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Zwölftes Kapitel.

»Ja, Herr, Herr Melville ist zu Hause in seinem Atelier.«

Kenelm folgte dem Mädchen durch die Vorhalle nach einem Zimmer, das bei seinem letztem Besuche im Hause noch nicht vorhanden gewesen war. Der Künstler hatte es, als er sich nach Lily's Tode dauernd in Grasmere niederließ, hinter dem verfallenen Raum, in welchem Lily »die Seelen ungetaufter Kinder« gefangen hielt, anbauen lassen.

Es war ein stattliches Zimmer mit einem scharf nach Norden liegenden, theilweise verhangenen Fenster; an den Wänden hingen verschiedene Skizzen; einzelne antike Möbel und prachtvolle italienische Seidenstoffe lagen unordentlich verstreut im Zimmer umher; ein großes Bild stand verhangen auf einer Staffelei; vor 360 einem andern, ebenso großen und halb vollendeten stand der Maler. Als Kenelm unangemeldet ins Zimmer trat, kehrte sich Melville rasch um, ließ Pinsel und Palette aus der Hand fallen, trat rasch auf Kenelm zu, ergriff seine Hand, ließ seinen Kopf auf seine Schulter sinken und sagte mit einer von innerer Bewegung fast erstickten Stimme:

»O, seit wir uns nicht gesehen haben, was habe ich erlebt!«

»Ich weiß es. Ich habe ihr Grab gesehen. Lassen Sie uns nicht davon reden. Warum sollten wir so nutzlos Ihren Kummer erneuern? So haben sich also Ihre sanguinischen Hoffnungen erfüllt. Die Welt hat Ihnen endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen? Emlyn sagt mir, daß Sie ein Bild gemalt haben, das Sie berühmt gemacht hat.«

Bei diesen Worten hatte Kenelm sich gesetzt. Der Maler stand noch in niedergeschlagener Stellung mitten im Zimmer und fuhr sich ein paarmal mit der Hand über die feuchten Augen, bevor er antwortete: »Ja, aber warten Sie noch einen Augenblick; reden Sie noch nicht von Ruhm. Haben Sie Nachsicht mit mir. Ihr plötzliches Erscheinen hat mich übermannt.«

Bei diesen Worten setzte sich auch der Künstler auf eine alte, wurmstichige gothische Kiste, indem er 361 dabei das Goldbrocatgewebe eines seltenen alten gestickten Seidenstoffs, der über der ebenso seltenen alten gothischen Kiste hing, achtlos zerknitterte.

Kenelm sah den Künstler durch halbgeschlossene Augenlider an, und seine bis dahin etwas spöttisch herabgezogenen Lippen preßten sich jetzt ernst zusammen. In Melville's Kampf, seine Gemüthsbewegung zu verbergen, erkannte der starke Mann den starken Mann, konnte sich aber doch nur wundern, wie ein solcher Mann, dem sich Lily verlobt hatte, so bald nach ihrem Verluste fortfahren konnte, Bilder zu malen und den mindesten Werth auf die Belobung einer bemalten Elle Leinwand zu legen.

Nach wenigen Minuten nahm Melville die Unterhaltung wieder auf, von einem ehrfurchtsvollen Gedenken Lily's war aber dabei so wenig mehr die Rede, wie wenn sie nie existirt hätte. »Ja, mein letztes Bild hat wirklich einen brillanten Erfolg gehabt, ein vollständiger, wenn auch später Lohn für alle Bitterkeit so lange vergeblichen Ringens, für das kränkende Gefühl des erlittenen Unrechts, dessen Qualen nur ein Künstler kennt, wenn er unwürdige Nebenbuhler sich vorgezogen sieht.

Feinde zum Tadeln bereit und Freunde zu loben sich scheuend.

Zwar habe ich noch immer viel auszustehen; die 362 Cliquen sind noch immer bemüht, mich herabzusetzen, aber zwischen mir und den Cliquen steht endlich die Riesengestalt der öffentlichen Meinung und endlich haben Kritiker von größerer Autorität als die Cliquen mir einen noch höhern Rang zuerkannt als selbst das Publikum. O, Herr Chillingly, Sie geben sich nicht für einen Kenner aus, aber verzeihen Sie mir, lesen Sie doch einmal diesen Brief. Ich erhielt ihn erst gestern Abend von dem größten Kenner Englands, vielleicht Europas.«

Bei diesen Worten zog Melville aus der Seitentasche seines malerischen mittelalterlichen Ueberrocks einen Brief, der die Unterschrift eines Namens trug, welcher allen Malern als Autorität gilt, die einem Manne Autorität zuerkennen, der so wenig ein Bild malen könnte, wie Addison, der beste Kritiker des größten Gedichts, welches das moderne Europa hervorgebracht hat, zehn Zeilen von dem »Verlorenen Paradieses« hätte schreiben können, und drückte Kenelm den Brief in die Hand. Kenelm las denselben ohne Interesse, mit steigender Verachtung für einen Künstler, der so in seiner befriedigten Eitelkeit Trost für ein theures, entschwundenes Leben finden konnte. Aber so interesselos er auch den Brief las, so machte ihm doch das darin enthaltene aufrichtige und enthusiastische Lob einer unleugbaren Autorität Eindruck.

363 Der Brief war in Veranlassung von Melville's kürzlich erfolgter Ernennung zum Mitglied der Royal Academy an die Stelle eines eben verstorbenen großen Künstlers geschrieben. Kenelm gab Melville den Brief mit den Worten zurück: »Das ist der Brief, den ich Sie gestern Abend, als ich in Ihr Fenster blickte, lesen sah. Der Brief ist in der That für jemand, der auf die Meinung Anderer Werth legt, sehr schmeichelhaft; und für einen Maler, dem es auf Geld ankommt, muß es sehr angenehm sein zu wissen, mit wie viel Guionen er sich jeden Zoll seiner Leinwand bedecken lassen kann.« Aber unfähig, seiner innern Wuth, seinem Hohn, seinem rasenden Schmerz noch länger Gewalt anzuthun, brach er plötzlich in die Worte aus:

»Mann, Mann, den ich einst als Lehrer für das Leben betrachtete, dessen Lehren mein apathisches, träumerisches, langsam pulsirendes inneres Leben erwärmten, erleuchteten und erhoben, ist nicht das Weib, das Du Dir aus der Masse ihrer Schwestern ausersahst, um Bein von Deinem Bein und Fleisch von Deinem Fleisch zu werden, von der Erde verschwunden, hat nicht seit wenig länger als einem Jahre ihr Mund zu reden und ihr Herz zu schlagen aufgehört? Aber wie leicht wiegt für Dein Leben ein solcher Verlust im Vergleich zu dem Werth eines Lobes das Deiner Eitelkeit schmeichelt!«

364 Der Künstler sprang entrüstet auf. Aber das zornige Roth wich von seinen Wangen, als er dem, der ihn so hart anließ, ins Gesicht sah. Er trat auf ihn zu und versuchte es, seine Hand zu ergreifen, aber Kenelm zog die seinige mit einer höhnischen Bewegung weg.

»Armer Freund«, sagte Melville in einem traurigen, besänftigenden Ton, »ich ahnte nicht, daß Sie sie so geliebt haben. Verzeihen Sie mir!« Er rückte sich einen Stuhl an den Kenelm's heran und fuhr nach einer kurzen Weile sehr ernst fort: »Ich bin nicht so herzlos und habe meinen Verlust nicht so rasch vergessen, wie Sie zu glauben scheinen. Aber erwägen Sie, daß Sie eben erst die Todesnachricht erfahren haben, daß Sie noch von dem ersten Schmerz überwältigt sind. Ich habe nun schon länger als ein Jahr Zeit gehabt, mich allmälig in den göttlichen Rathschluß zu finden. Jetzt hören Sie mir zu und versuchen Sie es, mir ruhig zuzuhören. Ich bin viel älter als Sie; ich muß die Bedingungen, unter welchen den Menschen das Leben verliehen ist, besser kennen. Das Leben ist zusammengesetzt und mannichfaltig gestaltet; unsere Natur duldet nicht, daß es dauernd von einer einzigen Leidenschaft beherrscht, daß es noch in der Blüte seiner Kraft durch einen einzigen Kummer für immer 365 verwüstet werde. Ueberblicken Sie die große Masse der Menschen in ihren verschiedenen, bald bescheidenen, bald erhabenen Berufsarten, wie sie die Geschäfte der Welt mit sich bringen. Sind Sie berechtigt, den armen Händler oder den großen Staatsmann als herzlos zu verachten, wenn dieselben vielleicht wenige Tage nach dem Verlust eines ihren Herzen nahestehenden und theuren Wesens ihren Geschäften wieder nachgehen, der Händler seinen Laden wieder öffnet und der Staatsmann seine amtlichen Pflichten wieder versieht? Aber in mir, dem Jünger der Kunst, in mir erblicken Sie nur die Schwäche befriedigter Eitelkeit, wenn ich mich der Hoffnung freue, daß meine Kunst Triumphe feiern und daß mein Vaterland meinen Namen in das Verzeichniß derer eintragen werde, die seinen Ruhm vergrößert haben! Wo und wann hat je ein Künstler gelebt, den nicht diese Hoffnung bei Entbehrungen, Krankheiten, in dem Kummer, der das gemeinsame Theil aller Sterblichen ist, aufrecht erhalten hätte? Und diese Hoffnung entspringt nicht einer weibischen Eitelkeit, einem krankhaften Verlangen nach Beifall, sondern sie ist gleichbedeutend mit dem Wunsch unserm Vaterlande, der Menschheit, der Nachwelt rühmliche Dienste zu leisten. Unsere Kunst kann keine Triumphe feiern, unser Name kann nicht auf die Nachwelt kommen, wenn wir nicht 366 etwas vollbringen, was dazu beiträgt, die Welt zu verschönern oder zu veredeln, die Welt, in welcher wir das gemeinsame Erbtheil der Arbeit und der Sorge tragen, um damit für die gegenwärtigen und kommenden Geschlechter Erholung und Freude zu schaffen.«

Während der Künstler so sprach, blickte ihn Kenelm mit thränenschweren Augen an. Und das Gesicht, das zornerglüht war, als der Künstler sich gegen die bitteren Vorwürfe des jungen Mannes vertheidigte, hatte am Schluß dieser nicht unedlen Vertheidigung einen in seinem Ernst rührend milden Ausdruck angenommen.

»Genug«, sagte Kenelm aufstehend. »Es ist etwas Wahres an dem, was Sie sagen. Ich kann begreifen, wie der Künstler, der Dichter aus dieser Welt, wenn Alles darin kalter Tod und eisiger Winter ist, in die Welt entflieht, die er sich schafft und nach seinem Belieben mit sommerlichen Farben schmückt. So kann ich auch begreifen, wie der Mann, dessen Leben an das strenge Geleise eines geschäftlichen Berufes oder staatsmännischer Pflichten gefesselt ist, durch die Macht der Gewohnheit nach kurzem Aufenthalt von einem Grabe hinweg rasch weiter getragen wird. Aber ich bin kein Dichter, kein Künstler, kein Geschäftsmann, kein Staatsmann. Ich habe keinen Beruf, mein Leben ist an kein Geleise gefesselt. Leben Sie wohl.«

367 »Halt, einen Augenblick! Nicht jetzt, aber etwas später fragen Sie sich, ob es irgend einem Leben gestattet ist, sich als von dem Leben aller Andern losgelöste Monade im Raume zu bewegen. Von irgend einem Geleise muß es sich früher oder später fesseln und gehorsam den Gesetzen der Natur und der Verantwortlichkeit gegen Gott forttragen lassen.« 368


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