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Auf einer kleinen Station an der Riviera verließ ich den Zug, um mich nach einer Eisenbahnfahrt von sechsunddreißig Stunden auszuruhen.
Ich brachte die Nacht in einem ländlichen, langgestreckten, niedrigen Gasthaus zu.
Eine lebhaft gestikulierende Wirtin in geblümter Nachtjacke, ein schmieriger Pikkolo, ein zähes Stück Rind- oder Ziegenfleisch – Gott weiß, was es eigentlich war – ein »lebendiges« Nachtlager und außerdem alles andere, was die ursprünglichsten Sitten mit sich führen, bleiben in meiner Erinnerung.
Die Sonne weckte mich in aller Frühe. Ich öffnete das Fenster und sah das Mittelmeer vor mir.
Niemals hatte ich es in solcher Nähe gesehen. Still, blau und spiegelblank breitete es sich bis zum Horizont vor meinen Blicken aus. Ich zog mich schnell an, es trieb mich hinaus.
Durch das Städtchen strömte ein kleiner Fluß, dessen Lauf ich folgte. An Pfählen schaukelten sanft Boote; ein junges Weib mit hochgeschürztem Nock stand an einem Steg bis an die Knie im Wasser und spülte Wäsche.
Ein breiter, flacher Strand lag vor mir. Dahinter das herrliche, kristallhelle, lächelnde Mittelmeer, das so viel Glück auf seinem Rücken getragen und so vielen Gesängen gelauscht hat, die zu seinem Preis erklangen.
Ich gehe dicht ans Meer, wo die langsam herangleitende Schaumwelle meinen Fuß netzt. Einschmeichelnd und spielend, nicht feierlich und schwer, wie bei uns im Norden, bespült sie den Sand.
Während die Sonne über den Horizont steigt, wechselt die Färbung des Meeres von blau zu violett. Ein weicher Luftzug fächelt in langen, leisen Atemzügen, wie sanfte Liebkosungen, mir entgegen.
Ich sammle alle flachen Steine, die ich finden kann, und werfe sie über das Meer hinaus. Mit langen, elastischen Sprüngen hüpfen sie über die Wasserfläche dahin, bis sie verschwinden.
Die weiche, sanfte Ruhe der großen Fläche umfängt mich wie eine Mutter, die ihr Kind in die Arme nimmt, und ein schwellendes Glücksgefühl überwältigt mich. In diesem irdischen Paradies verschwindet alles Kummervolle und Unschöne, wie der Nebel vor der strahlenden Sonne entweicht.
Lange blicke ich über das Meer hinaus, während die Wellen meine Füße umspielen und mir von der Tiefe draußen das Geheimnis zuflüstern, daß es nichts Böses in der Welt gebe, daß das Leben ganz voller Glück sei.
Wenige Stunden später sitze ich im Zuge, der mich nach Monte Carlo führen soll.
Der Mann mir gegenüber mit dem graumelierten Vollbart betrachtet mich über seine goldene Brille hinweg. Dann faltet er die Akten, die er studiert hat, zusammen, legt sie in seine Handtasche und starrt mich ungeniert an.
Ein einheimischer Jurist – er repräsentiert vielleicht die Obrigkeit der Gegend. Seine kalten, grauen, durchdringenden Augen haben den Blick des Lokalherrschers, wie man ihn in den Provinzstädten der ganzen Welt antrifft.
»Sie wollen gewiß zum Paradies?« fragt er ironisch.
»Wenn Sie Monte Carlo darunter verstehen, ja!«
Was geht mich seine Ironie an? Dort kann ich das Meer noch sehen, seinen Morgengesang hören, daß die Welt gut und voller Glück sei.
Auch er blickt über das Meer hinaus und sagt nach einer Weile:
»Das Wetter schlägt um, wir bekommen noch heute Sturm.«
Ich aber schüttle zweifelnd den Kopf. –
Auf welche Weise ist eigentlich der Mann dort in der entgegengesetzten Ecke hereingekommen? Wir haben an keiner Station gehalten, und erst jetzt bemerke ich ihn.
Verwundert starre ich ihn an, und ruhig erwidert er meinen Blick aus seiner Ecke. Er sieht aus wie ein Seemann, ein Schiffskapitän. Vielleicht war er in Genua, um Fracht zu suchen, und will nach Marseille zurück. –
Jetzt können wir das Meer nicht mehr sehen. Die Bahn nähert sich wieder den Bergen. Zur Rechten ragen dunkle Felsmassen in die Höhe.
Wir fahren längs der Berge über Viadukte. Wo sich die Felsen öffnen, liegt vor unsern Blicken ein herrlicher Garten, im Hintergrunde ein weißes Schloß mit weißen Markisen vor den Fenstern, daß unsre Augen fast geblendet sind. Uber die mit Agaven geschmückte Gartenmauer breiten schlanke Palmen ihre Federkronen aus, und durch diese üppige Schönheit tönt der Morgengesang des Meeres, daß es nichts Böses in der Welt gebe und das Leben voller Glück sei.
»Die Palme dort ist giftig,« sagt plötzlich der Jurist. »Jedes Jahr erleben wir wenigstens ein halbes Dutzend Todesfälle in unserem Distrikt, an denen sie schuld ist.«
Fragend blicke ich den andern Mitreisenden an, in seinen Augenwinkeln scheint ein Lächeln zu lauern.
Jetzt kommt das Meer wieder zum Vorschein. Zuverlässig und überzeugend raunt es mir zu, daß die Palmen nicht giftig seien, daß das Leben nur Glück in seinem Schoße berge und nichts Böses in der Welt existiere.
Fast glaube ich, daß der Jurist das Flüstern des Meeres vernimmt. Ungefragt versichert er mir, daß dessen Spiegel treulos sei, daß sich unter demselben gierige Haifische tummeln und man sich nicht ohne Lebensgefahr in seine Wellen tauchen könne. Aber ich glaube ihm nicht.
Jetzt haben wir Mentone erreicht.
Ein lächelndes, farbenreiches Bild. Schwellendes Licht und tiefe Schatten folgen einander in ewigem Wechsel. Seidenstoffe und Spitzen schmiegen sich um die Gestalten junger Weiber. Männer in hellen Sportanzügen lehnen sich über Balustraden, während die Sonne auf ihre weißen Hüte brennt.
Der Himmel strahlt, die Brust atmet leicht und frei in dieser Luft, und alle Menschen erscheinen unter diesem Himmelsstrich gut und schön. Wahrlich, hier ist ein Paradies auf Erden. Nichts Böses gibt es in der Welt, und das Leben beut nur Glück.
Wiederum errät der Jurist meine Gedanken. Er heftet seine kalten, scharfen, ironischen Augen auf mich, indem er sagt:
»Das ist die Stadt der Schwindsüchtigen. Die Luft ist angefüllt mit Tuberkelbazillen von allen diesen verhudelten Körpern, welche uns die Ärzte von allen Weltenden auf den Hals schicken. Sehen Sie die Jugend mit dem Stempel des Todes auf der Stirn! Sehen Sie das Gerippe unter der Seide grinsen! Können Sie die Knochen unter der Bluse jener jungen Engländerin zählen? Sie hat nur noch eine halbe Lunge. Sehen Sie den müden Mann dort – die Furchen in seinen Wangen! Es sind wandelnde Leichen, wandelnde Leichen!«
Ich blicke den andern fragend an, in den Winkeln seiner Augen scheint immer noch dasselbe Lächeln zu lauern.
In demselben Augenblick pfeift die Lokomotive; wir halten. Der Jurist erhebt sich schnell, ergreift seine Handtasche und grüßt mit ironischem Kopfnicken:
»Glückliche Reise!«
Darauf verschwindet er zwischen den wandelnden Leichen auf dem Perron.
Die Sonne verbirgt sich hinter einer Wolke. Die blendende Helligkeit verwandelt sich plötzlich in graue Dämmerung. Wieder wird es hell und wieder dunkel. Sollte er recht haben? Ist wirklich ein Sturm im Anzuge? Ist dieses Licht und dieses Glück nichts als blendendes Gaukelwerk? Birgt das blaue, lächelnde Meer gierige Haie? Sind diese schlanken Palmen giftig? Grinst mir der Tod durch die weiße Haut jenes jungen, schlanken Mädchens entgegen, das den freien Arm hebt, um dem jungen Mann, der in die Eisenbahn steigt, Lebewohl zu winken? Ihm, dem ihre Augen ihre Liebe verraten?
Ist dieses Paradies eine Hölle, wo die Schlange unter den dunkelgrünen Palmenblättern hervorlugt? Züngelt sie am Busen jener schönen Weiber in seidenen Gewändern?
Jetzt ist die Sonne verdunkelt. Ich sehe nicht mehr das Meer und höre auch seinen Gesang nicht. Wo ist mein Glück? Ist es vergiftet vom Bösen, das in die Welt kam und alles Lebensglück erstickte?
Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Mir wird so unruhig, so ängstlich zumut. Das Blut brennt in meinen Wangen wie Feuer.
Ich blicke hinüber zu dem schweigsamen Mitreisenden in der Ecke. Wiederum scheint er geheimnisvoll zu lächeln.
Plötzlich wird es Nacht. Ein donnerähnliches Getöse über unsern Häuptern erschüttert die Luft. Es betäubt mich fast; wir fahren durch einen Tunnel, der Berg verschlingt uns.
Weiter, weiter! Schneller, schneller! Ehe der Berg über uns zusammenstürzt und uns zermalmt.
Es wird so eng, daß ich fast nicht zu atmen vermag; dabei saust und kracht es unaufhörlich.
Schwefelluft bringt herein, als führen wir gerade in die Hölle!
Plötzlich ein heller Schimmer – dann wieder Finsternis. Jetzt wieder. Das Licht bricht durch große Öffnungen in der Felsmauer herein, Öffnungen, die zum Meer hinaus gesprengt sind, um Licht und Luft einzulassen.
Ich muß hinaussehen, sobald wir wieder an eine Öffnung gelangen. –
Tief unten schimmert das Meer, das Meer des Glücks, an dessen Ufer ich heute Morgen stand und welches mir zuflüsterte, daß es nichts Böses in der Welt gebe, daß das Leben voller Glück sei!
O, diese Fahrt durch den Tunnel! Gleicht ihr das Leben? Eine rasende Fahrt durch enge, schwere und drohende Finsternis, hier und da unterbrochen von einem einzelnen Lichtschimmer – kaum erschienen, wieder verschwunden! Muß man das Glück, von dem das Meer da unten flüstert, in einem solchen Augenblick erhaschen?
Plötzlich schüttelt mich ängstliches Entsetzen.
Ob der Seemann dort in der Ecke mit dem geheimnisvollen Lächeln in den Augenwinkeln mir wohl auflauert? Glaubt er vielleicht Schätze bei mir zu finden. Ich will nach Monte Carlo. Vermutet er Gold?
Ich ergreife meinen Stock, um mich in der nächtlichen Finsternis zu verteidigen; bereit, bei dem ersten verdächtigen Laut, bei dem Nahen eines menschlichen Körpers, bei dem Hauch eines fremden Atems auf meinem Gesicht, loszuschlagen.
Was las ich doch neulich? Von einem Bankier, der auf der Reise von Paris nach Lyon in einem Tunnel ermordet und durch eine Öffnung im Felsen hinabgeworfen wurde, daß sein Körper von Absatz zu Absatz rollte.
Hier ist es tief, tief bis hinab zum Meer des Glücks, an dessen Ufer ich heute Morgen stand – welch eine Ewigkeit liegt dazwischen!
Still! Ist er aufgestanden? Steht er gerade vor mir in der Finsternis? Ob ich ihn wohl berühre, wenn ich die Hand ausstrecke?
Mit beiden Händen erhebe ich meinen Stock und lehne mich zurück mit weit geöffneten Augen, um die Dunkelheit zu durchdringen.
Unsinn! – Ein biederer Seemann mit einem geheimnisvollen Lächeln! Warum auch nicht? Ein zufriedenes Lächeln der guten Fracht wegen, die er in Genua geladen hat, und wegen der Rückkehr zur Stadt, wo sein Fahrzeug, sein Heim, vor Anker liegt?
Könnte er in den Besitz des Goldes, das ich nach seiner Vermutung über die grünen Tische ausstreuen werde, gelangen, mich in der Dunkelheit erwürgen – mich durch eine Öffnung in der Felswand hinunterwerfen, hinaus in den Höllenlärm, der jeden Hilferuf erstickt, dann könnte er die Schute kaufen, auf eigne Rechnung segeln, Menschenglück, Familienglück erringen, als sein eigner Herr über das Meer des Glücks segeln, an dessen Ufer ich heute stand.
Grinst dort der Tod aus leeren Augenhöhlen?
Gott sei Dank! Ein Licht! Erst schwach, dann immer heller!
Wir halten. Elektrische Lampen spenden taghelles Licht, Geräusch von Menschen dringt plötzlich an mein Ohr.
Tief atme ich auf!
Dort in der Ecke sitzt der Seemann und schlummert friedlich im Gefühl der Sicherheit. Er lächelt im Schlaf, aber nicht mehr geheimnisvoll.
Draußen aber stürzt der Regen herab. Er plätschert gegen die Decke unsres Kupees, die nicht mehr vom Felsen beschützt ist. Es ist so finster draußen, daß man Berge und Himmel nicht unterscheiden kann, die Luft ist erstickend.
Ich trockne den kalten Schweiß von der Stirn, meine Hände brennen, und meine Pulse hämmern.
Plötzlich wird es mir klar, daß ich fiebre. Ich habe mich heute Morgen am Meer des Glücks erkältet, wo die Wellen meine Füße netzten, während ich Steine auf der Wasserfläche hüpfen ließ.
Während das Meer meine Füße liebkoste und mir zuflüsterte, daß die Welt gut und das Leben voller Glück sei, hat es Fieber in mein Blut gegossen.