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Heimwärts

In dem Augenblick, als ich die Tür des Direktionszimmers hinter mir schloß, wußte ich, daß ich noch denselben Abend nach Paris reisen mußte.

Es war ein großer Fehler von mir, daß ich Jensen gegenüber Schaeffers Namen genannt hatte. Sein hastiger Blick über die Brille hinweg brannte mir noch im Gesicht. Ich hatte mich nicht mehr decken können, und wir konstatierten im selben Atemzuge, daß ich mir eine Blöße gegeben, und daß ich wußte, er habe meine Blöße gesehen.

Ich lächelte ihm, den ich »geschaffen« hatte, meine Verachtung ins Gesicht. Er preßte die Lippen zusammen, und wir dachten beide an jenen Dezembernachmittag vor sieben Jahren, als er zu mir ins Kontor kam und um meine Hilfe bat. Ich wußte, daß ich ihn in der Hand hatte, daß ich sein eckiges Schicksal abrunden oder ihn zum Termin in den leeren Raum hinausstoßen konnte. Er war sich dessen voll bewußt. Ich hatte meinen Kopf und den Schreibtisch voll von den Angelegenheiten der Bank, die zu Neujahr eröffnet werden sollte. Ich konnte einen Namen, eine Kreatur gebrauchen. Und da stand nun in meinem Zimmer ein Mann, der keine Wahl hatte und der mir noch dazu dankbar sein mußte. Als er den Kopf beugte und stillschweigend akzeptierte, blitzte es hinter seinen Brillengläsern auf – scharf und kalt wie Stahl.

Dieses Aufblitzen sah ich jetzt zum erstenmal wieder. Das »Weißt du noch« desselben war es, das jenen Dezembertag zwischen uns heraufbeschwor.

Jetzt stand er da und verweigerte im Namen der Bank zu diskontieren, knapp und streng wie der Geldmarkt, den er repräsentierte.

Der unerhörte siebenprozentige Diskont, der wie Hagelschaden über die reife Saat des Landmannes von New York und Berlin zu uns gekommen war, gab seinen Worten ein Gewicht und seiner gedrungenen Gestalt ein Rüstzeug von Verantwortlichkeit, daß ich – der Stifter und Vater der Bank, der sich vor der Öffentlichkeit auf dem bescheidenen Platz eines gewöhnlichen Direktionsmitgliedes verbarg – mich am wenigsten dadurch verletzt fühlen konnte.

Jensen, den ich geschaffen hatte, tat nur, wozu ich ihn angestellt und wozu ich ihn – sogar mit Mühe – bei den übrigen Direktionsmitgliedern durchgesetzt hatte.

»Die Kreatur« hatte es vermocht, sich bei meiner zunehmenden Geschäftstätigkeit durch Unentbehrlichkeit freizumachen. Er hatte es verstanden, mich über die Maske von Stillschweigen, die er seit jenem Dezembertag angelegt hatte, hinwegzutäuschen.

Meine Wechsel waren anstandslos diskontiert und prolongiert worden. Selbst der große Kassenkredit, den ich kürzlich für meinen politischen Freund erhob, der ihn rettete und mir den Danebrogorden einbrachte, weil sein Fall für die Partei schicksalsschwanger geworden wäre, selbst der war durchgegangen – zwar einige Tage im Direktionszimmer verspätet – aber sonst stillschweigend und glatt durchgegangen; und doch hätte ich selbst, wenn ich der Verantwortliche gewesen wäre, es nicht gewagt.

Jensen ist klug. Jetzt verstehe ich, daß er reinen Tisch zwischen uns machen wollte. Nichts sollte zwischen uns liegen, wenn der Tag kommen würde, der Tag, der jenen Dezembernachmittag ausmerzen sollte, nicht ein Stäubchen, das Haß oder Rache genannt werden konnte, nicht ein Atom von Undankbarkeit. Er wollte nur abrechnen; es war ein Kontokorrent mit Nemesis, das saldiert werden sollte; und er trat mit der Prokura für die Firma auf.

Jetzt, da das Hagelwetter der sieben Prozente ihm die Macht in die Hand gab, stand er da – Jensen, den ich geschaffen hatte – und tat nur seine Pflicht. Und sein hastiger Blick über die Brille hinweg sagte mir, daß er sie um keinen Preis verletzen würde.

Deshalb war es ein großes Versehen von mir, daß ich auf meine Verbindung mit Schaeffer in Paris pochte. Denn Jensen, der durch die Bank alle meine Unternehmungen bis auf den Grund kannte, den Häuserkomplex in der alten Stadt und die großen, unvorhergesehenen Schwierigkeiten damit, die Zementfabrik mit ihrer Scheindividende und all die vielen anderen Sachen, die auf einem verwickelten Zahnradsystem beruhten, das von selbst stehenbleiben würde, sobald nur ein einziges kleines Rad zu schnurren aufhörte, er würde sich sicher auch des »Mißverständnisses« erinnern, das sich bei meiner letzten großen Tratte eingeschlichen hatte, als Schaeffer sich zuerst geweigert hatte zu bezahlen und dann, als es mir im letzten Augenblick geglückt war, ihm den Betrag zu senden, telegraphierte, daß seine Weigerung durch ein Versehen seines Büros geschehen sei.

O dieser Fehler konnte mir den Hals kosten.

Wenn Jensen jetzt, in dem Augenblick, wo meine Hand den Türdrücker losließ, telegraphisch in Paris anfragen und erfahren würde, daß ich bei Schaeffer gar keine Rechnung hatte, die mich berechtigte, solch großen Wechsel zu ziehen!

Dann würde der Zusammenhang ihm sofort klar sein. Denn der Wechsel, den die Bank heute zu diskontieren verweigerte, lautete ja auf fast denselben Betrag. Es würde ihm klar sein, daß der Entrepreneur, auf den ich den Wechsel für gelieferten Zement gezogen hatte, nur ein Strohmann war, daß die Lieferung fingiert und der Wechsel nur ein Reitwechsel sei, um den Betrag zu beschaffen, der spätestens heute abend an Schaeffer abgesandt werden mußte, um die Einlösung zu sichern.

Protest würde bedeuten, daß eines der Zahnräder stillstehen und daß mein ganzes, zusammengesetztes Geschäft, das, durch meine eigene Bank gestützt, sich in weniger als fünfzehn Jahren zu einem Turm aufgebaut hatte – nachdem ich, mißvergnügt über das Avancement im Justizministerium, resolut umgesattelt hatte und Rechtsanwalt geworden war – daß das ganze Gebäude, das ich nicht mehr übersehen konnte, kurz vor dem Ziel zusammenbrechen würde.

Das Geld war mir nur Mittel gewesen – der Weg, der zum Ziele führte.

Die Macht – der Einfluß, die an den Fäden kleben, die in einer festen Hand zusammenlaufen, galten mir mehr. Oft hatte ich gefühlt, daß ich sie besaß, eine eigene Wollust, die in dunklen Instinkten wurzelt.

Die Macht aber, die man wie Ehre empfindet – die Macht auf dem höchsten Sitz – die Macht in anerkannten Symbolen, vor denen Menschen sich voller Ehrfurcht neigen – diese Macht wurzelte in meinem Herzen.

Für die in der Ehre sichtbare Macht war ich bewußt von dem Wege abgewichen, den meine Kindheitsträume und die Sehnsucht meiner ersten Jugendjahre aus dem Dunkel vor mir als meine Lebenslinie erkannt halten.

Meine kinderlose Ehe war schuld daran. Agnete hatte mir die Verbindung mit alten, ehrengekrönten Familien gebracht, aus denen Protektionen wie Knospen sprießen und öffentliche Vertrauensstellen wie reife Früchte herabfallen, weil der Baum auf der Sonnenseite und geschützt steht. Ich gab ihr statt dessen Luxus und Freiheit unter dem Deckmantel meines Namens.

Es war ein Geschäft wie jedes andere, voller Takt und Verständnis zwischen gebildeten und volljährigen Personen abgeschlossen. Wir waren uns über das Ziel einig; wir sprachen miteinander wie Kameraden; wir lebten zusammen wie – nun, sie wollte keine Kinder haben.

Unser Heim war ein Musterhaushalt, Vorbild und Neid für viele in unserem sehr mondänen Kreise.

Jetzt standen wir vorm Ziel. Gerade jetzt.

Der Danebrogorden hing schon wie eine kleine Fahne da. Ein verdienstvoller Mann mit einem bedeutenden Geschäft! Eine Stütze für die regierende Partei!

Der Minister für öffentliche Arbeiten war schon seit langem in Ungnade. Nur eine Gelegenheit und ein Ersatz, und er würde abrutschen, lautlos. Zunehmende Kränklichkeit, Aufenthalt im Süden.

Es wurde bereits so etwas gemunkelt. Mißgunst und Gegenmanöver. Agnete war eine Kraft, mit der man nicht so leicht fertig wurde, dank ihrer Familie, ihrer Schönheit und ihrer blendenden und kalten Intelligenz.

Und alles dies sollte jetzt vorbei sein, weil Jensen – meine eigene Bank – sich weigerte zu diskontieren.

Deshalb mußte ich mit dem Abendzuge Hals über Kopf nach Paris reisen.

Schaeffer mußte helfen. Der kleine muntere Bankier, der voriges Jahr in Monte Carlo seine Liebe auf mich geworfen hatte, und der mir nie – » jamais de ma vie« – vergessen wollte, daß ich ihn durch meine juristische Einsicht aus Madame Eugénies Klauen rettete, indem ich ihr die kompromittierenden Liebesbriefe abschwindelte.

Schaeffer mußte den Wechsel decken.

Es galt zuerst da zu sein, bevor die Bank telegraphierte.

Hätte ich nur Jensen gegenüber Schaeffer nicht in dem Augenblick genannt, als er hinter meine Blöße sah und erkannte, daß es sich um meine Existenz handelte!

 

Im letzten Augenblick änderte ich meinen Entschluß. Denn wenn Jensen gleich telegraphiert hatte, welche Antwort hatte er dann erhalten – und welche weiteren Schritte würde er tun?

Ich fand es am ratsamsten, einen Umweg zu machen.

Ich packte das Notwendigste in meine Handtasche, gab der Haushälterin einen Bescheid für Agnete, die Besuche machte: Sie sollte mich nicht zum Mittagessen erwarten; Geschäftsreise nach Gotenburg für einige Tage. Dann ging ich in mein Kontor zurück, wo alles geschlossen war, schrieb denselben Bescheid für meinen ersten Buchhalter auf einen Zettel und legte denselben auf meinen Schreibtisch. Da ich keine Zeit mehr hatte, zu Mittag zu essen, kaufte ich unterwegs etwas Schokolade und entschloß mich im letzten Augenblick, den Zug neun Uhr drei vom Nordbahnhof zu nehmen, statt des Schnellzuges neun Uhr dreißig. Von Helsingborg wollte ich dann über Trelleborg-Saßnitz ins südliche Ausland reisen.

Nachdem ich es mir im Kupee bequem gemacht hatte, während die ununterbrochene Spannung der letzten zehn Stunden nachließ, warf ich einen Blick auf den Perron hinaus und begriff im selben Augenblick, aber zu spät, um mich zurückzuziehen, daß die Veranlassung, mich umzuwenden, der Blick des Banksekretärs gewesen war, des Bürochefs Jespersen, der draußen vor dem Wartezimmer stand.

Im selben Augenblick wurde das Signal zur Abfahrt gegeben. Der Lokomotivführer flötete. Als der Zug sich in Bewegung setzte, nahm der Sekretär seinen Hut tief ab.

»Guten Abend, Herr Rechtsanwalt!« hörte ich ihn durch das offene Fenster sagen.

Als ich seiner ansichtig wurde, war mir das Blut so gewaltsam zum Herzen gedrungen, daß es schmerzte. In weniger als einer Sekunde war mir die ganze Situation klar geworden. Doch glückte es mir, meine Erregung zu verbergen. Mein Gruß war formell, mit einem leichten Anflug von Erstaunen über seine übertriebene Höflichkeit.

Es glückte mir noch mit einem Seitenblick die Wirkung meines Grußes festzustellen. Jespersen zögerte auf dem Perron mit einem unsicheren, halbverlegenen Blick. Ich hatte seine Berechnungen gestört.

»Alles ist verloren!« – war dennoch mein erster Gedanke, als ich von dem furchtbaren Stoß erschöpft in die Kissen zurücksank.

Ein plötzliches Gefühl von Erleichterung – wie eine geringe und hastige Lichtveränderung – durchzuckte mich. Dann schlug die Dunkelheit dumpf und quälend um mich zusammen.

Jensen hatte telegraphiert. Der Wechsel war protestiert. Die Diskontobank bereits unterrichtet. Meine Situation war scharf und klar beleuchtet, wie ich mit den Bau- und Zementaktien zu den künstlich in die Höhe getriebenen Kursen dalag, ohne sie infolge des außerordentlich strengen Geldmarktes veräußern zu können.

Krach!

Und das andere – wann würde auch das bekannt werden? Was würde Agnete denken? Sie wußte ja nur die Hälfte – von den »schwierigen« Zeiten, unter denen wir alle zu leiden hatten.

Das Automobil, das ich für sie bestellt, und der Pelz, den sie sich bereits gekauft hatte! Und der Chauffeur, nach dem sie sich hier und dort erkundigte. Heute wollte sie zu Hofjägermeisters, wie sie mir heute morgen gesagt hatte. Er konnte uns von Nutzen sein. Der Chauffeur war ein guter Vorwand.

Dann nahm ich mich zusammen. Es war ja keine Zeit zu verlieren.

Es war festgestellt, daß ich im Zuge sei. Weshalb sollte Jensen jetzt, da reiner Tisch zwischen uns war, nicht bis zum äußersten gehen? Er würde ja nur seine Pflicht tun.

Barmherzigkeit – Dankbarkeit?

Jawohl. Jensen, den ich selbst geschaffen hatte!

Sowie ich meinen Fuß auf die Fähre setzte, würde ich verhaftet werden. Der Vogt war benachrichtigt; und der Sekretär, der die gute Idee gehabt hatte, daß ich den Schnellzug vermeiden wolle – nahm nun selbst den Zug neun Uhr dreißig und würde vor mir in Helsingör sein. Er würde mit den Wechseln auftreten, mit dem protestierten sowohl wie mit den laufenden.

Verhaftung auf dem Perron! Auf der Flucht ertappt!

Niemand würde mir glauben – nicht einmal Agnete (ach ja, sie doch vielleicht), daß ich nur auf einige Tage nach Paris wollte, etwa auf eine Woche. Aber wenn Schaeffer Schwierigkeiten machte – wenn er vielleicht rundweg abschlug – würde ich dann den Mut haben, zum Ruin zurückzukehren?

Ich erhob mich voller Entschlossenheit.

Überall sonst, nur nicht heute abend auf der Fähre. Nicht nach Helsingör. Ich hatte dort keinen einzigen Bekannten, den ich mit dem geringsten Schimmer von Wahrscheinlichkeit aufsuchen konnte.

Es mochte sich ja aber um ein galantes Abenteuer handeln! Darum die Heimlichkeit und die Hast – und das Billett nach Helsingör, obgleich ich unterwegs ausstieg.

Da lag eine Lösung, ein Ausweg – vielleicht der einzige. Dieser würde auch Agnete gegenüber die Situation retten.

Sie wußte ja, was mein Herz bewegte, als wir uns einig wurden, uns zu heiraten, und ich mit dem, was sie Gefühlssimpelei nannte, kurzen Prozeß machte.

Agnete hatte mich seither immer im Verdacht gehabt. Und mit ihrer neckenden Kälte hatte sie mir erst neulich mein »altes Götzenbild« vorgehalten, als ich ihr einen eintägigen Ausflug mit Doktor Francke vorwarf.

Elise –

Wo war es doch gleich? – irgendwo auf dieser Route.

In der Gegend von Hilleröd. Ich mußte die Adresse in meinem Taschenbuch haben. Ich sandte ihr jedes Jahr Blumen zu ihrem Geburtstage. Anonym. Der letzte Tribut an alte Tage.

Ja, so sollte es sein.

Bei Hilleröd wollte ich aussteigen. Von dort wollte ich dann meinem Buchhalter telegraphieren, daß ich einige Tage zu meiner Erholung fortbleiben wolle. Briefe sollten postlagernd geschickt werden. Im übrigen: Diskretion!

Er würde sich einzelner Posten in meinem Kontobuch erinnern, gewisser mystischer Blumensendungen an dieselbe Adresse. Dann würde er in seinen grauen Bart lächeln, sich wundern, daß ein geschäftiger und tüchtiger Mann noch immer so jugendlich sein könne; und wenn morgen von der Bank Nachfrage kam, würde er im voraus gewappnet sein. Er würde von Überanstrengung sprechen, von einigen Tagen notwendigen Landaufenthaltes. Keine Adresse. Und wenn Agnete mit ihrem Bescheid von Gotenburg ins Kontor kam, würde er eine Verbeugung machen und ganz unwissend tun. Er würde alles verstehen; und Agnete würde seine Diskretion durchschauen, aber sich trösten, wenn der Buchhalter aus alter Gewohnheit das Kassabuch hernahm und fragte, wieviel die gnädige Frau wünsche.

Als ich den Zug in Hilleröd verließ und ohne zurückzublicken durch das Wartezimmer eilte, um das Telegraphenbüro zu suchen, durchfuhr mich plötzlich der Gedanke:

»Aber das ist ja nur eine Galgenfrist!«

Was half es, wenn ich telegraphierte? Keiner von den Eingeweihten würde an eine Erholungsreise glauben.

Jensen würde sogleich begreifen, daß ich dadurch nur Zeit gewinnen wollte, um fortzukommen. Alle Ausgangspunkte würden bewacht werden, wenn ich meinen Vorsatz preisgab.

Ein Telegramm von Hilleröd würde nur die Richtung angeben, von wo aus man mir nachspüren konnte.

Nein – nein.

Alles hing jetzt von Schaeffer ab. Wenn er mir nicht durch die Brandung half, würde der Schiffbruch unabwendbar sein. Und würde ich – konnte ich dann zurückkehren?

Dann lieber Ungewißheit für alle. Wenn die Rettung erst gesichert war, konnte hinterher leicht eine Erklärung gefunden werden. Wenn gar keine Nachricht kam, würde man am ehesten glauben, daß ich ihnen entschlüpft sei.

Es mußte glücken. Es sollte. Alles was ich in dem eisernen Streben dieser fünfzehn Jahre aufgebaut hatte, bis ich nun endlich vorm Ziel stand und den Lohn ernten sollte – alles das konnte ja nicht wie ein Kartenhaus umgeblasen werden, weil Jensen, den ich selbst geschaffen hatte, den Wind gegen mich kehrte.

Ich ging vor dem Stationsgebäude auf und ab, bis mein Kopf wieder ganz klar war.

Es wehte ein milder Oktoberwind vom Walde herüber und der Mond, der im Zunehmen war, leuchtete klar und scharf gerändert in der leichten, hohen Luft zwischen zerrissenen, fliehenden Wolken, die sich am Himmel jagten und beständig die Form wechselten.

Nach Paris mußte und wollte ich. Aber heute nacht ließ es sich nicht mehr machen.

Wenn ich in dem kleinen Hotel übernachtete, würde man mich morgen gefunden haben – vorausgesetzt, daß die Sache verfolgt wurde. Jensen konnte in seinem Direktionszimmer sitzen und mich nur mit Hilfe des Telephons ausfindig machen. Das war eine Kleinigkeit für eine Bank.

Selbst wenn ich mir den Bart abrasierte, bevor ich ins Hotel ging, ich würde doch gefunden werden.

Nein – ich durfte hier im Lande nicht gesehen werden, bevor die Sache mit dem Wechsel geordnet war.

Ein Beamter rief drinnen im Wartesaal mit schläfriger Stimme aus:

»Der Zug nach Helsinge und Gilleleje!«

Das hatte ich schon früher gehört. Und plötzlich fiel mir ein Abend im vorigen Sommer ein, als ich hier auf derselben Stelle auf und ab ging und in Agnetens Gesellschaft wartete.

Wir wollten über Pfingsten nach Tisvilde. Volle vierzehn Tage hatte ich mich freigemacht.

Der Wald, der Strand und das Meer, die frische ätzende Luft in der starken Sonne – das alles wogte plötzlich warm durch meine Erinnerung.

Eine Sehnsucht nach Frieden und Ruhe ergriff mich so heftig und innig, daß ich dabei in die Knie sank.

Im nächsten Augenblick war mein Entschluß gefaßt. Ich glaube, daß es mehr das Herz als der Verstand war, das in diesem entscheidenden Augenblick meines Lebens den Ausschlag gab.

Es schwebte mir etwas von Niels Andersen aus dem Fischerdorf und seinem neuen Segelboot vor, das ich mit eingeweiht hatte, als wir bei steifem Nordwind ganz bis nach Helsingör gekommen waren und den Berg Kullen an der schwedischen Südküste dunkel und kahl hatten liegen sehen.

Ich sah mich am Steuer fitzen wie damals. Ich malte mir eine lustige Tour für den morgigen Tag aus – mit Nahrungsmitteln und Getränken an Bord – während wir auf eines der Fischerdörfer nördlich von Helsingborg zusteuerten; Niels Andersen würde mit der Pfeife im Munde dasitzen und über den Einfall des Kopenhageners schmunzeln.

Ja. Das war der Weg.

Jetzt mit der Bahn durch den Wald nach Helsinge, und morgen mit dem Segelboot um das nördliche Seeland herum.

Der Entschluß stimmte mich fast heiter. Ich atmete die starke Herbstluft in vollen freien Augen ein, zündete mir eine Zigarre an und eilte zum Billettschalter.

 

Nachdem ich in Kagerup umgestiegen war, machte ich es mir im Kupee bequem. Ich war der einzige Passagier.

Mein Gehirn war von dem beständigen Wälzen des einen Gedankens ermüdet; und ich fiel in einen Halbschlaf, aus dem ich erwachte, als die Zigarre mir aus dem Munde glitt.

Ich richtete mich verwirrt auf. Ich war einen Augenblick weit fort gewesen und konnte mich nicht gleich besinnen, wo ich war und wie ich hierher kam.

Ich empfand einen schmerzenden Druck im Hinterkopf, den ich abzuschütteln versuchte. Da kam mir plötzlich die Erinnerung zurück und ich wurde von einer dumpfen Mutlosigkeit ergriffen.

Ich fühlte mich so unsagbar verlassen, losgerissen von allen Beziehungen, im Kopf und Herzen gesprengt, als wäre ich nach einer Explosion, bei der ich nichts anderes als das nackte Leben gerettet hatte, allein in einer endlosen Wüste zurückgeblieben.

Ich mußte mich mit aller Energie aufraffen, um nicht zusammenzubrechen. Und als ich in Helsinge auf dem Bahnsteig stand, neugierig von einem jungen Assistenten betrachtet, den mein Erscheinen aus seiner Schläfrigkeit geweckt hatte, erkannte ich mit plötzlicher Klarheit, daß ich mich verrechnet hatte.

Es war meine Absicht gewesen, in Helsinge zu übernachten; aber ich hatte nicht an die Zeitungen gedacht. Morgen würden sie vielleicht schon etwas bringen. Und was noch schlimmer war: der Wirt des Hotels war ein Klient von mir. Ich hatte einen Prozeß für ihn geführt, ihn gewonnen, und er hatte mich seitdem im besten Andenken. Ich konnte mich in Helsinge nicht verbergen.

Einen Augenblick überlegte ich, ob ich mich seiner Gnade anvertrauen sollte. Mein Zutrauen zu menschlicher Dankbarkeit aber war zu gering. Dazu hatte ich sie selbst viel zu oft getäuscht.

So wanderte ich denn ziellos in dem schnellwechselnden Mondlicht durch das Städtchen.

Die Müdigkeit begann sich schwer über meinen ganzen Körper zu verbreiten. Ich fühlte ganz deutlich, wie mein Gehirn erschlaffte, während meine Beine schwer und stoßweise schlenkerten, als seien sie ohne jede Verbindung mit dem übrigen Körper.

Ich ging den Weg, den ich von früher her kannte. Ich war ihn im letzten Sommer mehrere Male gegangen und gefahren.

Ich erkannte einen Giebel, der weiß und breit dalag und zwischen Fruchtbäumen leuchtete, die ich in schönster Blüte gesehen hatte, wie ich mich entsann.

Das Haus dort mit dem niedrigen Ziegelsteindach über einer efeuüberwachsenen Mauer, der Pfarrhof mit dem alten, düsteren Garten – mein Auge streifte alles wiedererkennend und doch drang es mir nicht ins Bewußtsein; das Tor zu meinem Gehirn war geschlossen.

Ich weiß nicht, wie lange ich so auf der Landstraße dahintrabte, ohne Ziel, aber mit einer unklaren Absicht, deren Inhalt ich vergeblich festzuhalten strebte.

Durch die stille Einsamkeit kam hinter mir ein Wagen angerattert. Ich drehte mich nicht um und lauschte nur auf den Abstand, der kürzer und kürzer wurde.

Ich vermutete, daß es ein Zweispänner sei und beschloß, daß ich aufsitzen wollte, wenn nur ein Mann im Wagen saß.

Es war ein Bauer, der seinen leeren Lastwagen nach Haufe fuhr.

Ich grüßte und fragte, ob ich aufsitzen könne.

Er nickte und machte mir schweigend auf dem Kutscherbrett Platz.

Er fragte und ich antwortete, daß ich nach Tisvilde wolle.

Das traf sich gut. Er sei Besitzer des dritten Gehöftes rechts, eben bevor die Landstraße aus dem Städtchen Tisvilde zum Fischerdorf abbog. Ich sei vielleicht der neue Weginspektor, der in der Gemeinde erwartet würde?

Nein, das nicht, aber ich sei beim Wegebau. Aus dem Ministerium. Auf der Inspektionsreise. Und auf dieser Landstraße fuhr es sich ja recht gut.

Das interessierte ihn; er benutzte die Gelegenheit, um über den Gemeinderat zu klagen, der Kies liefern sollte und denselben außerhalb der Gemeinde gekauft hatte, obgleich er – mein Kutscher – eine Kiesgrube besaß, die die schönste Ware enthielt, die man meilenweit auftreiben konnte. Aber er hätte sich früher mit dem Vorstand über einige Kälber veruneinigt.

Ich nickte und stimmte ihm von Amts wegen mit vorsichtiger Zurückhaltung zu. Ja, ja, alles solle untersucht werden und würde sich schon ordnen lassen. Nur Zeit geben. Ich fühlte mich ganz zu Hause in meiner Rolle und merkte, daß er mich für einen prächtigen Menschen hielt, mit dem man ein vernünftiges Wort reden konnte.

Ich versuchte, ihn nach Niels Andersen mit seinem neuen Segelboot auszuforschen, aber der Bauer kannte die Fischer nicht und war nicht von den Kiesgruben und dem Gemeinderat abzubringen.

Dort, wo der Weg abbog, setzte er mich ab. Es fiel mir rechtzeitig ein, ihm eine Zigarre anzubieten. Dann stand ich hinter einer Pappel und starrte dem Wagen nach, der jetzt auf dem privaten Feldweg davonrumpelte. Wieder allein.

Das Wetter war still und hell. Die Wolken waren ruhiger geworden, die Luft atmete sich leicht und angenehm.

Wieder schritt ich auf der Landstraße dahin, von dem Sitzen auf dem Wagen ausgeruht.

Ich fühlte mich von neuem stark und widerstandsfähig und schritt in der mondhellen Nacht schnell aus.

Ich folgte dem Weg, der zum Fischerdorf führte, den ich voriges Jahr so häufig gegangen war.

Obgleich ich mich zwang, an den morgigen, schicksalsschwangeren Tag zu denken, an die Segeltour zur schwedischen Küste hinüber, so kehrten meine Gedanken doch immer wieder zu den Sommererinnerungen zurück, die klarer und klarer wurden und selbst die geringfügigsten Dinge hervorleuchten ließen.

Dort drüben lag der Waldsaum wie eine dunkle Masse mit flimmernden Mondscheinskonturen.

Dort war die kleine weiße Villa, hinter der der Fußweg in das junge Gehölz hineinführte.

Der Wald lag festlich und lockend in der stillen, hellen Nacht da, voll von fernem Frieden.

Ohne es eigentlich zu wollen, bog ich in den sandigen Feldweg mit den tiefen Wagenspuren ein.

Auf der einen Seite waren Kartoffeln gepflanzt, mit gelben, verwelkten Blättern, durch die der Sandboden schimmerte. Auf der anderen Seite links schienen es Rüben zu sein; aber es waren magere elende Stümpfe.

In dem bleichen Mondlicht wurde die Kärglichkeit grell und gespensterhaft, gleichsam menschlich hart. Die weiße Erde lachte höhnisch über die unermüdliche Genügsamkeit der Menschen, die ihr so elende Früchte abgezwungen hatten.

Ich dachte an mein elegantes Heim, die weichen Teppiche, die dicken, behaglichen Portieren – unsere Wohnung war nach dem Herbstreinmachen gerade für den Winter instand gesetzt worden – an das festliche Licht unserer neuen elektrischen Krone.

Solche Früchte hatten Agnete und ich, wie so viele andere Stadtbewohner, demselben Boden abgezwungen.

Zum erstenmal seit langen Zeiten fühlte ich von der anderen Seite. In einem tiefen und lebhaften Unbehagen empfand ich die Gleichheit der großen Natur und den großen Unterschied in der menschlichen Gesellschaft.

Der Gedanke überraschte mich. Ich blieb unwillkürlich stehen, um ihn zu widerlegen. Und ich fand schnell zu meinem Trost einen Grund für den großen Unterschied heraus, nämlich daß die Gleichheit nur eine Artgleichheit sei, wodurch die Ungleichheit der Individuen in Anlage, Willen und Fähigkeiten verdeckt wurde. In der Tier- und Pflanzenwelt gab es wohl kaum ein Seitenstück dazu. Selbst Söhne aus einer Ehe, die dieselbe Erziehung genossen hatten, konnten himmelweit verschieden voneinander sein.

Ich fühlte mich bestärkt und wollte weitergehen; da aber war es, als griffe mir eine kalte Hand ans Herz.

Es war kein Gedanke, jedenfalls kein vollentwickelter. Es war eher eine Vorahnung, die wie in einer Halluzination aufblitzte.

Ich sah mich selbst in meiner eigentlichen Lage. Es war die Wirklichkeit in ihrer Nacktheit, die sich mir plötzlich wie in einer Vision offenbarte.

Ich sah mich selbst auf der Grenzscheide, ja eigentlich bereits auf der anderen Seite. Die weichen Teppiche, das Wohlleben und der Überfluß unter dem festlichen Licht der elektrischen Kronen schienen mir bereits fern; ich konnte das alles nicht mehr erreichen, wenn ich die Hand danach ausstreckte.

Aber das auf der anderen Seite – die neidische Kärglichkeit, die elenden Früchte, die aus einer unfruchtbaren, weißen Erde, in einem unfruchtbaren, weißen Licht hervorgeseufzt wurden – das lag mir bereits ganz nah; ich stand sozusagen schon mit beiden Beinen darin, mußte mit des Lebens Notdurft kämpfen; und ich ahnte nicht, wie und wo ich angreifen sollte.

Der Eindruck war so lebendig, daß mir einen Augenblick der Atem stillstand und ich von einem plötzlichen und heftigen Kälteschauer geschüttelt wurde.

Ich raffte meine ganze Kraft zusammen und versuchte von neuem meine Lage durchzudenken, wie sie sich mir in diesem neuen, bitter scharfen Licht, das jede Ausschmückung und Verkleidung durchdrang, offenbarte.

Während ich zwischen den jungen Buchen dahinschritt, deren dürres Laub raschelte, wenn mein Mantel es streifte, und während mein Blick dem Weg folgte, der sich vor mir wie ein weißer Gürtel im Mondlicht schlängelte, sah ich das Gebäude meiner letzten fünfzehn Jahre zusammenstürzen.

Ich sah den Bankerott über meinem Haupte. Ich sah die Schuld wie eine schwere Wolke über meinem ganzen zukünftigen Leben brüten. Ich sah die lichten und lockenden Verheißungen, die bereits so nah gehangen, daß ich sie pflücken wollte, entschweben und in der blauen Ferne verschwinden, wo andere Hände sie griffen – die begehrlichen Hände meiner Feinde ergriffen sie triumphierend!

Ich sah das, was das Schrecklichste von allem war, das, was jetzt offenbar werden würde – die anvertrauten Gelder, ihre Gelder, die durch meinen Fall verloren waren. Ich sah mein Heim aufgelöst, ich hörte Agnetens furchtbares Weinen und ihre hysterischen Vorwürfe. Ich sah einen Einsamen, einen von allem und allen Verlassenen, einen gebrochenen, vielleicht einen gestraften Mann. Und dieser Mann war ich.

Da überkam mich das Entsetzen. Wie ein Wolkenbruch wälzte sich die Verzweiflung, die unbeherrschte, sinnlose Verzweiflung zum erstenmal auf mich herab.

Es gab keinen Halt mehr. Ich hatte jeden festen Griff verloren. Mein Gemüt flatterte wie ein geblendeter Vogel in tiefster Finsternis. Und ich weinte. Ich schluchzte fassungslos, indem ich mit beiden Händen einen Baum umklammerte, dessen dürre Blätter durch die Erschütterung, die mein Schluchzen dem dürren Stamm mitteilte, auf mich herabregneten.

Müdigkeit, eine plötzliche tiefe Ermattung, die einer Ohnmacht glich, brachte mich wieder zur Besinnung.

Ich blickte mich um, erinnerte mich nicht, wie ich hierher gekommen war, und erkannte die Gegend nicht.

Ich schämte mich meiner Tränen, als ob jemand sie gesehen hätte.

»Bin ich ein Mann?« fragte ich, indem ich meine Augen trocknete.

Da vermißte ich meine Handtasche, in der ich alles, was meine letzte Hoffnung ausmachte – Geld, Papiere – aufbewahrt hatte. Ich hatte keine Kraft mehr zu neuer Angst, blickte nur dumpf vor mir auf die Erde.

Sie lag neben meinem Fuß.

Ich nahm sie auf, wischte sie mechanisch ab und ging weiter geradeaus.

Ich ging lange mit gebeugtem Kopf, ohne einen Gedanken. Bis ich an einem Scheideweg stand, der in blendender Beleuchtung dalag, weil er von keinen Bäumen beschattet wurde.

Der Mond stand hoch an einem jetzt wolkenlosen Himmel, hoch und durchsichtig, mit einem weichen Grund von grauviolettem Dunkel.

Dort stand eine alte riesige Buche und darunter ragten die Pfähle einer Bank kahl in die Luft, da der Sitz für den Winter entfernt war.

Jetzt wußte ich, wo ich war. In jener Richtung lag das Meer. Dieser Weg führte zur Asserbo-Ruine – und jener südlich um die Tannenplantage herum, zum Fischerdorf.

Ich schlug sofort und ohne Bedenken den Weg zum Meere ein. Mein Gemüt war jetzt von einer instinktiven Klarheit erfüllt. Das Entsetzen hatte es mir eingegeben.

Nicht nach dem Fischerdorf. Nicht zu Menschen. Niemand durfte wissen, wo ich mich aufhielt. Ich klammerte mich von neuem, wie ein Mensch beim Schiffbruch, an die einzige rettende Planke: Schaeffer in Paris.

Bis ich ihn erreicht – bis ich ihm meine Lage dargestellt und gesagt hatte: So ist es! Retten Sie mich oder verurteilen Sie mich! Mein Leben liegt in Ihrer Hand! – bis dahin mußte tiefes Dunkel um mich sein. Niemand, nicht einmal Agnete, durfte meinen Aufenthalt wissen, damit man mich nicht hindern konnte, das Äußerste zu versuchen.

Wie ich ohne die Hilfe der Fischer nach Schweden kommen sollte, ahnte ich nicht; ich wußte nur, daß ich weder Niels Andersen noch jemand anders, der mich kannte, zu begegnen wagte. Ich mußte mir selbst helfen.

Ich wußte auch, daß bis dahin der Wald mein Heim sein mußte. Ich entsann mich eines historischen Romans, den ich als Knabe gelesen hatte, und des Wortes »Waldpfadsucher« – der arme, friedlose Mann, dessen einzige Zuflucht der tiefe, große Wald war.

Ich lächelte bitter. Einen Wald, der solchen Schutz gewährte, gab es nicht mehr.

Plötzlich mußte ich an den großer Kiefern- und Birkenwald an der Riviera denken. Ich erinnerte mich der würzigen Luft, der steilen Klippenabhänge, der rotbraunen Stämme. Man konnte so weit, weit zwischen ihnen hindurchblicken. Dort gab es kein deckendes Laub, kein heimliches Versteck, ausgenommen da, wo der nackte Urstein zwischen Moos und Nadelteppich durchbrach, und Schutz hinter seinem Vorsprung gewährte.

Da war doch der Wald hier im Lande des Sandes ein besserer Zufluchtsort für denjenigen, der außerhalb stand.

Ich erreichte den Fahrweg. Einen Augenblick blieb ich stehen und lauschte.

Da hörte ich durch die Stille ein gedämpftes, eintöniges Gemurmel. Das war das Meer.

Dieser Laut hat mich seit meiner Kindheit andächtig gestimmt. Auch jetzt ergriff er mich mit feierlichem Ernst und zog mich an sich, als sei es von Anfang an mein Ziel gewesen, dorthin zu gelangen, Aug in Auge mit dem Meer.

Ein Fuchs kreuzte den Weg weit vor mir. Er zögerte einen Augenblick im Mondlicht, dann entdeckte er mich und verschwand in dem dichten, jungen Tannengehölz auf der anderen Seite.

Dieses Lebende, das unerwartet mitten in dem toten Lichte auftauchte – die schweigende Wachsamkeit und die eilig flüchtenden Füße, dieses lautlose Getriebe der ewig Verfolgten im Walde, berührte mich wie ein Erlebnis.

Ich fühlte mich auf eine eigene persönliche Weise damit verwandt und wunderte mich gleichzeitig, wie fest die Natur Leben und Leben im Kampf ums Dasein zusammenknüpft. Die Unterschiede verschwinden, und zurück bleibt nur die Brüderschaft zwischen allen Lebenden. Das kam zu mir wie etwas, das ich einst gewußt, aber schon lange vergessen hatte.

Wo der Weg abbog und längs der Küste zum Fischerdorf führte, kreuzte ich den Pfad und ging geradeaus in das zerzauste und verzerrte Gestrüpp von Kiefern und Birken und Tannen hinein, deren armdicke Stämme in seltsamen Krüppelformen auf der Erde krochen.

Manchen frühen Morgen hatte ich mir hier einen Weg hindurchgebahnt, wenn ich ein Bad vom offenen Strand aus nehmen wollte.

Die seltsamen Formen und die unablässig knarrenden Laute, wenn der Wind über den niedrigen Dünenkamm streicht, haben der Pflanzung den Namen Gnomenwald gegeben. Und jetzt in dem Mondlicht, das alle Farben auslöscht und mit seinem toten Schein gleichsam die Dinge selbst tötet, um ihre Schatten lebendig zu machen, streckten die Krüppel ihre verzerrten Glieder im zitternden Schattenspiel über die weiße Erde.

Bei jedem Schritt, den ich machte, war es mir, als klage jemand, als trete ich auf etwas Lebendes, das erschreckt und wimmernd aus dem Schlaf aufführe. Die trockenen, halbverwehten Äste wippten in die Höhe, reckten sich und knarrten, sobald ich einen von ihnen berührte. So ruhten sie aufeinander, schlangen sich ineinander, wuchsen ein und aus in einem einzigen weitverzweigten Hebelsystem, das den Laut zu einem Chor von seufzenden und klagenden Stimmen fortpflanzte.

In meinem erschöpften Zustand – es war, als ob jeder Nerv bloßläge – zuckte ich wieder und wieder zusammen, blieb mit angehaltenem Atem stehen und lauschte voll Entsetzen, obgleich ich wußte, was es war.

Je tiefer ich in das Gehölz hineinkam, desto schlimmer wurde es. Jetzt, wo ich ganz von den verkrüppelten Bäumen umringt war, konnte ich mich der Eindrücke nicht mehr erwehren.

Es war, als wimmelten phantastische Teufelsgestalten zu meinen Füßen, die sich in Krampfzuckungen wanden und von dem Schattenspiel auf dem weißen Boden verdoppelt und vergrößert wurden.

Ich zitterte vor Angst, obgleich ich wußte, daß sie grundlos sei, und lief, so gut ich es vermochte, um so schnell wie möglich zu den Dünen zu gelangen.

Das Gewürm wurde kleiner und kleiner. Das Gras, dünn und bleich, wich ganz dem Sande. Als ich endlich die Dünen erreichte und hinter der Verbrämung von Sandhaargras das offene, weite, im Mondschein glitzernde Meer erblickte, wollten meine Knie mich nicht länger tragen.

Ich schleppte mich zu der nächsten Vertiefung im Sande, wo der Mondschein breit und scharf über der Höhlung lag. Dort sank ich nieder, zog meinen Mantel fest um mich, schlug den Kragen um die Ohren, löste meine Reisedecke, die an die Handtasche geschnallt war, und es gelang mir noch, sie über meine Füße zu breiten.

Dann streckte ich mich in den weißen Sand, im Schutze des Dünenrandes, den Kopf im Mondschatten – und schlief fast augenblicklich ein.

Mein letzter Gedanke galt der Schokolade, die ich in der Handtasche hatte. Jetzt erst, wo ich ausgestreckt lag, fühlte ich Hunger; bevor ich mich aber aufgerichtet hatte, um die Tasche zu nehmen, schlief ich ein.

 

Ich erwachte dadurch, daß der Wind mir kalt und feucht übers Gesicht strich.

Meine Augen, die zusammenklebten, so daß es fast weh tat, sie zu öffnen, blickten in einen hohen, hellgrauen Himmel hinein.

Es fror mich an den Händen, und ich hatte die Knie, der Kälte und Leere wegen, die in meinen Gedärmen nagten, hochgezogen.

Ich streckte meine Beine aus. Sie waren steif vor Müdigkeit und meine Sohlen schmerzten von dem ungewohnten Umhertraben.

Meine Augen untersuchten die Stelle, wo ich lag.

Eine Spinne kam unter meinem Bein hervorgekrochen und eilte über den losen, weißen Sand zu dem Sandhaargrasgestrüpp, zwischen dessen Wurzeln sie verschwand.

Ich habe von jeher Spinnen verabscheut. Ich zuckte zusammen, und meine unglückliche Lage, auf der Flucht, in der tiefen Einsamkeit zwischen Meer und Wald, stand plötzlich in voller Klarheit vor mir.

Die Zunge klebte mir vor Durst am Gaumen. Ich war so hungrig, wie ich mich nicht erinnern konnte, jemals gewesen zu sein.

Ich sah mein helles behagliches Schlafzimmer vor mir. Um diese Zeit pflegte ich halbschlafend darauf zu warten, daß das Mädchen anklopfen und das fertige Bad melden würde.

Kein Bad, kein Frühstück.

Ich legte mich in den Sand zurück und schloß die Augen vor der Welt.

Ach, wenn ich doch für immer einschlafen, still in die endlose Ruhe hinübergleiten könnte!

Der Stahl in mir war gebrochen. Ich fühlte mein Gehirn wie eine weiche, fließende Masse und dachte, daß keine Willensanspannung es jemals wieder würde sammeln können.

Lange lag ich schlaff und stumpf mit geschlossenen Augen da.

Dann begannen meine Gedanken um das Geschehene zu kreisen. Ich suchte instinktiv alles das hervor, was mein Unglück verursacht hatte. Ich suchte mir eine Selbstverteidigung hervor.

Die elende Kleinlichkeit in allen Dingen hierzulande.

Dänisch – eine Nation, die niemand dort draußen, wo gearbeitet und geschaffen wird, kannte. Eine Nation, die ihre Söhne nicht tragen konnte – wie die englische, die französische. Eine Nation, die von ihnen getragen werden mußte.

Wie leicht wäre es für einen Mann mit meiner Energie und mit meinen Fähigkeiten, die großen Ziele zu erreichen, wenn ich Engländer gewesen wäre.

Wie oft war ich dort draußen – noch im vorigen Jahre – dieser mitleidigen Höflichkeit begegnet, mit der die Männer der großen Nationen die kleinen betrachten, wenn diese in wichtigen Sachen auch ihre Meinung abgeben wollen.

Nirgends eine Stütze. Auch nicht durch meine Herkunft – Sohn eines Bevollmächtigten in einem öffentlichen Kontor – das war kein vorteilhafter Boden zum Emporwachsen.

Und dieses Klima. Diese, feuchte, kalte, immer windige Luft und dieses ewige fahle Grau.

Ein sonnenloses, unbewohntes Land, wo alles Neue und Große im Entstehen erstickte oder an Auszehrung dahinsiechte, wo kein ehrlicher Vorsatz festgehalten werden, kein Stolz und kein Sieggefühl Wurzel schlagen konnte.

»So gut es geht« war die Losung in diesem kleinen verkommenen Lande. Kein männliches: »Es soll!«

Und wie das Land, so die Menschen. Da war kein Unterschied.

Als ich die Augen von neuem aufschlug, war es, als ob die Erde mit einem tiefen Seufzer aufatmete.

Der graue Himmel leuchtete in dem zartesten Rosa, als ob ein unendlich matter Dampf darüber hinhauchte.

Ich richtete mich auf und starrte über die güldenen Baumwipfel in die glühende Esse des Sonnenaufganges hinein.

Das Licht zog mich an, wie die Lampe eine Motte zwingt.

Und die schimmernde Urfülle entzündete einen Funken von neuem Lebenswillen in meinem Gemüt.

Das Ich, das im tiefsten Innern wohnt und sich zuletzt verliert, weil es selbst über Leben und Tod bestimmt, fühlte den Funken und atmete, bis es Feuer fing und die Widerstandskraft von neuem entzündete.

Die Vernunft kam wieder zu Worte.

Sie hielt mir vor, daß alles, was mir in dieser Nacht und dieser Morgenstunde widerfahren war – die Kälte, der Hunger, der Durst, alles das, was Kampf um das nackte Leben heißt – mich erwarten würde, wenn ich nicht jetzt, in dieser Stunde, alle Federn von neuem anspannte und mich dem Sturm entgegenwarf.

»Jetzt gilt es nicht mehr Reichtum, Macht und Ehre!« sagte ich mir selbst, »jetzt gilt es das Leben. Entweder werde ich gerettet – oder Not und Entehrung. Ein Drittes gibt es nicht. Und mit der Schande will ich nicht leben.«

Zuletzt wurde mir das alles in seiner ganzen Härte und Nüchternheit klar. Es zeigte sich mir in dem unbarmherzigen Licht des Morgens, während ich aufs Meer hinausstarrte, wo die Nebel der Sonne zu weichen begannen.

Während ich am Strande, auf dem festen Sandboden hin und her ging, wurde der Plan für den Tag in mir reif.

Ins Fischerdorf durfte ich nicht gehen. So lange ich noch nicht wußte, ob die Zeitungen Wind von der Sache bekommen hatten, durfte ich mich niemandem, der mich kannte, zeigen.

Ich mußte mir Zeitungen verschaffen. Das war klar. Aber wie?

Die Gegend hier herum war mir einigermaßen bekannt. Meine Gedanken hefteten sich auf den Sandkrug, der auf der anderen Seite des Waldes, nach Friedrichswerk zu lag.

Agnete und ich waren einmal dort vorbeigefahren. Die einsame Lage und der jütländische Heidecharakter hatten mich interessiert. Es wohnten damals Sommergäste da, denn ich erinnerte mich, daß wir Kopenhagener Kinder hinter den Hühnern herjagen sahen.

Niemand im Krug hatte mich gesehen. Davon war ich überzeugt. Dort wollte ich jetzt hingehen und warten, bis die Landpost kam.

Wenn es aber dort keine Hauptstadtzeitung gab, dann mußte ich nach Friedrichswerk gehen und mir dort Nachricht verschaffen, so gewagt es auch war.

Als der Beschluß erst gefaßt war, kam Leben in mich.

Ich kniete im Sande nieder und wusch mir Gesicht und Hände in dem salzigen Wasser, das mir schäumend entgegenlief.

Dann kam mir der Gedanke, meinen Schnurrbart abzunehmen.

Ich holte die Handtasche, die noch neben meinem »Bett« stand.

Auf der äußersten, niedrigen Sandbank sitzend, seifte ich mich mit Hilfe des Salzwassers ein und barbierte mich vor meinem Taschenspiegel.

Weit draußen fuhr ein Fischerboot. Das Segel leuchtete in der Sonne. Einige Möwen umkreisten schreiend eine seichte Stelle, wo das Wasser schwarz erschien. Anderes Leben war nicht zu entdecken.

Das frische, eiskalte Wasser hatte mich gestärkt und meine Nerven aufgerüttelt. Jetzt aber meldete sich wieder der Hunger, so daß ich nicht widerstehen konnte, obgleich ich beschlossen hatte, zu warten, bis ich zum Krug käme. Ich fürchtete den Durst, der folgen würde.

Nachdem ich aber die Rolle erst angebrochen hatte, aß ich, bis die Schokolade mir am trockenen Gaumen festklebte, so daß ich nicht schlucken konnte.

Wie ich gefürchtet hatte, wurde der Durst bald quälend. Ich mußte Wasser haben, um jeden Preis. Selbst das Meerwasser lockte mich einen Augenblick, aber ich wagte es nicht, meines Magens wegen. Denn nie war meine Gesundheit mir kostbarer gewesen als heute.

Meine Uhr war stehen geblieben. Ich hatte gestern abend keinen Gedanken dafür gehabt, sie aufzuziehen.

Ich berechnete nach dem Stand der Sonne, daß die Uhr gut sieben sei.

Bis zum Krug mochte ich eine Stunde zu gehen haben; vor zehn Uhr würden die Zeitungen aus der Hauptstadt dort wohl kaum zu finden sein.

Ich bürstete meinen Mantel, packte alles wieder in die Handtasche und verließ das Dünenloch, das mein Bett gewesen war.

Ich hatte vorläufig nur einen Gedanken, nur einen brennenden bebenden Wunsch, Wasser zu finden!

Ich ging durch den Gnomenwald, der jetzt im Tageslicht friedlich dalag.

Vor mir erhob sich der steile, bewaldete Abhang, von dessen langer Wellenlinie alle Farben des Herbstes zu mir herableuchteten.

Ich stieg mühsam den verborgenen Zickzackpfad hinauf, der durch ein Dickicht von Heidekraut und Moos, Wacholder und jungen Tannen zum Gipfel des Branteberges hinaufführte.

Jetzt, wo ich alles wiedersah, erinnerte ich mich dessen genau.

Als ich hier zum letztenmal ging, war ich stark und fröhlich gewesen; mein Weg lag klar und gebahnt und gerade vor mir. Ich fühlte bereits das Ziel in meiner Hand.

Jetzt war ich auf der Flucht, vielleicht verfolgt – vielleicht bereits ein gezeichneter Mann. Ein Ausgestoßener, der um einen Trunk Wasser seufzte.

Als ich den Waldessaum erreicht hatte, klangen taktfeste Schläge aus dem Dickicht. Ich erschrak. Es klang, als ob jemand Holz hackte.

Ich lauschte angestrengt und versteckte mich, so gut ich konnte, hinter dem roten, verwelkten Laub eines Buchenbusches.

Jetzt klang es von neuem; ich spähte in die Richtung, woher der Laut kam, und entdeckte einen Specht, der, seine abgestumpften Schwanzfedern gegen den Stamm einer jungen Eiche gestemmt, mit seinem starken Schnabel in die Rinde hackte, um Larven zu suchen.

Dann schritt ich eilig den Weg entlang, der mir bekannt war. Ich erinnerte mich dunkel einer Brücke von scheckigen Birkenstämmen, wo der Wagen vorsichtig fahren mußte.

Während ich tüchtig ausschritt und sehnsüchtig nach dieser Brücke spähte, unter der sich wohl Wasser befinden mußte, hörte ich einen Laut wie von gedämpften, klingenden, eintönigen Lerchenschlägen dicht neben mir.

Fröhlich plätschernd tönte der herrliche Klang durch den stillen Morgen.

Ich kannte den Klang.

Drei Schritte von meinem Fuß entfernt lief ein Bach unter dem Weg hervor, plätscherte und blinkte über moosbewachsene Steine, die dort einst in längst entschwundenen Zeiten zum Ablauf aufgestellt worden waren.

Schon bei dem bloßen Geräusch lief mir das Wasser im Munde zusammen. Indem ich die Handtasche aufriß und den langen Glasbehälter mit dem Silberdeckel hervorsuchte, in dem ich meine Zahnbürste aufbewahrte, fiel mir ein, daß diese selige Erwartung eines einfachen Trunkes Wasser ein Genuß sei, den ich früher nie gekannt hatte. Ein neuer Lebenswert, der sich mir offenbarte.

Ich ließ mir kaum Zeit, den Behälter reinzuspülen, bevor ich ihn füllte und das kalte klare Wasser mit dem erdigen Beigeschmack in großen Zügen trank.

Hinterher, als mein schlimmster Durst gelöscht war, fielen mir die verborgenen Fäulnisprozesse des Herbstes ein.

Um die Zeit hinzubringen ruhte ich eine Weile in dem trockenen Laub am Bache.

Dann sprang ich auf und marschierte mit neuem Mut weiter.

Ich kam am Försterhause vorbei und erkannte den Weg, der von dort zur Ruine führt. Dann stand ich plötzlich am Ausgang des Waldes, dort, wo das Land hinter der meilenweiten Medelbyer Gemeindewiese bis zu den Weiden von Arresee reicht, mit sandigen Stoppelfeldern und hellem, gepflügtem Land fern am Horizont.

Um mir den Anschein zu geben, daß ich von Friedrichswerk käme und auf einem Morgenspaziergang begriffen sei, bog ich rechts ab und ging über die Heide, von wo ich durch die dichte, junge Pflanzung die Landstraße ein Stück hinter dem Krug erreichte.

 

Als ich zum Krug kam, der rechts am Wege lag, nicht weiter zurück, als daß ein Wagen gerade am Hause vorbei und in das große, dunkle Tor des alten Stalles hineinfahren konnte, stand ein Mädchen am Gitter eines kleinen, dichtbewachsenen Gartens und hing Wäsche zum trocknen auf.

Ich hatte meinen Rockkragen hochgeschlagen, um meine Diamantnadel zu verbergen, da ich fürchtete, daß sie in dieser Gegend Aufsehen erregen würde. Ich bemühte mich überhaupt, einen möglichst soliden Eindruck zu machen.

Ich grüßte flott:

»Guten Morgen, Fräulein!«

Dann nahm ich vor dem Hause Platz, wo noch, vom Sommer her, Tische und Bänke standen.

»Das war ein tüchtiger Marsch!« stöhnte ich, mit allen Anzeichen der Müdigkeit.

Das Mädchen wandte sich zu mir um, während ihre bloßen Arme noch mit der Wäsche beschäftigt waren.

»Sie kommen wohl aus Friedrichswerk?«

Ihre kleinen, blauen Augen betrachteten mich mit wohlwollender Neugier von der Seite.

»Freilich. Ich möchte gern Frühstück haben und so schnell wie möglich. Denn so ein Morgenspaziergang macht Appetit.«

Sie trat an meinen Tisch und betrachtete mich, die Hände in die Seiten gestemmt, während sie ihren Knöchel mit dem linken Fuß rieb.

»Sie sind wohl'n Maler?« fragte sie und prüfte meinen Mantel und meine Reisemütze mit den Augen – »Kunstmaler!« verbesserte sie sich und wurde rot.

Kunstmaler! – Du lieber Gott, damit traf sie den schönsten Traum meiner Kindheit.

»Stimmt! – Woran haben Sie das gleich sehen können?«

»Ach! Hier wohnte im Sommer 'n Kunstmaler, der war auch so kahl im Gesicht und trabte des Morgens immer auf der Landstraße herum wie Sie.«

»Wie hieß er?«

»Wie hieß er doch gleich –?«

Sie rieb ihr frisches Gesicht mit dem roten Unterarm, aber der Name wollte ihr nicht einfallen.

Da erinnerte ich mich, daß man im vorigen Sommer im Kurhaus davon gesprochen hatte, daß der Maler Bertel Lund sich auf den Höhen von Tirbike angesiedelt habe.

»Bertel Lund?« fragte ich.

»Ja, ja, so hieß er! – Bertel Lund!«

Sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Aber freilich. Er ist ein guter Freund von mir.«

Ich ergriff den Ausweg, den sie mir bot, und ich konnte ohne Gefahr lügen, denn ich hatte erst kürzlich in der Zeitung gelesen, daß Bertel Lund auf Stipendien nach Italien gereist sei.

Dann brach ich ab und fragte nach dem Frühstück.

Schinken, Eier und Käse war alles, was ich auftreiben konnte. Und dann natürlich Brot und Kaffee.

Als sie hineinging, um das Essen zu bestellen, rief ich hinter ihr her:

»Haben Sie die Morgenzeitungen schon? In Friedrichswerk hab ich sie noch nicht bekommen können.«

Es seien nur Zeitungen von gestern da. Aber sie erwarte jeden Augenblick die Post.

Einige Hühner gingen umher und pickten Häcksel, das mitten im Tor der Wagenremise verschüttet war. Im Garten zwitscherte ein Buchfink. Drinnen im Stall zog ein Pferd am Halfter, daß es in den Gitterstäben rasselte. Sonst nichts Lebendes.

Das Haus hatte zwei Türen; die eine führte in die Gaststube, die andere in einen Laden. Ich blickte neugierig dorthin. Im Fenster hingen einige Sensenblätter und anderes Werkzeug; dann waren da auch ein paar verstaubte Zigarrenkisten, einige Pakete Tabak, Sardinendosen und ein Glashafen mit roten Zuckerstangen.

Es befriedigte mich, daß es einen Handelsladen im Krug gab.

Kurz darauf drang der Geruch von frischgebranntem Kaffee zu mir heraus.

Der Duft war so lieblich, daß mir vor Erwartung die Hände zitterten und das Wasser mir im Munde zusammenlief.

Als das Mädchen endlich herauskam und den Tisch deckte, Brot, Käse und einen Teller mit aufgeschnittenem Schinken vor mich hinsetzte, kostete es mich Mühe, meine Ungeduld zu verbergen.

Ich wunderte mich über meinen Hunger. Solange war es doch gar nicht her, seit ich ordentlich gegessen hatte. Es mußte die lange Wanderung, die ewige, angstvolle Spannung und der Nachtschlaf in der frischen, kalten, salzigen Seeluft gewesen sein, die so gezehrt hatten.

Als sie den Teller mit den dampfenden Spiegeleiern auf den Tisch setzte, konnte ich mich nicht länger zurückhalten und griff zu.

Und als sie endlich durch die Tür verschwunden war, versicherte ich mich, daß niemand mich sah, und dann machte ich mich wie ein Wilder, wie ein Jagdhund nach einem langen, anstrengenden Tag, über Eier, Schinken und den heißen Kaffee her.

Ich merkte wohl, daß der Kaffee von Zichorie fast bitter war, aber ich schenkte dem gar keine weitere Beachtung. Erst hinterher dachte ich, daß ich noch gestern den schwarzen Trank kaum angerührt haben würde.

Da ich nicht wußte, ob ich später am Tage noch Gelegenheit zu einer richtigen Mahlzeit finden würde, wickelte ich den Rest des Schinkens in ein Stück Papier und steckte ihn in die Handtasche. Und als ich erst angefangen hatte, schnitt ich ein tüchtiges Stück Käse ab, nahm einige Scheiben Brot, Zucker und Salz und packte es zum Schinken. In meiner Umsicht goß ich sogar den Rest des Kaffees in den Glasbehälter, aus dem ich bei der Quelle getrunken hatte.

So versorgt, fühlte ich mich sicher und für den Tag gewappnet.

Als die Sättigung sich dann wie eine warme Woge meldete, die vom Magen in alle Glieder strömte, lehnte ich mich gegen die gekalkte Mauer zurück und gab mich der wohltuenden Betäubung hin, die mich mit einem aufrichtigen Wohlbehagen durchrieselte, demselben Wohlbehagen, das als Knabe empfunden zu haben ich mich dunkel erinnerte, wenn ich mich in den Schulferien stundenlang in der freien Luft getummelt hatte.

Ich zündete mir eine Zigarre an. Zum erstenmal, seit ich die Tür des Direktionszimmers gestern nachmittag geschlossen hatte, fühlte ich mich wieder im Gleichgewicht. Während die Sonne auf die Hühner vor mir herabschien, sproßte neue und frische Hoffnung in meinem Gemüt.

Es würde sich schon machen. Weshalb sollte nicht alles wieder gut werden!

Ein angesehener Mann in einem ausgedehnten Geschäft fällt nicht so leicht. Er darf es nicht. Es knüpfen sich ja zu viele Interessen an sein Wohlergehn. Da war der und jener, der alles aufbieten würde, was in seiner Macht stand, um mich zu halten.

Und Agnete – ha, ha! – Agnete ließ sich nicht so ohne weiteres ducken.

Ich hatte ja Geld bei mir – mehrere hundert Kronen. Diese Tage waren nur als Ferienzeit zu betrachten, die ich als Maler verbummelte, bis es mir gelang, aus dem Lande herauszukommen. Denn nach Paris sollte und mußte ich; das stand fest.

An und für sich war jetzt wohl nichts im Wege, daß ich ganz offen ins südliche Ausland reisen konnte. Alle Züge konnte Jensen doch nicht bewachen. Und weshalb sollte ich nicht in Gotenburg sein, da ich es doch zu Hause und in meinem Kontor gesagt hatte?

Jensen hatte es vielleicht nur konstatieren wollen.

Und das – das andere –!

Wer würde mich – Rechtsanwalt Jens Adolph Klemm, Ritter des Danebrogordens, im Verdacht haben, anvertraute Gelder mißbraucht zu haben?

Es würde höchstens eine Kassenunordnung sein. Hätte ich nicht gewußt, daß die lumpigen, zwei-, dreitausend Kronen, die ich für die Gesellschaft für Aussteuer und Ausbildung armer Konfirmanden verwaltete, jederzeit herbeigeschafft werden konnten, dann hätte ich natürlich nie darüber disponiert.

Dieses hier war ja nicht vorauszusehen. Ein Diskont und eine Strammheit wie die augenblickliche war ja notorisch ein Zufall, der an Seltenheit nur mit einem Erdbeben oder einem Zyklon zu vergleichen war – in unserem Breitengrad. Das hatte ja kein Mensch voraussehen können.

Während ich so saß und mit halbgeschlossenen Augen vor mich hindämmerte, neues Selbstgefühl und Vertrauen frei aus der Gottheit schöpfend, kam das Mädchen aus dem Hause und weckte mich mit ihren klappernden Holzschuhen.

»Da ist die Post!« sagte sie.

Ich zuckte zusammen, richtete mich auf und wappnete mich.

Ich starrte auf die alte, gebeugte Gestalt, die die schwere Tasche von den Schultern nahm.

Wie zuversichtlich ich mich auch eben gefühlt hatte, jetzt, wo es galt, war ich alles andere als sicher.

Das Mädchen nahm die Zeitungen. Es waren drei. Zwei waren Provinzblätter, das sah ich gleich; aber die dritte – ja, das war eine Kopenhagener Zeitung.

Meine Hand zitterte, als sie sie mir reichte.

Dann nahm ich mich mit Gewalt zusammen; alle meine Vorsicht kehrte zurück.

Ich legte die Zeitungen auf den Tisch und sagte:

»Ich möchte gleich bezahlen, dann brauchen Sie nicht wieder von Ihrer Arbeit zu gehen.«

Ich gab ihr ein Fünfzigpfennigstück als Trinkgeld. Sie drehte es in der Hand um, warf mir einen unsicheren Blick zu, wurde rot, dankte und lief auf ihren klappernden Holzschuhen davon, als sei sie bange, daß ich mich eines Besseren besinnen könnte.

Als ich allein war, stürzte ich mich auf die Zeitung. Ich wußte ungefähr, wo ich eine solche Neuigkeit wie die, die ich suchte, finden würde. Das Blut hämmerte mir in den Schläfen und blendete meinen Blick.

Im selben Augenblick, als ich die Überschrift: »Ein Opfer der schlechten Zeiten« und darunter das Wort »Rechtsanwalt« sah, stand alles in mir still.

Es war wie eine Lähmung. Kälte folgte nach. Ich mußte mich fassen, um Atem zu schöpfen, bevor ich anfing zu lesen:

»Ein jüngerer Rechtsanwalt, dessen zahlreiche und verschiedenartige Geschäftsunternehmungen bereits seit längerer Zeit mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, hat gestern abend, nach einem vergeblichen Versuch, einen hohen Wechsel bei einer hiesigen Bank diskontiert zu bekommen, plötzlich die Stadt verlassen, angeblich wegen einer Geschäftsreise nach Gotenburg. Es sind gleich Schritte getan worden, um die ihm als Kassierer eines wohltätigen Vereins anvertrauten Gelder zu sichern, soweit dieselben nicht bereits von der Katastrophe berührt worden sind.«

Mein erster Gedanke war: Das ist Jespersens Stil, der Geist aber ist Jensens. Und plötzlich fiel mir ein, daß Jensen ja selbst mit im Vorstand der Konfirmanden-Gesellschaft war.

Wieder seine Pflicht. Nur seine einfache Pflicht.

Wie schlecht! – war mein zweiter Gedanke. Mir standen die Augen voll Tränen. Es war ein Gemisch von Verwunderung und Mitleid, das mich erfüllte, als sei ich es gar nicht selbst, den dies traf, sondern als wäre ich Zeuge, wie Jensen einen Krüppel schlug.

Da merkte ich, daß es im Begriff war, loszubrechen. Ich fühlte, wie die Verzweiflung sich bebend auf mein Herz legte, während der Zorn durch mein Blut kochte und mir bereits den Blick verdunkelte.

Mit einer Kraftanspannung, die mich soviel kostete – ach mehr als irgendeine andere Selbstbezwingung in meinem Leben – drängte ich alles das, was sich in meinem Sinn und meinem Blut Luft machen wollte, zurück.

Nachdem ich noch einmal die fürchterlichen, die vernichtenden Worte gelesen hatte, legte ich die Zeitung auf den Tisch, nickte dem Mädchen, das in der Tür erschienen war, munter zu und schritt flötend auf der Landstraße dahin, während ich meine Handtasche sorglos hin- und herschwang.

 

Solange man mich vom Krug aus sehen konnte, hielt ich mich stramm.

Als der Weg nach links abbog und die Pflanzung der Gemeindewiese mich verbarg, war ich nahe daran, mich meiner Verzweiflung hinzugeben, es lag aber ein Häuschen zwischen den Weidenbäumen auf dem flachen Lande. Leute, die in der Nähe des Meeres wohnen, haben scharfe Augen, dachte ich, und der Selbsterhaltungstrieb trug noch einmal den Sieg davon.

Gleich am Rande des Waldes kam dann das Waldhüterhaus, gegen das ich mich wappnen mußte. Als aber das Haus außer Sehweite war und ich wieder in den sandigen Wagenspuren ging, mit dem dichten Gehölz zu beiden Seiten, da blieb ich stehen, unfähig weiterzugehen. Es war, als ob Verzweiflung, Schmerz und Schande alle Lebenskraft aus mir heraussogen.

Ich ließ mich am Wegsaum niederfallen; indem ich aber zusammensinken wollte, bekam ich Furcht vor mir selbst.

»Das geht nicht an« – dachte ich und sammelte mich wieder auf.

Ich kam wieder auf die Beine und ging weiter.

Es sauste in meinem Kopf. Eine Vorstellung jagte die andere. Bald sah ich das entsetzte und unglückliche Gesicht meines alten, graubärtigen Prokuristen, bald hörte ich Agnetens hysterisches Weinen. Mit einem Schlage lag ja alles, was so wohl vorbereitet gewesen war und woran sie mehr als ich gehangen hatte, zersplittert zu ihren Füßen.

Dann waren da diese und jene von meinen Geschäftsfreunden. Ich sah ihre verblüfften Gesichter. Ich hörte sie meinen Fall auf der Börse diskutieren, ängstlich, daß das Unglück sie in Mitleidenschaft ziehen könne. Und dazwischen Jensen, den ich geschaffen hatte, schweigend und pflichterfüllend, während er seine Hände in Unschuld wusch.

Noch einmal sank ich unter der Wucht des Unglücks, das ich auf meinen Schultern oder in meinem Herzen trug, am Wege nieder. Noch einmal richtete der Selbsterhaltungsinstinkt sich in mir auf.

Als ich aber in einer Vision, die mir wie eine Messerspitze durchs Herz jagte, Jensen in meinem privaten Kontor sah, sah, wie mein Prokurist vor dem Direktor den Geldschrank öffnete, wie sie feststellten, daß die Konfirmandengelder nicht da waren – da durchlief es mich wie der bösartige Fieberanfall einer plötzlichen Krankheit. Ich sah, wie Jensen als Vorstandsmitglied den letzten Schritt tat und der Polizei von der Sache Meldung machte – und nun wußte ich, daß meine letzte große Hoffnung, Schaeffer in Paris, zunichte gemacht worden sei: ich konnte nicht entschlüpfen, durfte von niemandem gesehen werden.

Da brach die Verzweiflung in einem Anfall los, der dem Wahnsinn nahe war.

Ich verfluchte mich selbst, meine Existenz, Jensen, Agnete. Ich starrte außer mir auf die kahlen, schweigenden Bäume, auf diesen kalten, laubraschelnden Wald, der mir plötzlich ein neuer und fürchterlicher Feind geworden war.

Ich weinte mit zusammengebissenen Zähnen über mein Leben, meine Ehe, über alles, was ich gewollt und gebaut und fast erreicht hatte.

Ruiniert, der Schande preisgegeben, nur weil man mir nicht Zeit gelassen hatte!

Der Gedanke, zurückzukehren, dem Sturm Trotz zu bieten, die Folgen zu tragen, blitzte wie ein kurzer Lichtschein durch die Dunkelheit, doch nur, um im nächsten Augenblick wieder zu erlöschen.

Und erst als ich zu der Frage kam: Was nun? – konnte ich von neuem beginnen, war ich imstande, von neuem mühsam Stein auf Stein zu errichten? – erst da tauchte der Gedanke an Selbstmord in mir auf.

Nachdem er sich erst gemeldet hatte, umkreiste er mich beständig. Entsetzt stieß ich ihn von mir, um mich im nächsten Augenblick an ihn zu klammern, als sei er meine einzige Rettung in der Not.

Ich fühlte die Unmöglichkeit, mit der Schande und Schuld noch einmal in dieser Gesellschaft von unten zu beginnen – und dieser Gedanke war es, der mich aus dem Leben in den Selbstmordgedanken hineintrieb.

Meine Kräfte waren durch den fürchterlichen Kampf, mit dem die unnatürliche Spannung der letzten vierundzwanzig Stunden ihr Ende erreichte, erschöpft.

Der Zorn und die Verzweiflung nahmen ab, weil das Gehirn und die Nerven sie nicht mehr zu erneuern vermochten. Zurück blieb eine seltsam schlaffe und nüchterne Überlegung.

Ebenso wie ein müdes Gehirn eine Rechenaufgabe nicht loswerden kann, sondern sie noch im Schlaf wälzt, ebenso rechnete ich aus, was mich jetzt noch ans Leben band, während ich mich vorwärtsschleppte, ohne zu ahnen, wo ich mich befand.

Ich ging alles in Gedanken noch einmal durch.

Das Geld, die Macht und Ehre hatten mich stärker als alles andere gebunden. Und nachdem diese Bänder gerissen waren, würde auch die Fessel reißen, die mich an Agnete band, denn sie war fest damit verknüpft.

Mitten in meiner Abgespanntheit sah ich deutlich die furchtbare Bitterkeit unserer kinderlosen Ehe.

Kein Familienband. Meine Eltern waren tot; meine Geschwister kannte ich kaum mehr, ich war für sie nur die Möglichkeit einer Ehre gewesen, jetzt, wo ich fiel, ward ich ihnen die Gewißheit einer Schande.

Vaterland –? – Ach, jawohl! Dieses Land sollte mich wohl ans Leben binden – dieses Land, dessen Kleinheit und Ruhmlosigkeit mich jedesmal draußen in der Welt gebremst und gefesselt hatte, wenn ich etwas Großes unternehmen wollte.

Wohlleben, gutes Essen und Trinken und dergleichen –? das hätte mich vielleicht binden können. Der harte Kampf aber, den es jetzt kosten würde, nur das Notwendigste zuwege zu schaffen, der konnte mich nicht zum Leben ermutigen.

Ich dachte mit bitterem Schmerz, daß, wenn ich zu jenen gehörte, die im Glauben an ein besseres Jenseits leben, ich nicht allein ein Band gehabt hätte, sondern vielleicht sogar einen dunklen Weg zum Ersatz, der wohl des Lebens wert sein mochte.

Und Liebe – hatte ich einen einzigen Menschen, der –?

Der Gedanke an Elise zog plötzlich mit einem eigenen verklärten, fast heiligen Schmerz durch mein Gemüt.

Ja sie – für sie – aber das hatte ich zugesetzt. Sie war mit in die Kaufsumme eingeschlossen gewesen. Und jetzt war es tot. Eine Narbe kann nicht binden.

Ich stand am Fuße eines Hügels, der ganz mit Bäumen bestanden war. Ich blickte auf und erkannte den Ort.

Es war ein Aussichtspunkt, zu dem ich vorigen Sommer mit Agnete und einer Gesellschaft aus dem Kurhaus einen Spaziergang gemacht hatte.

Damals stand eine weiße Bank dort oben.

Ich sah, daß sie noch da war.

Weshalb war sie wohl stehen geblieben, da doch die anderen Bänke des Waldes hereingenommen worden waren?

Ich konnte es nicht lassen, darüber nachzudenken; mit dem Eigensinn eines Irrsinnigen wollte ich die Absicht ergründen.

Ich schritt den Pfad hinan, der sich die Anhöhe hinaufwand, bis ich neben der Bank unter dem Baume stand, der einen dicken Ast in Manneshöhe über die Bank streckte.

Ich starrte die Bank an, ohne einen Grund für ihr Dasein finden zu können.

Da fiel mein Auge auf ein Tauende, das neben dem Stamm lag. Es war alt und an einem Ende ganz aufgefasert.

Im selben Augenblick war mir alles klar.

Hier lag der Grund, die Absicht. Nicht Menschenabsicht, sondern der unentrinnbare Wille des Schicksals.

Deshalb stand die Bank noch hier draußen – deshalb hatte ein Schafhirt das Tau hier vergessen – damit ich von der Bank aus den dicken Ast über meinem Kopf erreichen, damit ich das elende Tau um den Ast schlingen, damit –

Mir wurde plötzlich so seltsam kalt. Es war, als ob die Lebenswärme unmerklich, aber sicher und unabwendbar durch meine Füße in die Erde sickerte.

Es legte sich wie ein Nebel vor meinen Blick, während ich gedankenleer und schlaff auf das Tau in meinen Händen starrte.

Alles war gleichsam schon in mir gestorben. Es war nur noch die eine deutliche Vorstellung zurückgeblieben, daß das Schicksal – mein eigenes, persönliches und unglückliches Schicksal – das Todesurteil über mein Leben gesprochen, indem es die Bank hierhergestellt und das Tau danebengelegt hatte.

Was dann geschah, dessen erinnere ich mich nicht mehr genau. Ich handelte wie im Schlaf. Wahrscheinlich war es die Wirkung einer übermächtigen Müdigkeit.

Ich weiß nur, daß ich mit den Füßen auf der Bank stand, daß ich mich gegen den Baum lehnte, daß der Strick um meinen Hals lag, daß meine Hände den Ast über meinem Kopf umklammerten – da wurde ich plötzlich sehend, indem die Sonne voller Glut meinen Blick traf.

Der Strahlenglanz über den roten, gelben und grünen Baumgipfeln zu meinen Füßen und das zitternde, siegende, jubelnde Spiel der Sonne fern auf dem Meere drang mit einem einzigen Blick des Wiedererwachens in meine Seele.

Grauenerfüllt von dem, was ich vorgehabt hatte, löste ich den Strick von meinem Hals und sprang von der Bank herab.

Unter einem heftigen Tränenanfall, der meinen ganzen Körper schüttelte, fand ich mich selbst wie in einem neuen Bewußtsein wieder.

Dann fiel ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

 

Als ich erwachte, war die Sonne im Begriff unterzugehen. Eine Flut von violetten Wolken leuchtete über den halbentblätterten Baumkronen.

Ich schauderte vor Kälte, während mir die Erinnerung langsam zurückkehrte. Mein Kopf war schwer; aber der Schmerz und die Gedanken schienen in weiter Ferne, ich dachte an die Ereignisse des Morgens wie an etwas, das ich gelesen oder wovon ich gehört hatte.

Mechanisch griff ich nach meiner Handtasche, packte aus und begann das Brot und den Schinken zu verzehren, während meine Augen der Sonne folgten, die in der Ferne zwischen den Stämmen dunkelglühend hinter Wolkenbergen unterging.

Ich ließ mir Zeit, und meine Augen beobachteten aufmerksam das schweigende Dämmerungsleben um mich her.

Zwei Krähen schrien laut über meinem Kopfe. Ich blickte hinauf, konnte sie aber nicht sehen.

Was sie einander wohl zu erzählen haben? dachte ich.

Dann schrien sie wieder, die Schreie aber klangen ferner und ferner. Als ich sie nicht mehr hören konnte, dachte ich:

Nun wirds auch wohl Zeit, daß du weiterkommst.

Ich stand auf, schloß die Handtasche und stieg langsam und bedächtig die Anhöhe hinab.

Ich entsann mich wohl, daß ich kein Heim hatte; aber das machte keinen weiteren Eindruck auf mich, überraschte mich kaum.

Ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war, bis er eine Biegung machte; dann überschritt ich ihn und ging geradeaus längs des ausgehauenen Brandgürtels, der davor lag.

Ich trabte mühsam durch den aufgepflügten Sandtorf und grübelte darüber, ob dieser künstliche Sandweg wohl breit genug sei, um die Fortpflanzung eines Waldbrandes zu verhindern.

Der feine Duft von trockenen Tannennadeln tat mir wohl. Ich blieb stehen und atmete ihn in vollen Zügen.

Der Weg führte bergan und war sehr schwer zu gehen; aber ich war mir klar darüber, daß ich ihn zu Ende gehen mußte, und war gespannt, was hinter dem Gipfel der Anhöhe liegen würde.

Als ich ihn endlich erreichte und außer Atem stehen blieb, sah ich, daß ein ebensolanger Weg hinabführte.

Ich trabte ihn getreulich hinunter, bis ich am Rande des Waldes stand, von wo ich einen weiten Blick zu den mit Heidekraut bewachsenen Höhen am weißen Horizont hatte.

Jetzt erkannte ich die Gegend. Es waren die Höhen von Tibirke.

Dort unten zur Linken lag hart am Waldrand die alte Kirche, die in alten Zeiten im Sand verweht gewesen war.

Es war dämmerig geworden; die Sterne blitzten nach und nach am Himmel auf. Ich aber wanderte weiter, zwischen Eichengestrüpp und Bickbeersträuchern und Heidekraut.

Gerade vor mir auf dem höchsten Punkt der Anhöhe lag ein Haus oder eine Hütte.

Die Form des Daches hob sich dunkel von dem sternenklaren Abendhimmel ab.

Als ich näher kam, erkannte ich es und begrüßte es wie einen Freund in der Einsamkeit.

Es war ein Blockhaus, in der Art, wie amerikanische Ansiedler es aus rohen Holzstämmen zimmern, wenn sie ihren neuen Grund und Boden in Besitz nehmen.

Es war das Haus, das der Maler Bertel Lund sich hatte bauen lassen und wo er den ganzen Sommer über allein gewohnt hatte.

Ein kleines Hofgebäude lag dahinter, das sich gegen den Abhang lehnte, so daß die eine Wand aus Erde war, während das Dach, das von Gras bedeckt war, mit dem Hügel eine Linie bildete.

Ich ging um das Haus herum und betrachtete es mit großem Interesse. Agnete und ich hatten es damals nur aus der Ferne gesehen, weil der Maler dort wohnte.

Es war zu dunkel, als daß ich etwas hinter der Fensterscheibe unterscheiden konnte. Aber ich fand die Tür und griff nach dem Schloß, das natürlich verschlossen war.

Indem ich vor dem Hause stand und mich hineinwünschte, rückte meine Not und meine Einsamkeit mir wieder auf den Leib. Und ebenso wie ich vorhin gedacht hatte, daß die Bank und der Strick von meinem persönlichen Schicksal mir in den Weg gelegt worden seien, ebenso dachte ich jetzt, daß dasselbe Schicksal Mitleid mit mir habe und mir dieses Haus in den Weg stellte, damit ich es in Besitz nehmen und für die Nacht Schutz und Herberge haben sollte.

Ich empfand es wie eine Wohltat und war gerührt davon.

Dann begann ich ohne weiteres an dem Haken des Hängeschlosses zu rütteln, fest überzeugt, daß es mir gelingen würde, ihn herauszubekommen.

So leicht ging es nun nicht, obgleich er sich bewegen ließ. Mit Hilfe eines Steines schlug ich ihn schließlich los; und die Tür war offen.

Ich zündete ein Streichholz an und sah in der Mitte der Stube einen runden Tisch mit Stühlen herum. Neben dem gardinenlosen Fenster stand ein Korblehnstuhl mit einer Decke und einem Kissen auf dem Sitz. Davor, neben der niedrigen Fensterbank, ein kleiner viereckiger Tisch.

An den Wänden hingen einige Skizzen, weibliche Modellstudien und Landschaften, die ohne Rahmen angenagelt waren. Es stand auch ein Ofen da, der kleinste, den ich je gesehen hatte, mit einem langen dünnen Rohr, das in die Luft ragte, dann eine scharfe Biegung machte und durch eine zirkelrunde Ausmauerung in der Wand hinausführte.

Dem Fenster gegenüber stand eine Kommode unter einem Spiegel. Dann war da eine Tür, die halb offen stand und zu einem zweiten Raum führte.

Ich setzte die Handtasche auf den Tisch, entzündete ein neues Streichholz und ging hinein.

Es war ein ganz kleines schmales Zimmer, mit einem Fenster der Tür gerade gegenüber. An der inneren Wand stand eine eiserne Bettstelle, mit einem Stuhl davor.

Ich untersuchte sofort das Bett. Mein Herz klopfte vor Freude, als ich sah, daß es sowohl Matratze wie Pfühl und Deckbett enthielt, es fehlten nur Bettuch und Überzüge.

Ich kann nicht beschreiben, welchen Eindruck dieses Haus und sein Mobiliar, die ich ohne Bedenken in Besitz nahm, auf mich machte. Ich muß zu den einfachen und ursprünglichen Freuden meiner ersten Kindheit zurückkehren, um etwas Ähnliches zu finden.

Ich erinnere mich, daß ich plötzlich an mein Schlafzimmer zu Hause denken mußte, mit all den gewohnten und eleganten Kleinigkeiten. Es erschien mir bereits so fern, als hätte ich es ein Jahr lang nicht gesehen, und der Vergleich mit den bescheidenen, notdürftigen Dingen, die mich umgaben, weckte durchaus keine Bitternis in meinem Sinn, sondern machte mich im Gegenteil lächeln.

Ich erinnere mich auch, daß ich, während ich in dem matten Licht, das von dem Nachthimmel hereindrang, von Stuhl zu Stuhl tappte, mir bewußt war, mich hier ja eigentlich eines regelrechten Einbruches schuldig zu machen; der Gedanke aber beunruhigte mich nicht sehr.

Obgleich ich, der Jurist, noch vor zwei Tagen eine solche Handlung streng verurteilt haben würde, betrachtete ich sie jetzt bereits von der anderen Seite, von der Seite derer, denen nur die Not Gesetze vorschreibt. Wie ein Ausgestoßener, wie ein Waldmensch. Ich ertappte mich auf dem urvolkstümlichen Räsonnement: dem Eigentümer, der in Italien ist, tue ich ja keinen Schaden! Das Haus steht ja doch zu keinem Nutzen da.

Wenn jemand aus der Umgegend es entdeckt, dachte ich, so bin ich ein Freund des Besitzers und habe von ihm die Erlaubnis erhalten, sein Haus zu benutzen. Den Schlüssel hab ich leider verloren.

Ich bin Maler ebenso wie Bertel Lund und will Studien in dem herbstgekleideten Wald machen.

Ja, so sollte es sein. Das war ja ganz natürlich und selbstverständlich. Das Mädchen im Krug hatte es gleich erraten.

Ich fühlte mich erleichtert durch diesen Gedanken und machte es mir in dem herrlichen Lehnstuhl bequem, um den Einfall in seinem ganzen Umfang und in all seinen Folgen zu durchdenken.

Aber du lieber Himmel, was fiel mir denn eigentlich ein?

Ich wollte und mußte ja so schnell wie möglich nach Paris, koste es was es wolle.

Ich griff mir entsetzt an den Kopf und fürchtete einen Augenblick für meinen Verstand.

Hatte ich wirklich, wenn auch nur für eine flüchtige Sekunde, das vergessen können, wovon meine Stellung, meine ganze Zukunft, mein ehrlicher Name, meines Vaters ehrlicher Name abhing?

Ich meinte – ich müßte auffahren – jetzt gleich – meine Handtasche ergreifen und auf- und davonstürzen. Es war ja keine Minute zu verlieren.

Aber ich blieb ruhig sitzen, lehnte mich sogar noch bequemer zurück.

Es waren zwei Menschen in mir. Der alte, der auffahren, bis zum letzten kämpfen, handeln, etwas tun wollte, und dann der neue, der ruhig in dem bequemen Lehnstuhl sitzen blieb, ja, der fast sanft lächelte, als ob das alles ihn gar nichts anginge.

Während der alte noch immer den Gedanken an Schaeffer in Paris, an Leben, Wohlfahrt und Ehre wälzte, stand der neue ruhig auf, nahm die Handtasche, aß den Rest Brot, Schinken und Käse, leerte den Glasbehälter mit dem kalten Kaffee, riegelte die Tür von innen zu, entledigte sich ohne weitere Umstände seines Rockes, seiner Weste und Beinkleider, legte sich mit dem Unterzeug ins Bett, streckte in einem innigen und zufriedenen Wohlbehagen die steifen, müden Glieder aus und schlief ein.

 

Ich erwachte zeitig am nächsten Morgen und richtete mich ganz verstört auf. Im Halbdunkel streckte ich die Hand aus, um meine elektrische Stehlampe auf dem Nachttisch neben meinem Kopfkissen zu entzünden. Als ich sie nicht fand, tastete ich mit der Hand nach meiner Uhr, die an einem kleinen, künstlerisch gearbeiteten Silberstativ zu hängen pflegte, einem Weihnachtsgeschenk von Agnete.

Irritiert zwang ich meine zusammengeklebten Augenlider auseinander und blickte mich erstaunt im Zimmer um.

Mit einem Schlage kehrte mir die Erinnerung zurück. Ich starrte die dunkle kahle Wand an, die nicht weiter fort war, als daß ich sie mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte.

Dann sank ich zurück, von der unerbittlichen Wirklichkeit getroffen. Im Selbsterhaltungstrieb versuchte ich die hervordrängenden Gedanken niederzuhalten, preßte die Augen fest zusammen und gab mir Mühe wieder einzuschlafen.

Es wollte mir nicht glücken; und plötzlich erinnerte ich mich meines sonnenhellen Hotelzimmers in Mentone, von wo ich das Brausen des Mittelländischen Meeres unter meinem Fenster hören konnte.

Ich dachte an die frohen Ferientage in der Gesellschaft des kleinen munteren Schaeffer, der jetzt meine ganze Existenz in der Hand hielt.

Eine heftige Sehnsucht nach der Sonne des Südens überwältigte mich und stellte für den Augenblick alles andere in den Schatten.

Wie ganz anders würde sich mein Leben gestaltet haben, wenn ich dort unten geboren wäre und mit der Sonne in meinem Gemüt hätte wirken können.

Ich starrte in das fahle Tageslicht, das in den engen Raum hineindrang, und lauschte dem fernen Sausen des Waldes. Dann wandte ich mich mit Schaudern ab und verbarg mein Gesicht unter meinen Armen.

Als ich wieder erwachte, war Ruhe in mein Gemüt eingekehrt. Ich beugte den Kopf vor der Notwendigkeit, stand auf und kleidete mich an.

Ich konnte mich nicht waschen; es wartete meiner kein Morgenbrot; bei jeder neuen Schwierigkeit tröstete ich mich mit dem einen: Freiheit.

Als ich fertig angekleidet und es noch zu früh war, zum Krug zu gehen – meine einzige Zuflucht – durchstöberte ich alles sorgfältig, was sich in den Räumen befand; und über jedes Ding, das ich fand und das mir nützlich sein konnte, freute ich mich wie ein Kind.

Auf der Kommode stand ein Leuchter mit einem kleinen Lichtstummel.

In einer der Schubladen fand ich einen Malkasten, der scheinbar ausgedient hatte. Außerdem lagen da noch einige nicht ganz ausgepreßte Farbentuben, im Kasten fanden sich Palette und Pinsel; im Deckel war ein Stück Leinwand befestigt, auf dem ein Waldinterieur angefangen war.

Es war lange, lange her, seit ich einen Pinsel in der Hand gehabt hatte. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich gedachte meines letzten Schuljahres, als ich und Jakob Hansen große Fußtouren machten, jeder mit seinem Malkasten auf dem Rücken.

Ich hatte ihn schon längst aus den Augen verloren, erinnerte mich nur, seinen Namen hin und wieder auf der Frühjahrsausstellung gehört zu haben. Berühmtheit hatte er nie erlangt.

Und ich selbst saß nun hier, zum Traum meiner Kindheit zurückgeführt, die Ruinen meines Lebens auf den Schultern.

Ich setzte mich in den Lehnstuhl am Fenster und versuchte zu malen, nachdem ich den Kasten vom Schimmel gereinigt hatte.

Das Öl war alt und ranzig, aber es ging doch. Der Pinsel nahm die Farben an und ich führte die angefangenen Striche zu Ende.

Während ich dasaß und meine Malkenntnisse auffrischte, wurde es mir plötzlich klar, daß durch den Malkasten, den ich mir über die Schulter hängen konnte, mein Inkognito gerettet sei.

Ja, ich wollte ihn mit in den Krug, wollte ihn überall mit hinnehmen.

Nun konnte das Mädchen selbst sehen, daß sie richtig geraten hatte. Ich konnte es wagen, dem Wirt zu begegnen. Und kam mir ein Förster entgegen, brauchte ich mich nur mit dem Malkasten im Schoß hinzusetzen und zu malen.

So völlig lebte ich mich in diesen Gedanken hinein, daß ich mich gegen jede Verfolgung gesichert fühlte.

Jetzt galt es nur noch, das Notwendigste zuwege zu schaffen. Wie gestern abend griff ich mir plötzlich an den Kopf, erstaunt, daß ich all das andere vergessen konnte.

Hier ging ich umher und tat, als ob dieses Haus, an das ich gar kein Anrecht hatte, mein Heim werden sollte. Ich vertändelte die Zeit mit all diesen Kleinigkeiten, – ich, dem jede Minute hätte kostbar sein müssen, um aus dem Lande herauszugelangen.

Ich wollte ja so schnell wie möglich nach Paris, koste es, was es wolle.

Ebenso wie gestern abend waren auch heute zwei Menschen in mir. Der alte fuhr angestrengt fort, den Gedanken an Flucht, Paris und Rettung zu wälzen, während der neue still, fast schüchtern sich den Verhältnissen anpaßte und sich damit abfand.

Vor dem Hause war ein kleiner Garten, der von Lavendeln eingehegt war, um ihn vom Heidekraut zu trennen.

Da war ein Stück mit verwelktem Kartoffelkraut. Die Erde darunter sah ganz unberührt aus. Es sollte mich doch wundern. – – –

Ich beugte mich herab, grub mit den Händen in der losen sandigen Erde unter dem nächstliegenden Busch und bekam wirkliche, echte Kartoffeln in die Hand, sie hingen an weißen Wurzelfasern.

Mir war, als hätte ich ein hübsches und nützliches Geschenk bekommen. Ich fuhr fort zu wühlen und fühlte mich durch jede Kartoffel, die ich fand, bereichert.

Und dort stand – ja, was war nur das? – ich beugte mich herab und zog vorsichtig eines der spitzblättrigen Kräuter aus der losen Erde.

Ja – es waren wirkliche Porree. Nicht dick und groß, aber ausgezeichnet zur Suppe.

Zu Anfang mochte das Kochen wohl große Schwierigkeiten bereiten; man mußte sich eben vorwärtsfühlen; Kartoffeln aber kochten gewiß ganz von selbst.

Da erinnerte ich mich des Wirtschaftsgebäudes auf der anderen Seite des Hauses. Das war gewiß die Küche.

Ich ging eilig um das Haus herum.

Vor der Tür und dem Fenster war ein kleiner Hofplatz geschaffen. Die Erde war zu einem Wall aufgeworfen, der einen Zaun bildete und Schutz gewährte. Und hinter dem Wall lag ein ganzer Küchenhaufen von Eierschalen, leeren Konservendosen und abgeputzten Rosenkohlstengeln.

Ach – wenn ein Brunnen da wäre!

Es war natürlich keiner da. Hier auf der Anhöhe mußte das Wasser ja tief unten liegen.

Dennoch suchte ich begehrlich und war enttäuscht, als ich nichts fand.

Dann begann ich an der Tür zu rütteln. Auch diese war nur mit einem Vorlegeschloß verschlossen, aber der Haken hielt gut fest.

Schließlich fand ich im Abfallhaufen eine verrostete Feile ohne Schaft. Damit glückte es mir, den Haken aus dem feuchten Holz zu ziehen.

Ich vermag die Freude nicht zu beschreiben, die ich empfand, als die Tür aufsprang und ich drinnen einen wirklichen, echten Herd sah, mit Kesseln und Töpfen. Auf einem kleinen Küchentisch unter dem hochsitzenden Fenster standen einige Tassen ohne Henkel. Ein rostiges Messer trieb sich herum und in einer Ecke standen alle die Gartengerätschaften, die man für den nächsten Sommer hatte stehen lassen.

Da waren Spaten, Säge und Harke, und auf einem rohgezimmerten, dreibeinigen Hackblock lag eine Holzaxt.

Mehrere Eimer waren ineinandergestellt. Auf dem Fußboden, der aus dünnen Brettern bestand, die unter den Füßen wippten, lagen noch einige Kartoffelschalen verstreut.

Während ich mich wie ein Kind über alles freute, was ich fand, begann ich darüber nachzudenken, wie ich Wasser schaffen konnte.

Feuerung konnte ich leicht bekommen. Es lagen draußen genug trockene Heidekrautzweige, mit denen ich anheizen konnte. In der Dämmerung wollte ich Zweige sammeln, die der Wind am Waldsaum herabgeweht hatte. Bis dahin hatte ich kaum hundert Schritte zu gehen, und alles was auf der Erde lag, war ja das rechtmäßige Eigentum der Armen.

Aber Wasser! – Es half nichts, ich mußte eine Quelle suchen, die näher war als die, aus der ich gestern getrunken hatte. Einmal am Tage wollte ich dann in dem neuen Eimer, der dort zuoberst im Stapel stand, Wasser holen. Aus Gesundheitsrücksichten wollte ich es kochen.

 

Ich wurde nach und nach sehr hungrig und dachte mit Sehnsucht an die dampfenden, frischen Spiegeleier im Sandkrug. Ich beschloß dorthin zu gehen, obgleich ich eigentlich bis Mittag warten wollte, um später am Tage nicht gar zu hungrig zu werden.

Ich spannte meine Plaidriemen um den Malkasten und hing ihn über die Schulter, leerte den Inhalt meiner Handtasche in die Kommodenschubladen, damit ich für die Einkäufe, die ich im Krugladen machen wollte, Platz bekam, befestigte das Schloß, so gut ich es vermochte, an der Tür, und schritt eiligst in den Wald hinein.

Das Wetter war ruhig, aber kälter als gestern. Es war eine leichte Feuchtigkeit in der Luft, durch einen dünnen leichten Nebel verursacht, der die Landschaft nicht verhüllte, sondern sich nur wie ein spinnenfeines Gewebe über Sträucher und Bäume legte.

Mich fror und ich stampfte so schnell wie möglich durch den aufgepflügten Brandgürtel vorwärts.

Als ich den Fahrweg erreichte, saß ein Mütterchen am Wegrande und ordnete Reisig zu einem Bündel, das sie auf den Rücken nehmen wollte. Sie hatte sich den Kopf mit einem karierten Wolltuch umwickelt, das sich auch um den Hals und kreuzweise über Brust und Nacken schlang.

Sie hörte mich erst, als ich dicht hinter ihr war.

»Großer Gott!« stammelte sie erschrocken und drehte sich so hastig um, daß sie fast umgefallen wäre.

»Guten Morgen!« sagte ich.

Aber erst als ich vorbei war, erholte sie sich soweit von ihrem Erstaunen, daß sie meinen Gruß erwidern konnte.

Ich drehte mich mehrmals nach ihr um. Sie saß noch lange und sah mir nach, mit den Händen im Schoß.

So einsam war es hier also zu dieser Jahreszeit. Ich freute mich meines Malkastens und fühlte mich sicher.

Als ich zum Sandkrug kam, hatte das Mädchen mich schon von einem Giebelfenster, wo sie eine Bettdecke ausschüttelte, gesehen.

Sie trat mir aus dem Gastzimmer entgegen und nickte mir ganz vertraulich zu.

»Heute hab ich mein Werkzeug mitgebracht!« sagte ich und zeigte ihr den Malkasten.

»Sie wollen wohl im Wald arbeiten?« fragte sie.

Ich nickte und ging an ihr vorbei ins Gastzimmer. Es war zu kalt, um draußen zu sitzen.

Bevor ich noch nach Frühstück gefragt hatte, sagte sie, froh, daß das Haus etwas zu bieten vermochte:

»Heut ist Kalbfleisch da! – Der Schlächter ist eben hier gewesen!«

»Kotelett!« fügte sie wie selbstverständlich hinzu, während sie glättend über ihre Schürze strich.

Das Wasser lief mir im Munde zusammen. Ich bestellte Spiegeleier und Kotelett mit Kartoffeln.

Bevor sie ging, fragte ich:

»Ist jemand im Laden?«

»Wie?« sagte sie und drehte sich um.

Als sie mich mit der Handtasche dastehen sah, im Begriff zu gehen, verstand sie, was ich meinte.

»Ach, ja freilich,« sagte sie, scheinbar etwas betroffen –, »der Wirt stand eben noch im Laden und wog Reis ab.«

Sie drückte sich gegen die Tür, um mich vorbeigehen zu lassen und sagte:

»Sie wohnen wohl in dem Haus des Malers oben auf den Höhen?«

»Ja, ja, wie konnten Sie das nur so schnell erraten?« fragte ich, froh, daß alles nach Wunsch ging.

»Weil Sie ja gestern sagten, daß Lund Ihr Freund sei. Und er kam auch häufig im Sommer hierher, um sich dieses und jenes in seiner Handtasche zu holen.«

»Tisvilde wäre ihm doch näher gewesen!« sagte ich vorsichtig.

»Das wohl. Aber wenn er wie Sie im Walde malte, kam er immer zu uns, weil er dann gewöhnlich hier ne Tasse Kaffee trank.«

Als ich in den Laden kam, der wegen all der Dinge, die im Fenster lagen und das Licht aussperrten, halbdunkel war, stand der Wirt in einer Ecke über eine Kiste gebeugt.

Er richtete sich auf und kam schleppenden Schrittes auf Pantoffeln heran.

Ich sah an dem Ausdruck seiner verschlagenen, wasserblauen Augen, daß er bereits unterrichtet war.

Er stützte die roten Hände auf den Ladentisch und grüßte mit einem Kopfnicken.

Ich erwiderte seinen Gruß nachlässig und brachte die Rede vor, die ich mir auf dem Wege sorgfältig einstudiert hatte.

»Ich bin der Maler Jakob Hansen« – (das war der Name meines Jugendfreundes) – »ich wohne in Bertel Lunds Hause – droben auf den Höhen, um einige Waldstudien zu machen. Leider ist mir etwas Dummes passiert. Ich habe den Schlüssel zum Hängeschloß verloren, so daß ich nicht abschließen kann, wenn ich fortgehe. Und wenn Lund auch mein guter Freund ist, so muß ich doch für alles, was im Hause ist, Rechenschaft ablegen.«

Der Krugwirt nickte und drehte sich zu den Ladenfächern um.

»Nichts leichter als das!« sagte er und zog geschäftig die Schubfächer hervor – »da kaufen Sie eben bei mir ein gutes Hängeschloß mit dazugehörigem Schlüssel. Sehen Sie hier, ein besseres bekommen Sie auch in Kopenhagen nicht. Wenn ich mich nicht irre, ist es genau so eines wie droben am Hause. Denn Lund hat es bei mir gekauft, als er im Sommer einzog.«

Damit hatte ich das Schlimmste hinter mir. Alles andere ging ganz glatt.

Ich kaufte Kerzen für den Leuchter auf der Kommode, und als der Wirkt merkte, daß ich auch Lebensmittel einkaufen wollte, kam Leben in ihn. Er töffelte von der einen Schublade zur anderen und suchte alles hervor, was er an Konservendosen besaß.

Um in der Rolle des bescheidenen Malers zu bleiben, feilschte ich um den Preis und drückte ihn auch herab.

Als ich aus dem Laden ging, begleitete er mich zur Tür, klopfte mir fidel auf die Schulter und wünschte mir Gesundheit und alles Gute droben auf den Höhen; ich solle nur zu ihm kommen, wenn es mir an etwas fehle.

Ich hatte mich tüchtig mit allem möglichen versehen. Meine Handtasche war gestopft voll. Da war Kaffee und Tee, Käse und Sardinen, Kerzen und Bier, eine kleine Dose Liebigs Fleischextrakt, die der Krugwirt aufs Wärmste empfahl und die aussah, als hätte sie jahrelang in seinem Fenster gelegen. Da war sowohl Salz, wie Pfeffer, Essig und Senf. Dann hatte ich ein schönes Stück Speck erworben, wie man es auch in Kopenhagen nicht besser bekam, Eier, ein halbes Pfund Butter und eines von den flachen, runden Landbroten, die ich nicht gegessen hatte, seit ich als Knabe bei meinem Onkel auf dem Lande zu Besuch gewesen war und die ich mit aufrichtig kindlicher Freude wiedersah.

Während ich aß, dachte ich an die Zeitungen. Die Post mußte ja schon dagewesen sein; ich sah, daß einige Zeitungen dort auf dem Tisch unter dem Spiegel lagen. Aber ich bezwang mich. Ich wollte vorher in Ruhe essen.

Erst als das Mädchen mit dem Kaffee kam, bat ich sie um die Zeitungen.

Als ich die bekannte Zeitung zur Hand nahm, wurde ich von der alten Unruhe befallen.

Mit zitternden Händen entfaltete ich sie und mein Auge fiel sofort auf die mit fetten Lettern gedruckte Überschrift: »Aufsehenerregende Zahlungseinstellung.«

Darunter stand: »Unsere Notiz über die Katastrophe, die Rechtsanwalt Klemm betroffen hat – (da ein geehrter Kollege in seiner Abendzeitung den Namen verraten hat, wollen auch wir ihn unseren Lesern nicht länger vorenthalten) – war gestern das allgemeine Gesprächsthema an der Börse. Es wurde von betrügerischen Transaktionen gemunkelt und die Aktien der Zementfabrik fielen sofort auf 73. Man meint, daß mehrere hiesige Banken mit bedeutenden Summen beteiligt sind. Wieweit das Unglück auch anvertraute Gelder in Mitleidenschaft zieht, ist noch nicht festzustellen. Rechtsanwalt K. ist vorgestern abend in dem Zuge, der 903 nach dem Norden geht, zuletzt gesehen worden. In Klemms Büro meint man, daß er sich in Gotenburg aufhält, dieselbe Mitteilung hat auch seine Gattin erhalten; von anderer Seite aber wird die Behauptung aufgestellt, daß er entweder auf dem Wege nach Paris sei oder sich irgendwo hier in der Stadt verborgen hält. Da für protestierte Wechsel und andere fällige Forderungen vergeblich Deckung gesucht worden ist, wird über die Masse auf Veranlassung der Diskontobank heute der Konkurs eröffnet.«

 

Nachdem ich mehrere Stunden im Wald umhergewandert war, brachte mir die körperliche Müdigkeit endlich das Gleichgewicht wieder.

Ich suchte Zuflucht in meinem neuen Malerdasein und sah ein, daß mir nichts anderes zu tun übrigblieb, als mich bis auf weiteres ruhig zu verhalten und die Sache ihren Gang gehen zu lassen. Selbst wenn ich jetzt nach Paris entkommen könnte, wäre es doch zu spät gewesen. Mein Schicksal war besiegelt.

Nur eines war noch unsicher. Hatte man die Sache in kriminelle Behandlung gegeben? Wurde ich von der Polizei gesucht?

Darüber würden mir die Zeitungen der nächsten Tage sicher Bescheid bringen.

Während ich durch die sandigen Wagenspuren stampfte und die schweigenden Bäume anstarrte, war es mir, als ob die schwere Bürde Stück für Stück von meinen Schultern genommen würde. Ich fühlte mich von Minute zu Minute leichter und merkte zu meinem Erstaunen, daß die Entscheidung weder Kummer noch Verzweiflung in mir erweckte, obgleich die Strandung meiner Reise nach Paris doch ein schicksalsschweres Unglück war. Im Gegenteil, fast war es, als empfände ich eine heimliche Freude darüber, daß die Entscheidung endlich gefallen sei. Ein Vers aus meiner ästhetischen Studentenperiode – ich glaube, er ist von Goethe – tauchte plötzlich in mir auf:

Ich hab mein Sach' auf nichts gestellt! – – Juchhe!
Drum ist's so wohl mir in der Welt! – – Juchhe!

Das war die Sache.

Alles war aus: die Angst und die Spannung hatten sich zu der Gewißheit verwandelt, daß alles vorbei sei. Es war um mich herum dunkel gemacht worden. Auf nichts gestellt!

Von dem Rechtsanwalt Jens Adolf Klemm, Ritter vom Danebrog, war nichts andres übriggeblieben als der nackte Mensch mit den bloßen Fäusten.

Ich, der ich in fünfzehnjährigem Streben stets an den folgenden Schritt hatte denken müssen, bevor der vorhergehende zu Ende gegangen war, wurde plötzlich zu dem Augenblick zurückgezwungen und machte die demütigende Entdeckung, daß ich vor lauter Vorwärtsstreben eigentlich nie den Augenblick kennen gelernt, eigentlich nie in der Wirklichkeit, die ist, gelebt hatte, sondern immer in Erwartung derjenigen, die kommen sollte.

Ich sah mich wie mit neuen Augen im Walde um.

Die Bäume, die mich gestern so feindlich und kalt angesehen, mich mit ihrem starren Schweigen verfolgt hatten – schienen heute ein Herz für meine Not bekommen zu haben. Es war, als ob sie einen Kreis um mich schlossen, mich mild und teilnehmend anblickten, und ich erkannte zum erstenmal, welch unendliche Barmherzigkeit gerade in ihrem Schweigen lag.

Ich fühlte mit plötzlicher Wärme, daß die Natur mir in ihrem ewigen, unpersönlichen Edelmut gab, was kein Mensch mir zu geben vermochte.

In dieser Stimmung zog das Verständnis für die Erde als Mutter in mein Herz ein.

Und während ich mit Verwunderung dieser meiner Erkenntnis auf den Grund zu gehen versuchte, war da noch etwas anderes, das mich überraschte.

Die Vertraulichkeit.

Ich hatte das Gefühl, daß dieser Wald und diese Bäume, daß dieser Himmel über mir, wie grau und sonnenlos er war, mich verstanden und mich auf eine eigene vertrauliche Weise bei sich aufnahmen, so wie der Wald an der Riviera und der Himmel dort unten, nach denen ich heute Morgen in so verzweifelter Sehnsucht geseufzt, es nie getan hatten und es auch nicht vermochten.

Mit all ihrer Pracht, mit all ihrem blendenden Licht und strahlenden Farben, waren und blieben sie ein fernes und fremdes Märchen.

Es war kein Verwandtschaftsgefühl zwischen ihnen und mir vorhanden. Sie kannten mich nicht, wie diese kahlen Stämme mit ihren halbentblätterten Zweigen, die meinem Herzschlag gleichsam zu lauschen schienen, die lasen, was in meinem tiefsten Innern vorging, fast bevor ich selbst es wußte, und die es mir in ihrem leisen Sausen zuriefen, mit Worten, die mein Herz zu fassen vermochte, weil ich ihnen seit meiner frühesten Kindheit gelauscht hatte und vor mir meine Mutter und mein ganzes ungekanntes Geschlecht seit Jahrhunderten.

Früher, als ich geschäftig und reich und von Vorsätzen und Hoffnungen erfüllt war, die nichts mit dem Augenblick zu tun hatten, da war zuviel Lärm in meinem Innern gewesen, als daß ich der Vertraulichkeit zu lauschen vermocht hätte; ich konnte nur sehen – und da verglich ich das festliche Licht draußen in der Welt mit dem armseligen Grau daheim.

Jetzt aber, wo es still in mir geworden und all das Unbefugte mit einem festen und schmerzhaften Griff entfernt worden war, jetzt war nur der Mensch zurückgeblieben, jetzt waren mir Ohr und Herz geöffnet worden.

Deshalb waren mir in diesen Tagen so häufig Kindheitserinnerungen begegnet, deshalb ward ich beständig zu etwas zurückgeführt, das ich dunkel aus mir selbst zu kennen schien, das ich aber seit langem vergessen hatte.

Jetzt, wo es in meinem Innern plötzlich leer geworden war, tauchte der ursprüngliche Mensch wieder auf.

Der neue Mensch, der mich gestern abend zum erstenmal überraschte, als ich im Lehnstuhl saß, war – das erkannte ich jetzt – mein ursprüngliches Ich, das jetzt frei wurde.

Und dieses Ich, das also eigentlich das alte war, das kannte diesen Wald und verstand, was die Bäume und der Himmel flüsterten.

Und dieses Ich errötete über das andere, das den sonnenlosen Himmel verflucht und das kleine törichte Land für sein Unglück verantwortlich gemacht hatte.

Denn es erkannte in seiner Nacktheit, daß es wie an einem unsichtbaren Nabelstrang zitternd an dem dänischen Himmel hing und mit seinen Herzfasern tief in dem ruhmlosen, dänischen Land wurzelte.

Ich stieß beständig auf die Verwandlung, die in mir vorgegangen war. Auf eine ganz sonderbare Weise ruhte ich in ihr und stand doch gleichzeitig außerhalb, so daß ich mir ihrer als Verwandlung bewußt ward.

Ich war so müde, so müde; ich ertappte mich aber darauf, daß ich die Müdigkeit nicht wie eine Not und ein Unglück betrachtete, sondern wie eine Wohltat.

Ich stolperte über einen Birkenzweig, der quer über dem Weg lag und dachte im selben Augenblick: welch prächtiges Stück Feuerung.

Dann bückte ich mich und nahm es auf. Und nun begann ich, während die Dämmerung hereinbrach, Äste und Zweige für meinen Ofen zu sammeln.

Ich erinnerte mich des Mütterchens von heute morgen, dachte gleichzeitig an die »Aufsehenerregende Zahlungseinstellung«, an die Aktien der Zementfabrik, die jetzt 73 standen und an die ganze übrige Feierlichkeit. Und ich mußte unwillkürlich lachen, wie ich dastand und mich nach einem höchst kostbaren, fast armdicken Ast bückte.

Ich war so wohltuend müde. Jeden Augenblick blieb ich stehen und drückte den Brustkasten heraus, um meine Lungen mit der frischen, kühlen Luft zu füllen, die jetzt ganz klar geworden war.

Dort war schon ein Stern – und dort einer – und dort. Es lag etwas heiter Tröstendes in ihrem hastigen Blinken, das mir wohltat.

Ich sah auf meine Uhr, die ich im Krug gestellt hatte. Es war beinah sechs.

Ich mußte nach Hause eilen, bevor es ganz dunkel wurde, denn es gab noch viel für mich zu tun. Erst mußten die Zweige zerhackt und zersägt, dann Feuer im Herd angelegt und Schinken und Eier gebraten werden.

Das war eine schwierige Sache, mit der ich mich noch nie befaßt hatte. Aber ich wußte doch immerhin, daß man erst Butter in die Pfanne tat.

Ich mußte mich durch Versuche vorwärtstasten. Etliches würde wohl dabei mißlingen, aber schließlich, wenn man sich in acht nahm, würde es wohl schon gehen.

Ach, wie würde eine Tasse glühendheißen Tees wohltun – Tee, den ich selbst gemacht hatte!

Da erinnerte ich mich des Wichtigsten – des Wassers.

Ich wollte es nicht auf einen Zufall ankommen lassen, besonders jetzt nicht, wo es anfing dunkel zu werden. Darum mußte ich ein Stück zurückgehen, um die Brücke von gestern zu finden. Da ich aber nichts hatte, worin ich das Wasser tragen konnte, – auch den kleinen Glasbehälter hatte ich in der Kommode zurückgelassen – war ich gerade im Begriff, den Gedanken an den warmen Tee aufzugeben, als mir einfiel, daß ich ja Wasser haben müsse, um die Pfanne zu reinigen, sonst gab es auch keine Spiegeleier.

Nach sorgfältiger Überlegung, die meine ganze Erfindungskunst herausforderte, beschloß ich, das Bier zu opfern; ich würde ja morgen wieder zum Krug gehen.

Ich trank etwas davon und goß den Rest fort; dann spülte ich die Flaschen aus und füllte sie mit dem kalten, erdigen Quellwasser.

Als ich den Brandgürtel erreichte, war es fast dunkel geworden. Der Mond war noch nicht aufgegangen und der Gang über den aufgepflügten Rasen war sehr beschwerlich.

Endlich leuchtete mir der Ausgang des Waldes entgegen. Ich sah die Umrisse des Hauses, das sich dunkel vom Sternenhimmel abhob, und war daheim.

Es ist schwer, das Gefühl zu beschreiben, das mich ergriff, als ich alle meine Einkäufe auf dem Tisch auspackte; da war vor allen Dingen das Stearinlicht, das gleich auf den Leuchter gesteckt wurde.

Wie billig auch alles war, so habe ich doch selten ein solches Gefühl von Reichtum empfunden, wie in dem Augenblick, als ich mir mit diesen einfachen, aber höchst notwendigen Dingen von neuem ein Heim gründete.

Ich erinnere mich, daß ich bei mir dachte, oder vielleicht sagte ich es laut – denn ich wurde häufig durch den Laut meiner eigenen Stimme in der Stille geweckt:

Wie viele Freuden doch den Wohlhabenden entgehen: Nur der Arme kennt das Glück, sich ein Ding mühsam zu erwerben, das ihm dann nicht allein dienlich ist, sondern ihn durch seine Unentbehrlichkeit an der Not vorbeiführt.

Ich hatte soviel zu tun und war so in meine neue Tätigkeit vertieft, daß ich jede Müdigkeit vergaß.

Die Zweige wurden zersägt; das war eine mühsame Arbeit, denn die Zähne der Säge waren stumpf und rostig und die Zweige feucht. Ich suchte die trocknen Äste zusammen, und es glückte mir schließlich mit Hilfe des Papiers, in dem die Waren eingepackt gewesen waren, Feuer anzumachen. Der Kochofen aber rauchte und die Zweige knackten.

Ich suchte die Pfanne hervor und reinigte sie so gut ich es vermochte. Dann kam der feierliche Augenblick, wo die Eier gebraten werden sollten. Erst dachte ich daran, sie zu kochen, gab es aber wieder auf, weil ich mit Wasser sparsam sein mußte.

Ich durchforschte mein Gedächtnis nach allem, was sich an zufälliger Küchenwissenschaft darin verborgen halten konnte.

So viel Aufmerksamkeit, wie ich dem Schmelzen des Butterkleckses in der Pfanne zuwandte, hatte ich seit langem keiner Arbeit geschenkt. Und als die Eier in der Pfanne ausliefen, welche Freude war es da, zu sehen, wie sie sich breiteten und darauf feste Form annahmen.

Was schadete es, daß sie an den Kanten etwas hornartig wurden, weil sie einen Augenblick anbrannten, daß das Weiße lederartig und das Gelbe etwas zäh war?

Als ein erster Versuch schienen sie mir jeder berechtigten Forderung zu genügen. Ich mußte lächeln, als ich dachte, daß ich diese Spiegeleier, die ich in meinem Heim mit einem strengen Verweis als ungenießbar in die Küche zurückgeschickt haben würde, hier mit gutem Appetit und voller Stolz aus der Pfanne verzehrte, bei einem Stearinlicht und einer großen Scheibe Landbrot.

Mich störte nur das offene, gähnende Fenster.

Vielleicht stand jemand draußen und glotzte herein. Jedenfalls leuchtete ja mein Licht weit über die Höhen hin.

Es konnte Neugierige herbeiziehen.

Aber auch dafür gab es Rat. Ich befestigte die Decke, die über dem Korbstuhl lag, an zwei Nägeln, die offenbar dazu bestimmt gewesen waren, eine Gardinenstange zu tragen.

Nachdem das besorgt und der Riegel von innen vorgeschoben war, nachdem der Ofen, der unablässig versorgt werden mußte, Wärme zu spenden und das Wasser im Kessel, den ich mit jedem zur Verfügung stehenden Mittel gereinigt hatte, zu summen begann, löste sich die Müdigkeit in einem neugeborenen, gedankenleeren Wohlbehagen auf, das keine Bekümmerung aufkommen ließ.

 

Am nächsten Morgen war ich zeitig auf.

Die Sonne schien durch die Bretterwand am Fußende meines Bettes.

Ich war vollständig frisch und ausgeruht, nur meine Füße schmerzten mich noch.

Ich kleidete mich schnell an und dachte an meine häusliche Tätigkeit, bevor ich über das grübelte, was sich in Kopenhagen vollzog.

Alles was mein früheres Ich berührte, war einem anderen Plan gewichen, und der Gedanke, daß ich in den heutigen Zeitungen wahrscheinlich das Letzte erfahren würde, beunruhigte mich nicht sehr.

Ich war der Maler Jakob Hansen, der zwischen den Höhen von Tibirke in dem Hause seines Freundes wohnte, um Herbststudien zu machen. In dieser Stellung fühlte ich mich sicher und unantastbar.

Ich hatte gestern abend meine ganze Feuerung verbraucht. Bevor ich darum etwas anderes im Hause vornahm, mußte ich mich zum Walde bemühen, um neues Reisig zu sammeln.

Der Wassermangel war noch immer das Schlimmste. Während ich Reiser sammelte, spähte ich gleichzeitig nach Quellen und Bächen aus. Ich meinte, daß Bertel Lund sich doch Wasser in der Nähe gesichert haben müßte, bevor er das Haus baute.

Obgleich ich den Waldrand zu beiden Seiten des Hauses und darauf das nächstliegende Gehölz systematisch absuchte, glückte es mir doch nicht, eine Quelle zu finden.

Es war klar: Bertel Lund mußte sich Wasser von einem nahegelegenen Hof geholt haben.

Ich ging auf die höchste Spitze der Anhöhe hinauf und erblickte ein strohgedecktes Kätnerhaus unterhalb der Halde. Das war das nächste Wohnhaus, und ich beschloß, dort um Wasser zu bitten.

Ich nahm in jede Hand einen Eimer und stieg durch das hohe Gewirr von Eichengestrüpp und Bickbeerbüschen hinab.

Ein altes, steifbeiniges Männchen stand vor der Tür und hackte Holz.

Er blickte erschrocken mit seinen rotgeränderten Greisenaugen auf, strich sich mit dem Rücken der Hand über seinen weißen Backenbart und sagte »Guten Morgen«, während er meine Eimer verblüfft betrachtete.

»Mutter ist nicht zu Hause,« sagte er abwehrend, mit einer quakenden Stimme.

»Das macht nichts!« erwiderte ich hastig, »denn wir sind Nachbarn. Ich bin der Maler Jakob Hansen und wohne droben in Lunds Haus. Er ist mein guter Freund und hat mir erlaubt, dort zu wohnen, um einige Studien zu machen.«

In dem runzligen Gesicht des Alten leuchtete es auf.

»Ei, ei, Sie sind ein Freund des Malers!« sagte er interessiert, verließ den Hackblock und bot mir eine Hand, die er erst an der Hose abwischte.

»Lund war'n prächtiger Mensch. Wie geht's ihm denn drunten in Italien?«

Ich dankte und fragte, ob ich Wasser bei ihnen holen könne.

»Gewiß, gewiß!« quakte der Alte, »da wird wohl nichts im Wege sein.«

Dann fügte er hinzu, nachdem er sich etwas verlegen geräuspert hatte:

»Tja, sehen Sie, Mutter ist nicht zu Hause, aber Lund gab ne Tonne Kartoffeln für den ganzen Sommer.«

»Darauf soll es mir nicht ankommen!« sagte ich flott. »Darüber werden wir schon einig werden.«

Der Alte fühlte sich beruhigt, trippelte um das Haus herum und zeigte mir den Brunnen, der tief und sehr umständlich war.

Nachdem meine Eimer gefüllt waren, gab ich ihm die Hand auf gute Nachbarschaft. Er wünschte mir, mit der Weitschweifigkeit eines alten Mannes, Gesundheit, guten Verdienst beim Handwerk und was ihm sonst in der Eile noch Wünschenswertes für mich einfiel.

Während ich mit den beiden Eimern mühsam den Hügel hinanstieg, blieb er stehen und sah mir nach, bis ich über die Halde verschwand.

Die Uhr wurde zehn, bis ich mich gewaschen, Wasser gekocht und Tee gemacht hatte. Und es wurde elf, bis ich den richtigen und praktischen Platz für Hausgeräte und Eßwaren fand.

Dann war das Haus in Ordnung. Das neue Hängeschloß wurde angemacht, der Haken tüchtig fest hineingehämmert, damit niemand in meiner Abwesenheit den Einbruch nachmachen konnte.

Darauf ging Jakob Hansen mit dem Malkasten auf dem Rücken und der Handtasche in der Hand an seine Arbeit.

Ich ließ mir gute Zeit auf meiner Wanderung durch den Wald, und es wurde Mittag, bevor ich den Sandkrug erreichte.

Das Mädchen grüßte mich bereits wie einen alten Bekannten und erzählte mir strahlend, daß es Schweinefleisch und rote Beete gäbe. Man hatte sich auf mein Kommen vorbereitet.

Der Krugwirt hörte meine Stimme, erschien auf seinen gestickten Pantoffeln in der Ladentür, rief mir guten Morgen zu und fragte, ob ich heute keine Wünsche habe.

Wir schlossen einen Handel ab, während das Essen zubereitet wurde.

Ebenso wie gestern verlangte ich nicht nach den Zeitungen, bevor ich beim Kaffee war. Als ich sie auf dem kleinen Tisch unter dem Spiegel liegen sah, war die alte Unruhe wieder über mich gekommen. Aber ich, der Maler Jakob Hansen, bekämpfte sie tapfer. In der Zeitung fand ich folgende Notiz:

Rechtsanwalt Klemms Bankerott.

Nach mehrfachen mißglückten Versuchen ist es uns endlich gestern gelungen, eine Unterredung mit Frau Rechtsanwalt Klemm, einer Tochter des Etatsrats Flindt, des hochangesehenen Chefs eines unserer ältesten Handelshäuser, Dalby & Co., zu erlangen. – Mit der vollendeten Fassung einer Weltdame erklärte Frau Klemm, die gleich nach der Katastrophe ihr elegantes Heim verlassen hat und jetzt bei ihren Eltern wohnt, daß der Schlag sie ganz unvorbereitet getroffen habe. Sie sprach ihr Bedauern darüber aus, daß die Notiz betreffs der anvertrauten Gelder in die Zeitungen gekommen sei. Es handle sich nur um eine Kassenunordnung, und die fehlenden 2 500 Kronen der Konfirmandengesellschaft seien sofort gedeckt worden. Auf nähere Angaben, wie und durch wen dies geschehen sei, wollte Frau Klemm sich nicht einlassen. Und doch wäre es nicht uninteressant zu erfahren, weil das gemeinsame Eigentum sich ja bereits unter Konkursverwaltung befindet. Frau Klemm wies die Vermutung, daß sie etwas von dem Aufenthalt ihres Mannes wissen solle, energisch von sich, falls er nicht, wie er vor seiner Reise angegeben habe, in Gotenburg sei.

Von anderer Seite erfahren wir, daß keine eigentlich betrügerischen Sachen vorliegen, außer daß auf eine ausländische Firma gezogen worden ist, bei welcher Klemm kein Guthaben hatte. Da die anvertrauten Gelder, wie es heißt, durch Vermittlung von Etatsrat Flindt gedeckt und Klemm nicht mehr als seinen rein privaten Kasseninhalt, einige hundert Kronen, mitgenommen haben soll, wird keine polizeiliche Nachforschung nach ihm angestellt werden.

Als Disponent der Masse ist seitens des Amtsgerichts Herr K. A. Jensen ernannt worden, Direktor der Diskontobank, die Klemm seinerzeit mitbegründet hat und die einen empfindlichen Verlust auf ihrem Wechselkonto erlitten haben soll.

 

Ich wurde also nicht verfolgt.

Man hatte sich damit begnügt, mich herauszuschneiden und fallen zu lassen.

Es war eine schmerzhafte Operation; ich fühlte noch das Messer in meinem Fleisch, aber ich wußte, daß es zu meinem Besten sein würde. Und ich war nicht weit davon entfernt, denen zu danken, die mich ohne Sentimentalität fallen ließen und – dadurch, daß sie sich nicht um meinen Aufenthaltsort bekümmerten – die Hoffnung angedeutet hatten, daß ich taktvoll genug sein möge, nicht zurückzukehren.

Entschlossen wie immer hatte Agnete ohne weiteres unser Heim aufgegeben – ich wollte sagen: unseren ehelichen Musterhaushalt. Ich, der ich sie besser kannte, fühlte durch die »Fassung« der Weltdame, die dem Journalisten so sehr imponiert hatte, den Zorn über die müßigen Anstrengungen ihrer acht Ehejahre zittern.

Mein Schwiegervater, der Etatsrat, hatte den Namen gerettet, nicht meinetwegen – o nein! – sondern seiner Tochter wegen, die noch eine kurze Zeit diesen Namen tragen mußte, der ein für allemal aus der Kursliste jener Gesellschaft gestrichen wurde, deren hervorragendes und loyales Mitglied der Etatsrat stets gewesen war.

Ich sah ihn vor mir, wie er sich in seinen hochlehnigen Schreibtischstuhl zurücklehnte – ein Jubiläumsgeschenk des Personals – und hörte ihn, mit dem ihm eigenen klangvollen Ernst in der Stimme, das Konto unseres Ehelebens abschließen:

»Es muß dir ein Trost in deinem Kummer sein, Agnete, daß du ihm keine Kinder geschenkt hast.«

Dies Aktiv wird ihn mit den 2500 Kronen versöhnen, die er hatte blechen müssen.

Er besitzt einen ausgeprägten Abscheu vor jeder Art von Defizit – und Agnete hatte diese Eigenschaft von ihm geerbt – so daß er schließlich immer eine Deckung findet.

Auch ich bin froh, daß sein scharfes Auge dieses Aktiv sofort entdeckt hat. Es ist eine wesentliche Abschlagszahlung meiner Schuld.

Losgerissen von meiner Vergangenheit, eine dunkle und hoffnungslose Zukunft vor mir, kehrte ich zu dem Augenblick zurück, zu dem Leben des Augenblickes, für das ich bis jetzt keine Zeit gehabt hatte.

Ich fühlte mich seltsam leicht und befreit; gleichzeitig aber war eine tiefe Demut in meinem Gemüt, die mich unwillkürlich ängstigte.

Bis spät in die Nacht hinein blieb ich in meinem Korbstuhl am Fenster sitzen und starrte mit den Händen im Schoß zum Sternenhimmel hinauf.

Ich fühlte mich wie eine Pflanze, die mit der Wurzel aus dem Beet herausgerissen wurde, in das sie gesät und mit vielen andern zusammen im Kampf um Luft und Licht und Nahrung emporgewachsen war.

Erwartete mich das Hinwelken, der langsame Tod? Oder war ich umgepflanzt worden, um ein besseres Wachstum zu erreichen?

An den langen Abenden, die folgten, führte ich nach beendigter Hausarbeit ein Tagebuch, woraus ich mitteilen will, was mir zu dieser Erzählung zu gehören scheint.

 

3. November

Heute bin ich zum erstenmal nicht im Krug gewesen; und doch habe ich keinen Augenblick die Zeitungen entbehrt. In alten Tagen waren sie mir ein Lebensbedürfnis; jetzt erscheint ihr lautes Gerede mir leer und gleichgültig, und ich wundere mich, wie es möglich ist, daß man so wenig mit so vielen Worten sagen kann. Sie sind wie ein Mahlgang, der unaufhörlich mit Gekrach und Gepolter mahlt, ohne daß Mehl herauskommt.

Ich blieb zu Hause, weil ich mich nicht von meiner Arbeit losreißen konnte; der Himmel hatte gerade die Beleuchtung, die ich brauchte, und das trockene Wetter wird kaum bis morgen anhalten.

Ich habe die Beobachtung gemacht, wenn die Wolken sich im Süden zusammenballen und nach Westen weiterziehen, dann gibt es Regen, bevor es Abend wird.

Zu Anfang malte ich, um zu beweisen, daß ich der Maler Jakob Hansen sei. An einem der ersten Tage zeigte ich dem Krugwirt das angefangene Bild im Deckel des Malkastens; denn ich fürchtete, daß er Zweifel nähren könne, ob ich wirklich das sei, wofür ich mich ausgab. Er kniff seine schlauen Augen prüfend zusammen und fand es »lebenswahr«.

Jetzt male ich meiner selbst und des Bildes wegen.

Während ich auf dem Gipfel der Anhöhe sitze, meinen Mantelkragen um die Ohren geschlagen, und die Herbststimmung über meines Nachbars, Per Jörgens, Haus herauszubringen versuche, erobere ich mir meine Kindheit zurück, Stück für Stück.

Ich entdecke die kleinen Dinge in der Natur, die einst meine Welt waren und die meinen Augen seit langem entschwunden sind.

Ich folge dem munteren Getriebe der Käfer zwischen den welken Blättern des Eichengestrüppes, höre unzählige Laute durch das, was man die Stille nennt.

Wenn ich meine Augen schließe, kann ich den Pulsschlag des tausendfältigen Kleinlebens zu meinen Füßen fühlen, als schlüge mein Herz im Takt mit allem Lebenden.

Ich stehe nicht mehr wie das vorige Mal, als ich in dieser Gegend weilte, außerhalb der Natur und sehe von einem Aussichtspunkt auf sie herab. Ich bin mitten darin, lebe mit ihr. Ich atme mit der Erde und kenne das Antlitz der Anhöhe ein und aus, wie es sich unter dem Auge des Himmels vom Sonnenaufgang bis zum Abend verändert. Ich beuge mein Haupt vor dem Ernst und der Aufrichtigkeit des Waldes.

Etwas entfernt von meinem Hause steht eine zierliche junge Birke. Sie steht allein zwischen all dem Gestrüpp, das ihr bis an die Knie reicht. Es friert sie in ihrer dünnen, weißen Rindenseide. Ihre zarten, gelben Blätter zittern in dem feuchten Morgenwind. Dann werden sie mit einem leichten Seufzer losgerissen und sinken zögernd und bebend zur Erde.

Ich habe ein anderes Tempo kennen gelernt.

In der Stadt arbeitete ich unter einem Hochdruck mit jagendem Stempelschlag. Ansprüche, die in einer vorausbestimmten Zeit erfüllt werden sollten, gaben die Dampfkraft an, mit der gearbeitet werden mußte. Es war kein Wachstum in der Arbeit, nur Druck, der von der Uhr an der Wand reguliert wurde. Fertig werden, die Chance ergreifen, zuerst kommen.

Jetzt arbeite ich wie der Bauer, im Takt mit meinem eigenen Atemzug und mit dem der Natur. Das ist das Tempo des Lebens, das durch den Herzschlag reguliert wird.

Meine Arbeit ist wie das ernsthafte Spiel der Kinder. Sie richten große Dinge damit aus. Ich auch.

Ich suche Reisig im Walde, zersäge und spalte es, mache Feuer an, hole Wasser in Eimern bei Per Jörgen. Ich habe gelernt, Spiegeleier zu machen, Schinken zu braten, Kartoffeln und Suppe zu kochen, Tee und Kaffee zu machen. Ich fege meine Stuben und vor meiner Tür. Dann male ich: und wenn der Gedanke an die Zukunft mich überfällt, dann schüttle ich ihn ab – bis auf weiteres.

Den ganzen Tag bin ich beschäftigt. Aber ich merke die Anstrengung kaum, weil ich mitten darin lebe und nicht gleichzeitig mit der Uhr in der Hand dabei stehe, zur Eile antreibe und die Dampfkraft verstärke.

Dennoch bin ich müde, wenn der Tag zu Ende geht. Aber durch meine Müdigkeit zieht derselbe Friede wie in meinen Knabenjahren.

 

7. November

Jetzt hat der Wald sich mir offenbart.

Sonst erschien er mir nur wie ein Haufen Bäume im bunten Gemisch; die meisten waren Tannen und Kiefern und Birken, die in ihrer Abgehärtetheit dem Meere am nächsten standen, während Eichen und tiefer ins Land hinein Buchen sich hinter ihren starken und genügsamen Brüdern breiteten.

Nun weiß ich, daß der Wald – obgleich von Menschenhand geordnet – ein lebender Organismus, ein Staat ist, in dem um einen Platz in der Sonne gekämpft wird, in dem der eine dem anderen im Wege steht, wo jede Fiber angespannt, jede noch so geringe Zufälligkeit ausgenutzt werden muß, wenn man seine Blätter der all-liebenden Sonne entgegenstrecken will.

Der Wald ist wie eine Nation. Er faßt zusammen und trägt. Die Birke dort ist nicht nur ein Baum für sich mit individueller Selbstherrlichkeit. Sie ist gleichzeitig ein Glied im Walde, der sie getragen und ihr Form gegeben hat. Der Wald hat sie aufgerichtet, aber sie gleichzeitig niedergehalten, denn ihr Wachstum wird von den Bedingungen begrenzt, die der Wald ihr bietet.

Während die Abkommen des Baumes sich verstreuen, indem der Same von Wind und Wetter und Vogelschnabel davongetragen wird, bleibt der Wald, er fängt den Samen ein und hält ihn fest, gibt ihm Erde und Schutz. Wenn es auch nur ein kleiner, unansehnlicher Wald ist, so trägt er doch, richtet auf und hält nieder.

Ich habe gelernt, mich als ein Glied in den Wäldern meiner Väter zu fühlen.

 

13. November

Nachdem mehrere Tage lang ein sanfter Regen gefallen war, der trippelte und prickelte und vom Dache an meinem Fenster vorbeitropfte, den Himmel grau und schwer machte, den Wald in Nebel hüllte, und, besorgt um seine Herrschaft, jeden andern Laut verstummen ließ, erwachte ich heute morgen zu einem sonnenklaren Tag.

Der Wald hatte seine Farben wiederbekommen. Die junge Birke richtete ihr Haupt höher auf und hielt im Andenken des Sommers die wenigen Blätter fest, die ihr noch geblieben waren.

Die Anhöhe dampfte, wie von einem warmen, lebenden Atem. Selbst das Dach meines Hauses lächelte, noch blank von Nässe. Und aus dem kleinen Schornsteinrohr in der Bretterwand stieg der Rauch ungestört und munter spielend in die klare Luft hinauf.

Die Sonne war durch den Nebeldunst, der noch am Horizont stand, nicht blendender, als daß ich einige Minuten hineinblicken konnte – bis ihre Scheibe schwarz und von einem Gürtel von siedendem, glühendem Metall umschlungen wurde, aus dem spielende Feuerzungen zum Himmel leckten.

Wir leben in der Gewißheit der ewigen Quelle der Sonne; in dem furchtbaren Sonnenbrand aber, der plötzlich meinen geblendeten Augen wehtat, fühlte ich wie eine Ahnung die Vergänglichkeit auch dieser Kugel, die allein alles Leben erhält und doch vor meinen Augen nicht größer ist als das einzellige Protoplasma, das Urtier, das ich einst unter einem Mikroskop zu sehen Gelegenheit hatte.

Ein Gedanke durchfuhr mich, der mich schaudern machte. Wenn sie nun versagte? – wenn das Gleichgewicht zwischen den Kräften fehlschlug? – wenn die Feuerkugel in diesem Augenblick explodierte?

Es war nur ein Augenblick. Dann fand ich Zuflucht in der Nothilfe, die wir gelernt haben Wissenschaft zu nennen.

Wir fühlen uns in der Sonne geborgen. Wir werden von ihr entfacht und hängen unser ganzes Leben lang an ihren Strahlen. Alles haben wir durch sie und nichts ohne sie. Und doch wissen wir nichts anderes von ihr, als daß sie eine glühende Kugel ist, die einst verlöschen wird.

So einfach und ungekünstelt ist das Lied des Lebens. Wir aber bemühen uns aus allen Kräften, das Singen desselben so umständlich wie möglich zu machen. Wir haben ihm einen Refrain beigegeben, von Gold und Ehre, und daß der eine mehr Platz in der Sonne haben soll als der andere.

Wir verleugnen die Ursprünglichkeit und Einfalt des Lebens.

Ich habe einst von einem berühmten Mann gelesen, in dessen Siegelring drei verschlungene S unter einer aufgehenden Sonne eingraviert waren:

Die S bezeichneten seinen Wahlspruch:

Simple! – Sérieux! – Sincère!

Darunter stand:

C'est la vie!

Ja, das ist das Leben: einfach, ernst und aufrichtig!

Das ist der Rhythmus, in dem das Dasein von Ewigkeit zu Ewigkeit schwingt.

Die in großen Städten leben, wissen es nicht.

Als ich heute im Krug war, um Menschen zu sehen und Kaffee zu trinken, begegnete mir im Hof der Wirt.

Er wollte in den Stall, um seine Schweine zu füttern.

Ich begleitete ihn und freute mich über das frohe, begehrliche Schnaufen der vielen rosa Schnauzen.

Er blickte mich erstaunt von der Seite an, als er mein Interesse sah. Dann kam ein Schein von Wohlwollen in seine schlauen Augen, er brüstete sich und vertraute mir an, was die Schweine ihm einbrachten.

Dann forderte er mich auf, die Rüben in Augenschein zu nehmen, die gerade aufgegraben wurden.

Er gab mir eine davon in die Hand. Ob das nicht ein stolzes Resultat sei – in solcher Erde?

Ich gestand ehrlich, daß ich mich nicht darauf verstehe.

Während wir einen Gang durch sein Land machten, wurde er mitteilsam im Sonnenschein. Seine schlauen Augen wurden aufrichtig und offenherzig. Und der Mann, der mir zuerst unsympathisch war, erschien mir plötzlich, wie er dort mit seinem breiten, runden Rücken und seinem Specknacken ging, wie ein gutmütiger Kerl, der sich einem Bruder anvertraute.

Er begann mir seine Not zu klagen. Das Geschäft ginge ja recht gut, dagegen ließ sich nichts sagen. Aber die Buchführung mache ihm Sorge. Er verstehe rein herausgesagt, nichts davon, wüßte nicht einmal, wie er es angreifen solle. Er hätte freilich alles im Kopf, bis auf das letzte Tüttelchen. Nun hätte er aber in der Zeitung gelesen, daß es ein Gesetz dafür gäbe, und da habe er es mit der Angst bekommen.

Es machte sich ganz von selbst in der milden Sonne: Ich bot ihm meine Hilfe an.

Fast hätte ich mich verraten. Er blickte mich überrascht an; und ich beeilte mich zu erklären, daß ich in einem Kontor gearbeitet hätte, bevor ich Maler geworden sei.

Er trat von einem Holzschuh auf den andern und blinzelte in die Sonne.

Dann blickte er mich plötzlich verstohlen mit seinen schlauen Augen an:

»Was wollen Sie dafür haben?« fragte er, als koste es ihn Überwindung.

»Eine Flasche Bier und eine von Ihren besten Zigarren!« sagte ich flott.

Ich amüsierte mich über seine Verlegenheit. Er war tüchtig erstaunt und überlegte hin und her, weil er meinte, es stecke etwas dahinter.

»Schlagen Sie nur ein!« sagte ich schließlich und mußte im selben Augenblick an das denken, was einer meiner Landklienten, der schlimmste Fuchs, der mir jemals begegnet ist, mit seiner frommen Stimme zu sagen pflegte:

»Wir Menschen sind dazu da, um einander zu helfen!«

»Das ist wahr!« sagte er mit plötzlichem Ernst.

Darauf reichte er mir seine breite, rote Hand, sah mir aufrichtig in die Augen und sagte:

»Dann sage ich schönen Dank!«

 

19. November

Das Wetter ist lange milde und regnerisch gewesen. Jetzt aber, wo der Himmel wieder klar ist, friert es des Nachts.

Wenn ich des Abends in meiner Stube sitze, kann ich mich nur schwer warm halten. Die Kälte dringt durch das Fenster und den Fußboden herein. Ich muß doppelt soviel Brennholz schaffen als früher.

Mein Licht brannte neulich herunter, und ich hatte vergessen, mich im Krug neu zu versorgen.

Ich war nicht müde, blieb darum noch im Dunkeln am Fenster sitzen.

Der Nachthimmel wölbte sich im hellen, kaltblickenden Sternenlicht.

Dort stand Orion mit seiner funkelnden Schwertspitze, wie ein Triumphator.

Nachdem ich lange in dem tiefen Lehnstuhl gesessen und in der großen Einsamkeit in das schimmernde Licht hineingeblickt hatte, wurde mir plötzlich so schwindlig, daß ich unwillkürlich nach den Armlehnen griff. Ein niederschmetterndes Gefühl von dem großen Raum überkam mich; mir war, als ob die Erdkugel, an die ich mich klammerte, ganz klein, sei und als ob ich selbst durch das dunkle, leere, unendliche Weltenmeer fortgewirbelt würde.

Es dauerte nur eine Sekunde, aber es war lange genug gewesen, um mich in der plötzlichen Klarheit dieses Augenblickes fühlen zu lassen, daß die Sonne dennoch nicht der letzte Vers im Lied des Lebens sei, sondern daß unsere Wurzeln noch tiefer gehen.

Ich fühlte unsere Abhängigkeit von den Sternen, und es war mir in diesem flüchtigen Augenblick vergönnt, mich als ein Moment in der Ewigkeit zu fühlen – als ein Sternen-Ich.

Dies Wort kam plötzlich zu mir. Ich ergriff es im Fluge und fand, daß es gut sei. Nachher habe ich viel darüber nachgedacht.

Das Sternen-Ich, dachte ich, ist die innerste und letzte Wirklichkeit – die bestehen bleibt, wenn alles andere: das Familien-Ich, das Gesellschafts-Ich, das National-Ich, daß Sonnen-Ich von uns abgefallen sind.

Das ist der Kern der Zwiebel. Das und dann die Individualität.

Oder sollte es vielleicht das tiefste Geheimnis unseres Wesens sein, daß die Individualität und das Sternen-Ich ein und dasselbe sind, das letzte Ich, das absolute. Das einzig absolute in unserm Erdenleben.

Wenn das, woran man mit den ersten Fäden hängt, die Heimat ist – wenn das, woraus man in dem unbewußten Innern seines Wesens bedingt wird, die Heimat ist – so sind die Sterne unsere eigentliche Heimat – unsere erste und unsere letzte.

Dann haben die Alten recht, die den Weg des Schicksals in den Sternen suchten. Denn wo der Kern ist, da ist auch das Schicksal.

All die schimmernden Lichter dort oben hängen aneinander und voneinander ab, sie bestehen durcheinander und bedingen sich gegenseitig, sie drehen sich umeinander und vollbringen einen Lauf, indem sie durch die Kraft des Gleichgewichts einander die Stange halten. Wir nennen das Gravitation.

So ist es auch in der menschlichen Gesellschaft.

Drehten Jensen und ich uns nicht wie zwei Weltkörper, die durch eine heimliche Gravitation aneinander gefesselt waren, während auch Agnete und ich wie ein Doppelstern uns in engen Kurven umeinander bewegten?

War es der hohe Diskont allein, der das Gleichgewicht zum Schwanken brachte und mich kopfüber aus meinem Sonnensystem herausschleuderte?

Oder war es ein fremder Weltkörper, der meine Bahn kreuzte und mich durch eine stärkere Gravitation aus dem Kurs brachte, wie es droben zwischen den Sternen der Fall ist?

Der Gedanke an Elise durchschoß mich plötzlich wie eine Ahnung. Ich fühlte ihre milden, ernsten, tiefen Augen auf mich gerichtet; und eine plötzliche Sehnsucht zog mit ihrem alten Schmerz durch mein Gemüt.

War ihr Schicksal mit im Spiel?

Gravitation – Liebe – sind das zwei arme und beschränkte Menschenbezeichnungen für ein und dieselbe Urkraft in einer Welt, wo der Stoff eine gleichgültige, ewig wechselnde Form ist, während nur die Seele ewige Wirklichkeit bleibt?

Ich fühlte mich auf seltsame Weise zu diesem funkelnden Gewölbe hingezogen. Ein Drang ohne sinnlichen Inhalt. Ein Drang, wie die Leibesfrucht sie empfinden mag, wenn der Nabelstrang sich strammt.

So glaube ich auch, daß der Drang zu beten eine Strammung desjenigen Nabelstranges ist, der uns mit der Ewigkeit verbindet.

Dieser Urdrang ist es, den die Menschen in ihrer blinden Hilflosigkeit mit Worten und Dogmen angefüllt haben, obgleich er seiner Natur nach wortlos ist. Ich glaube, daß er nur durch Töne – das einzige Organ, das wir für die körperlosen Regungen unseres Wesens besitzen – zu einem Ausdruck gesammelt werden kann.

Durch diesen Drang nach dem Ewigen gelangt das Sternen-Ich in uns zum Bewußtsein. Es ist vielleicht die einzige Lebensäußerung desselben, die uns bewußt wird. Die übrigen liegen außerhalb der Schwelle unsres Bewußtseins und bilden unser Schicksal.

Vielleicht ist uns noch eine bewußt. Ist nicht auch der Liebesdrang, der unbewußt nach Empfängnis strebt, eine unklare Lebensäußerung, durch welche die Individualität, indem sie über sich selbst hinausstrebt, ihre Ewigkeit bekräftigt?

Die Uhr wurde zwei, bevor meine Gedanken wieder in meiner Stube landeten.

Ich erhob mich, um zu Bett zu gehen, obgleich ich ganz wach war und Kopfschmerzen hatte.

Ich suchte in meiner Kommodenschublade nach dem Schlafmittel, das ich immer mit mir führe. Ich wußte, daß ich es auch diesmal in meine Handtasche gelegt hatte.

Wie ich dastand und im Dunkeln suchte, fiel mir ein kleines Etui in die Hand; ich erinnerte mich nicht, was es enthielt.

Indem ich es aus der Schublade nahm, um es zu untersuchen, entglitt es meiner Hand. Es öffnete sich im Fallen und etwas klirrte mit einem schwachen Metallklang gegen den Fußboden.

Ich bückte mich und sah das Gefallene weiß am Fußboden leuchten.

Es war das Ritterkreuz. Nun erinnerte ich mich – ich hatte es mit nach Paris nehmen wollen.

Indem ich es in der Hand hielt und in Gedanken die Emaille und das Gold im Sternenlicht blitzen ließ, mußte ich lachen.

Im Licht der Sterne sah ich den Abstand zwischen früher und jetzt, und ich dachte beschämt daran, was dieses hübsche kleine Spielzeug mir einst bedeutet hatte.

 

20. November

Ich erwachte mit Elise in meinem Sinn. Ich fühlte, daß sie die ganze Nacht durch meine Träume gewandelt war, aber ich konnte mir den Inhalt der Träume nicht mehr zurückrufen, obgleich ich meine Augen wieder fest schloß und mich so gedankenleer wie möglich machte.

Mit Wehmut durchlebte ich noch einmal die traurige Geschichte unserer Liebe, von unserer ersten schönen Liebesbegegnung bis zu dem Tode des Kindes in einem fremden Heim.

Der stumme Vorwurf ihres Blickes durchrüttelte mich von neuem; es half nichts, daß ich mir sagte, sie selbst habe die Ehe ausgeschlagen, als es noch Zeit war.

Ich durchlief in Gedanken Zeile für Zeile ihres letzten Briefes, in welchem sie mir mitteilte, daß sie eine Stellung angenommen habe, daß wir uns nicht wiedersehen wollten.

Er war ohne Zorn. Sie wünschte mir alles Gute auf dem Wege zu Macht und Ehre, den sie nur gering achtete und den sie nicht mit mir wandern konnte, noch wollte, weil sie fühlte, daß sie nicht die Fähigkeit besäße, dort ihren Platz auszufüllen.

Wie sie mich kannte! Wie recht sie gehabt hat!

Nur als sie von meiner Ehe schrieb – sie sah voraus, daß ich bald heiraten würde, ahnte vielleicht schon damals, daß Agnete Flindt mich brauchen konnte – da war Bitterkeit in ihren Worten:

»Laß es nicht zu bald sein!« bat sie, als fürchte sie, daß in ihrem Herzen der letzte Hoffnungsschimmer auf ein dauerndes Zusammenleben mit mir noch nicht erloschen sei.

Kaum ein Jahr später war es geschehen.

Und während ich mich meiner Ehe erinnerte, von dem ersten prangenden Tage bis zu dem plötzlichen Abschluß, peinigte mich ein so bitterer Schmerz, daß ich mich mit Zorn, ja mit Haß gegen Agnete wandte und einen Augenblick unsre vorsätzlich kinderlose Ehe für mein großes Unglück verantwortlich machte.

Aber nur einen Augenblick. Dann dachte ich an die Verwandlung, die in mir begonnen hatte und freute mich des Unterschiedes zwischen früher und jetzt.

 

25. November

Als ich heute morgen bei Per Jörgen war, um Wasser zu holen, nahm ich das Bild mit, das jetzt fertig ist.

Wie die beiden Alten sich freuten. Zuerst über die Aufmerksamkeit; dann aber – als sie das Haus und den Weidenbaum über dem Gipfel entdeckten – weil sie ihr eigenes Heim darin erkannten.

Ich wurde zum Kaffee eingeladen. Während Mutter ihn machte, trippelte Per Jörgen auf seinen steifen Beinen um das Bild herum.

Er erkannte jede kleine Einzelheit. Da war ja auch die zerbrochene Bank, bei der Lars Hansen ihm zum Frühjahr helfen wollte. Und da war die weiße Henne, die alte Sophie.

»Was?« rief Mutter aus der Küche und ließ den Kaffee im Stich, »ist Sophie auch mit drauf?«

Sie freuten sich wie Kinder, ohne es verbergen zu wollen.

Dann wurde Mutter nachdenklich. Sie trat unruhig von einem Fuß auf den andern und blickte den Alten verstohlen an.

Er merkte es sofort, wie ein Umschlag im Wetter, und wurde auch nachdenklich.

Schließlich rückten sie damit heraus: »Ob ich das Bild nicht verkaufen wolle?« Sie würden es so gern ihrem Sohn nach Amerika schicken, damit er sehen könne, wie hübsch das alte Haus geworden sei, neugedeckt und weißgestrichen und das große Fenster, das der Giebel bekommen habe, seit er als Junge im Hause gewesen war. Falls es nicht zu teuer für sie sei.

Ihre Freude rührte mich so sehr, daß ich ihnen das Bild beinahe geschenkt hätte; teils aber fürchtete ich sie zu kränken, teils nährte ich ein gewisses Zärtlichkeitsgefühl für diese Arbeit, die mir die vielen glücklichen Stunden meiner Jugend so lebhaft ins Gedächtnis zurückgerufen hatte. Mich dünkte, daß es mir auf eine ganz andere persönliche Weise gehörte als alles das, was während langer Jahre meine Arbeit gewesen war. Es war keine eigentliche Künstlerfreude, eher eine frische, aufrichtige Erwerbsfreude, die aus meinem einsamen Leben angesichts des Augenblicks hervorgekeimt war.

In der Staatsstube, wo wir standen, lag eine wollene Decke über einem alten Lehnstuhl am Fenster, mit ihrem Muster zierlich und sorgsam vor dem Beschauer ausgebreitet. Sie lag da augenscheinlich nur zum Schmuck; wahrscheinlich ein Geschenk, das man nicht in Gebrauch zu nehmen wagte; vielleicht von dem Sohn in Amerika.

Ich dachte an die Fußkälte in meinem Hause, wenn es Winter wurde.

»Sie können mir diese Decke dafür geben!« sagte ich.

Die Alten sahen sich an. Es war klar, daß sie nicht gehofft hatten, so billig davonzukommen. Sogar ohne das Gesparte in der Kommode angreifen zu müssen.

»Vielen Dank auch!« sagte Mutter, die das Wort führte.

»Können Sie sonst noch was brauchen?«

Ich blickte mich in der Stube um. Aber es war nichts weiter da.

»Ja, sehen Sie,« begann sie etwas verlegen, »Vater und ich haben schon davon gesprochen, daß es Ihnen eigentlich an ein paar Hühnern und so was fehlt. Es geht uns ja freilich nichts an, und da haben wir den Mund gehalten. Aber Lund hatte auch so 'n bißchen Federvieh, das den Abfall bekam. Wir haben zwei junge Hennen und einen Hahn, die er uns überließ, als er reiste. Sehen Sie, die würden wir gern noch mit in den Kauf geben.«

Ich wußte nicht gleich, was ich antworten sollte. Der Gedanke, Hühner zu halten, überrumpelte mich. Das band mich gleichsam fester an den Ort und an das Haus. Das zwang mich, an die Zukunft zu denken, was ich am liebsten noch vermied. Das mahnte mich unbarmherzig daran, daß das Haus ja einem andern gehörte: ich hatte kein Recht, dort zu sein.

Sie mißverstand mein Schweigen und sagte etwas gekränkt, indem sie sich zu Per Jörgen wandte, der bekräftigend nickte, noch bevor sie etwas gesagt hatte:

»Nun, es sind ein paar Hennen, mit denen einem gedient sein kann. Die kleine schwarze hat schon im Oktober angefangen zu legen, so jung sie ist, und sie ist die einzige, die nicht aufgehört hat, Eier zu geben.«

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich nahm die Hühner an; und Mutter gab mir einen Kasten, in dem ich sie nach Hause tragen konnte.

Während ich damit beschäftigt war, ein Hühnerhaus in der Küche einzurichten, amüsierte ich mich über den eigentümlichen Handel.

Ich versuchte auszurechnen, wieviel ich wohl für mein erstes Bild in Geldeswert bekommen hatte; und ich erwog, daß die Decke und die Hühner viel mehr für mich bedeuteten als die geringe Summe, für die sie gekauft sein konnten.

Und wie es mir bereits in meiner Einsamkeit zur Gewohnheit geworden war, fuhr ich fort darüber zu grübeln, bis dieser Tauschhandel mir in seiner Allgemeinbedeutung klar wurde.

Das Geld, dachte ich, hindert uns, an die Dinge selbst heranzukommen.

Ebenso wie wir Gegenstände nicht nach ihrem individuellen Nutzen, sondern nach ihrem Wert in Geld beurteilen, ebenso ist auch unsere Schätzung von Schönheit, Ehre, Stellung, Vermögenslage im Laufe der Zeiten entstellt worden.

Es ist eine Frucht der hochgepriesenen Zivilisation, der ausgebreiteten Arbeitseinteilung unserer modernen Gesellschaft, daß wir nicht fragen, was alle diese Dinge in sich selbst wert sind, sondern was sie nach dem festgesetzten Maß der menschlichen Gesellschaft gelten.

Alles hat einen Kurs bekommen. Die ursprünglichen, innewohnenden Werte sind nicht mehr zu spüren, nicht unmittelbar. Nur der Kurs derselben.

Selbst die Liebe wird oft zerstört, weil ihr Inhalt nicht den blauen Stempel der Gesellschaft erreicht, der allein den Wert angibt.

Wir müssen in aller Lebenswertschätzung zu dem Ursprünglichen zurück. Darin liegt die Befreiung. Der Weg zu dem Individuellen aber führt durch das vertraute Zusammenleben mit der Natur in uns und um uns herum. Es gibt keinen andern.

 

5. Dezember

Ich fühle, wie die Werte in meinem Innern umgemünzt werden.

Was mir früher das höchste war, erscheint mir jetzt wertlos. Was ich damals gar nicht kannte oder im Kampfe vergaß, hat jetzt entscheidende Bedeutung für mein Gemütsleben.

Ich habe wieder begonnen in die Zukunft zu blicken – jetzt weiß ich, wie mein Weg geht.

Ich will das Leben in dem Tempo leben, das es selbst vorschreibt, – wie ein einfacher, ein ernster, ein aufrichtiger Mann. Wie Jakob Hansen.

Diesen Namen entlieh ich zufällig; jetzt will ich ihn mir zu eigen machen. Ich will um Namensänderung einkommen, um ihn mit Recht tragen zu können.

Ich will in diesem Hause wohnen bleiben, das mir auf die richtige Seite hinübergeholfen hat.

Gestern habe ich an Bertel Lund nach Italien geschrieben. Ich weiß seine Adresse nicht, aber ich adressierte den Brief an die Kunstakademie. Ich habe gehört, daß er dort unterrichtet.

Ich schrieb ihm genau und ehrlich, wie es sich zugetragen hat. Ich bat ihn, vorläufig hier wohnen bleiben zu dürfen, unter Bedingungen, die er selbst stellen mag.

Jetzt warte ich mit Spannung auf seine Antwort.

Gestern ging ich zum erstenmal den langen Weg nach Friedrichswerk.

Ich mußte neue Leinwand und neue Farben kaufen. Denn ich will fortfahren zu malen.

Es kommt mir nicht darauf an, ob es Kunst ist. Mag sein, daß es welche ist; ich bin nicht imstande, es zu beurteilen. Immerhin weiß man nie, was werden kann.

Es genügt mir, vorläufig zu wissen, daß ich andere damit erfreuen und mir selbst dadurch helfen kann.

Darum hat es einen Wert, den einzigen Wert, mit dem ich jetzt rechne. Kein gesellschaftlicher Kurs, sondern ein wirklicher, ursprünglicher Wert, der an persönlicher Freude und individuellem Nutzen gemessen wird.

Ich will meine Bilder gegen etwas eintauschen, das mir Freude macht und mir nützlich sein kann.

Ich bilde mir nicht ein, daß ich die Gesellschaft reformieren, ihre Werte umprägen kann. Ich kenne ihre Gesinnung gut genug, um zu wissen, daß die Reform eines gefallenen Ritters vom Danebrog keine Beachtung finden würde. Ich nähre auch keine eitlen Gelüste nach irgendeiner Richtung hin.

Aber ich glaube, daß ich die Verwandlung in mir selbst vollbringen kann – von Jens Adolph Klemm zu Jakob Hansen.

Ich wurde aus meinem engen Platz im Beet herausgerissen und auf den Wegrand geworfen. Aber ich habe von neuem Wurzel geschlagen.

Ich will noch etwas anderes außer malen. Und das ist wichtiger.

Ich will den Leuten aus der Gegend helfen, besonders den Armen. Ich will ihnen nach Kräften mit Rat und Tat beistehen.

Wie ich den Krugwirt die Buchführung gelehrt habe, so will ich dem Förster dabei behilflich sein, eine Eingabe wegen eines neuen Hofgebäudes aufzusetzen, die ihm Schwierigkeiten macht.

Ich will Per Jörgen helfen, die Hypothek, die er in seinem Hause stehen hat, zu einem niedrigeren Zinsfuß anzusetzen, und ihm erklären, was das Wort »Bonus« heißt, das er in seiner Zeitung gelesen hat und das sich in seinem Kopf festgesetzt hat und nicht wieder herauswill.

Ich will ihre Rechtssachen führen; ich will der Entstehung von Streitfällen vorbeugen. Ich will über ihr Wohl und Wehe nachdenken, als sei es mein eigenes.

Jeder soll mir nach Gutdünken und nach seinen Verhältnissen geben.

Wer nichts hat, soll mir nur seinen Dank geben.

Auf diese Weise hoffe ich mit der Zeit für meine Fähigkeiten und Kräfte auch hier Verwendung zu finden.

Und mein größter Sieg wird sein, wenn Leute aus immer weiterm Umkreis zu mir kommen, wie zu einer »klugen Frau«, die wegen ihrer guten Ratschläge berühmt ist.

Alles das aber ist nur vorläufig. In weiter Ferne, in einer höheren und reineren Luft ahne ich etwas Größeres – etwas, was alle verlorenen Tage meines Lebens ersetzen wird. Doch davon weiß ich nichts.

Noch nichts.


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