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Helen war beim Laut der Schüsse erwacht. Sie dachte gleich an die drohenden Blicke der Senussijen, als sie ihre Kamele wandten und davonritten, und fürchtete einen Ueberfall.
Sie sprang aus dem Bett, zog Pantoffel über ihre nackten Füße, wickelte sich in das große Kamelhaarplaid ein und ging in die Nacht hinaus.
Sie sah die Kameltreiber durcheinanderlaufen, hörte ihre aufgeregten Worte, die sie nicht verstand, und das Prusten der Kamele. Sie suchte nach Ralph. Da sie ihn nicht fand, wunderte sie sich, daß er noch nicht draußen sei, und lief zu seinem Zelt, um ihn zu rufen.
Als der Führer sie sah, eilte er vom Hügelkamm auf sie zu.
Er erklärte ihr auf englisch und arabisch durcheinander, was vorgefallen war; sie verstand, daß Räuber dagewesen, daß auf sie geschossen war und daß sie geflüchtet seien.
Als sie nach Ralph fragte, zeigte er schweigend auf die Wüste.
Sie starrte in das Kristalldunkel hinaus, wo das Sternenmeer in der Ferne den Rand der Oede berührte.
Er ist verloren, schnitt es ihr durchs Herz; gleich darauf aber beruhigte sie der Gedanke an seinen Mut und seine Kraft.
»Schicken Sie ihm doch Leute zu Hilfe!« sagte sie.
»Zwei Mann sind draußen.«
Sie sah sich nach Spuren des Einbruchs um. Da fiel ihr Blick auf ein weißes Bündel, das dicht neben Schehannas Zelt auf dem Boden lag. Sie ging hin und beugte sich darüber.
»Schehanna!« schrie sie auf.
Tot, dachte sie, und das Herz stand ihr still. Sie tastete mit beiden Händen über ihre Brust und hob ihren Kopf, der mit dem Gesicht im Sand lag. Die Augen waren geschlossen und der Mund weit aufgerissen, ein Knebel steckte darin. Sie zog ihn heraus und begriff, was geschehen war.
»Kommen Sie hierher!« rief sie dem Führer zu.
Sie faßte Schehanna unter die Arme und bettete den Kopf in ihren Schoß.
Als der Führer kam, trug er sie ins Zelt und legte sie aufs Bett.
»Zünden Sie Licht an!«
Der Führer zündete Licht an und setzte es auf den kleinen viereckigen Feldtisch, den er zwischen Kopfkissen und Wand schob. Er wartete, während Helen Schehannas Nachthemd löste und das Ohr auf ihr Herz legte; als sie es schlagen hörte, bedeutete sie ihm hinauszugehen.
Sie nahm die Wasserkruke und befeuchtete Schehannas Schläfen. Dann bewegte sie ihre Arme auf und nieder, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte, während sie atemlos in das von Entsetzen erstarrte Gesicht blickte, wo der Knebel in beiden Mundwinkeln eine rote Furche hinterlassen hatte.
Endlich begann die Brust zu arbeiten, die Lippen zitterten, Schehanna schlug die Augen auf. Der Schreck saß ihr noch in den Pupillen; sie waren groß, als ob sie springen sollten, plötzlich schlug das Leben wie eine dunkle Flamme aus ihnen heraus.
Sie hob die Hände vors Gesicht, als ob sie sich wehren wolle. Ihr Blick starrte auf den Schatten, den Helens Kopf auf die Segeltuchwand warf. Der Schatten war groß und flackernd und füllte die Wand ganz bis zur Zeltspitze. Sie glaubte, daß das Aeshmas Mantel sei, und fuhr mit einem Schrei in die Höhe. Helen ergriff ihre Hände und rief sie beim Namen.
Schehanna wandte den Blick beim Laut ihrer Stimme und sah Helen an, als suche sie in ihrer Erinnerung nach ihrem Bild. Da erkannte sie sie, und in ihr Entsetzen mischte sich solch tiefer Schmerz, daß Helen ihn in ihrem Herzen mitfühlte und unwillkürlich die Hände zurückzog.
»Warum läßt du ihn nicht los?« klagte Schehanna und wich zurück, als fürchte sie sich vor Verunreinigung.
»Schehanna! Komm zu dir. Ich bin es ja – Helen! Fürchte dich nicht, sie sind geflohen.«
Schehanna heftete ihren Blick wieder auf die Schatten an der Wand. Sie richtete sich auf den Ellenbogen auf, den Kopf so weit zurückgebogen, daß er fast die Wand berührte. Ihr eigener Schatten erhob sich wie eine flackernde Geistererscheinung und vermischte sich mit dem Helens.
Mit vor Angst verzerrten Zügen starrte sie auf die Schatten.
»Sieh!« flüsterte sie, »dort– dort!«
Helen folgte der Richtung ihres Blicks, konnte aber nichts sehen.
»Aeshma-daeva,« flüsterte sie, »und Jahi!«
»Schehanna!« bat Helen und versuchte sie an sich zu ziehen, »ich bin es ja – Helen!«
Schehanna schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann beugte sie sich zu Helen, und der Blick aus der Tiefe ihrer reinen Seele war düster und feierlich, wie durchtränkt von Leiden. Und sie flüsterte, indem ihre Finger bebend über Helens Arm strichen, als brenne die Berührung sie:
»Jahi hat deinen Leib bestrickt.«
Die Worte drangen Helen bis ins Herz. In der Tiefe ihrer Seele dämmerte ein unklares Verstehen. Es war ihr, als sei sie zwei Wesen, als stände sie hinter sich selbst und forsche in ihrem eigenen Herzen nach der Wirkung dieser geheimnisvollen Worte.
Schehannas Körper erschlaffte, ihre Hände glitten von Helens Armen herab. Sie sank ins Bett zurück, klein und schwach, schloß die Augen und bewegte die Lippen im Gebet. Helen lauschte voller Angst; aber sie murmelte die Worte in ihrer eigenen Sprache.
Helen verweilte bei ihr, bis sie merkte, daß ihre Atemzüge regelmäßig und die großen Augäpfel hinter den durchsichtigen Lidern ruhig wurden, während die Lippen sich schlossen. Noch gingen hin und wieder seufzende Zuckungen ihrer Seelenqual über ihre Züge, dann hörte auch das auf, und sie schlief ein.
Da erhob Helen sich und ging hinaus. Sie war todmüde, aber sie achtete nicht darauf. Die kalte Luft rief die Erinnerung an Ralph in ihr zurück und an die Gefahr, in der er schwebte. Sie eilte zum Führer hinauf, der auf dem Hügelkamm stand und schweigend ins Weite starrte.
»Lassen Sie ein Feuer machen,« sagte sie und packte ihn am Arm, ohne daß es ihr bewußt war, »damit er zurückfinden kann.«
Der Führer drehte sich um und sah sie mit großen Augen an. Dann ging er ins Lager und rief die anderen. Sie hörte ihn Befehle austeilen.
Bald darauf flammte ein Feuer auf, das die Schatten der Männer und Kamele wie flüchtende Geister auf die öde Ebene warf.
Helen versuchte Herr ihrer Angst zu werden, während sie über die Ebene starrte, wo nur Dunkelheit und Sterne zu sehen waren.
Seit den Schüssen, die sie geweckt hatten, waren keine wieder gefallen. Sie meinte, daß es ein gutes Zeichen sei, weil wenigstens der Kampf zu Ende wäre.
Sie hatte laut gesprochen, ohne es zu wissen.
Der Führer, der wieder neben ihr stand, wandte sich ihr fragend zu.
Kurz darauf ertönten Stimmen durch die Dunkelheit.
Ist er mit? dachte sie und griff sich ans Herz.
Sie sah die Umrisse der hellen Burnusse, und wollte ihnen entgegenlaufen. Im selben Augenblick aber fühlte sie, daß Ralph nicht mit sei, und die Angst lähmte sie.
Als die Männer schließlich vor ihr standen, wagte sie nicht zu fragen. Sie versuchte in ihren Blicken zu lesen, aber sie waren leer und traurig. Die Männer zuckten die Achseln. Sie verstanden, was Helens Herz ihnen in seiner Qual zurief.
Sie wandte sich zum Führer um und deutete sich die Antwort aus seinem düsteren Blick: die Wüste ist groß, er ist in Allahs Hand.
»Hat er sich verirrt?« fragte sie leise.
Der Führer blickte in die Wüste hinaus und zuckte die Achseln.
Vielleicht war er in der Gewalt der Räuber, vielleicht von ihren Kugeln getötet! Vielleicht verwundet, konnte sich nicht vorwärtsschleppen – und niemand hörte seinen Ruf.
Das Herz stand ihr still. Sie fühlte, daß sie ihn, der draußen in der fürchterlichen Oede vielleicht sterbend lag, liebte.
Vom Schmerz überwältigt, wandte sie sich an den Führer und die beiden Männer, die noch neben ihr standen.
»Sucht ihn – rettet ihn!« bat sie und rang in Verzweiflung die Hände, während sie hilfesuchend von einem zum anderen blickte.
Sie erfaßten ihre Worte durch den Tonfall, und schlugen die Augen nieder bei ihrem Kummer. Der Führer wechselte einige Worte mit den Leuten. Darauf sagte er, und seine Stimme schlug düster und undeutlich an ihr Ohr:
»Wen Allah verbergen will, können Menschen nicht finden. Er ist wie ein Sandkorn in der Wüste. Das Feuer können wir brennen lassen, damit er den Weg zurückfindet, wenn es Allahs Wille ist. Mehr können wir nicht tun, solange es Nacht ist.«
Ich will ihn selbst suchen, dachte Helen und maß die Weite, die sie trennte.
Als ob der Führer ihre Gedanken gelesen hätte, zeigte er auf ihre Bekleidung und ihre nackten Füße in den Pantoffeln. Sie achtete dessen nicht; als sie sich aber zum Gehen anschickte, fiel ihr Schehanna ein, die krank und hilflos in ihrem Zelt lag.
Was soll aus ihr werden, dachte sie, wenn die Wüste mich verschlingt und er nicht zurückkehrt?
Sie ging in ihr Zelt, machte Licht und kleidete sich an. Als sie fertig war, warf sie sich neben dem Bett auf die Knie, um zu beten, aber sie fand keine Worte. Ich habe keinen Gott, zu dem ich beten kann, dachte sie. Sie war hinausgezogen, um ihn zu finden. In ihrer Qual aber war er ihr ferner als je – in ihrer Freude über Ralph hatte sie vergessen, ihn zu suchen. Nur wenn das Herz leer ist, kann es Gott aufnehmen; ihr Herz aber war von Ralph erfüllt. Sie liebte ihn mit ganzer Seele und allen Sinnen – wie konnte sie ihn jetzt verleugnen?
»Rette ihn!« flehte sie ins Leere hinein, »rette ihn, du Ewiger, der du dich verbirgst, obgleich du unsere Not siehst!«
Von neuem begann die Angst ihre Gedanken zu jagen. Bald sah sie ihn tot im Sand liegen, bald mit versagenden Knien umherirren, während die letzten Kräfte aus seinem Herzen sickerten. Bald sah sie ihn gefesselt auf Kamelrücken, zu Qualen in unbekannte Gegenden entführt.
Sie jammerte laut und rief sich jede Stunde ins Gedächtnis zurück, die sie zusammen verlebt hatten – von ihrer ersten Begegnung bis zum Sonnenaufgang gestern morgen. Sie warf sich vor, daß sie ihn ihrer eigenen egoistischen Ziele wegen abgewiesen hatte, vielleicht würde er jetzt sterben und nie erfahren, daß sie ihn liebte. Sie erinnerte sich jenes Morgens in Kairo, als sie sich scheu vor dem Begehren in seinem Blick zurückgezogen hatte, wenn sie ihm damals nachgegeben hätte, dann wäre er jetzt gewiß hier, dann hätte er ihrer und seiner Liebe wegen besser auf sein Leben achtgegeben.
Wenn er zurückkehrte, wollte sie sich ihm mit Leib und Seele zu eigen geben, das gelobte sie sich selbst. Ohne Vorbehalt und ohne Bedingungen wollte sie sich ihm beugen, eigenen Willen, eigene Ziele opfern und ihm zu eigen sein.
Gedanken und Sehnsuchtsgefühle aber liefen sich schließlich müde, und sie fiel in einen Zustand der Bewußtlosigkeit, der in Schlaf überging.
Sie erwachte dadurch, daß der grauende Tag durch die Tür drang, die sie zu schließen vergessen hatte. Ihr Kopf war wie Blei, das Herz zentnerschwer. Als sie sich erinnerte, was es war, was sie drückte, fuhr sie in die Höhe. Während sie sich ankleidete, versuchte sie ihren Kummer und ihre Angst zu beschwichtigen. Sie stellte sich vor, daß Ralphs Errettung, wenn er noch am Leben war, einzig und allein von ihrem Mut und ihrer Stärke abhinge.
Als sie aus dem Zelt trat, war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber alle Leute waren auf den Beinen. Abbas, der das Ganze verschlafen hatte, kam im selben Augenblick heraus.
Er sah erstaunt von einem zum anderen und fragte, was denn los sei, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb. Die Neuigkeit machte ihn ganz wach; er blickte sprachlos in die Wüste hinaus. Dann stieg die Angst in seinen gelbgeränderten Augen auf und er murmelte, daß es besser sei, nach Sakkara zurückzukehren.
Auf einmal zeigte einer von den Männern auf den Hügelkamm hinterm Zelt. Alle sahen dorthin und verstummten. Helen machte einige Schritte, weil das Zelt ihr die Aussicht benahm.
Da sah sie Schehanna auf der Höhe knien, die Arme der Sonne entgegengebreitet. Sie war nur mit ihrem Nachthemd bekleidet. Sie schwankte, als ob die Erde unter ihr wogte, und ihr Kopf senkte sich zur Schulter, als könne er das Gewicht nicht tragen. Eine wunderbare Hoheit lag über dieser zarten Gestalt, wie sie sich von der aufgehenden Sonne abhob.
Helen ging auf sie zu, um sie wieder ins Bett zu bringen. Als sie dicht bei ihr war, blieb sie stehen und lauschte ihrem Gebet. Obgleich sie die Worte nicht verstand, wurde sie von ihrer tiefen Andacht ergriffen, und sie wünschte innig mit ihr beten zu können.
Die Sonne ging im Glanz ihrer Herrlichkeit auf, lächelnd dem Jammer der Welt lauschend, während sie gleichzeitig gab, nahm und segnete, wie ein Gott – und dennoch eine glühende Kugel, die einst entzündet wurde und am Ende aller Zeiten verlöschen wird.
Als Schehanna mit ihrem Gebet fertig war, senkte sie die Arme und erhob sich zum Gehen. In ihrem aschgrauen Gesicht flackerten die Augen groß und blank wie im Fieber. Sie machte einige Schritte und schwankte. Helen eilte auf sie zu und fing sie mit ihren Armen auf.
Als Schehanna sah, wer es war, bekamen ihre Augen denselben scheuen Ausdruck wie in der Nacht, und ihr Gesicht zuckte nervös, während sie sich von Helens Armen zu befreien versuchte.
Helen aber ließ sie nicht. Sie führte sie zu ihrem Zelt zurück, brachte sie zu Bett und blieb bei ihr, bis sie schlief.
Darauf ging sie zum Führer hinaus und fragte ihn, was er zu tun gedächte.
Er wollte gleich einen von den Leuten auf dem schnellsten Kamel nach Sakkara zurückschicken, mit einer Botschaft für den Scheik. Sie hatten die Tour in aller Bequemlichkeit in drei Tagen gemacht, er würde sie im Eiltempo in anderthalb Tagen machen können, wenn der Scheik die Meldung empfangen hatte, war es seine Pflicht, Leute zum Nachforschen auszusenden und die Meldung an die Regierung in Kairo weiterzugeben, die wahrscheinlich eine Abteilung Wüstenreiterei schicken würde.
Er selbst wollte mit drei Leuten und drei Kamelen die Wüste nach allen Richtungen absuchen. Er kenne die Gegend und wüßte, wo die Senussijen ihre Wohnstätten hätten. Er wollte sich an den Mahdi wenden und hoffte auf seine Hilfe, wenn er ihm berichtete, was sich zugetragen hätte. Allahs Sendbote sei ein gerechter Mann, der ihnen seine Hilfe nicht versagen würde. Ralphs und Helens Kamele sollten mit dem Rest der Leute und Abbas zum Schutz für sie und Schehanna zurückbleiben.
Helen wäre am liebsten mit dem Führer geritten; Schehanna aber hielt sie an den Ort gebunden.
Der Tag schlich langsam hin. Helen hielt sich meistens in Schehannas Zelt auf. Abbas stand draußen und lauschte auf Schehannas Stimme. Jedesmal, wenn er Helen sah, versicherte er ihr, daß Ralph am Leben sei und gegen Abend zurückkommen würde. Das habe er geträumt. Er kenne Geschichten von Männern aus seiner Heimat in Syrien, die auf seltsame Weise von der Wüste verschluckt und wieder ausgespien worden seien, wenn die Wüste jemanden fange, wollte sie ihn dadurch nur zum Fasten zwingen und seinen Glauben prüfen.
Schehanna schlief fast den ganzen Tag. Als sie erwachte, war sie bei Bewußtsein und verstand, was Helen ihr von der Begebenheit erzählte, ihr tieferes Verständnis für die Sache aber ließ sie sich nicht nehmen. Sie wollte weder essen noch trinken, und als Helen in sie drang, flüsterte sie, daß sie nichts genießen wolle, um besser sehen zu können.
Bei Sonnenuntergang kehrte der Führer mit seinen Leuten zurück. Sie hatten den ganzen Tag gesucht, die einzige Spur aber, die sie gefunden, war ein abgerissenes Stück von einem blutigen Tuch, das sie in der Nähe des Lagers gefunden hatten. Es gehörte Ralph nicht, und bewies nur, daß der Verfolgte verwundet war.
Helen ging in rastloser Aufregung zwischen den Zelten aus und ein. Hin und wieder warf sie sich aufs Bett und weinte; gleich darauf aber erhob sie sich wieder und bekämpfte ihre Tränen. Sie gab die Hoffnung nicht auf, sie konnte es nicht. Ralph würde zurückkehren, vielleicht leidend, verwundet, aber kommen mußte er. Die Vorsehung, die gewollt hatte, daß sie ihren Weg gemeinsam machen sollten, konnte sie nicht wieder so sinnlos trennen. Wieviel hatte ihr Zusammensein in ihnen beiden zum Keimen gebracht? Die Verwandlung der Welt war über ihnen – sollte das alles wieder untergehen, von Entbehrung vermischt werden?
In einer plötzlichen Eingebung faßte sie den Entschluß, die Nacht bei Schehanna zu verbringen, sie war ja krank, wenn sie im Fieber aufstehen und hinausgehen würde, war sie verloren. Im geheimen, und fast unbewußt hoffte sie, daß Schehanna etwas sehen könnte, was ihr verborgen blieb; und sie fühlte, wie es plötzlich still wurde in ihrem Gemüt.
Schehanna warf sich unruhig hin und her und nannte mehrmals Ralphs Namen.
Plötzlich fuhr sie in die Höhe und streckte die Arme zur Wand aus. Helen beugte sich zu ihr herab, um sie zu beruhigen.
Ihre Hände öffneten und schlossen sich. Die Augenlider bebten; sie waren so durchsichtig, daß Helen das Dunkel der Pupillen dahinter sehen konnte. Ab und zu schlug sie sie auf und sah Helen an, ohne sie zu erkennen. Die Lippen bewegten sich in flüsterndem Gebet.
Plötzlich blickte sie angestrengt vor sich hin, als sähe sie etwas in der Ferne.
»Wo ist Ralph?« fragte Helen und hielt ihre Hände fest.
»Im See Kasava.«
Sie träumt, dachte Helen, wagte nicht weiter zu fragen, und tat es nach einer weile doch.
»Lebt er?«
Schehannas Gesicht verzog sich schmerzlich und die Lider glitten zu.
»Er kann sich nicht freimachen.«
Das waren dieselben rätselhaften Worte wie gestern.
»Wer hält ihn denn?«
»Helen.«
Helen faßte ihre mageren Hände noch fester und beugte sich tief zu ihr hinab.
»Kennst du mich?« fragte sie.
In Schehannas Augen glühte es auf. Sie erkannte Helen, zog ihre Hände an sich und preßte sie unterm Kinn zusammen, während sie ihren Kopf scheu zurückzog.
»Gib ihn frei!« bat sie, »damit er kämpfen kann fürs Licht.«
Helen senkte ergriffen den Kopf bei ihrem bittenden Blick.
»Auf welche Weise halte ich ihn denn?« fragte sie leise.
»Jahi verlockt dich.«
»Wer ist Jahi?«
Schehanna antwortete nicht, sie hatte sich zur Wand umgedreht.
»Dasturan Dastur!« rief sie und streckte die Hände aus, während ihr Blick groß und leuchtend wurde.
Obgleich Helen nur ihren eigenen flackernden Schatten an der Wand sah, war es ihr, als ob sie nicht mehr allein seien.
»Hörst du nicht, wie er die strahlende Jungfrau ruft?« flüsterte Schehanna.
Sie legte ihre Hände auf Helens Brust und beugte sich vor, um zu lauschen.
»Dein Ferved hat dich verlassen, weil du ihn nicht freigeben willst.«
Helen wurde von Angst gepackt. Das Herz schien ihr plötzlich leer und kalt zu werden, wie gestern dämmerte ein dunkles Verständnis des richtigen Zusammenhangs in ihrer Seele auf; es war ihr, als ob eine unbekannte Schuld ihr das Herz beschwerte, voll Angst vor sich selbst und ihrem Schicksal drückte sie sich an die erregte Brust der Kranken.
»Laß uns beten!«
Schehanna richtete sich auf den Knien auf, Helens Hände zwischen den ihren.
Sie betete mit lauter Stimme in ihrer eigenen Sprache. Die tiefe Inbrunst teilte sich Helen mit. Ihr galt des Gebet, ihr und Ralph, und doch stand sie außerhalb – mit Schuldgefühl im Herzen. Sie wollte mitbeten – an wen aber sollte sie ihr Gebet richten?
Helen weinte.
Schehanna hielt in ihrem Gebet inne. Ihre Hände tasteten über Helens Haar. Sie beugte sich herab und fragte:
»Warum weinst du?«
Helen wußte es nicht; aber sie antwortete:
»Weil ich niemanden habe, zu dem ich beten kann.«
»Dasturan Dastur will es dich lehren – erst aber mußt du Ralph freigeben, damit du selbst frei wirst und ihr beide fürs Licht kämpfen könnt. Still, hörst du nicht? Dein Ferved klagt, weil du dich in Dunkelheit verloren hast.«
Helen legte ihren Kopf in Schehannas Schoß und weinte leidenschaftlich.
»Ja – ja – ich will ihn freigeben, wenn er dadurch gerettet wird.«
Schehanna nahm Helens Kopf mit unsagbarer Zärtlichkeit zwischen ihre kleinen dünnen Hände.
»Still!« flüsterte sie und sah mit einem hingerissenen Lächeln zur Wand, »die strahlende Jungfrau hat eben gesprochen. Sieh, ihre Gewänder sind wieder weiß geworden. – Hast du es gehört, Dasturan Dastur?«
Helen wiederholte das Gelübde in ihrem Herzen, das Gelübde an den unbekannten Gott: Ich will meiner Liebe entsagen, wenn du ihn lebend zurückführst.
»Ja, er schwebt zum Licht empor. Dein Ferved lächelt der strahlenden Jungfrau zu und streckt seine Hand übers Ufer. Sieh nur – sieh!«
Sie richtete sich auf den Knien auf. Helen spürte den Jubel durch ihre Hände.
»Jetzt ergreift er Aeshmas Mantel. Die Dunkelheit entweicht. Sieh, die strahlende Jungfrau hat über Jahi gesiegt. Nun, geht sie in den heiligen See hinaus.«
Schehanna fiel ins Bett zurück, ihre Hände falteten sich auf der Brust. Ihre Augen schlossen sich, und auf ihrem Gesicht leuchtete ein Schimmer von Verzückung, während ihr Herz sich im Schlaf zur Ruhe begab.
Helen ging von ihr und legte sich auf ihr Bett.
Langsam glitt sie ins Traumland hinüber: Ralph stand neben ihrem Kopfkissen. Sie gab ihm ihre Hände und wiederholte ihr Gelübde. Und er sagte, daß sie Genossen im Kampf fürs Licht sein wollten.
Helen erwachte beim ersten Morgengrauen. Schehanna stand neben ihrem Bett und betrachtete sie mit glänzenden Augen.«
»Komm,« sagte sie, »Ralphs Ferved hat gerufen!«
Helen richtete sich auf und blickte in ihr weißes Gesicht.
»Lebt er?« fragte sie.
»Ja – steh auf und komme mit! – Sein Ferved wird uns führen. Schnell, mein Herr ist in Not. Ahura Mazda hat mir vergönnt, ihn vom Tode zu retten, wie er mich zweimal aus der Finsternis errettet hat.«
Helen zögerte einen Augenblick, während sie ihre Gedanken zu sammeln versuchte. Dann gab sie sich dem Unfaßbaren hin, sprang auf und kleidete sich eilig an. »Erinnerst du dich deines Gelübdes?« fragte Schehanna.
»Ja.«
»Dann komm mit, und wir werden ihn finden.«
* * *