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»Halt ein den überstürzten Strom der Güte;
Er kommt zu schnell für eine schwache Seele.«
DRYDEN, Sebastian und Doras.
Der geschmeidige Arzt hatte seine Abendvisite gemacht; Lord Saxingham war zu einem Kabinettsessen gegangen, denn das Leben muss immer Seite an Seite mit dem Tode wandeln: und Lady Florence war allein. Sie weilte in einem Raum, der sich an Ihr Schlafzimmer anschloss – einem Raum, in dem sie einst in ihren unbeschwerten Tagen als brillante, launische Erbin gerne ihrem fantasievollen, eigentümlichen Geschmack freien Lauf ließ. Dort hatte sie gewöhnlich nachgedacht, geschrieben, studiert – dort war sie zum erstenmal überwältigt gewesen von dem neuen Glanze von Ernests ungewöhnlichen, imposanten Gedanken – dort hatte sie zuerst in mädchenhafter Schwärmerei die Idee gehabt, mit ihm als Unbekannte zu korrespondieren – dort hatte sie sich das erste Mal eingestanden, dass die Fantasie Liebe gezeugt hatte – dort hatte sie den kurzen, erschöpfenden Prozess der Liebe in einsamer Empfindung durchlaufen; – Zweifel, Hoffnung, Ekstase; Rückschlag, Schrecken; seelenlose Niedergeschlagenheit, Todeskampf der Verzweiflung! Dort nun erwartete sie traurig und geduldig das allmähliche Fortschreiten unvermeidlichen Dahinwelkens. Bücher und Gemälde, Musikinstrumente und Marmorbüsten, halb beschattet von klassischer Draperie – all die köstliche Eleganz weiblicher Raffinesse – stattete den Raum immer noch mit einer so heiteren Anmut aus, als ob Jugend und Schönheit auf ewig seine Bewohner seien – und als ob nicht die dunkle, schaurige Gruft der einzige dauerhafte Wohnsitz für die aus Staub gemachten Wesen wäre.
Florence Lascelles war dem Tode geweiht, aber eigentlich nicht nur wegen jener bekannten und doch geheimnisvollen Krankheit des gebrochenen Herzens. Ihre Gesundheit, die immer schon zart gewesen war, weil stets ein nervöses, reizbares und fiebriges Gemüt daran nagte, war schrittweise und unsichtbar unterminiert, schon bevor Ernest seine Liebe gestanden hatte. In dem eigentümlichen Glanz jener Augen mit den großen Pupillen – in der üppigen Transparenz jener prachtvollen Blüte – hätte der Erfahrene längst den Samen ausgemacht, in dem der Tod keimte.
An dem Abend, als ihr rastloses, verrückt gemachtes Herz sie unklugerweise hinaustrieb, um Lumleys Nachricht früher zu erhalten (sie wusste kaum, mit welchem Ziel oder welcher Hoffnung sie ihn zu Maltravers geschickt hatte), – an diesem Abend hatte sie bereits hohes Fieber. Der Regen und die Kälte beschleunigten die innerlich wachsende Krankheit – ihre Aufregung gab ihr Nahrung und Feuer – ein Delirium folgte. Aufgrund jenes furchtbaren, fatalen medizinischen Irrtums, der den Körper, wenn er am meisten der Stärke bedarf, gerade seines Lebensprinzips beraubt, hatte man sie durch Aderlass in einen vorübergehenden Ruhezustand versetzt und damit eine dauerhafte und unheilbare Schwäche bewirkt. Die Schwindsucht packte ihr Opfer.
Die sie behandelnden Ärzte waren die bekanntesten in London, und Lord Saxingham war fest davon überzeugt, dass es keine Gefahr gebe. Seinem Wesen lag der Gedanke fern, dass der Tod sich so große Freiheiten Lady Florence Lascelles gegenüber herausnehmen würde, wo es doch so viele arme Leute in der Welt gab, die aus ihr zu entfernen nicht unschicklich wäre. Florence indes wusste um ihre Gefährdung, und ihr hoher Mut bebte nicht davor zurück.
Als jedoch Cæsarini, von den Schrecken seiner Reue unerträglich gequält, ihr schrieb und seinen gesamten Anteil an dem fatalen Betrug eingestand, wobei er, getreu seinem Versprechen, den seines Komplizen verhehlte, – da, ach, da haderte sie in der Tat mit ihrem Verhängnis und sehnte sich danach, noch einmal mit Augen der Liebe und Freude auf das schöne Gesicht der Welt zu schauen.
Doch die Krankheit des Körpers ruft gewöhnlich eine verborgene philosophische Kraft der Seele hervor, von der Gesundheit nichts weiß; Gott hat es als gewöhnlichen Lauf der Natur in seiner Gnade so eingerichtet, dass der absteigende Pfad, je mehr wir uns dem Grabe nähern, unseren Füßen glatter und leichter wird. Und mit jedem Tag, je mehr sich die Nebel des Staubes vor unseren Augen verziehen, verliert der Tod sein falsches gespenstisches Aussehen; und so fallen wir ihm schließlich in die Arme wie ein müdes Kind an die Mutterbrust.
Mit schwerem Herzen lauschte Lady Florence dem monotonen Ticken der Uhr, welches ihr das Vergehen der wenigen, obgleich nicht kostbaren Momente verkündete, die ihr noch aufgespart waren. Das Gesicht in den Händen vergraben, beugte sie sich über den schmalen Tisch neben ihrem Sopha und ergab sich schwermütigen Gedanken. Gebeugt war das stolze Haupt, entnervt die elastische Gestalt, die einst zum Herrschen und Befehlen geboren schien – keine Freunde waren nah, denn Florence hatte sich nie Freunde gemacht. Einsam war ihre Jugend gewesen, und einsam waren ihre Todesstunden.
Während sie so saß und nachsann, erschütterte das Rasseln von Wagenrädern unten auf der Straße leicht den Raum – dann hörte es auf – der Wagen hielt an der Tür. Florence schaute auf. »Nein, nein, das kann nicht sein«, murmelte sie; während sie sprach, überzog ein schwaches Erröten ihre eingesunkenen, blassen Wangen, und ihre Brust hob sich unter ihrem Kleid, das »eine Welt zu weit für die geschrumpften« »a world too wide / For his shrunk shank«: Shakespeare, Wie es euch gefällt, II, 7. – Anm.d.Übers. Proportionen war. Es herrschte ein Schweigen, das ihr unendlich schien, und sie wandte sich ab mit einem tiefen Seufzer, Kälte senkte sich auf ihr Herz.
In diesem Augenblick trat ihre Kammerfrau mit bedeutungsvollem, beunruhigtem Gesichtsausdruck ein.
»Ich bitte um Verzeihung, Mylady, aber …«
»Aber was?«
»Mr. Maltravers hat vorgesprochen und fragte nach Ihrer Ladyschaft – darum, Mylady, ließ Mr. Burton mich holen, und ich sagte, Mylady ist zu unwohl, um jemanden zu sehen; aber Mr. Maltravers wollte sich nicht abweisen lassen; und er wartet in Mylords Bibliothek und bestand darauf, das ich 'raufgehe und ihn anmelde, Mylady.«
Nun war weder Mrs. Shinfields Rede wohlgesetzt noch ihre Stimme wohlklingend, doch nie hätte Beredsamkeit auf Florence solch eine Wirkung gehabt. Jugend, Liebe, Schönheit: alles strömte mit einem Mal wieder zurück, erhellte ihre Augen, rötete ihre Wangen und erfüllte die Ruine mit plötzlichem täuschendem Licht.
»Nun«, sagte sie nach einer Weile, »dann lassen Sie Mr. Maltravers hinauf kommen.«
»'rauf kommen, Mylady? Um Gottes Willen! Lassen Sie mich g'rad' Ihr Haar richten. Ihre Ladyschaft is' wahrhaftig in so 'nem Necklischeh!«
»Es ist gut so, wie es ist, Shinfield – er wird alles entschuldigen. – Gehen Sie.«
Mrs. Shinfield zuckte die Achseln und entfernte sich. Wenige Augenblicke später – ein Schritt auf den Stufen, das Knarren der Tür, – und Maltravers und Florence waren wieder allein zusammen. Er stand bewegungslos auf der Schwelle. Sie hatte sich unwillkürlich erhoben, und so standen sie einander gegenüber, und die Lampe schien auf ihr Gesicht. Oh Himmel! wann hörte dieser Anblick auf, Maltravers' Herz zu verfolgen! Wann wird diese veränderte Gestalt nicht mehr wie ein Geist vor seine Augen treten! – dort ist sie, getreu und vorwurfsvoll in der Einsamkeit wie im Gedränge – sie erscheint in der Mittagshelle – düster und bleich zieht sie nachts zwischen den Sternen und der Erde vorbei – sie schaute in sein Herz und ließ ihr Abbild dort für immer und ewig! Diese Wangen, einst so schön gerundet, nun eingesunken in tiefen Linien und hohl – das bleifarbene Dunkel unter den Augen – die erblichenen Lippen – der scharfe, beklommene, erschöpfte Ausdruck, der jenen prächtig strahlenden Blick ersetzt hatte, aus dem einst alles geistige Leben, aller süßer Stolz der Weiblichkeit geglüht hatte und in dem sich nicht nur die Geistigkeit, sondern auch die Ewigkeit der Seele sichtbar auszusprechen schien.
Da stand er, fassungslos und erschüttert. Endlich entrang sich ein leises Stöhnen seinen Lippen – er stürzte vorwärts, sank neben ihr auf die Knie, umschlang ihre Hände und schluchzte laut, als er sie mit Küssen bedeckte. Alles Erz seiner starken Natur war zerbrochen, und seine lange unterdrückten, nun unkontrollierbaren und unwiderstehlichen Gefühle waren schrecklich anzuschauen!
»Weinen – weinen Sie nicht so«, murmelte Lady Florence in Angst vor seiner Heftigkeit. »Ich bin traurig verändert, aber es ist meine Schuld – Ernest, meine eigene. Bester, gütigster, edelster Mann, wie konnte ich so wahnsinnig sein! Und Sie vergeben mir? Ich gehöre wieder Ihnen – eine kleine Weile noch. Ach, grämen Sie sich nicht, wo ich so selig bin!«
Während sie sprach, fielen ihre Tränen – Tränen, die aus einer ganz anderen Quelle kamen als der, aus welcher die verzehrende, unerträgliche Todesqual seiner eigenen hervorbrach! – sanft auf seinen gebeugten Kopf und die Hände, die immer noch ihre krampfhaft umspannten. Maltravers schaute unbändig auf zu ihrem Gesicht und schauderte, als er sah, wie sie sich zu lächeln bemühte. Er erhob sich abrupt, warf sich in einen Sessel und verbarg sein Gesicht. Mit gewaltsamer Anstrengung versuchte er sich zu beherrschen, und nur durch das Heben seiner Brust und dann und wann ein Schnappen nach Luft verriet er den stürmischen Kampf in seinem Innern.
Florence sah ihn einen Augenblick in bitterer, fast selbstsüchtiger Reue an. »Und das war der Mann, der mir so verhärtet gegen die sanfteren Gefühle schien – das war das Herz, das ich mit Füßen trat – das der Charakter, dem ich misstraute.«
Sie näherte sich ihm, zitternd und mit schwachen Schritten – sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und die Zärtlichkeit der Liebe überkam sie: sie umschlang ihn mit ihren Armen.
»Es ist unser Schicksal – es ist mein Schicksal«, sagte Maltravers schließlich, wie aus einem grässlichen Traum erwachend und mit hohler, aber ruhiger Stimme. – »Wir sind Geschöpfe des Schicksals, und sein Rad hat uns zermalmt. Es ist ein furchtbarer Zustand des Daseins, dieses menschliche Leben! – Was sind Weisheit – Tugend – Vertrauen zu Menschen – Ehrfurcht vor Gott – all die Erziehung, die wir uns gewähren – all unser Verlangen nach höheren Sphären – wenn wir in dieser Weise die Werkzeuge reinsten Zufalls sind – die Opfer schmählichster Schurkerei; und unsere ganze Existenz – ja, fast unsere gesamten Sinne der Gnade jedes Verräters und jedes Narren ausgeliefert sind!«
Ernests Stimme und auch seine Überlegungen erschienen so unnatürlich ruhig und tief, dass Florence mit einer stechenderen Angst auffuhr als der, die zuerst seine Heftigkeit hervorgerufen hatte. Er stand auf, sprach leise mit sich selbst, wandelte auf und ab, als ob er ihre Anwesenheit nicht wahrnehme – tatsächlich war es so. Am Ende hielt er kurz an, richtete seine Augen auf Lady Florence und flüsterte in durchdringendem Ton:
»Nun denn: der Name unseres Untäters?«
»Nein, Ernest, nein – niemals, wenn Sie mir nicht versprechen, auf das Vorhaben, das ich in Ihren Augen lese, zu verzichten. Er hat gestanden – er ist reuig – ich habe ihm vergeben – Sie werden es auch tun!«
»Sein Name!« wiederholte Maltravers, und sein Gesicht, das sich zuvor sehr gerötet hatte, war unnatürlich bleich.
»Vergeben Sie ihm – versprechen Sie es mir.«
»Sein Name, sage ich – sein Name?«
»Ist das gütig? – Sie erschrecken mich – Sie werden mich töten!« stammelte Florence und sank erschöpft aufs Sopha: ihre Nerven, ohnehin jetzt so geschwächt, wurden vollständig überspannt durch seine Heftigkeit. Sie rang die Hände und weinte Mitleid erregend.
»Sie wollen mir seinen Namen nicht nennen?« sagte Maltravers leise. »Sei's drum. Ich werde nicht mehr fragen. Ich vermag ihn selbst zu entdecken. Der rächende Gott wird ihn offenbaren.«
Bei dem Gedanken wurde er gelassener. Und als Florence weiter weinte, fiel die unnatürliche Konzentration und Wildheit von ihm ab. Er setzte sich neben sie und sagte alles, was besänftigen, trösten und ermutigen konnte. Und Florence war bald besänftigt! Und da, während über ihren Köpfen der grimmige Knochenmann schon das Bahrtuch hielt, tauschten sie wieder ihre Liebesschwüre und sprachen mit noch zärtlicheren Gefühlen als früher wieder von Liebe.