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Helen traf den Führer vorm Zelt.

»Lassen Sie die Kamele satteln!« sagte sie.

Er sah sie erstaunt an und zögerte, bis er in ihrem Blick las, daß es ernst sei.

»Wie viele?« fragte er.

»Zwei – Schehannas und meines.«

Während Helen Reiseapotheke, Keks und Kognak holte, wurden die Kamele gesattelt. Es waren ihrer drei, der Führer wollte selbst mit. Helen äußerte nichts dazu, als er aber voran ritt, um den Zug zu leiten, rief sie ihn zurück und sagte, daß Schehanna sie führen solle.

Schehanna saß mit gesenktem Kopf auf dem Kamel und starrte wie eine Schlafwandlerin vor sich hin.

Die Kamele schlugen instinktiv den Weg ein, den sie gestern und vorgestern gegangen waren. Als sie über die Hügel gekommen waren und die Spuren weiter verfolgen wollten, wurde Schehanna unruhig. Sie blickte über die wogende Ebene, hob den Arm und zeigte nach rechts.

Helen rief den Kameltreiber an und bezeichnete ihm den Weg.

Nachdem sie eine Weile stillschweigend geritten waren, wurde Schehanna wieder unruhig. Sie sagte einige Worte, die Helen nicht verstand. Dann klärte ihr Gesicht sich auf, sie lächelte und winkte mit den Armen, als begrüße sie einen Freund in der Ferne. Helen rief dem Treiber zu, ihr zu folgen; er blickte von ihr zum Führer, ob es ratsam sei, zu gehorchen. Der Führer nickte schweigend; und wieder gingen die Kamele eine Weile. Sie kamen zu einer Stelle, wo der Sandboden fester war als anderswo. Niedrige Büsche mit starren, grauen Lederblättern standen in einem dichten Ring mitten im Sande, als ob sie von Menschenhand gepflanzt seien. Zwischen ihnen erhob sich ein schwarzer Stein, der wie ein Obelisk ausgehauen war.

Schehanna sah auf und zeigte über den Stein.

Der Kameltreiber machte halt, wandte sich an den Führer und wechselte einige Worte mit ihm in ihrer eigenen Sprache.

»Es ist unnütz, dort zu suchen,« sagte der Führer zu Helen und bedeutete dem Treiber, zu wenden.

»Warum?«

»Kein Muselmann begibt sich an diesen Ort, selbst wenn er auf Tod und Leben verfolgt wird.«

»Herr Cunning ist kein Muselmann.«

»Aber der, den er verfolgt hat. Und sollte er dort selbst Zuflucht gesucht haben, dann klopft sein Herz nicht mehr.«

Der Führer heftete seine blauschwarzen Augen feierlich auf Helen; seine Stimme klang unheilschwanger, daß sie wider ihren Willen Furcht empfand.

»Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Ort?« fragte Helen und blickte über die Sandhügel hinter die Büsche mit dem schwarzen Stein. Hier und dort schimmerte etwas Weißes im Sande, sonst war nur Wüste überall.

»Es ist der Garten der bösen Geister,« sagte der Führer mit leiser Stimme und vermied es, den Stein mit seinem Blick zu streifen, »Jinns und Shaitas hausen hier mit ihrer Beute.«

»Warum zögern wir?« sagte Schehanna und blickte sich ungeduldig um.

»Führe das Kamel!« rief Helen Schehannas Kameltreiber zu, der mit dem Rücken zum schwarzen Stein stand und furchtsam von einem braunen Fuß auf den anderen trat. Er heftete seine großen Augen auf den Führer und gab sich den Anschein, als ob er die Worte nicht hörte.

»Ich habe den Auftrag, meinen Herrn und die Seinen in die Wüste zu führen,« sagte der Führer und warf seinen Burnus über die Schulter, »nicht aber böse Geister in ihrer Behausung aufzusuchen.«

»Warum zögern wir?« klagte Schehanna wieder.

Der Führer hatte sein Kamel bereits gedreht, und seine Leute standen im Begriffs, dasselbe zu tun. Helen fühlte, daß sie machtlos sei. Sie biß sich auf die Lippen und sah ratlos von einem zum anderen. Da fiel ihr Blick auf Abbas, der hinter dem Führer saß; sie winkte ihm, er ließ sich vom Kamel gleiten und lief zu ihr hin.

»Nimm du den Zügel!« befahl sie.

Abbas zögerte und sah sie bittend an; als Schehanna aber wieder ungeduldig wurde, nahm er ihrem Kameltreiber den Halfter aus der Hand. Der Mann trat verblüfft zur Seite. Das Kamel bewegte den Kopf von rechts nach links, als ob es überlegte. Dann setzte es sich langsam in Bewegung, und Helens Kamel folgte seinem Genossen.

Helen rief dem Führer zu, daß er hier auf sie warten solle. Er runzelte die Brauen und meinte, daß er die Verwegenen mit Gewalt zurückhalten müsse; aber es war schon zu spät.

Dann empfahl er sie in Allahs Hände und ritt auf die höchste Stelle, damit er ihnen sichtbar sein konnte, wenn sie zurückkehrten.

 

Ralph verfolgte den weißgekleideten Räuber mit dem Revolver in der Hand. Anfangs war er dicht hinter ihm; das Terrain aber wurde immer unebener, und in dem schwachen Sternenlicht konnte Ralph die Kräuselungen des Sandbodens nicht unterscheiden. Er stolperte immerfort, während der Wüstensohn so sicher wie am Tage lief und jeden Vorteil zu benutzen verstand, den die Wogen des Sandes ihm boten.

Als Ralph einsah, daß es ihm nicht glücken würde, den Banditen zu fangen, obgleich er verwundet war, beschloß er, ihn niederzuschießen.

Sofort fühlte der Räuber, was bevorstand; seine Sinne, so wach und empfänglich wie die der wilden Tiere, ahnten Ralphs Griff um den Revolver und das Knacken der Feder. Mit einer letzten Kraftanstrengung beschleunigte er seinen Lauf, breitete seinen Mantel wie ein Segeltuch zum Schutz aus, duckte den Kopf und stieß einen Schrei aus, der wie das Klagen eines Raubvogels durch die dunkle Nacht klang.

Ralph schoß, merkte aber, daß er nicht traf. Im selben Augenblick blitzte ein Schuß weiter vorn aus der Dunkelheit auf; Ralph sah, wie der Räuber an der Erde entlang lief und wie eine andere Gestalt in seiner Nähe auftauchte; es war der Reiter mit dem ledigen Pferd. Indem der Verfolgte sich hinaufschwang, schoß Ralph noch einmal; die Reiter aber waren schon außer Schußweite. sie sandten ihm ihr Hohngelächter nach und die Dunkelheit verschlang sie.

Ralph verfluchte seine Unvorsichtigkeit; er hatte seinen letzten Schuß abgefeuert und war jetzt wehrlos.

Er blieb stehen, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und versuchte sich zu orientieren.

Jetzt galt es, so schnell wie möglich zum Lager zurückzugelangen; die Wüste war ja voll von diesen Banditen. Wenn die beiden Reiter ihre Kameraden benachrichtigt hatten, würden sie ihn umringen und fangen.

Er stellte fest, wo Norden war; es nützte ihm aber nichts, da er nicht wußte, in welche Richtung er hinter dem Räuber hergelaufen war; außerdem hatte dieser sicherlich sein möglichstes getan, um ihn irrezuleiten.

Es war noch zu dunkel, um nach Spuren im Sande zu suchen, und er hatte nicht einmal seine Uhr bei sich, um zu sehen, wie lange die Verfolgung gedauert hatte.

Er stieg auf den nächsten Wogenkamm und hielt Umschau nach einem hellen Punkt. Sie würden im Lager natürlich ein Feuer angemacht haben, damit er zurückfinden konnte; aber es war nirgends etwas zu sehen. Er war allein unter der ungeheuren Kristallwölbung.

Ueber seinem Sportshemd hatte er nur eine dünne weiße Drillichjacke, und an dem eisigen Gerinnen der Luft schätzte er, daß es gegen Morgen sei; ihn fror so, daß ihm die Zähne im Munde zusammenschlugen.

Er lief hin und her, um sich warm zu halten; gleichzeitig spähte er nach allen Zeiten, um nicht aus dem Hinterhalt überrascht zu werden, vielleicht ruhten Augen hinter jedem Sandhügel auf ihm – Augen, die gewohnt waren, die Wüstenfinsternis zu durchdringen. Vielleicht wartete man nur darauf, daß er sich müde laufen sollte, um ihn dann ohne Risiko zu überwältigen – die wußten ja nicht, daß er seinen letzten Schuß töricht vertan hatte – ihn fortzuführen und bestenfalls gegen teures Lösegeld wieder freizulassen.

Er erinnerte sich des jungen Gesichts des Mahdis, seines plötzlichen Zornes, der es zehn Jahre älter machte, und zweifelte nicht daran, daß der Auserwählte Gottes dahinter steckte. Jetzt meinte er sich auch zu erinnern, daß seine lebhaften Augen mit besonderem Wohlbehagen auf Schehanna geruht hatten. Der Hühnerdieb, den er neulich bei der Hecke überraschte, mochte dieselbe Absicht gehabt haben, ja, vielleicht hatte er diese heute nacht verfolgt. Man hatte ihn und seine Gesellschaft wahrscheinlich schon seit Kairo ausspioniert, vielleicht schon seit jenem Vormittag in der El-Azhar, als die Senussijen sie mit feindlichen Blicken im Moscheegarten verfolgten, war der Mahdi vielleicht heimlich zwischen den Studenten gewesen und hatte sich das fremde Weib auserkoren?

Er suchte Deckung in einer Senkung; kaum aber hatte er sich niedergelegt, als die Müdigkeit ihn übermannte. Nach kurzem, bleischwerem Schlummer wurde er von der Kälte geweckt. Glieder und Rücken waren ihm ganz erstarrt und er spürte innen Schmerzen. Er lief wieder, um warm zu werden, und wagte nicht, sich zu setzen, um nicht von neuem einzuschlafen.

Endlich dämmerte es.

Er dachte an den Sonnenaufgang, den Helen und er zusammen erlebt hatten, und konnte nicht fassen, daß erst vierundzwanzig Stunden seither vergangen waren. Dasselbe feierliche Gefühl wie gestern überkam ihn, als die Sonne sich überm Horizont hob und die Strahlen ihn umfingen. Es war, als ob das Licht ihn dem Tode entrang und dem Leben zurückgab. Er atmete tief auf und fühlte, wie Muskeln und Nerven sich von neuem spannten.

Was jetzt?

Von dem höchsten Punkt, den er erreichen konnte, blickte er in alle Himmelsrichtungen, entdeckte aber nichts, was darauf deutete, daß das Lager in der Nähe sei. Er suchte seine Spuren von der Nacht, aber sie liefen durcheinander, und er erinnerte sich, daß er hin und her gerannt war, um sich warm zu halten. Weiterhin verloren sie sich ganz, vom weichen Sand verwischt. Noch weiter fort sah er sie wieder mit breiten Sandalenabdrücken vermischt, die von dem Räuber herrühren mußten; aber auch diese verloren sich plötzlich in tiefem, weichem Sand, wie er auch suchte, er fand sie nicht wieder.

Er wußte nicht, in welche Richtung er gehen sollte, um sich nicht noch mehr vom Lager zu entfernen. Jetzt, nach Sonnenaufgang waren die Führer und alle seine Leute gewiß in allen Richtungen unterwegs, um ihn zu suchen. Das beste war, ruhig auf dem höchstgelegenen Punkt zu bleiben, von wo er Ausschau halten und selbst gesehen werden konnte.

Wenn die Banditen mich vor den anderen entdecken, ist es mit mir vorbei, dachte er. Wenn ich glücklich ins Lager zurückgekehrt bin, müssen wir sofort aufbrechen und Sakkara so schnell wie möglich zu erreichen versuchen. Denn was bedeutet die Handvoll Männer, über die wir gebieten, wenn der Mahdi es sich wirklich in den Kopf gesetzt hat, Schehanna zu besitzen? Unsere ganze Karawane auszurotten, wäre außerdem das sicherste Mittel für ihn, um seine Gewalttat bei den Behörden in Kairo zu verheimlichen und sich vor unangenehmen Folgen zu schützen. Später kann er dann schwören, daß er uns nie gesehen – daß die Wüste uns verschlungen hat.

Ralph sah ein, daß ihrer aller Leben in den Händen des Führers und seiner Leute läge. Würden sie ehrlich genug sein, die Fremden, die ihnen anvertraut waren, gegen den Wunsch und Willen des Mahdis zu beschützen – darauf kam es an. Da sie Leute aus dem Stamme des Mahdis waren, würde dieser sie gewiß nur töten, wenn er selbst in Gefahr kam. Ralph aber hatte sie in blinder Unterwürfigkeit vor den Füßen des Mahdis gesehen – er war ja der von Gott Gesandte; höchstwahrscheinlich würde jeder seiner Wünsche für sie Gesetz sein.

Je mehr Ralph die Lage überdachte, desto ernster erschien sie ihm, und nicht nur für ihn selbst, sondern für sie alle.

Schon brannte die Sonne so stark, daß er nicht wußte, wo er sich auf der schattenlosen Ebene hinwenden sollte. Der Hunger begann ihn zu plagen, aber der Durst war schlimmer. Aus Westen strich eine heiße Brise über die große Wüste. Sie trocknete Augen, Nasenlöcher und Mundhöhle aus und füllte sie mit feinem Sand, den man in der flimmernden Luft nicht sah, aber wie eine Kralle in den Augenlidern und wie Kies zwischen den Zähnen fühlte, ja, bis ganz in die Lungen hinunter meinte man das kitzlige Gefühl zu spüren.

Wie er dort stand, nur von seinem Tropenhut gegen die brennende Sonne geschützt, vor Hunger und Durst gequält, nach der Schlaflosigkeit und Kälte der Nacht ermattet, kam ihm plötzlich der Gedanke: wenn meine Leute mich nun nicht finden, und die Banditen es vorziehen, mich von der Wüste umbringen zu lassen – sollte ihr Hohngelächter in der Nacht das vielleicht bedeuten?

Die Sonne stand hoch am Himmel; bald würden die Strahlen lotrecht auf seinen Kopf fallen. Meilenweit nur Oede, hier und dort der Schatten eines fußhohen Kaktusbusches, den die Kamele verschmäht hatten, sonst nur Sand – Sonne, Himmel und Sand.

Er begann nach Norden zu gehen, wie er es bereits in der Nacht getan hatte; aber die Furcht, sich noch mehr vom Lager zu entfernen, hielt ihn zurück.

Sie haben mich seit Sonnenaufgang gesucht, dachte er. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie mich jetzt finden werden, ist also gering – oder – ?

Eine neue furchtbare Möglichkeit trieb ihm das Blut zum Herzen: Wie, wenn der Führer ein Verräter und die Begegnung mit dem Mahdi ein abgekartetes Spiel gewesen war. Während die Leute zum Schein ihren Herrn suchten, kam der Mahdi und überwältigte die Zurückgebliebenen. Der Führer würde zurückkehren, ohne ihn gefunden zu haben, und Allah und seine Leute zu Zeugen nehmen, daß er seine Pflicht getan hätte, vielleicht waren Helen und Schehanna jetzt auf dem Weg nach der fernen Oase Siwa, wo der Mahdi zu Hause war, wie der Scheik gesagt hatte, und er selbst war zum Hungertod in der Wüste verurteilt!

Die Sehnsucht nach Helen und die Angst ihretwegen überfielen ihn mit solcher Gewalt, daß er in die Knie sank, weder Hunger, Durst noch Hitze empfand er in diesem Augenblick – nur sie. Er machte sich die heftigsten Vorwürfe, daß er sie in diese Oede geführt hatte.

Ich bin für ihr Leben verantwortlich, dachte er. Nicht nur für ihr Leben, sondern auch für das, was im Begriff war, in ihrem Gemüt emporzuwachsen. Er hatte ein unklares Gefühl von Verantwortung, das sich auf die Welt, auf die Menschheit, verpflanzte.

Warum bin ich ein anderer geworden, warum ist eine Veränderung mit meinem Sinn vorgegangen, wenn ich wie ein Hund in der Wüste sterben soll? – wenn er seinen letzten Schuß nur nicht unnütz vergeudet hätte!

Da wurde es plötzlich still in ihm.

Der Tod – der ist ja nur –

Es war ihm, als ob der Horizont sich plötzlich erweiterte, als ob er über die ganze Welt schaute, die Welt, die er kannte und die dennoch eine ganz andere war. Das Dasein schien einen doppelten Boden zu haben, der ihm in sekundenlanger Klarheit zu schauen vergönnt war.

Eine unsagbare Milde hob sein Herz – eine tiefe, ahnungsvolle Stille senkte sich auf ihn. Was mag hinter dem Leben sein? dachte er, was werde ich zu sehen bekommen? Es war ein seltsames Gefühl, als sei er entrückt und doch zugegen, als sähe er sein eigenes Leben von oben und warte mit klopfendem Herzen auf etwas, was aus der Ferne rief.

Dann aber war es wieder ausgelöscht – er wußte selbst nicht mehr, was sich in ihm geregt hatte. Es war ihm, als ob er aus einem Traum erwachte und die Worte des Traumes sich tief ins Herz eingeprägt hatten; doch wollte es ihm nicht glücken, sie sich ins Bewußtsein zurückzurufen.

Er hatte sich hingesetzt, ohne es zu wissen, und hielt etwas Weißes in der Hand, das er aus dem Sand aufgenommen hatte – es war der Schädel eines Raubvogels; aber er achtete dessen nicht.

Während er darauf niederstarrte, dachte er: was habe ich aus meinem Leben gemacht? – Welche Werte habe ich geschaffen? Die Himmelsbrücke tauchte vor ihm auf, aber er rechnete sie für nichts. Er suchte und suchte, fand aber nichts, was ihm wert schien, genannt zu werden. Ich habe vergeblich gelebt, dachte er ohne Bitterkeit, – es war, als ob er ein Fazit zog. Wie war es nur möglich, daß ich die Jahre in nutzloser Arbeit vergeudet habe, als seelenloses Werkzeug im Dienst von Mächten und Verhältnissen, die gar nicht in mir selbst lagen? – wie war es möglich, daß ich Tag für Tag Sklavenarbeit verrichtet habe, ohne nach dem Wert der Ziele, in deren Interesse ich schaffte, zu fragen? – Wie ging es zu, daß ich so rastlos schaffte, ohne die Gewißheit zu haben, daß ich an der richtigen Stelle stand? – warum verschaffte ich mir nicht erst Klarheit darüber, was die Welt eigentlich ist und was ich darin zu schaffen hatte?

Vielleicht, dachte er, verlor ich die Lust, als ich in den Augen der Welt den Höhepunkt erreicht hatte – und ließ darum alles leichten Herzens im Stich. Und jetzt, wo mir endlich die Augen für das Wesentliche und Wertvolle aufgegangen sind, jetzt soll ich hier liegen und sterben?

Aber stärker als der Gedanke, daß er sterben müsse, packte es ihn, daß er allein sterben sollte; er meinte, es könnte nicht geschehen, ohne daß Helen sein Schicksal mit ihm teilte. Es war ihm, als ob sie sich gegenseitig trügen, gleichzeitig aber auch herabdrückten. Sie konnte doch nicht im Leben bleiben, wenn seine Aufgabe jenseits des Todes lag.

Meine Millionen werden dazu verwendet werden, den Wettlauf fortzusetzen, dachte er, das leere, geschäftige Getümmel, das so bedeutungslos ist.

Während er dies dachte, hatte das Bewußtsein ihn schon halbwegs verlassen, von Hunger und Mattigkeit übermannt, sank er zusammen und schlief ein.

Als er erwachte, war es schon spät am Nachmittag. Er fuhr aus einem furchtbaren Alpdruck auf. Etwas wollte ihn niederhalten und er mußte sich mit aller Macht wehren, um loszukommen. Er hatte heftige Kopfschmerzen und es flimmerte ihm vor den Augen. Er versuchte aufzustehen, aber die Sandwogen um ihn herum hoben und senkten sich, als sei die ganze Wüste in Aufruhr.

Ich habe einen Sonnenstich bekommen, dachte er und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf. Er versuchte seine Gedanken zu sammeln und einen Entschluß zu fassen; aber es glückte ihm nicht, weil er fühlte, daß es nutzlos sei.

Hunger und Durst wurden auf einmal so heftig, daß er etwas vornehmen mußte, und in einer plötzlichen Eingebung begann er nach Osten zu gehen, schneller und schneller ging er, schließlich lief er, bis die Beine ihn nicht mehr tragen wollten und er im Sand zusammenbrach.

Jetzt erst wußte er, was der Zweck seines Vorwärtsstrebens gewesen war. Er wollte Sakkara erreichen, – den Nil mit dem fruchtbaren Land – wo es Menschen und etwas zu essen und zu trinken gab. Drei Tage hatten sie zur Ausreise gebraucht, jetzt mußte er versuchen, so schnell wie möglich zurückzugelangen; das war die einzige Rettung. Er wollte in der Nacht gehen und am Tage ruhen, und er begann von neuem nach Osten zu wandern.

Wie lange er so gegangen war, wußte er nicht. Sein Gehirn enthielt keine Gedanken mehr, aber auch keine Furcht; es war der Körper, der sich ohne Mitwirkung der Seele aufrecht zu erhalten versuchte. Nur Helen war immerfort in seinem Gemüt.

Er merkte, daß das Terrain abfiel. Als er an etwas Dunklem vorbeikam, das sich von der schwachen Dämmerung unter den Steinen abhob, ging er näher heran und sah, daß es ein Stein zwischen trocknem Buschwerk war. Vielleicht ist eine Oase in der Nähe, dachte er und bog dort ein, wo ihm ein Pfad zu sein schien.

Als er ein Stück gegangen war, sah er etwas Weißes im Sand leuchten; es war der Schenkelknochen eines großen Tieres. Nicht weit davon fiel sein Auge auf ein Kamelskelett; schimmernd weiß wölbte sich der mächtige Brustkasten durch die Dunkelheit, die Rippen steckten im Sand, der sich um sie aufgehäuft und den Hohlraum zwischen ihnen ausgefüllt hatte. Hier will ich ruhen, dachte er. Wenn die Sonne aufgeht, werden die Knochen mir Schatten geben.

Er versuchte das Skelett auf die Seite zu wälzen, aber es lag zu fest. Es glich dem Wrack eines Schiffsrumpfes, das er einmal bei den Bermudas-Inseln gesehen hatte.

Er schaufelte Sand beiseite und machte sich ein Lager im Hohlraum zurecht. Ich will eine Notflagge hissen, dachte er und band sein Taschentuch an die Rippe, die am höchsten ragte. Dann kroch er in den Bug des Gerippes hinein, zag seine Jacke fest um sich, bohrte seine Beine in den losen Sand, der noch warm vom Tage war, schaufelte sich den Sand zum Schutz gegen die Nachtkälte über Unterleib und Brust und schlief ein.

Als Ralph die Augen aufschlug, begegnete er Helens Blick.

Sie kniete neben ihm, den Kopf über ihn gebeugt, die Hand auf seinem Herzen, hinter dem Tränenschleier strahlte ihre Seele ihm aus den großen dunkelgrauen Pupillen entgegen.

»Also hab ich sie doch wieder zu sehen bekommen,« dachte er und lächelte, »aber wo ist sie? – Im Leben oder jenseits des Todes?«

Er richtete den Kopf auf, sie half ihm; ihre Lippen zitterten so heftig, daß sie nicht zu sprechen vermochte.

»Dort ist ja Schehanna,« dachte er und betrachtete das blasse Gesicht mit den fieberglänzenden Augen, die die seinen wie aus einer anderen Welt betrachteten.

Er stützte sich auf den Ellbogen und wurde Abbas' und der Kamele ansichtig.

»Es ist aber doch das Leben,« dachte er, »ich habe noch etwas auszurichten« – und plötzlich erwachte er zu vollem Bewußtsein.

Er sah die Sprossenwand der Rippen und erinnerte sich des Vorgefallenen wie eines fernen, fernen Traumes. Dann arbeitete er sich aus seinem Käfig heraus, schüttelte den Sand von sich ab und stand auf.

Abbas war der erste, der sprach. Er gab seiner Freude in einem Strom von Worten Ausdruck.

»Ich bin all right!« sagte Ralph und nahm Helens Hände mit einem Versuch seines Knabenlächelns.

Helen wagte nichts zu sagen. Die Spannung war zu groß gewesen; sie fühlte, daß sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie den Versuch machte, etwas zu sagen.

Schehanna murmelte Worte in ihrer eigenen Sprache. Ralph begriff, daß es ein Dankgebet war. Er faßte ihre Hände, die sie vor der Brust hielt, und drückte sie schweigend.

Dann nahm er Helens Arm.

»Laßt uns so schnell wie möglich zum Lager gehen!« sagte er, »ich bin halb verdurstet.«

Helen holte Keks und mischte Kognak mit Wasser. Ralph trank, essen konnte er nicht.

Abbas ließ Helens Kamel niederknien; Ralph stieg auf, ohne Hilfe annehmen zu wollen; und eine halbe Stunde später hatten sie den Garten der bösen Geister hinter sich.

Als sie an dem schwarzen Stein vorbeikamen, sahen sie den Führer und seine Leute noch an derselben Stelle halten, wo sie sie verlassen hatten.

Der Führer wollte Ralph nicht allein reiten lassen. Er machte ihm vor sich auf seinem Kamel Platz und stützte ihn von hinten mit seinen Armen, ohne daß er es merkte.

Unterwegs erzählte Helen, die neben ihm ritt, was sich zugetragen hatte. Ihrem Versprechen getreu, verbarg sie, so gut es ging, was sie selbst gelitten hatte.

»Schehanna hat Ihr Leben gerettet!« sagte sie.

Sie erinnerte sich an alles, was sich in Schehannas Zelt in der Nacht ereignet hatte, und sie dachte bei sich, daß nicht Schehanna, sondern ihr Glaube der Retter gewesen sei.

 *

Der Führer bestand darauf, daß sie sogleich aufbrachen. Er fürchtete, daß die Senussijen ihnen den Weg abschneiden könnten, um ihren Kameraden zu rächen.

Sobald sie gegessen hatten, wurden die Zelte abgebrochen. Am selben Nachmittag schon waren sie unterwegs und erreichten die Villa nach zwei Tagen und drei Nächten.

Als der Scheik Abdul-Hassan erfuhr, was sich in der Wüste zugetragen hatte, ritt er zur Villa hinaus und riet Ralph und Helen, Aegypten unverzüglich zu verlassen, wenn der Mahdi sich Schehanna wirklich ausersehen hatte und der Raub auf seinen Befehl geschehen war, dann würde er sicher früher oder später ausgeführt werden, denn es war eine Gott wohlgefällige Handlung, den Wünschen des Mahdis zu dienen. Und wenn der Senussije, den Ralph verfolgt hatte, an seinen Wunden starb, würde Blutrache Ehrenpflicht seiner Stammesgenossen sein.

Zwei Tage später gingen Ralph und seine Gesellschaft wohlbehalten in Port Said an Bord eines Dampfers des Norddeutschen Lloyd.

 

Ende des ersten Bandes.

  


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