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Es war in der Neujahrsnacht drei Viertel auf zwölf, als ich die warme Hütte verließ, um wieder einmal zuzusehen, wie die Menschen untereinander solch eine Stunde verbringen. Von außen betrachtet, sah der Ort ganz tot aus. Auch kamen von nirgendwoher Töne zusammen, die ein Geräusch verursacht hätten. Der Frost kniff in die Ohren, klebte die Nasenlöcher zu und befror die Augen. Und ein leichter Nebel lag auf der Erde, der sich als Rauhreif an Bäume und Zäune hing. Fast aus allen Häusern fiel Lichtschein und malte Fenstervierecke auf den Schnee. Und das Lachen, Singen und Gläserklirren kam nur sehr undeutlich durch die glitzernden Wände. Bloß in der Nähe der Wirtshäuser gab es größeren Lärm. Jeder feierte sein Fest, wie er es verstand und für wichtig hielt. Ich wollte nirgends störend wirken, wich den Menschen nach Möglichkeit aus und zog nur hin und wieder die Mütze vom Kopf, wenn mich ein Unbekannter voreilig mit dem gebräuchlichen Neujahrsgruß anrief.
90 Als es vom Kirchturm zwölf Uhr schlug, entfaltete sich straßauf, straßab jene überschwengliche Lärmfreude, die das neue Jahr wohl niemals für richtig hält. Und man war mit seinen Lebensäußerungen so sehr beschäftigt, daß niemand das Schweigen der Kirchenglocken zu bemerken schien. Denn sie pflegten in dieser Nacht um zwölf Uhr immer ein Weilchen feierlich über der Landschaft zu stehen. Ich habe in dieser Stunde ihren mahnenden Ruf gern. Und da ich nicht weit vom Küsterhaus mich befand, ging ich die kleine Gasse hinab und klopfte an die Tür des verschneiten, schlafenden Häuschens. Der Schlag meiner kalten Hand klang hohl durch den Flur. Und richtig, es regte sich bald in den Räumen. Eine Tür knarrte sehr laut. Ein Licht flackerte auf. Jemand schlurfte brummend heran. Es war der greise Küster selber, der im Schlafrock öffnete. Er knöpperte mit den verschlafenen Augen und war sehr erstaunt, als er mich erblickte. Mit der Hand die Flamme der Kerze schützend, fragte er nur: »Was – was ist denn?«
»Es ist eben zwölf Uhr vorbei«, sagte ich. »Vielleicht, daß Sie vergessen haben zu läuten.«
Da sah er mich von unten her streng an und erwiderte mit sehr bewegtem Mienenspiel: »Das besorge ich nie, junger Mann. Niemals! Das macht der Herr Kantor. Der hat am 91 Sylvesterabend noch immer an der Orgel zu tun und zieht dann schon das Weilchen an den Strängen. Sie haben mich gestört, nichts weiter!« Und rasch barg er sich hinter der eigenen Pforte.
Also ging ich über den Platz zur Kirche, die in Finsternis und Frieden lag. Es hatte zu schneien begonnen. Und ich mußte an die Menschen in den umliegenden Gehöften und Ortschaften denken, die vor ihren Toren standen, mit der Uhr in der Hand, und beunruhigt auf die Glocken des Kirchturms warteten. Der Herr Kantor mochte vielleicht ein wenig eingenickt sein. Aber ich wußte auch, daß sowohl Kantor als auch Küster, wenn sie allein in die Kirche gingen, dieselbe wieder von innen verschlossen. Und so war es auch gekommen, daß ich noch niemals das Innere dieses Kirchleins gesehen hatte. Denn in der Kirche bin ich am liebsten allein.
Ich war deshalb sehr erstaunt, als sich die Kirchentür dem leichten Druck meiner Hand fügte. Der Schlüssel, stellte ich fest, war wohl umgedreht, aber es war, wie man so sagt, vorbeigeschlossen worden. Zunächst blickte ich in eine schreckliche Nacht hinein. Erst langsam begann ich die Umrisse der hohen, spitzen Fenster zu erkennen. Aber da war mir auch, als stünde ein schwacher Lichtschein über den Bänken, der von der Orgel, die sich über meinem Kopf befinden mußte, herkommen 92 konnte. Ich schritt auf einer weichen Unterlage leise voran. Und als ich etwa im Mittelschiff stand, sah ich tatsächlich oben vor der Orgel den Kantor mit orgelspielenden Bewegungen sitzen. Erwartungsvoll schob ich mich in die Ecke einer seufzenden Bank und sah dem stummen Spiel des einsamen Mannes im weißen Haar zu.
Der Kantor war vor etwa zehn Jahren in den Ort gekommen, und zwar aus der Landeshauptstadt, wo man ihn plötzlich ganz unbegreiflicherweise hatte loswerden wollen. Er verstand es, die Gemeinde durch sein leidenschaftliches Spiel hinzureißen. Und daß er ein guter Musikus war, bewiesen schon die zahlreichen Orgelkonzerte, die er in den Städten der Provinzen gab, und die stürmischen Zulauf hatten. Es läßt sich nicht streiten, daß der ehrwürdige Mann mit mehreren Eigentümlichkeiten behaftet war, die vielleicht in der Großstadt aufgefallen sein mögen. Hier in diesem Städtchen aber gehörten sie zu den Seltsamkeiten, mit denen ein ungewöhnlicher Mensch begreiflicherweise gesegnet ist. Und wenn der Kantor über die Straße ging und leise, aber vernehmlich vor sich hin »tromm, tromm, tromm, tromm« sang, so hatte man weder Lachen noch Lächeln dafür, sondern war sich bewußt, ein paar gewichtige Töne der Repetition des Kirchenchors für den kommenden Sonntag gehört zu haben; man gab ehrbar den Gruß, den der 93 Versunkene mit einer gewogenen Taktstockbewegung erwiderte. Zweifellos geschah es auch, daß der Verehrte zuweilen ohne Hemdbrust und Schlips in eine feierliche Versammlung geriet, daß er in die Serviette statt in das Schnupftuch nieste. Gott, das sind Dinge, die man begreifen muß. Es gibt Menschen, die auf verschiedenen Bewußtseinsebenen leben, namentlich Künstler. Davon hat man doch oft gehört.
Der Kantor erhob sich nach mehreren heftigen Schlußbewegungen. Um nicht eingeschlossen zu werden, gedachte ich vor ihm die Kirche zu verlassen. Wie aber erstaunte ich, als er ein neues Licht anzündete, seinen Platz verließ und hurtig die Treppe heruntergestiegen kam. Ich sah seinen Schatten quer durch den Raum huschen. Und nun begannen, wie hoch über aller erdenen Welt, die Kirchenglocken feierlich zu rufen. Ein Wispern und Raunen schien über den Bänken zu liegen und es war mir ganz unversehens zumute, als säßen auf all den Bänken gedrängt wahrhaftige Wesen, die meinen diesseitigen Blicken enthoben waren. Ich sank ergeben ein wenig tiefer in meine unruhige Bank hinein, ein Umstand, der mich der Aufmerksamkeit des lautlosen Chormeisters, der dicht an mir vorüberschritt, entzogen haben mag. Bald war er wieder vor seinem Platz, griff nach dem Taktstock und bestieg entschlossen das Dirigentenpult. 94 Er ordnete mit einigen energischen Fingerzeigen eine mir unsichtbare Sängerschar, schien mit geöffneten Lippen die verschiedenen Tonlagen anzudeuten, machte mit dem weißen Stabe »tack« auf die Partitur, hob die Arme beide – – und heraus rauschte der ganze Chor, den ich nicht hörte. Ich starrte ergriffen auf den dirigierenden Helden, der sich mit erschütternder Leidenschaft hin- und herwarf, die Fäuste ballte, die Finger spreizte, Piano und Fortissimo lockte und mit jeder Faser seines lebendigen Leibes aus seinem ohne allen Zweifel trefflich geschulten Chor auch die äußerste Möglichkeit der Blatt für Blatt gewendeten Partitur herausriß. Ich durfte in diesem gesegneten Augenblick erleben, daß mir die Ohren zufielen. Und mit einmal vernahm ich einen beseelten Gesang, den ich niemals wieder vergessen werde. Von einer Unzahl Stimmen getragen rollte eine prächtige Melodie dahin, unterstützt von quellendem Jauchzen, geführt von dem allesbefreienden Taktstock, der wie eine Fahne des Sieges über dem Dasein brannte. Und ich fühlte mit hehren Schauern das Leben auf all den Bänken rings um mich her. Erhobene Seelen glühten gewaltig auf, bar jeder Materie, in der entfesselnden Urkraft jenes feuersprühenden Riesen auf hoher Warte.
Jedoch es öffneten sich mir die Ohren wieder und ein dröhnendes Schweigen hüllte mich ein. Den 95 Bewegungen des seltsamen Mannes war anzusehen, daß sich die Kantate bei einem starken Allegro befand. Sein ganzer Körper flog einen unaussprechlichen Rhythmus. Jetzt kam das Finale! Der Kantor vermochte vor Erregung nicht mehr den Taktstock zu halten und stand wie aus Stein. Dann stieß er den Stab in die Tasche und seine Hände flatterten beglückt wie ziehende Vögel hin. Und als sie schließlich das Rollen der Wogen im Meere ahmten, mochte gewiß ein Engelgesang zerfließen.
Die Kantate war aus. Der Kantor sank auf sein Pult über die Partitur. Vielleicht, daß Weinen ihn schüttelte.
Seliges Ahnen zog mir durch die Brust. Ich erhob mich und suchte das Freie.
Große Flocken machten die Erde ganz lautlos. Ich ging zwischen Gärten hinaus auf das Feld und strebte meiner Hütte am Walde zu.
Das Leben gründete tief unter den deckenden Schollen, darüber ich schritt – schritt ins neue Jahr mit wachem Bewußtsein.