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Der Nachtwächter Purpas starb erst im vergangenen Jahre. Er hat ein poetisches Gemüt gehabt und sehr viele Gedichte geschrieben, von denen keins veröffentlicht ist, woran ihm, Gott sei gelobt, niemals etwas gelegen war. Dann nämlich wäre er keineswegs so glücklich gewesen. Und darauf allein kommt es im Menschenleben ja an.
Ich habe verschiedene von den Gedichten des Nachtwächters Purpas gelesen, und ich kann sagen, es wurde mir schauerlich zumute. Es war eine gewaltige Peinlichkeit, sich mit solchen weichempfundenen Gefühlsausbrüchen bekannt zu machen. Außer Zweifel steht jedoch, daß die Empfindungen dieses tüchtigen Mannes und gräßlichen Dichters naturwärmer, aufrichtiger, lebensnäher waren als die der meisten seiner lautgenannten Brüder in Apoll. Ihm fehlte also nur – wenn man so sagen darf – die Fähigkeit, des Wortes schwungvoll geworfene Gabe einzufangen, zu heftig ausgestürzte Leidenschaften 63 abzutönen, Gefühle, die zu unbeherrscht die zarten Regungen des Dichtenden offenbarten, mit kalter Schere zu beschneiden.
Wie sehr Nachtwächter Purpas Poet war, ist in einigen Sätzen leicht erzählt. Als es ans Sterben ging, schickte die Gemeinde den Doktor Köppelhof zu dem einsamen Mann. Der Doktor Köppelhof, ein erfahrener Weißbart, stellte schlimme Dinge im Innern des Hochbetagten fest, hielt es aber für zu spät, noch eine Überführung in eine Klinik anzuordnen, wovon der Purpas auch durchaus nichts wissen wollte.
»Lassen Sie man, Herr Doktor«, sagte der Purpas mit gedehnter Stimme. »Ich weiß, daß der Herrgott dort oben einen guten Nachtwächter braucht. Da werd' ich doch nicht nein sagen. Soviel aber kann ich versichern: ich werd', komm', was da will, nicht eher abmarschieren, bis ich noch einmal die Mondscheinlerche gehört hab'. Bis dahin wird pünktlich der Dienst versorgt.«
Der Nachtwächter sah dem Gesicht des Arztes an, daß er ihm nicht mehr so lange Zeit gab, auch daß er zweifelte, daß er den Wächterdienst weiter würde versehen können.
»Sie sind doch lange pensioniert, lieber Purpas, und wissen doch, daß kein neuer Wächter wieder eingestellt wird. Die Zeiten sind vorbei. 64 Was wollen Sie sich da unnütz quälen.« Der Doktor sprach, um zu sprechen.
Der Nachtwächter Purpas aber versah seinen Dienst, um den ihn niemand bat, ging seine vielen nächtlichen Runden wie seit je zu ganz unregelmäßigen Stunden (damit das Diebsvolk sich nicht womöglich gewöhnt!), nahm sehr genau seine nun schon seit Jahren freiwillig geübte Pflicht wahr, den Schlummer der Menschen, die ihm ein Leben lang liebgeworden waren, zu schützen. Bis zuletzt sollte niemand die sichere Ruhe der Nacht entbehren.
Es war hoch im Frühjahr. Purpas ging in seinem zerschlissenen Uniformmantel, das Nachthorn um den Hals gehängt und die Hellebarde in der Faust, durch die gestirnten Nächte. Der Doktor war außer sich, wenn er nächtens von seinen Studierbüchern aufsah und vorm Fenster die Schritte des Todkranken vorüberschlürfen hörte.
»Die Mondscheinlerche hat noch immer nicht geklettert dies Jahr«, bedeutete Purpas. »Es wird heuer spät. Früher aber geh' ich nicht . . .«
Denn das waren die großen Nächte in den langen Jahren seines Wächterlebens gewesen, wenn der volle Mond ringsher die weite Landschaft in sein Licht nahm, und um Mitternacht, 65 betört vom reifen Glanz des Gestirns, die Lerchen im Feld nachtjubelnd anfingen gen Himmel zu steigen. Sonst schwiegen die Stimmen alle. Nur ab und zu sang eine Unke ihr silbernes, klagendes Lied, und ein Zaunkönig warf zuweilen rasch seine Kadenz dazwischen.
Die Mägde im Dorf wußten den Purpas in solchen Zeiten weidlich auszunutzen. Er ließ es gern geschehen. Er wußte um den Sponsierer einer jeden, warnte, sprach zu. Sein Wort war ein sicherer Weggenosse für die Zukunft. Die Mägde brauchten sich dann um die nächtlichen Wäschebleichen nicht zu kümmern. Und niemals nahm er etwas, was die Menschen Trinkgeld nannten. Wann er schlief? Gott weiß! Er war Tag und Nacht auf den Beinen. Es konnte sich keiner rühmen, ihn jemals schlafen gesehen zu haben. »Der Wächter schläft nicht!« Das war sein Wahlspruch . . .
In den Nächten dieses Frühlings, als er todkrank war, wie der Doktor sich ausdrückte, hielt er viel Selbstgespräche in das schweigende Dunkel hinein.
»Herrgott! Ich will ja recht bald zu dir kommen. Laß mich aber doch bloß noch einmal die Mondscheinlerche hören! Dort bei dir gibt es viel andres zu hören. Aber die 66 Mondscheinlerche doch nicht . . . Du brauchst mich sehr? – Na . . . na . . . na! Nu . . . schenk mir bloß noch das bißchen Zeit, bis ich die Mondscheinlerche hör. Kommt vielleicht ja doch nicht darauf an. Ein paar Nächte bloß noch! Ein paar Nächtchen bloß! Es ist ja noch immer so sanft bewölkt!«
Und dann sagte er wohl den einen oder andern Vers vor sich hin – nicht begeistert, sondern nur memorierend – den er einmal früher über die Mondscheinlerche aufgeschrieben hatte, und den er gründlich auswendig wußte. Weiß der Himmel! Die Verschen kamen ihm jetzt so schal vor, konnten ihn gar nicht mehr begeistern wie ehemals.
Muß eben alles verlassen werden. Kommt nicht drauf an, dachte er.
Dann kam eine Nacht! Gottsdonner! Das war eine Nacht! Er konnte sich nicht besinnen, solch eine Frühlingsnacht mit Vollmond erlebt zu haben! Ganz fern im Busch, wo der Fluß war, hämmerten wie toll die Nachtigallen. Die Unken in den Gräben nahmen die unterschiedlichsten Tonlagen an wie verrückt. Es war ein gewaltiges Unkenläuten, das ganz tief in die Seele griff.
Als die Glocke zwölf geschlagen hatte, begannen wahrhaftig zum erstenmal im Jahr die Mondscheinlerchen zu trillern, eine nach der 67 andern, frisch und herrlich in der weihevollen Nacht, als habe die ganze Schöpfung plötzlich einen besonderen Antrieb erfahren. Die Sterne waren im milchigen Zittern und schickten rieselige Fäden nieder auf die alte Erde. Ganz durchsichtig lagen Feld, Baum und Gebüsch. Und die Umrisse von Häusern, Ställen und Scheunen hoben sich wie langgepflegte Denkmäler höher und höher in den dämmerig verklärten Raum. Meilenweither trug sich der Duft der aufgebrochenen Äcker. Und stilles Gesäusel von Baumwipfeln legte sich drüber hin.
Purpas stand stumm in der verklärten Nacht. Noch nie war er so zerflossen gewesen wie nun. Den ewigen Schreibstift hielt die Rechte verkrampft. Er spürte nur das Wogen unsagbarer Gefühle in seinem ganzen Körper. So herrlich vermochte Gott einen Menschen zu segnen!
Um halb eins war alles zu Ende. Er rammte da, wo er stand, seinen Spieß in die Erde, wandte sich, schritt heimwärts. Beim Doktor klopfte er mit der Faust ans Fenster.
»Doktor! Die Mondscheinlerche hat gesungen . . . wie noch nie!«
Vor der Tür seiner Hütte hob er das Nachthorn zum Mund. Wie in alten Tagen blies er 68 einen beruhigenden Ton hinein und hinaus: Schlaft sicher! Der Wächter schläft nicht! – – –
Zwei Stunden später hatte er sich seinem Herrgott zur Verfügung gestellt. 69