörten – mehr, um seinem eigenen Aerger und Kummer Luft zu machen als in der Erwartung, daß die Theilnahme oder der Rath seines Neffen ihm etwas nützen könnten.

»Gut, gut,« sagte Dick, »erzähle mir deine Geschichte ein ander Mal. Ich sehe, du hast dich vorwärtsgebracht; und das ist genug für den Augenblick. Aber gerade jetzt kann ich nur an mich selbst denken. Ich bin in einer sauberen Patsche, Junge. Screwstown ist nicht mehr das achtbare Screwstown, dessen du dich erinnerst – nein, es ist ganz demoralisirt und auf den Kopf gestellt durch ein dämonisches Ungeheuer von Kapitalisten mit Dampfmaschinen, stark genug, die Niagarafälle in dein Hinterstübchen zu leiten! Und als wäre es nicht genug, einen braven, ehrlichen Engländer wie mich zu ruiniren und zu Brei zu zerstampfen, höre ich eben, daß er Unterhandlungen behufs Erwerbung einer patentirten inländischen Erfindung angeknüpft hat, durch welche seine Maschinen doppelte Arbeit mit nur der Hälfte von Arbeitern verrichten sollen. Das ist der Weg, wie diese gefühllosen Hallunken unsere Armensteuer erhöhen! Aber ich zettle einen Aufruhr gegen ihn an – das thu' ich! Sprich mir nicht vom Gesetze! Was zum Teufel nützt das Gesetz, wenn es nicht die Industrie eines Mannes schützt – und noch dazu eines liberalen Mannes, wie ich einer bin!

Und Dick brach in eine Fluth von Schmähungen gegen das verrottete Vaterland überhaupt und gegen den Monster Kapitalisten von Screwstown im Besonderen aus.

Leonard stutzte; denn Dick nannte jetzt als seinen Konkurrenten denselben Mann, der wegen Leonard's eigener mechanischer Verbesserung der Dampfmaschine in Unterhandlung stand.

»Halt, Onkel, halt! Also, wenn der Mann die Erfindung, von welcher du sprichst, ankauft, so würde dir das schaden?«

»Mir schaden? Bankerott würde ich – heißt das, wenn sich die Sache bewährt; aber vermuthlich ist es der reinste Schwindel.«

»Nein, sie wird sich bewähren, ich stehe dafür.«

»Du? hast du das Ding gesehen?«

»Gewiß, ich bin der Erfinder.«

Dick zog hastig seinen Arm aus dem Leonard's.

»Otterngezüchte!« rief er stammelnd. »Du also, den ich an meinem Herde wärmte, du willst Richard Avenel zu Grunde richten?«

»Nein, retten will ich ihn. Komm' mit in die City, sieh' mein Modell an, und wenn es dir gefällt, sollst du das Patent haben.«

»Cab – Cab – Cab!« rief Dick Avenel und hielt eine Droschke an. »Steig' ein, Leonard, steig' ein. Ich kaufe das Patent – das heißt, wenn es eine Bohne werth ist – und was die Bezahlung betrifft –«

»Bezahlung! Kein Wort darüber!«

»Gut; lassen wir's,« sagte Dick mild; »denn ich selbst möchte diesen Punkt gerade jetzt nicht zum Gegenstande der Unterhaltung machen. Was aber den schwarzbärtigen Alligator, den Baron, betrifft – na, laß mich nur erst aus seinen abgeleckten, unchristlichen, kreuzspinnenförmigen Klauen heraus sein, dann – Aber steig ein – steig ein – und sag' dem Kutscher, wohin er fahren soll.«

Schon oberflächliche Besichtigung von Leonard's Erfindung genügte, um Richard Avenel zu überzeugen, wie unschätzbar dieselbe für ihn sein würde. Mit einem Patente versehen, dessen sichere, in Vermehrung der Triebkraft und Verminderung der Arbeit bestehenden Erfolge jedem praktischen Manne in die Augen springen mußten, rechnete Avenel, ohne Schwierigkeiten so viel Geldvorschüsse sich zu verschaffen, daß er seine Maschinen ändern, die von Levy discontirten Wechsel bezahlen und den Kampf gegen den Monsterkapitalisten fortsetzen könnte. Vielleicht dürfte es rathsam werden, sich mit einem andern solchen Ungeheuer zu associren – warum nicht? Jeder andere Associe wäre besser als Levy. Ein prächtiger Gedanke kam ihm.

»Gelingt es mir, diesen höllischen Eindringling auf meinen eigenen Grund und Boden ein paar Monate lang einzuschüchtern und zu decken, so wird er mir selbst anbieten, sein Associe zu werden. Wir werfen dann unsere beiden Geschäfte in Eines zusammen, und dann muß die Welt nach unserer Pfeife tanzen!«

Dick's Dankbarkeit für Leonard wurde so lebhaft, daß er ihm seinen eigenen Sitz für Lansmere zur Verfügung stellte und, als dieser ablehnte, ausrief:

»Gut, dann irgend einen deiner Freunde; es kostet dich noch in der letzten Stunde nur ein Wort, denn ich bin beider Sitze sicher. Ich bin durchaus für Reform gegen diese hohen und mächtigen sehr Ehrenwerthen Fleckenverschacherer; pah, mit Darlehen und Hypotheken an die kleinen Hausbesitzer, mit einer langen Reihe von Realrechten und mit den unabhängigen Freisassen habe ich das Städtchen Lansmere in der Tasche.«

Hieraus verabredete Dick eine Zusammenkunft mit Leonard bei seinem Rechtsanwalt, um die Uebertragung des Patents unter, wie er sagte, »für beide Theile anständigen Bedingungen« in's Reine zu bringen, und eilte dann fort, und aus seinen Cityfreunden einen Crösus zu angeln, welcher ihn aus dem Rachen Levy's und aus den Maschinen seines Nebenbuhlers in Screwstown herausreißen sollte.

»Mullius ist mein Mann,« sagte er, »wenn ich ihn nur erwische. Hast du schon von Mullius gehört? Ein wunderbar großer Mann; solltest nur seine Nägel sehen; er schneidet sie nie! Mit diesen Nägeln hat er wenigstens drei Millionen zusammengekratzt. Und in diesem verrotteten alten Lande muß ein Mann ellenlange Nägel haben, wenn er mit dem Teufel Levy kämpfen will. Na, leb' wohl – leb' wohl – leb' wohl – mein lieber Neffe!«


Zwanzigstes Kapitel.

Harley L'Estrange saß allein in seinem Zimmer. Er hatte eben einen Band eines klassischen Lieblingschriftstellers weggelegt und hielt die Hand noch fest zusammengeballt auf dem Buche. Seit seiner Rückkehr nach England zeigte sich eine anfallende Veränderung in dem Ausdrucke seines Gesichtes sowohl, als in Gang und Haltung seiner elastisch jugendlichen Gestalt. Tiefe Veränderung hatte sich seit der letzten Unterredung mit Helene, von welcher der Leser unterrichtet ist, noch bemerkbarer gemacht. Die geschlossenen Lippen verriethen den festen Willen, die Stirne zeigte den Charakter der Entschiedenheit. Die sorglose Anmuth seiner Bewegungen hatte einer gewissen unbeschreibbaren Energie Platz gemacht, welche an Ruhe und Gemessenheit dem entschlossenen Auftreten Audley Egerton's in nichts nachstand. Wer in Harley's Herz einen Blick hätte werfen können, würde gefunden haben, daß er zum ersten Male eine gewaltige Anstrengung zu Beherrschung seiner Leidenschaften und Launen machte, daß der ganze Mann sich zum Gefühle der Pflicht stählte.

»Nein,« sagte er, »nein, ich will nur an Helene denken, nur an das Leben der Wirklichkeit! Was könnte mir auch (selbst wenn ich nicht an eine Andere gebunden wäre) dieses schwarzäugige italienische Mädchen sein? – Phantasie eines Thoren! Ich wieder lieben, ich, der ich mich während des Blüthenfrühlings meines Lebens mit so viel Treue an eine Erinnerung und an ein Grab geklammert habe! Komm, komm, Harley L'Estrange, übernimm endlich deine Rolle als Mann unter Männern! Begnüge dich mit Achtung, träume nicht mehr von Leidenschaft, gib falsche Ideale auf. Du bist kein Dichter, warum also das Leben selbst für ein Gedicht halten?«

Die Thüre öffnete sich, und der östreichische Fürst, welchen Harley für die Sache von Violanten's Vater interessirt hatte, trat mit dem unbefangenen Schritte eines Freundes ein.

»Haben Sie jene Documente gefunden?« frug der Fürst. »Ich muß in einigen Tagen nach Wien zurück, und wenn Sie mir nicht greifbare Beweise von Peschiera's früherer Verrätherei oder unwiderlegliche Zeugnisse für die Unschuld seines edeln Verwandten mitgeben können, so fürchte ich, bleibt dem Verbannten, wenn er in sein Vaterland zurückzukehren wünscht, nur das häßliche Auskunftsmittel, daß er seine Tochter dem verrätherischen Feinde gibt.«

»Leider,« seufzte Harley, »sind bis jetzt alle Nachforschungen erfolglos geblieben, und ich weiß nicht, welche andere Schritte ich thun soll, ohne Peschiera's Aufmerksamkeit zu erregen und sein verschmitztes Gehirn gegen uns in Thätigkeit zu setzen. Mein armer Freund muß sich unter diesen Umständen mit dem Exile aussöhnen. Violante dem Grafen zu geben, wäre Entehrung. Ich aber werde bald verheirathet sein, bald eine Heimath haben, die, wenn ich sie Vater und Tochter als Zufluchtsort anbiete, ihres Ranges nicht ganz unwürdig erscheinen dürfte.«

»Wird aber die künftige Lady L'Estrange auf einen Ihrer Schilderung nach so schönen Gast keine Eifersucht empfinden? Werden Sie sich nicht selbst in Gefahr bringen, mein armer Freund?«

»Pah!« antwortete Harley erröthend. »Mein schöner Gast würde zwei Väter haben; das ist alles. Ich bitte, scherzen Sie nicht über eine so ernste Sache wie die Ehre.«

Wieder öffnete sich die Thüre und Leonard erschien.

»Willkommen!« rief Harley erfreut, nicht länger allein zu sein unter dem durchdringenden Auge des Fürsten, »willkommen! Dies ist der edle Freund, der unser Interesse für Riccabocca theilt und ihm so große Dienste leisten könnte, wenn wir im Besitze des Documentes wären, von welchem ich Ihnen sprach.«

»Hier ist es,« sagte Leonard einfach; »möge es alles enthalten, was Sie wünschen.«

Hastig griff Harley nach dem Packet, welches aus Italien an die vermeintliche Mrs. Bertram geschickt worden war; und das Gesicht auf die Hand lehnend durchflog er rasch dessen Inhalt.

»Hurrah!« rief er endlich mit leuchtenden Zügen und mit knabenhafter Fröhlichkeit die rechte Hand in der Luft schwenkend. »Sehen Sie, sehen Sie, Fürst, hier sind die eigenen Briefe Peschiera's an die Gattin seines Verwandten; sein Geständniß dessen, was er ›patriotische Absichten‹ nennt; seine drängende Aufforderung an sie, ihren Gemahl zur Theilnahme an denselben zu bestimmen. Sehen Sie, sehen Sie, wie er mit seinem Einflusse die Frau umgarnt, um die er einst geworben hat; sehen Sie, wie listig er ihre Einwände widerlegt; sehen Sie, wie wenig Lust unser Freund bezeugte, bis seine Frau und sein Verwandter gemeinschaftlich ihn bestürmten.«

»Genug, vollkommen genug,« rief der Fürst, die ihm von Harley bezeichneten Stellen in Peschiera's Briefen lesend.

»Nein, es ist noch nicht genug,« rief Harley, während er mit funkelnden Augen die Briefe weiter durchflog. »Mehr noch! O Schurke, zwei Mal verdammter Schurke! Hier, nach unseres Freundes Flucht, hier ist das Bekenntniß seiner sträflichen Liebe. Hier schwört er, daß er auf den Ruin seines Wohlthäters hingearbeitet habe, um das Haus zu schänden, in welchem er Schutz gefunden. Ah! sehen Sie, wie sie antwortet; Gott sei Dank, ihre Augen öffneten sich noch zu rechter Zeit, und sie verachtete ihn, ehe sie starb. Sie war unschuldig! Ich sagte es ja. Violanten's Mutter blieb rein. Arme Frau, das erschüttert mich! Hat Ihr Kaiser ein menschliches Herz?«

»Ich kenne unseren Kaiser genug,« antwortete der Fürst mit Wärme, »um zu wissen, daß, sobald ihm diese Papiere zu Gesicht kommen, Peschiera gestürzt und Ihr Freund wieder in seine Würden eingesetzt ist. Sie werden noch die Tochter, welche Sie als Kind an Ihrem Herde aufnehmen wollten, als die reichste Erbin Italiens sehen – als die Braut eines edlen Freiers, im Range nur unter Königen stehend.«

»Ah!« sagte Harley mit scharfer Betonung und sehr blaß werdend, »ah, das werde ich nicht. Nie mehr werde ich Italien besuchen! – nie mehr sie sehen – nie mehr, sobald sie einmal dieses Klima kalter, eiserner Sorgen und förmlicher Pflichten verlassen hat – nie, nie mehr!«

Er wandte sich einen Augenblick ab und trat dann raschen Schrittes auf Leonard zu.

»Aber Sie, o glücklicher Dichter! Kein Ideal kann je für Sie verloren gehen. Sie sind unabhängig vom wirklichen Leben. Ich wollte, ich wäre ein Dichter!«

Er lächelte traurig.

»Sie würden nicht so sprechen, mein theurer Lord,« erwiderte Leonard mit gleicher Traurigkeit, »wenn Sie wüßten, wie wenig das, was Sie ›das Ideal‹ nennen, einem Dichter den Verlust einer einzigen Zuneigung in dieser lebenslustigen menschlichen Welt ersetzen kann. Unabhängig vom wirklichen Leben! Leider, nein! Ich habe hier die Bekenntnisse einer ächten Dichterseele; ich bitte Sie dringend, dieselben mit Muße zu lesen; und wenn Sie es gethan, dann antworten Sie mir, ob Sie noch immer ein Dichter sein möchten.«

Während er so sprach, zog er Nora's Manuscripte hervor.

»Legen Sie die Papiere dort in meinen Schreibtisch, Leonard; ich werde sie später lesen.«

»Thun Sie das, und mit Aufmerksamkeit; denn für mich ist vieles darin, was mein eigenes Leben angeht, vieles, was mir noch ein Geheimniß ist, und worüber Sie mich vielleicht aufklären können.«

»Ich?« rief Harley, und war im Begriffe, nach dem Schreibtische zu gehen, in welchen Leonard das Manuscript sorgfältig niedergelegt hatte, als noch einmal, aber jetzt in heftiger Weise, die Thüre aufgerissen wurde und Giacomo, von Lady Lansmere begleitet, in das Zimmer stürzte.

»O Mylord, Mylord!« rief Giacomo auf Italienisch, »die Signorina, die Signorina – Violante!«

»Was ist mit ihr? Mutter, Mutter, was ist mit ihm? Sprich, sprich!«

»Sie ist fort – hat unser Haus verlassen«

»Verlassen! Nein, nein!« rief Giacomo. »Sie ist fortgelockt oder fortgeschleppt worden. Der Graf! der Graf! O, mein guter Lord, retten Sie die Signorina, wie Sie einst ihren Vater gerettet haben!«

»Halt!« rief Harley. »Gib mir deinen Arm, Mutter! Ein zweiter solcher Schlag im Leben geht über Mannesstärke – wenigstens über die meinige. So, so – mir ist jetzt besser! Ich danke dir, Mutter. Tretet zurück, Ihr Alle – gebt mir Luft! Also der Graf hat triumphirt, und Violante ist mit ihm entflohen! Erzählt mir alles – ich kann es ertragen!«



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