Bruno Hans Bürgel
Der »Stern von Afrika«
Bruno Hans Bürgel

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4.

Strahlend lag die Morgensonne über dem mächtigen Häusermeer von Sansibar. Ein frischer Seewind versprach einen erträglich heißen Tag, und das war heute, wo sich aus dem Norden und Süden des weiten Reiches hier tausend Abgeordnete des Volkes, eine Unzahl hoher Staatsbeamten und viele angesehene Persönlichkeiten einfinden sollten, von besonderem Wert.

Die langgedehnte Stadt, dieser Hauptsitz der Regierung, der obersten Verwaltungsbehörden der Vereinigten Staaten von Afrika, mit ihren prunkvollen Amtsgebäuden, ihren weiten, wohlgepflegten Anlagen, die die Reichhaltigkeit eines Botanischen Gartens boten, diese Stadt der spiegelglatten, schon am frühen Morgen von summenden Menschenmassen, von überfüllten Bahnen und pfeilschnell dahinschwirrenden Schnellwagen erfüllten Prachtstraßen, hatte ihren großen Tag.

Eine besondere Botschaft des Präsidenten hatte den Zentralrat und die gesetzgebenden Körperschaften der Generalräte und Abgeordneten zusammenberufen. Wichtige Beschlüsse standen bevor. Afrika hatte es übernommen, dem bedrohten Europa beizuspringen, wie die übrigen großen Staatenbünde in den anderen Erdteilen sich damit beschäftigten, den Norden Amerikas, den Norden Asiens und den Süden des südamerikanischen 89 Festlandes zu schützen. Darüber hinaus aber galt es, auf die eigene Zukunft bedacht zu sein, da sich auch in Afrika selbst da und dort klimatische Folgen der einsetzenden Eiszeit bemerkbar machten. Es galt, das ganze Problem in seiner Tiefe zu erfassen, die Lage darzutun, mögliche Hilfsmittel zu erwägen.

Von den mächtigen Hafenstädten Bagamojo, Saadani, Pangani, Daressalam strebten unablässig die flinken elektrischen Fähren dem Hafen von Sansibar zu, und Flugschiff um Flugschiff sank drüben in Bagamojo, jenseits des Kanals, wie ein ermatteter Vogel auf dem weiten Platz nieder. Staatsräte, Abgeordnete, hohe Reichsbeamte, Auslandsvertreter, Journalisten, geladene Sachverständige strebten dem Parlament zu.

Auf dem sanft ansteigenden Hügel, dem prächtige breite Straßenzüge, einen vielstrahligen Stern bildend, zuführten, erhob sich der imponierende Palast. Seine wundervolle Kuppel, aus vergoldeten Platten und grünlich schimmernden Kacheln aufgebaut, glänzte weithin in der Morgensonne. Von ihrer Spitze wehte die schwarzweiße Fahne mit dem Kreuz und dem Halbmond. Ein Wald tropischer Gewächse umgab als grüner Kranz den steinernen Koloß. Ein Gewimmel von Menschen belebte die zu den Eingängen führenden breiten Treppen. Aus einem farbensprühenden Boskett tropischer Blumen stieg die rauschende Säule eines Springbrunnens zwanzig Meter hoch empor. Seine Spitze wurde im Winde zu einem zarten Schleier silberner Tröpfchen. Seitwärts ragte auf schwarzem Sockel der wundervolle Bronzekopf des ersten Präsidenten des Landes, van der Valk, der vor vierhundert Jahren die letzten Schwierigkeiten 90 beseitigte, die sich dem Zusammenschluß aller Völker dieses Weltteils entgegenstellten.

Viele politisch Interessierte und noch mehr Neugierige umgaben den weiten Platz, um die Anfahrt der hohen Staatsbeamten, der Abgeordneten, der fremdländischen Gesandten zu betrachten. Kaum ein Sicherheitsbeamter war weit und breit zu erblicken, denn tief wurzelte in diesem freien Volk die Achtung vor dem selbstgegebenen Gesetz, die Vernunft, die den Bedürfnissen des öffentlichen Lebens mit Selbstverständlichkeit entgegenkommt.

Ein einfacher dunkler Schnellwagen, dessen schwarzlackierte Flanken in der Sonne spiegelten, hielt am Fuß der Treppe. Der Fahrer sprang ab und öffnete den Schlag. Ein alter Herr, bartlos, das frische, gerötete Gesicht von einem weißen Haarkranz umrahmt, wurde sichtbar. Etwas gebeugt und schwer auf den dicken Stock gestützt, schritt er langsam der Treppe zu. Die Menge zog die Hüte, da und dort auch ein Grußwort. Der alte Herr winkte freundlich lächelnd nach links und rechts und stieg die Stufen empor.

»War er das?«

»Ja, mein Sohn, das war Seine Hohe Ehren, der Präsident unseres Landes, Cornelius van Zuylen! – Sieh da, jener Herr dort mit der großen Aktentasche und dem tiefbraunen Gesicht ist der Vertreter der Eingeborenen-Völker aus dem Zentrum unseres Reiches, Generalrat Umararu, und die Dame hinter ihm ist eine Abgeordnete aus der Nordlandschaft Tripolis, Madame Birrha.«

Ein scharfes Knattern tönte aus der Ferne herüber, eine Bewegung lief durch die Menschenmassen, und die Hälse reckten sich. Von Norden her kam in einem großen 91 Bogen pfeilschnell ein glänzendes Ding durch die Luft geflogen, das schnell an Größe zunahm.

»Da sieh hin! Nein dort, über der Dachspitze! Das ist eines der neuen Granaten-Flugzeuge. Neulich kam gegen Abend ein ganz großes, das war hoch droben im eisigen Europa. Sieh, jetzt senkt es sich nieder zum Flughafen Bagamojo. Schau da, die weiße Kette von Explosionswolken hinter ihm!«

Eine Gruppe von Damen stand seitwärts der großen Fontäne. Es waren zumeist Ausländerinnen, die dem interessanten Schauspiel der Versammlung der Räte dieses Landes beizuwohnen gedachten. Der Konferencier eines großen, berühmten Fremdenhotels machte den berufsmäßigen Führer und Erklärer.

»Achtung, meine Damen! Etwas, was Sie besonders interessieren wird!« Ein tiefrot lackierter Schnellwagen neuester Konstruktion brauste in einer kühnen Schleife über den Platz, hielt mit einem Ruck vor der riesenhaften Freitreppe. Eine Dame lenkte ihn. Nun sprang sie ab. Aus dem Wagen stieg ein junges Mädchen, überreichte der eleganten Wagenlenkerin eine zierliche Aktentasche.

Alle Augen richteten sich jetzt auf die Neuangekommene, die ihren Wagen selbst gesteuert. Ein Flüstern ging durch die Menge, und besonders über die Züge der weiblichen Zuschauer ging ein Lächeln der Genugtuung.

»Wissen Sie, wer das ist, meine Damen?« sagte der Hotelführer zu den Fremden. »Das bedeutendste weibliche Mitglied des Staatsrates, Madame Chadija Effrem-Latour. Die Vertreterin der Nil-Länder. Eine Schönheit ersten Ranges, und dabei eine der geistreichsten Frauen dieses Erdteils.« 92

»Offenbar keine Dame europäischer Abstammung, denn dieses tiefschwarze Haar, diese feurigen dunklen Augen, diese bronzefarbene Tönung des Gesichts . . .«

»Ganz recht! Die Effrem-Latour stammt, wie schon der Name erkennen läßt, väterlicherseits von Arabern ab. Ihr Vater war lange Zeit Bürgermeister von Alexandria. Ihre Mutter war eine Südfranzösin, Madame Latour.«

»Eine prächtige Gestalt! Dieser Wuchs, diese geschmeidigen Bewegungen, die zarte, feingebogene Nase . . .«

»Und dabei jede Bewegung voll Energie, der Blick klar und in die Tiefe dringend . . . Das ist wohl ihre Sekretärin, mit der sie sich da unterhält?«

»Ganz recht! Nebenbei gesagt, ist Madame Chadija Effrem-Latour kaum neunundzwanzig Jahre alt und trotz ihrer großen Schönheit noch ledig. Ich glaube, sie ist uns Männern zu klug und zu energisch!«

Die Damen lachten!

»Kann schon sein,« sagte mit bedeutsamem Blick eine nicht mehr junge Amerikanerin. »So etwas liebt die bärtetragende Menschheit nicht besonders!«

»Zudem ist Madame als Rednerin gefürchtet. Man muß ihr lassen, daß sie eine gute Klinge schlägt. Sie ist gewöhnlich bei der Opposition. Nebenbei schlägt sie dem Vater nach. Vertritt besonders die Interessen der muselmanischen Bevölkerung!«

»Sehr interessant!«

»Besonders amüsant sind immer die Wortgefechte, die sie mit Sir Archibald Plug hat. Ein Seebär, mit derbem Humor, der sich vor der Madame mit den schönen Augen und den scharfen Krallen nicht fürchtet! Neulich stellte ein Witzblatt die beiden als Hund und Katze dar, die 93 gemeinsam an einem Bratfisch zerrten, aber nach verschiedenen Seiten!«

Längst war die interessante Staatsrätin in dem hohen Portal des Regierungspalastes verschwunden. Neue Ankömmlinge fesselten den Blick. Der rundliche Ismail Tschack, Herr Praga, der Vertreter der Vereinigten Staaten von Europa, Tianlung, der Gesandte der Republik China, Mr. Blackburne, der Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika, Hunderte von männlichen und weiblichen Abgeordneten, berühmte Gelehrte und bekannte Zeitungsleute. Das wogte hin und her, erfüllte den Platz, die Treppen mit festlichem Gedränge. Höher empor stieg die Sonne, der Springbrunnen wurde zu einem Strahl geschmolzenen Silbers, und die hohe Kuppel von Gold und blinkenden Steinen leuchtete mit magischem Glanze über die Stadt hinweg.

* * *

Der weite Parlamentssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt, nur sehr wenige Abgeordnete und Staatsräte waren dem Rufe nicht gefolgt. Ein erregtes Summen, ein freundliches Begrüßen hinüber und herüber. Gegenüber der schon wieder drückend werdenden Hitze auf den Straßen herrschte hier eine angenehme Kühle, erzeugt durch Ströme gekühlter Luft, die ein verborgenes Röhrenwerk durchbrausten. Von der Höhe fiel durch ein aus hunderttausend Prismen zusammengesetztes Oberlicht eine prächtig abgetönte Helle bis in die entlegensten Ecken des Riesenraumes. Rings an den Wänden leuchteten aus einem Gewirr von Blattpflanzen die 94 Marmorbüsten der Großen dieses Reiches, die hinübergegangen waren in das Land der Schatten. Im Hintergrunde, auf einer kleinen Estrade, stand der uralte, mit rotem Stoff überzogene Bronzesessel des Präsidenten. Ueber ihm hing das mächtige Banner des Landes, und aus dem schwarz und weißen Seidenfeld leuchteten Kreuz und Halbmond, aus glitzernden Metallperlen gestickt, mystisch hervor. Rechts und links standen die Ministertische, vor ihnen zogen sich die Bänke der Generalräte und Staatsräte hin, und dann kamen in immer breiter werdenden Kreisbogen die tausend Sessel der Abgeordneten dieses Landes.

In Logen links und rechts sah man die Vertreter fremder Länder und die Journalisten, und die Balkone ringsum schienen brechen zu wollen unter der Last des Publikums.

Wer nennt die Völker, zählt die Namen, die alle hier zusammenkamen! Die Abgeordneten saßen weder nach politischen Gruppen noch nach Landschaften zusammengefaßt, sondern mit Absicht bunt durcheinandergewürfelt. Die alte Zusammenfassung in Fraktionen galt für überlebt. Hier sollte jeder ohne Beeinflussung nur nach seiner besten Ueberzeugung für das Wohl des Landes wirken, und Parteiklüngeleien waren streng verpönt!

Der goldene Zeiger der großen Uhr sprang auf die Zwölf. In diesem Augenblick öffneten sich kleine Türen im Hintergrunde, und die Minister strebten ihren Tischen zu. Es war zehn Uhr, die denkwürdige Sitzung begann. Einen Augenblick später leuchteten links und rechts des Banners grüne Lampenkränze auf. Aus einer kleinen Nische trat Seine Hohen Ehren der Präsident, Herr 95 Cornelius van Zuylen, hervor, schritt, das weiße Haupt freundlich nach links und rechts neigend, auf seinen Sessel zu.

Tiefe Stille plötzlich. Alle Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.

Eine Sekunde später sieht man auf einer kleinen Empore hundert weißgekleidete Knaben und Mädchen erscheinen, mit grünen Kränzen im Haar. Lautlos fast sind sie eingetreten. Gesichter vom reinsten Weiß bis zum tiefsten Schwarz des Ebenholzes. Es sind Waisen aus allen Landschaften des großen Erdteiles, und sie verkörpern hier die Einheit, die Zusammengehörigkeit, das Brüderliche, Schwesterliche eines mächtigen Staates. – Da rauscht aus verborgenen Höhen eine wundervolle Musik durch den weiten Raum, ein kurzes Vorspiel, und nun fallen jene hundert jubelnden Kinderstimmen ein, und feierlich klingt das Lied vom Vaterlande durch den Saal, das Lied vom grünen Kranz der Liebe und Duldung, der Kreuz und Halbmond umschlingt und jedwedes guten Menschen innerstes Glauben und Empfinden. Das Lied von der Gleichheit alles dessen, das Menschenantlitz trägt, das Lied vom Rechte, das mit jedem geboren, und von der Kraft, die in der Einheit aller Stämme liegt, die schaffen, mit Kopf und Hand, zum Wohle des Ganzen. –

Diese Afrikander des Jahres 3000 sind klare und kühle Tatmenschen, aber in diesem Augenblick, da das ganze Riesenreich, versinnbildlicht durch seine Kinder aus allen Landstrichen, das hohe Lied vom Vaterlande singt, schlagen ihre Herzen schneller und höher, und sie sind voll Feierlichkeit. 96

Das Lied verrauscht, die Musik verstummt, die Kinder verschwinden lautlos wie sie gekommen sind. Jetzt tönt die Stimme des Präsidenten durch den Raum:

»Meine Damen und Herren, Generalräte, Räte und Abgeordnete des Volkes der Vereinigten Staaten von Afrika! Ich heiße Sie willkommen zu gemeinsamer Arbeit! Möge der Segen aller guten Gewalten bei unserm Werke sein!«

Das ist eine Formel, die immer wiederkehrt bei Eröffnungen des Parlaments. – Die Versammlung, die bisher stehend diesen Worten und der Hymne lauschte, nimmt ihre Sitze ein. Und aufs neue vernimmt man die Stimme des Präsidenten. Der alte Herr spricht nicht laut, man könnte ihn nicht bis in die entferntesten Ecken hören, wenn nicht ein sinnreich angeordnetes System lautsprechender Telephone die Worte bis zu allen Plätzen trüge. Aber auch in den fernsten Städten des Erdteiles wird man in diesem Augenblick die Botschaft des Oberhauptes hören, denn der Fernhörer gibt sie hinüber über Berge, Steppen und Ströme.

»Meine Damen und Herren, Generalräte, Räte und Abgeordnete! Die Regierung des Landes hat es für notwendig gehalten, Sie hier zusammenzurufen, um Sie über die Allgemeinlage, die notwendig werdende großzügige Hilfsaktion zugunsten Nordeuropas, über Sicherungsmaßnahmen im eigenen Lande, über die Zukunft und die vielleicht möglichen Maßnahmen zur Abwendung kommender Gefahren zu orientieren und Ihren Rat einzuholen.

Sie wissen, daß all unsere Sorgen eine gemeinsame Ursache haben: die kosmische Staubwolke, 97 in der unser Erdball dahintreibt, und die durch Klimaänderungen die Lebensbedingungen weiter Strecken der Erde verändert, erschwert hat. Die internationalen Verhandlungen haben dazu geführt, daß jedem großen Staatswesen in günstigerer Lage die Sorge für die zunächst gelegenen, vom Eise bedrohten Teile der Welt übertragen wurde. Unser Land hat es demgemäß übernommen, Europa beizuspringen. Die Verhandlungen mit Seiner Hohen Ehren dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa sind zum Abschluß gelangt. Herr Generalrat Ismail Tschack, den wir zu einer Besichtigungsreise nach dem Norden sandten, hatte die Ehre, nach Rom eingeladen zu werden, und brachte uns die Angaben über alle notwendig werdenden Hilfen mit. Er hat sich auch selbst während eines weitgreifenden Fluges mit der Granate ein Bild machen können von der überaus traurigen Lage Nordeuropas. Seine interessanten Berichte werden durch die fachmännischen Ausführungen des Geologen der Regierung, des Herrn Vanderstraßen, unterstützt.

Um Ihnen nun kurz zu sagen, was wir zu leisten haben, mache ich folgende Angaben, die ich besonders zu beachten bitte: Es werden notwendig Lebensmittellieferungen für insgesamt 80 Millionen Europäer auf zunächst unabsehbare Zeit. Außerdem müssen in unserem Staate rund 20 Millionen Europäer, die die Naturereignisse aus ihrer Heimat vertrieben haben, angesiedelt werden. Sie werden dadurch in die Lage versetzt, hier selbst ihre Arbeitskraft einzusetzen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Immerhin ist für sie Platz, Nahrung und Beschäftigung zu besorgen, was eine große Fülle von Arbeit und viel 98 Sorge und Verantwortung für die Regierung und ihre einzelnen Ministerien mit sich bringt.

Es ist unsere Pflicht als Kulturmenschen, als Bewohner eines großen Erdteiles, den einst Europäer aus vieltausendjährigem Schlaf zogen, alles zu tun, um unsern bedrängten Menschenbrüdern beizuspringen, und wir erfüllen diese Pflicht mit Hingebung und Selbstverleugnung, doch dürfen wir uns auch nicht dem Gedanken verschließen, daß Gefahren damit verbunden sind, wenn Millionen landfremde Männer und Frauen sich als Gäste auf unabsehbare Zeit unserer Gemeinschaft einfügen, die in ihren Einrichtungen und Gesetzen sehr stark von europäischen abweicht. –

Noch eine zweite große Sorge bedrückt uns! Zur Zeit sind wir in der Lage, bei sparsamer Wirtschaft und erhöhter Bebauung des Bodens und bei weiterem Ausbau unserer Viehzucht diese Sorge für insgesamt 80 Millionen Menschen mitzuübernehmen. Aber wir wissen nicht, wie lange wir es können. Die Eiszeit wird nach den Gutachten der gelehrten Kommissionen noch zwei Jahrtausende dauern, und ihre Wirkungen nehmen zu. Schon jetzt zeigen sich in höher gelegenen Gegenden unseres Landes Spuren beginnender Vergletscherung. Was wird werden, wenn auch unsere Ernten zurückgehen, auch bei uns die Not heraufsteigt? Was wird werden, wenn wir nicht mehr uns, geschweige den Fremden helfen können? Ich will Ihre Herzen nicht bedrücken, nicht Ihre Tatkraft durch Ausmalung dunkler Bilder lähmen, aber es könnte sein, daß eine Völkerwanderung von Norden und Süden äquatorwärts einsetzt nach tausend Jahren, die zu schweren Kämpfen 99 führen muß, zu Kämpfen, die der Hunger grausamer gestalten würde als diejenigen, von denen uns die Geschichtsbücher vergangener Jahrtausende berichten!« –

Hier ging eine lebhafte Bewegung durch die Versammlung. Es war nicht üblich, die Rede des höchsten Beamten des Reiches durch Zwischenrufe oder Bemerkungen zu unterbrechen, aber die Bewegung zeigte den starken Eindruck, den seine Worte machten. –

»Ich nehme wahr, daß Sie die Schwere der Probleme, die die Zukunft hinter Schleiern verbirgt, fühlen. Wir müssen alles tun, kommendem Unglück vorzubeugen, damit unsere Nachkommen uns nicht einer Unterlassung zeihen können. Ob es Mittel gibt, dem Schicksal zu entfliehen, wissen wir nicht; noch sind keine bekannt. Um aber alle Köpfe anzuregen, alle Kräfte zu spornen, hat die Regierung der Vereinigten Staaten von Afrika eine Milliarde Franken als Preis ausgesetzt für ein Mittel, das – von einer wissenschaftlichen Kommission als geeignet erachtet, zum Ziele zu führen – die Folgen der Eiszeit oder sie selbst, wenn etwas Derartiges überhaupt denkbar ist, beseitigen kann!

Dieses Land, dieser Erdteil, den man einst den dunklen nannte, will alle Kräfte ansetzen, um der Menschheit zu helfen. Vielleicht kann von ihm das Licht kommen, das einer besseren Zukunft leuchtet!«

Der alte Herr da vorn trat vom Tisch zurück, nahm seinen Bronzesessel auf der Estrade ein. Ein Beifallsrauschen stieg auf, prallte von den Marmorwänden, den Prismenkreisen des Oberlichtes ab, verebbte.

Eine Sekunde später leuchtete hoch droben über dem Sitz des Präsidenten eine rote elektrische Lampe auf, das 100 Zeichen, daß dem Hause aus der Ferne eine wichtige Mitteilung zugehen sollte. Erwartungsvolle Stille trat ein.

Der Vorsitzende des Parlaments gab das Zeichen, daß man zu hören wünsche. Eine kräftige Stimme tönte durch den Lautverstärker hoch droben von der Decke her durch den Saal:

»Seine Hohen Ehren der Präsident der Vereinigten Staaten von Europa, Herr Basinzani zu Rom, bittet der Versammlung seinen Gruß zurufen zu dürfen!«

»Wir erwarten die Worte Seiner Hohen Ehren!«

Klar und scharf drang aus gewaltiger Ferne jedes Wort aus der Höhe herab:

»In dieser bedeutsamen Stunde, in der sich Seine Hohen Ehren der Präsident von Afrika, die Räte und Abgeordneten dieses mächtigen Staates versammeln, um über die unserm Reiche und seinen Bewohnern zu gewährende Hilfe zu beraten, ist es mir ein Bedürfnis, der Regierung und dem Parlamente den Gruß des europäischen Staatenbundes zu übermitteln und zu danken für das Wohlwollen, das unsere Sache dort findet. Es ruhe Segen auf Ihrem Werk!«

»Die Regierung und das Parlament dankt Seiner Hohen Ehren. Es soll alles geschehen, um unsern Brüdern im Norden der Weltkugel zu helfen!«

Die rote Lampe erlosch. Der Ernährungsminister, Samuel Machai, ein wundervoller Charakterkopf aus dem großen jüdischen Volksstamme zu Palästina, der Stolz seiner Landsleute und Glaubensgenossen, erhob sich, strich seinen Patriarchenbart, rückte die Brille auf der starken Adlernase zurecht und begann in 101 übersichtlicher Weise das Hauptproblem der Angelegenheit, die Ernährungsfrage und all ihre Schwierigkeiten zu beleuchten. Auf einer Milchglastafel in der Wand erschienen, von einem verborgenen Apparat entworfen, Zahlen und Kurven, statistische Karten und bewegliche Zeichnungen, die alle Fragen in anschaulichster Weise illustrierten, das Wort unterstützten. Man sah, daß die Ernten im Süden und Norden zurückgegangen waren, daß die Erträgnisse in den Aequatorgebieten gestiegen waren. Eingehende Berichte über neue Anbaugebiete, über Maßnahmen zur Hebung der Viehzucht folgten. Samuel Machai forderte, daß ein großer Teil der Einwanderer für die Landwirtschaft herangezogen würde, im Interesse aller.

Er legte aber auch großen Wert darauf, daß neue Versuche über Erzeugung künstlicher Nahrungsmittel angestellt werden müßten, und legte dem Minister für Fortschritte in Wissenschaft und Technik nahe, hier alle Kräfte anzusetzen.

Der Minister für das Gesundheitswesen wies darauf hin, daß vor allem auch die Geeignetheit der Europäer zur Ertragung des in den verschiedenen Gegenden herrschenden Klimas berücksichtigt werden müsse, um Epidemien zu vermeiden.

Der Finanzminister und der Minister für Rechtspflege ergingen sich in längeren Ausführungen über wirtschaftliche Maßnahmen und über notwendige Gesetze für die Einwanderer.

Generalrat Ismail Tschack hielt einen Vortrag über seine Reise und zeigte kinematographische Aufnahmen des vereisten Gebietes, die allgemeines Interesse erregten. 102

Nunmehr erhob sich Herr Albarnell, der Minister für Wissenschaft und Technik, und mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte man seine Rede:

»Die von mir eingesetzte wissenschaftliche Kommission hat mich in die Lage versetzt, Ihnen folgende Mitteilungen zu machen. Die kosmische Staubwolke hat eine solche Ausdehnung, daß ihre letzten Ausläufer erst nach rund 2000 Jahren von der Sonne und Erde passiert werden. Unsere beiden bedeutendsten Fachmänner, Herr Rawlinson von der Kap-Sternwarte und Herr Ben-Haffa von der Sternwarte zu Kairo, weichen zwar um rund 200 Jahre in ihren Berechnungen voneinander ab, aber das ist schließlich ein Gelehrtenstreit, der an der Sache selbst wenig ändert. Zweieinhalb Jahrtausende wird auf alle Fälle die Eiszeit noch dauern. Ohne Zweifel wird sie an Stärke zunehmen, da die Temperatur immer mehr sinken muß, erst wieder steigen kann, wenn die Sonnenstrahlen nicht mehr durch den Staubschleier behindert werden.

Nun stimmen aber beide Gelehrte darin überein, daß die Wolke an verschiedenen Stellen verschieden dicht ist. Die Sonnenstrahlung wird also, wenn wir durch die dünneren Schichten der Wolke fahren, wieder zunehmen. Es ist Ihnen bekannt, daß vor vierzig Jahrtausenden die letzte Eiszeit auf Erden zu Ende ging, und deutlich ist zu erkennen, was bereits vor tausend Jahren festgestellt wurde, daß auch während dieser Eiszeit wärmere und kältere Perioden abwechselten. Das ist also auch bei uns zu erwarten und ein schwacher Trost in unserer Lage.

Mittel zur Abwehr der Eiszeit gibt es nicht, denn wir können die Bewegung der Erde im Raum nicht ändern, sie nicht aus der Staubwolke entfernen. Ob es aber 103 möglich sein wird, durch bestimmte Maßnahmen auf Erden den Wirkungen der Vergletscherung entgegenzuarbeiten, ist höchst unwahrscheinlich. Immerhin muß man alle irgendwie brauchbaren Gedanken und Pläne, die darauf hinausgehen, unterstützen, und aus diesem Grunde ist ja auch die hohe Summe von einer Milliarde Franken ausgesetzt worden. Von einer Seite ist der Gedanke ausgesprochen worden, die Wärmequellen des Erdinnern, die wir ja jetzt schon in unseren Tiefenstollen für die Industrie verwenden, mittels großer Sprengungen bloßzulegen und zur Erwärmung Nordeuropas zu verwenden. Eine Kommission von Geologen und Technikern prüft diesen zunächst wenig durchführbar erscheinenden Gedanken auf seine Realisierbarkeit.

Sehr wichtig jedoch ist die Frage, ob es nicht endlich gelingen könnte, auf chemischem Wege Nahrungsmittel herzustellen, die der menschlichen Natur zuträglich sind. Hier sind große Versuche im Gange. Das von dem Südamerikaner Corella erfundene künstliche Nährmittel hat wieder verboten werden müssen, da es bei längerem Gebrauch schwere Erkrankungen hervorruft. Hoffentlich gelingt es den Chemikern unseres Landes, auf diesem Wege weiter vorzudringen. Wir tun, was wir nur irgend können!«

Herr Albarnell trat ab. Seine Ausführungen hatten nicht sehr befriedigt, wie ein unverkennbares Murren und einige Zwischenrufe bewiesen.

In diesem Augenblick verließ Madame Chadija Effrem-Latour ihren Sitz und schritt mit der ihr eigenen eleganten Energie dem Rednerpult zu. Sie durchblätterte einen Augenblick ihre Notizen, strich eine Strähne des fast 104 blauschwarzen Haares aus dem rassigen, gebräunten Gesicht und begann mit ihrer wohltönenden, klaren Stimme:

»Die Räte und Abgeordneten dieses Landes haben zu den Eröffnungen der Regierung sehr viel zu sagen! Wir sehen besonders in der Einwanderung von zwanzig Millionen Europäern kein Glück für dieses Reich. Viele Rassen und viele Religionen wohnen hier einträchtig unter einem Banner, und man kann nicht von allen Bewohnern des kleinen Weltteils im Norden sagen, daß sie durchdrungen sind von der Gleichheit alles dessen, das Menschenantlitz trägt, obwohl wir heute das Jahr 3000 schreiben! Das ist nun einmal eine besondere Eigentümlichkeit der europäischen Menschen, und ich fürchte, daß sie diese Eigentümlichkeit nicht hinter sich lassen werden, wenn sie an das Südufer des Mittelländischen Meeres steigen!«

Hier unterbrachen zustimmende Zwischenrufe des Herrn Umararu und der Madame Birrha, sowie noch anderer Vertreter alteingeborener Stämme und Völker die Rednerin.

»Sie hören, daß ich mit dieser Befürchtung nicht allein stehe, und wir erwarten von der Regierung, daß sie Garantien schafft gegen alle Uebergriffe der Gäste.

Die Regierung scheint nicht auf dem Standpunkt zu stehen, den sie den Kindern dieses Landes im Moralunterricht der Schule beibringen läßt, nämlich, daß man nicht auf morgen verschieben soll, was man heute tun kann. Die kosmische Staubwolke ist, wenn ich nicht irre, schon einige Jahrhunderte unsere unerwünschte Begleiterin, es hätte die Milliarde Franken also schon vorher mit ihrem glänzenden Locken hervortreten können!« 105 Hier ließ es Sir Archibald Plug, der schon seit längerer Zeit unruhig auf seinem Sessel herumrutschte, keine Ruhe mehr. Wie der Hofhund jault und sich aufrichtet, wenn er das Kätzchen zierlich daherstreichen sieht, so kribbelte es dem guten Plug in allen Fingerspitzen, als er seine alte, liebe Gegnerin mit Seelenruhe vom Rednerpult her ihre Pfeile abschießen sah.

Dieser Archibald Plug war eine der drolligsten Figuren in der politischen Welt dieses Landes. Er machte seinem Namen, der in der englischen Sprache soviel wie Flaschenstöpsel bedeutet, alle Ehre. Wenn ein Name je seinen Mann deckte, so hier. Archibald Plug bestand aus zwei Kugeln. Einer kleineren, dem Kopfe, und einer größeren, an der einige nicht sehr bedeutende Abzweigungen Arme und Beine darstellten. Beide Kugeln waren insgesamt wenig größer als anderthalb Meter, obgleich Sir Archibald sich die erdenklichste Mühe gab, durch straffe und aufrechte Haltung den Eindruck eines Mannes von sechs Schuh Höhe zu erwecken. Sogar die Mittel der optischen Täuschung mußten ihm dienen. Er wußte, daß senkrechte Linien und Streifen einen Gegenstand länger erscheinen lassen, und so sah man den ehrenwerten Sir Plug Sommer und Winter mit einem merkwürdig gestreiften Anzug daherschreiten. Die Effrem-Latour hatte einmal unter dem schallenden Gelächter des Hauses erklärt, daß der Globus des Sir Archibald Plug nur Längengrade kenne, während man von einem alten Seemann eigentlich erwarten müßte, daß er auf der respektablen Wölbung seines Leibes auch die Breitenkreise nicht vergessen würde, um so mehr, als bei ihm mehr die Breite als die Länge eine Rolle spiele. 106

Der runde Kopf Sir Archibalds war rot wie der aufgehende Mond, und seinen Gipfel zierte ein Kranz weißer, borstiger Haare. Fügen wir hinzu, daß eine kräftige, gut getönte Nase, die die vielfache Befahrung nördlicher Breiten erkennen ließ, in denen der Glühpunsch auch im Jahre 3000 eine Rolle spielte, das Gesicht zierte, und daß ein paar vergnügt zwinkernde blaue Augen daraus hervorblitzten, so ist der Mann photographisch getreu dargestellt.

Sir Archibald Plug galt als ausgezeichneter Kenner aller seemännischen Angelegenheiten. Jahrzehntelang hatte er als Kapitän auf Regierungsschiffen und im Dienste großer Handelshäuser die Meere befahren. Er war daher auch von der Schiffahrt und Handel treibenden Bevölkerung des Kaplandes ins Parlament gesandt worden, als er sich mit dem fünfzigsten Jahre ein für allemal auf dem Lande »verankerte«. Eine Seele von einem Menschen, voll Humor und gesunder Weltanschauung, hatte er von jeher einen kleinen Pik auf die »Sandhasen«, wie er sagte, nämlich auf die Bewohner der Wüstenländer, Araber, Tripolitaner, Nilländer usw., die nach seiner Meinung eine bedeutendere Rolle im Staate spielten, als ihnen nach ihren Leistungen zukam. Das war eigentlich auch die tiefere Ursache all seiner mehr oder weniger harmlosen Sträuße mit Madame Effrem-Latour. In Wahrheit hätte jeder von beiden bedauert, wenn der amüsante Gegner seinen Sitz im Parlament aufgegeben.

»Wie gesagt,« wiederholte Madame nach einer Weile, »die Regierung hätte die Pflicht gehabt, schon eher etwas Großzügiges in der ja seit Jahrhunderten 107 bestehenden Situation zu tun. Sie rückt etwas spät mit ihrer Milliarde für welterlösende Köpfe hervor!«

Hier sträubte sich der weiße Schnauzbart im roten Gesicht Sir Archibalds, wie ein Truthahn kollerte er los:

»Ja, meinen Sie vielleicht, Madame, daß wir dadurch früher aus der vermaledeiten Wolke herausgekommen wären?«

»Wenn wir uns auf den Standpunkt des ehrenwerten Sir stellen wollten, brauchten wir den Preis überhaupt nicht auszusetzen, denn ist er zwecklos, so ist er es heute so gut wie vor hundert Jahren!«

»Nein, denn wir sind heute weiter in unseren Kenntnissen und Möglichkeiten!«

»Das vermag ich nicht einzusehen!«

»Es ist hübsch von Ihnen, daß Sie Ihre geringe Einsicht zugeben, verlassen Sie sich also mehr auf meinen Rat, denn ich bin bedeutend älter als Sie.«

»Das ist aber auch der einzige Vorzug, den Sie haben. Sie dürfen sich aber nicht mit einem Stückfaß Wein vergleichen, das durch langes Lagern wertvoller wird!«

Ein heiteres Lachen ging durch den weiten Raum, aber schon blinkten ringsum die grünen Lampen auf, die zur Ruhe und zur Beendigung persönlicher Bemerkungen mahnten.

So kam Sir Archibald um seinen Gegenhieb. Aber schon zog die schöne Chadija aufs neue vom Leder und hatte plötzlich die volle Aufmerksamkeit der höchsten Beamten wie der Abgeordneten und des Publikums.

»Der Minister erklärte, es seien ihm bislang keine Vorschläge bekannt geworden, wie man in großzügiger Weise der Eiszeit begegnen könne. Ist es ihm oder 108 überhaupt der Regierung bekannt, daß in unserm Reiche ein hervorragender europäischer Gelehrter, ein Deutscher, mit Namen Johannes Baumgart eingetroffen ist, der mit einer kühnen und großartigen Idee umgeht, die sich auf unser Problem bezieht, und daß dieser Mann die Unterstützung der Regierung erbittet?«

»Die Regierung weiß nichts von diesem Herrn und seinen Plänen!«

»Nun, so weiß die Regierung weniger als die Zeitungen, denn die letzte Ausgabe des ›African Herald‹ bringt bereits alle Einzelheiten, und auch Sir Rawlinson, der Direktor unserer größten Staats-Sternwarte, hat sich bereits darüber geäußert, ebenfalls in der genannten Zeitung, von der ich gern ein Exemplar für zehn Cent der nichts ahnenden Regierung zur Verfügung stelle!«

Die Effrem-Latour hielt eine Zeitung empor und sah mit mokantem Lächeln zum Ministertisch herüber. Die Herren waren einigermaßen verblüfft, und besonders Sir Albarnell wurde ein wenig verlegen. Das Haus selbst war unruhig und hielt mit der Kritik nicht zurück.

»Diese zierliche Wüstenkatze,« sagte Archibald Plug zu seinem Nachbar, einem gesinnungsverwandten Alt-Holländer, »da hat sie wieder einen guten Knochen ausgegraben. Ein Dreideibelsweib!«

Der Minister erhob sich.

»Da Madame nun einmal im Besitz dieser uns unbekannten Kenntnisse ist, bitte ich die Staatsrätin, uns das Wesentliche mitzuteilen. Es ist allerdings sonderbar, daß der betreffende Forscher sich nicht zuerst an die Regierung wendet, statt an die Zeitungen!« 109

»Ich komme dem Wunsche nach und will den Gedankengang des deutschen Gelehrten kurz entwickeln. Er ist der Ansicht, daß sich auf allen Gestirnen das Leben im großen und ganzen gleich abspielen wird und abgespielt hat. Auch auf dem uns so nahen Monde, meint er, haben früher Menschen gelebt, und sie sind infolge des Kälterwerdens der Mondwelt, endlich auch infolge anderer Erscheinungen zugrunde gegangen. Jedenfalls haben sie sich viele Jahrtausende lang mit der Kälte auseinanderzusetzen gehabt und werden entsprechend Maßnahmen getroffen haben.

Wenn es nun gelänge, zum Monde emporzufliegen, so wäre es möglich, dort Spuren dieser Einrichtungen zu finden. Von den ausgestorbenen Mondmenschen könnten wir unter Umständen wichtige Lehren empfangen über unsere eigene Lage, unsere Zukunft. Nun, dieser Herr Baumgart will die Reise unternehmen, und zwar mittels eines Flugzeuges, gleich unserer neuen Granate. Hierzu erbittet er die Hilfe unserer Regierung. Jedenfalls eine kühne Idee. Ob sie zu verwirklichen ist, mögen die Fachleute entscheiden!«

Eine starke Bewegung ging durch die Versammlung. Ueberall unterhielt man sich, tauschte Ansichten aus, machte Scherze über den absonderlichen Plan. Die Minister steckten die Köpfe zusammen, Sir Albarnell machte erregte Armbewegungen.

Inzwischen entspann sich ein lautes Zwiegespräch zwischen Madame Effrem-Latour und Sir Archibald Plug.

»Madame, das sind wüste Wüstenpläne! Wenn es nicht im ›African Herald‹ stände, würde ich glauben, 110 arabische Märchenerzähler hätten Ihnen das in Ihrer Heimat, dem Lande der Fata Morgana, zugeraunt!«

»Wir sind gewohnt, Sir, daß Leute, die mit der Zeit nicht mitschreiten, alles Neue als unmöglich ansehen! Als jener Kolumbus auf das unbekannte Weltmeer hinausfuhr, prophezeite man ihm, daß er am Rande der Erdkugel ins Reich der Unterwelt mit ihren Schrecken hinabstürzen würde. Nun, er entdeckte Amerika! – Als man die ersten Eisenbahnen baute, behaupteten selbst gelehrte Leute, die Menschen müßten bei der schnellen Fortbewegung ersticken. Nun, heute haben wir keine Dampfbahnen mehr, weil sie uns zu langsam fahren! – Als die Menschen die ersten Flugversuche ausführten, wurde ihnen erklärt, daß sie Gott versuchen wollten, und daß der Mensch niemals fliegen würde, denn der Herr der Welt habe ihm die Flügel verweigert. Nun, Sir, wir fliegen seit mehr als tausend Jahren, und schneller als die Vögel. Es wird eine Zeit kommen, da man über Ihre Ansicht, wir könnten nicht über den Erdkreis hinausgelangen, ebenso lächelt, wie wir heute über die falschen Propheten vergangener Zeiten!«

»Auf dem Monde kann man nicht eine Sekunde leben, selbst wenn man hingelangte!«

»Man wird Mittel dazu erfinden!«

»Keine Spur menschlicher Tätigkeit zeigt sich auf dem Monde!«

»Das wollen wir den Fachleuten überlassen zu entscheiden!«

»Und ich sage Ihnen, der Mond ist ein wandernder Leichnam, da ist nichts zu holen!« 111

»Davon verstehen Sie nichts, werter Sir! Sie müssen nicht glauben, daß Sie als Besitzer eines kleinen, wenn auch vielversprechenden eigenen Mondes sich ein Urteil über unsere Nachbarwelt anmaßen können!«

Dieser Hinweis auf die sich entwickelnde Glatze des Sir Archibald gab wieder Anlaß zu rauschender Heiterkeit.

»Es ist erwiesen, Madame, daß die Länge der Haare im umgekehrten Verhältnis steht zu den geistigen Kräften ihrer Besitzer! Ferner sage ich Ihnen, daß das Experiment einer Mondreise nur einer Anzahl kühner Männer das Leben kosten wird und weniger Hilfe bringt, als eine Handvoll ausgesäter Getreidekörner!«

»Wie denn, werter Sir, müssen wir in unserer bedrängten Lage nicht das Aeußerste wagen? Sollte unser Land nicht ein halbes Dutzend tapferer Männer aufbringen? Sind nicht in früheren Zeiten Millionen Menschen in blutigen Schlachten gefallen für geringere Ziele, ja oft nur für egoistische Pläne von Potentaten oder ränkesüchtigen Staatsmännern? Ich hoffe, unser Land wird genug und übergenug Männer haben, die sich, selbst bei geringer Aussicht, diese nie erhört kühne Fahrt glücklich zu beenden, zur Verfügung stellen. Und sollte ich mich darin täuschen, nun, so werde ich selbst jenem deutschen Forscher gern als Helferin zur Seite treten!«

»Sie werden mir gestatten, Madame, zu gegebener Zeit statt Ihrer bei der Partie zu sein, damit Sie sehen, daß der alte vor Anker gegangene Archibald Plug Manns genug ist, auch einer verlorenen Sache seine Kraft zu 112 widmen. Freilich nur, wenn Sie selbst nicht mitreisen, denn es soll eine Erholungsreise für mich sein!«

»Bravo, Sir Archibald! Ich verspreche Ihnen, Sie nach glücklich beendeter Fahrt um Ihre Hand zu bitten!«

Der kleine Mann mit dem roten Vollmondsgesicht und dem gesträubten weißen Schnauzbart lachte vergnügt seinen tiefsten Baß und machte irgendeine bissige Bemerkung, aber sie ging unter in der allgemeinen Heiterkeit, die sich der Versammlung bemächtigt hatte, und an der auch Seine Hohen Ehren der Präsident auf seinem einsamen Ehrensitz teilnahm.

Jetzt aber glühten ringsum die grünen Lampen, Ruhe heischend. – Samuel Machai, der älteste der Minister, erhob sich, nachdem zwischen seinen Kollegen und den Generalräten eine kurze Unterredung stattgefunden.

»Die Mitteilungen der Staatsrätin haben naturgemäß das Interesse der Regierung erweckt. Auf den ersten Blick hat der Vorschlag etwas sehr Phantastisches, doch war es allezeit das Bestreben unseres Landes, der Zeit voranzuschreiten, kühne und große Ideen zur Reife zu bringen, auch ehe sie in den Hirnen der Allgemeinheit als etwas Selbstverständliches betrachtet wurden. Die Regierung ist also bereit, die Vorschläge jenes fremden Forschers zu hören und sie durch eine wissenschaftliche Kommission prüfen zu lassen. Sollte irgendeine, wenn auch geringe Aussicht sein, daß jene Pläne zu verwirklichen sind, und daß sie gleicherzeit irgendwie geeignet sind, uns bei der Bewältigung unseres großen Problems zu helfen, so wird die Regierung des Landes nicht zögern, ihre Unterstützung zu gewähren!« 113

Ein beifälliges Murmeln ging durch den Riesenraum. Chadija Effrem-Latour raffte ihre Notizen zusammen und verließ die Tribüne.

Eine halbe Stunde später strömten die Räte und Abgeordneten aus der angenehmen Kühle des Hauses in die gleißende Glut hinaus, die durch die Stadt wallte wie die Schwaden erhitzter Luft über einem Kohlenbecken. Die weißen Marmortreppen waren bedeckt mit dunklen Flecken, sich verwirrenden und auflösenden Gruppen, die silberne Säule des Brunnens stäubte dann und wann einen feinen Wasserschleier darüber hin, und hoch droben glänzte die goldene Kuppel gleich einer Riesensonne. 114

 


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