Bruno Hans Bürgel
Der »Stern von Afrika«
Bruno Hans Bürgel

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5.

Wenn es Ihnen recht ist, wandern wir noch bis zu jenem kleinen Waldstück. Da wo in der Ferne die Gruppe von Pinien sich aufreckt, ist Green Point. Sie sehen die Spitze des Leuchtturmes hinter der kleinen Anhöhe. Von hier aus werden wir einen Blick haben, weit hinaus in die See!«

»Wandern wir, Fräulein Hawthorn! Ich wüßte nicht, was ich lieber täte, an diesem hellen Morgen mit seiner köstlichen Luft. Von der Freude, mit Ihnen in meiner Muttersprache reden zu können, die mir alles so vertrauter macht, gar nicht zu sprechen!«

»Ich bin nie aus der Heimat fortgekommen, von einigen kurzen Reisen abgesehen, und kann mir kaum vorstellen, wie dem zumute ist, der ganze Weltteile, breite Ozeane zwischen sich und seinem Daheim liegen weiß!«

»Wissen Sie wohl, daß Sie gar nichts von einer Afrikanderin haben und deutsches Wesen mit überraschender Kraft und Deutlichkeit von Ihrer Mutter erbten? Ein gewisses Sichselbstgenügen in kleinerer Eigenwelt, ein Hang zum Sinnieren und Philosophieren, eine leise Neigung zur Schwärmerei. Das alles paßt nicht zu dem Volk, unter dem Sie leben, und dessen Hauptmerkmale scharfes und schnelles Erfassen der praktischen Seite des Lebens, technischer, industrieller, kaufmännischer 115 Wagemut sind, ohne große Sentiments, wie es vielfach bei eingewanderten Völkern ist, die sich jahrhundertelang ihren Platz erkämpfen mußten, entweder mit der Waffe gegen Ureinwohner oder mit Axt und Spaten gegen die Wildnis einer spröden, trotzigen Natur.«

»Ich fühle seit langem die Gegensätze, doch sind sie mir durch Ihre Art, die Dinge in größerer Perspektive zu sehen, erst so recht klar geworden, und ein Begreifen meiner selbst ist gewissermaßen über Nacht gekommen!«

»Ich wünschte sehr, daß es Sie nicht unglücklich macht, oder nicht unfroh. Ihr prächtiger Vater gibt Ihnen eine ganze Welt, und Ihr Heim bewahrt Sie vor dem großen Gedränge, das Sie nicht lieben.«

»Der Vater ist der beste Mensch der Welt, aber seine Geschäfte nehmen all seine Kraft in Anspruch, und was mich einsam macht, ist das Gefühl, niemand zu haben, der meinen Interessen Verständnis entgegenbringt. Die Menschen hierzulande reden alle nur von großen Handelsunternehmungen, von Börsengeschäften, Gründungen riesiger industrieller Werke, von den neuen Anlagen zur Ausnutzung der Kraft der Meereswellen, von den Schächten, die jetzt im Kapland vorgetrieben werden bis zu Spalten in großen Tiefen, die mit glühendem Magma gefüllt sind, und deren Hitze nutzbar gemacht werden soll. Sie sprechen von Maschinen, von Dingen, die Stahl und Stein sind, niemals von dem Unwägbaren, das nur im Gefühl existiert, das ein Gedicht sein kann oder ein Rauschen in den Bäumen oder ein Vogel, der sein Abendlied singt.«

»Es ist die Tragik der Zeit, und Sie haben ihren Sinn nicht ganz erfaßt, wenn Sie auch darunter leiden. Sehen 116 Sie, die menschliche Kultur geht auf und ab, auf und ab, in mächtigen Wellen, wie das Meer. In Wellenbergen und Wellentälern rauscht es dahin, und wie die höchste Welle schließlich in einem tiefen Sturz im Wellental verebbt, so die höchste Kultur. Eine ganze Anzahl solcher Kulturwellen ging über die Erde. Vor vielen Jahrtausenden hatte China seine Kulturblütezeit, dann das mächtige Indien, später Aegypten, dann Griechenland, dann Westeuropa. Und alle diese Kulturen hielten sich achthundert, auch tausend Jahre, wuchsen wie Bäume und starben ab wie morsche Waldriesen. Die Jugendzeit einer Kultur aber ist immer ein Streben nach einem hohen Ziel, ein jugendliches Stürmen nach einem Ideal, begleitet von einem heiligen Feuer. Und aus dem Feuer lodern die schönen Künste, Sagen und Lieder, Werke, tief zu Herzen gehende Werke erhabener Meister. In hohen Domen erstehen zu Stein gewordene Gedichte, die Idee des Wahren, des Schönen und Guten quillt aus Religion, Philosophie und Künsten. – Das ist die große, die goldene Zeit, die Höhe einer Kultur. Aber langsam bemächtigt sich der Menschen dann ein anderer Geist. Ein äußerlicher Machtwahn führt zu kriegerischer Vergewaltigung des Nachbarn, zur Gründung großer Reiche mit Feuer und Schwert. Die Sucht nach Ruhm, nach Reichtum, nach Ueppigkeit verdirbt den Sinn. Kunst, Religion und Philosophie wird gering geachtet, Materielles tritt an ihre Stelle. Der Handel blüht, es kommt ein Zeitalter der Erfindungen, Industrien entstehen. Die soziale Frage spaltet jedes Volk zu feindlichen Brüdern, eine kleine Schar von Mammonfürsten steht einem Heer von Darbenden gegenüber, und in schweren 117 Kämpfen zerfallen Staaten und Gesellschaften. Die Kultur hat ihr Wellental erreicht, sie stirbt, und irgendwo beginnt ein neuer Zweig zu grünen, strebt eine neue Kulturwelle aufwärts. Das Spiel beginnt von vorn. Wie der Bakterienforscher die wimmelnde Kleinlebewelt auf seiner Gelatineplatte durch größere oder geringere Wärme, durch entsprechende Nährstoffe zum Aufblühen, zum Absterben bringen kann, sind wir Bewohner dieses kleinen Sternes in der Hand eines Unbegreiflichen, der seine Naturgesetze walten läßt, ein Spielzeug, das sich bewegen muß, wie die Fäden gezogen werden!«

Johannes Baumgart schwieg. Er strich sich die widerspenstige Locke aus der Stirn und hatte fast vergessen, daß ein junges Mädchen an seiner Seite schritt, die vielleicht durch seine ihm fremdartigen Gedankengänge noch mehr verwirrt wurde.

Elizabeth Hawthorn sah verstohlen in das geistvolle Gesicht ihres Begleiters. Wann hatte je ein Mensch über diese tiefen Probleme mit ihr gesprochen! Was für ein Wissen besaß dieser Mann, welche tiefe Weltanschauung wußte er zu vermitteln! – Es war ihr, als sei sie so viele Monde mit ihm bekannt als Tage. Was hatte sie nicht gestern alles aus seinen Schilderungen gelernt! Der Riesen-Atlas, mit dem man durch die deutschen Lande reisen wollte, war kaum aufgeschlagen worden, die Stunden vergingen wie Minuten, und lachend hatte der Vater gesagt, daß sie auf dem besten Wege wäre, in die Reihe der Staatsräte weiblichen Geschlechts einzutreten, wenn der Gast seine kulturhistorischen Unterrichtsstunden noch ein paar Wochen fortsetzen würde. Wie wußte dieser Mann über den Riesengeist Goethe zu sprechen, 118 verborgene Quellen und Schätze in seinen Werken aufzudecken!

Sie hätte mit ihm plaudern, mit ihm wandern können tage- und tagelang, bis in alle Ewigkeit lauschen können, wenn er über Menschentum und Lebensrätsel, über das Werden und Vergehen im Völkerleben und im All sprach.

»Und darin, Fräulein Hawthorn, in diesem Wachsen und Absterben einer Kultur, in der Veränderung, die der menschliche Geist während eines solchen Kulturlebenslaufes erfährt, liegt auch jenes Gefühl des Alleinseins, der seelischen Verlassenheit begründet, die Sie und mancher andere fühlen. Da und dort leben eben noch Menschen, in denen durch seltsame Sprünge der Vererbung das alte Kulturideal lebendig geblieben ist, denen ein Gedicht, ein Sonnenuntergang, ein Vogel, der im schweigenden Wald sein Abendlied singt, der fromme Schauer, der in alten Domen wohnt, mehr ist als Wunderwerke der Technik und all der Luxus einer raffinierten Zeit. Ihre Umgebung aber hat von der Leier längst jene Saiten entfernt, und so kommt es, daß sie dort nicht mitklingen können, daß nur ein verwundertes Staunen für den ›Träumer‹ übrig bleibt. Der aber fühlt sich kalt und fremd in seiner Umwelt, und das Gefühl ist es, das auch Sie bedrückt!«

»Sie glauben nicht, wie Ihre Worte auf mich wirken! Ist es mir doch, als hätten Sie die kleinsten Fasern meiner Empfindungswelt in Ihren Händen. Ja, durch Sie erst lerne ich mich selbst kennen, und es ist seltsam, daß ein fremder Mensch weit über Meere und Wüsten kommen muß, um in wenigen Stunden alle Rätsel zu lösen, mit 119 denen man Jahre dahinschritt, ohne selbst zu wissen, daß sie da waren!«

»Nun, es ist so verwunderlich nicht,« sagte Baumgart mit einem wohltönenden Lachen, »denn ich kann mich in Ihre Seele um so leichter hineinversetzen, als ich ein ähnlich unmoderner Mensch bin, ein ähnlicher Träumer. Goethe, den Sie so sehr lieben, sagt: ›Du gleichst dem Geist, den du begreifst‹. Ich kehre das Wort um und sage, du begreifst den Geist, dem du gleichst. Der Unterschied zwischen uns beiden ist nur der, daß ich all diesen Dingen nachdachte, ihre Gründe erforschte, während Sie sich in der Stille Ihres Hauses resignierend damit abfanden, daß zwischen Ihrer Empfindungswelt und der kalten Umwelt unlösliche Dissonanzen bestehen!«

Elizabeth antwortete nicht. Ihre klaren Augen blickten in die Weite, aber das Herz war ihr voll, und innerlich rief sie dem Manne an ihrer Seite in hundert Variationen zu: »Ja, wir sind gleichen Geistes, sind Freunde seit immer, gehören zueinander, und nur der seltsame Doppelsinn des Lebens trennte uns durch Länder und Meere. Du bist ein Meteor, das strahlend an meinem Himmel dahinzieht, erhellt, was in mir dunkel lag seit immer, und schnell entschwinden wird in ferne Räume. Ich aber werde lange den Widerschein deines Lichtes in mir spüren, vielleicht ein Leben lang!«

Die beiden Ausflügler hatten die sanften Hügel erreicht, die vom sogenannten »Löwenrumpf« nach dem Meere zu abfielen. Sie standen unter einer Gruppe hoher Pinien und schauten auf das von der Morgensonne erleuchtete Meer. Kaum eine Welle wölbte den Spiegel des Atlantischen Ozeans, ein schlafender Riese, lag er 120 friedlich da, von einem sanften Frühlicht überzittert, das sich rosig auf den feinen Dunstschleier legte, der aus dem Wasser aufstieg. Rechts stand des alten Leuchtturmes steinerne Säule, bei Green Point flatterte das weiße Segel eines Fischerbootes, das der Drei-Anker-Bucht zustrebte, und hinter ihnen schnitten die dunklen Bergmassen etwas vernebelt in den strahlenden Morgenhimmel hinein.

Noch glitzerte der Tau in Gras und Busch, Seevögel strichen am Strand hin und her, dann und wann drang von der Stadt herüber der Ruf erwachenden Lebens, die Sirene eines großen Werkes, das Surren einer elektrischen Schnellbahn.

Lange standen die beiden Menschen so und schauten in den jungen Tag hinaus, hinaus auf das weite Meer, das erst in weiter, weiter Ferne wieder, an der Ostküste Südamerikas, ein Land umspülte.

»Es ist doch ein eigenes Gefühl, hier an dem letzten Ausläufer eines großen Kontinentes zu stehen und zu wissen, daß ringsum eine unermeßliche Wasserwüste sich dehnt, die uns trennt von fernen Weltteilen mit anderen Völkern, anderen Kulturen. Hätten Sie nicht Lust, Fräulein Hawthorn, da hinauszufahren in das Unbekannte, Südamerika zu, oder dem Polareise entgegen, das da fern im Süden irgendwo sich silbern in der Sonne spiegelt?«

»Oh doch! Zuweilen packt mich die Sehnsucht, in die Ferne zu schweifen, aber es ist mehr das Gefühl, dieser lärmenden, rastlosen, etwas unnatürlich gewordenen Umwelt zu entfliehen, an irgendeinem stillen Strande zu landen, an kleinen Inseln mit verborgenen einsamen Wäldern und Quellen, wo die Menschen noch 121 ursprünglich sind. Freilich, ob es dergleichen heut noch gibt auf unserem Planeten?«

»Da und dort wohl, aber es ist herzlich wenig übrig geblieben von glücklichen Inseln mit einer paradiesischen Menschheit. Es muß doch eine schöne Zeit gewesen sein, die der ersten Entdecker und Weltumsegler! So hinaus ins Unbekannte, zu nur geahnten Ländern in der Ferne, zu erträumten Schätzen, zu unerhörten Abenteuern, damals, als die Erdkarten nur Europa, einen Teil Asiens und den Norden Afrikas in groben Strichen aufzeichneten und die Ferne bevölkert schien von furchtbaren Riesen, von seltsamen Zwergen und schrecklich mißgestalteten Fabelwesen. Wir verstehen es heute kaum noch, welcher Mut für unsere Vorfahren dazu gehörte, sich in zerbrechlichen Fahrzeugen hinauszuwagen in diese unbekannte Welt voller Gefahren!«

»Und wie schnell hat sich alles geändert! Anderthalb Jahrtausende nur, und die Welt ist bis zu den letzten Winkeln bewohnt, erforscht, vom Netz der Kulturspinne umsponnen. Entfernungen gibt es nicht mehr, wir fahren mit elektrischen Schiffen in wenigen Tagen über die Meere, schwirren mit Sturmeseile durch die Lüfte von Land zu Land, sprechen in unserem Zimmer mit Leuten in Indien und Amerika, sehen im Fernseher Dinge, die tausend Meilen jenseits unseres Ortes vor sich gehen!«

»Und finden es durchaus begreiflich, denn wir haben gelernt, die Erde in ihrer wirklichen Kleinheit zu sehen, die uns einst so groß erschien! Sie ist eben nur ein Sandkorn im All, ist in der Tat ein Apfel, von Bakterien bewohnt. Schon die Sonne ist fünfviertel Millionen mal größer als dieser kleine Planet, und doch ist diese Sonne 122 wieder hundertmal kleiner als andere Sterne, fern im Raum, und mehr als zweihundert Millionen solcher Sonnen und Sonnensysteme mit Planeten gleich der Erde zeigen uns die Fernrohre da droben am nächtlichen Himmel!«

»Ich darf daran nicht denken, es verwirrt mich, und ich komme mir winziger vor als das Tierchen im Wassertropfen irgendeines Tümpels. Es ist eine Art Schwindelgefühl gegenüber dem Unendlichen. Kennen Sie das wundervolle Bild des indischen Malers Rhawatami? Den Mantel Gottes? Der Herr der Welt schwebt auf diesem Kolossalgemälde im Weltenraum. Ein weiter leuchtender Mantel umhüllt ihn in herrlichem Faltenwurf, und seine Schleppe verliert sich im Unerreichbaren. Und dieser Mantel ist gewebt aus Millionen Sternen, Millionen Erden, belebt und bewohnt!«

Johannes Baumgart nickte versonnen. Er spähte vom Hügel hinaus auf die See. Ein leuchtender Punkt fern im Süden erweckte sein Interesse. Das war kein Schiff und kein Segel. Langsam, ganz langsam trieb der schimmernde Gegenstand mit Wind und Wellen näher. Plötzlich glänzte er wie ein Stern auf.

»Sehen Sie dort! Das ist ein Eisberg, der vom Polarkreise herantreibt, und da rechts ein zweiter. Noch mehr! Ganz hinten blitzt eine ganze Kette in der Sonne auf! Boten der Eiszeit. Früher kamen sie nie bis herauf in diese Breiten!«

Elizabeth hielt die Hand über die Augen und schaute auf das Meer hinaus.

»Sie blicken nicht in die rechte Gegend. Mehr dorthin, nein dort!« Baumgart kam dicht zu ihr, leise berührte 123 er ihre Schulter, sein Gesicht war dem ihren nahe, sein Arm wies hinaus, um ihr Auge auf die fernen blinkenden Segler zu lenken und ihren Blick mit seinem zu vereinen.

Sie spürte nur den sanften Druck seiner Hand, fühlte, wie eine Strähne seines dunklen Haares über ihre Schläfe strich, und zitterte leise.

Mit Gewalt raffte sie sich aus einem seltsam träumerischen Empfinden auf. Ja, da sah sie die eisigen Wanderer wie Spiegelscheiben herüberblitzen. Baumgart reichte ihr sein Glas. Weißliche ragende Burgen aus Eis, durchzogen von blaugrünen Schatten, schwammen daher. Seltsame Girlanden von ungeheuren Eiszapfen, schwebende Balkone, zackige Säulen, hohe Torbogen waren erkennbar. Seevögel hatten sich auf einzelnen Erkern der eisigen schwimmenden Berge niedergelassen, und man erkannte, daß diese fern aus dem Süden herantreibenden Kinder des Frostes riesenhoch sein mußten. Am Fuß der langsam weitertreibenden Festungen schäumte das Meer, dann und wann brachte eine größere Welle Schwankungen hervor, und die spiegelnden Flächen drehten sich.

»Weiter gen Süden wimmelt das Meer von diesen schaurig schönen Zauberschlössern,« sagte der Deutsche, »langsam kommt die Kälte auch an diese Küsten, und wer weiß, wie es in zwei, drei Jahrhunderten im Kaplande aussehen wird!«

»Da sieht man, wie wenig doch das Wort zutrifft, daß der Mensch die Naturgewalten überwunden hat. Der Apfel mit den Bakterien wird von der Hand eines Unsichtbaren, Urgewaltigen in die Eiskammer gelegt, und die winzigen Gernegroße müssen erkennen, daß all ihre Kunst sie nicht daraus entfernen kann. Morgen ist die 124 große Sitzung des Obersten Rates und der Abgeordneten zu Sansibar. Ich bin gespannt, was man in der ganzen Angelegenheit tun wird.«

»Auch mich bewegt das aufs stärkste, denn meine ganzen ferneren Pläne hängen davon ab.«

»Spielt die Eiszeitfrage auch in Ihre Angelegenheiten hinein?«

»Sie allein bewegt mich seit Jahrzehnten. Nur dieser Frage wegen bin ich in diesem Lande.«

»Mein Vater machte mir eine Andeutung, daß Sie irgendeine überraschende Idee haben. Er sagte, die ganze Welt würde sich mit Ihren Plänen beschäftigen, aber er sprach sich nicht näher darüber aus. Sie hätten vorläufig um Stillschweigen gebeten.«

»Es ist richtig. Ich glaube einen Weg gefunden zu haben, der uns Rat in unserer schwierigen Lage bringen kann. In wenigen Tagen werde ich mich näher darüber auslassen können, vor allem der Regierung dieses Landes gegenüber, deren Hilfe ich erwarte. Doch hängt alles auch von den technischen Mitteln ab, und deshalb kam ich in das Haus Ihres Vaters. Die glänzend gelungenen Flüge mit der Usambaranit-Granate lassen mich an die Ausführbarkeit meiner weiten Reise glauben.«

»Sie wollen in das Eisgebiet vordringen?«

Der Deutsche lächelte. Um seinen Mund lag ein seltsamer Zug von Humor und gutmütiger Ironie. Er blickte in das gespannte Gesicht seiner jungen Begleiterin und sagte mit einer absichtlich übertrieben geheimnisvoll klingenden Zurückhaltung: »Oh, Sie werden es niemals erraten!« 125

»Wollen Sie hinabsteigen in das Herz der Erde? Zu den feurigen Herden? Ich habe von Plänen solcher Art in der Zeitung gelesen!«

»Nein, nein, Sie erraten es nicht!«

»Wollen Sie in die Meerestiefen und den Golfstrom ablenken, damit seine warmen Wasser die Küsten des frierenden Europa stärker umspülen, als eine riesige Warmwasserheizung?«

»Ei, was Sie gelehrt sind! Nein, auch das nicht! Sie raten vergebens!«

Elizabeth Hawthorn lachte. »Sie sind ein schlechter Mensch. Die Neugier sitzt uns Frauen nun einmal tief im Blute. Ich bin mit meiner Kunst zu raten am Ende und Ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert!«

»Sie sprachen vorhin von einem Landen an fernen Inseln, wo es still ist und all der Lärm unserer Kultur spurlos verschwunden ist. Zu einer solchen stillen Insel soll mich die Usambaranit-Granate tragen!«

»Wo liegt sie?«

»Sehr fern von hier, und doch können Sie sie deutlich vor Ihren Augen liegen sehen!«

»Herr Baumgart, Sie besitzen die Gabe, eine Sache mit geheimnisvollen Schleiern so zu verhüllen, daß man verzweifelt, sie je durchdringen zu können!«

»Ei, so schauen Sie doch hin zu der stillen Insel. Da droben schimmert sie im Sonnenlicht!«

Er wies mit der Hand hinauf in das tiefe Blau des Himmels, wo als ein schwaches, gelbliches Lichtwolkchen der abnehmende Mond hing. 126 Elizabeth Hawthorn folgte seinem Blick und seiner Hand und erkannte die im hellen Tageslicht erbleichende Rundung des alten Erdbegleiters. Sie lachte belustigt.

»Ja, wenn man dahin könnte! Aber ich antworte mit einem Zitat unseres gemeinsamen Freundes Goethe: ›Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht kein körperlicher Flügel sich gesellen!‹ Nun, ich reise mit zur stillen Mondinsel!«

»Das erstemal wohl besser nicht, denn noch ist auch diese Reise so gefahrvoll wie jene, die die ersten Weltumsegler unternahmen, um an dieses Kap zu kommen oder an das Land Amerika, fern im Westen. Aber vielleicht veranstalten Rackamers & Co. nach hundert Jahren schon Vergnügungsreisen zum Monde, wie sie jetzt solche nach dem Südpol unternehmen, in dessen Eiswüsten vor Jahrhunderten kühne Forscher zugrunde gingen!«

»Aber nun müssen Sie endlich sagen, wo Ihre Reise hingehen soll!«

»Sie wissen es bereits!«

»Sie sind ein hartnäckiger Spötter und machen mich böse! Ist das der Dank dafür, daß ich Sie an diesem schönen Morgen nach Green Point führte, oder wollen Sie auch mir gegenüber noch mit Ihren Plänen im Dunkel bleiben?«

Baumgart blieb stehen. Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, und sie fühlte, daß er im tiefsten Ernst sprach, als er sagte:

»Ich habe kein Geheimnis vor Ihnen. Es ist in der Tat meine Absicht, diese Nachbarwelt zu erreichen. Alles andere werden Sie in den nächsten Tagen und Wochen selbst erfahren. Was Ihnen und wohl den allermeisten 127 Menschen heute so unwahrscheinlich, so phantastisch vorkommt, wie eben alles, was einen ersten Schritt in bisher verschlossenes Land bedeutet, es wird später, wenn erst einmal der Anfang gemacht, der Bann gebrochen ist, so selbstverständlich sein wie eine Reise nach Australien, eine Fahrt im Flugzeug, ein drahtloses Telegramm aus fernsten Fernen!«

Elizabeth schwieg. Langsam schritten sie der Stadt zu, um die elektrische Schnellbahn zu erreichen. Tausend seltsame Gefühle und Vorstellungen wirbelten in ihrem Hirn. Kein Zweifel, der Mann an ihrer Seite sprach im Ernst von dieser Reise in das für sie unglaubliche, unmögliche Land der Unwahrscheinlichkeit, spann in der so tiefgründigen, so klaren, so weitschauenden Forscherseele diesen Gedanken, über den sie bei jedem anderen nur hätte lächeln können, der ihr vor acht Tagen noch so unwahrscheinlich erschienen wäre, daß sie nicht eine Sekunde verschwendet hätte, über seine Möglichkeit nachzudenken. –

Aber sie war Menschenkennerin genug, um zu sehen, daß hier kein Träumer, kein Phantast neben ihr wandelte, der irgendeinen bizarren Entwurf in die Oeffentlichkeit schleudern wollte, über den acht Tage die Zeitungen schrieben, eine Gedankenblase, die schillernd aufstieg, erregte, begeisterte, dann niedersank im ironischen Lachen der Mitwelt und zerstob. Hier war ein ganzer Mann, der bei aller Tiefe seines Empfindungslebens doch fern blieb von irrlichterierenden Traumwandeleien, und der Gedanke, den er spann, mußte also ausführbar sein, mußte im Bereich der Möglichkeit liegen.

Dann aber schritt sie an der Seite eines Menschen, der das Ungeheuerlichste wagen wollte, wagen würde; an der 128 Seite eines Menschen, der sich zum ersten Male hinauswagen wollte in das unbekannte, uferlose Meer des Raumes, ein Kolumbus der Sternenwelt!

Der Gedanke erregte sie, er jagte das Blut durch ihre Adern, und sie begriff plötzlich nicht mehr, wie dieser Mann so ruhig neben ihr herzuschreiten vermochte, mit ihr ruhig und geistvoll von Goethe sprechen konnte, von der Stille alter deutscher Landschaften, von alltäglichen Dingen. Das Ungeheuerlichste sollte geschehen durch ihn. – Vor ihrem Auge entwickelten sich mit wahnsinniger Hast seltsame Bilder. Sie sah diesen Mann eine jener Granaten besteigen, unter dem ungeheuren Beifall unabsehbarer Menschenmassen in den Aether empordringen, verschwinden als Punkt in Unermeßlichkeiten. Sie sah sich selbst in diesem Meer von Menschen stehen, sah, wie er von ihr allein noch durch einen letzten Händedruck Abschied nahm, sah lange noch sein ernstes Auge auf sich gerichtet und mit seinem die Augen all der Hunderttausende ringsum. – Und als schwirrendes Mückchen entschwand der glänzende Punkt im Himmelsblau. Mit ernstem Gesicht stand der alte Mond da droben, die Menschenmassen verloren sich in erregten Gesprächen nach allen Richtungen, nur sie allein stand in der drückenden Einsamkeit der weiten Ebene und starrte hinauf. Da verfinsterte sich der Himmel, der Mond wurde glutrot, sein altes gutmütiges Gesicht wurde zu einer drohenden Fratze. Ein leuchtender Punkt wurde im Sternengewimmel sichtbar, er schoß mit rasender Geschwindigkeit nieder, wurde zu einer glühenden Fackel, zerbarst in unermeßlichen Höhen, und seine Trümmer flogen brennend zur Erde. Eine Stimme rief in gräßlicher Todesangst aus der Höhe 129 ihren Namen, und ein verkohlender Körper schmetterte neben ihr nieder.

Sie wankte und schrie leise auf.

»Was ist Ihnen, Fräulein Hawthorn?«

Johannes Baumgart ergriff besorgt die Hände seiner Begleiterin. Sie erwachte wie aus einem Traum und senkte verwirrt den Kopf. Ihr Fuß scharrte den feinen Sand beiseite, und ihr Gesicht wurde glutrot, als sie zögernd und kaum vernehmlich flüsterte:

»Muß es sein? . . . Müssen Sie, gerade Sie diese Reise in das unentdeckte Land voll Unbegreiflichkeiten machen?«

Da verstand Johannes Baumgart, was in seiner Begleiterin vorging; er drückte leise diese kleine Hand und sagte einfach: »Es muß sein!«

»Und haben Sie niemand daheim, der Sie braucht, den Sie lieben, der ein Anrecht hat auf Sie, das Recht, Sie abzuhalten von diesem unerhörten Wagnis?«

»Niemand! Ich bin allein. Aber auch wenn es Menschen gäbe, die ein solches Anrecht hätten, es müßte zurücktreten vor dem größeren, das die Allgemeinheit an mich hat! Denken Sie an die Millionen Krieger, die in früheren Jahrtausenden hinauszogen in die Schlacht. Auch sie opferten sich dem Wohle des Ganzen, opferten sich einer Idee. Nur die wenigsten von ihnen waren Menschen von größerer Bildung, waren erfüllt vom Ethos, und dennoch taten sie, was sie für ihre Pflicht hielten. Ich wäre nicht der, der ich bin, wenn ich nicht täte, was ich muß, was das Gesetz meiner eigenen Persönlichkeit mir vorschreibt.«

»Und es gibt niemand, der Sie zurückhalten könnte?« 130

»Niemand! Niemand, als die rein technische Unmöglichkeit, die Pläne auszuführen, die dann eben einer späteren, fortgeschritteneren Zeit vorbehalten bleiben müßten. Doch glaube ich, es läßt sich wohl mit unseren Mitteln machen, und alles ist in langer, mühseliger Arbeit reiflich überlegt, von befreundeter Seite auf seine rein technische Seite hin aufs sorgsamste nachgeprüft, da und dort verbessert. Es wird hier aufs neue geprüft werden. Ihr Vater selbst und einer der erfahrensten Ingenieure dieses Landes werden das ihre tun, den Flug ins Unbekannte, dennoch mir mehr Bekannte, als Sie wähnen, gelingen zu lassen. – Aber erschrecken Sie nicht über meine Pläne, belasten Sie Ihr mir freundlich gesinntes Herz nicht mit erdachten Schrecken und Gefahren!«

»Und dennoch! Sie mögen mich klein schelten . . . ich wünschte, es gäbe eine Seele auf der Welt, die Sie von Ihrem Vorsatz abbrächte!«

»Es gibt sie nicht und könnte sie nicht geben. Sie müßte höherem Gesetz weichen und höherer Liebe, der zur Menschheit! Begriffe sie das nicht, so verkörperte sie mehr den Egoismus als Liebe oder Freundschaft!«

»So denken Sie an Goethes Worte:

›Mit den Göttern
Soll sich nicht messen
Irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsicheren Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.‹« 131

»Glauben Sie mir, ich empfinde tief die Warnung, die der Große hier ausgesprochen hat, aber nicht die Götter gilt es hier zu versuchen, sondern mit Ernst und Umsicht auf Grund langer Forschungen eine Tat zu wagen, zum Wohle der Menschheit. Lassen Sie mich mit einem anderen Goethewort Ihnen antworten:

›Ein Gott hat jedem seine Bahn vorgezeichnet,
Die der Glückliche rasch zum freudigen Ziel rennt.
Wem aber Unglück das Herz zusammenzog,
Er sträubt vergebens sich gegen die Schranken
Des ehernen Fadens, den doch die bittere Schere
Nur einmal löst.‹

Und nun reichen Sie mir Ihre liebe Hand. Ich danke Ihnen für die gütige Anteilnahme an meinem Geschick und weiß sie wohl zu schätzen. Vielleicht kommt einmal die Zeit . . .‹‹

Johannes Baumgart machte eine verlegene Bewegung. Er hielt noch immer die Hand seiner Begleiterin und sah in Gedanken versunken in die Ferne. Dann strich er sich, erwachend, die Haarsträhne aus der Stirn, drückte noch einmal die kleine Frauenhand und sagte:

»Lassen Sie uns nicht mehr darüber reden. Alles kommt wie es kommen muß, denn nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden!«

Die Sonne stand fast im Mittag. Ein rötlicher Dunstschleier umgab sie. Merkwürdige violette Wolken stiegen im Süden auf, und ein Unwetter schien sich zusammenzuziehen.

Da schritten die beiden Wanderer schnell und wortlos der nahen Stadt zu. – 132

 


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