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Die grauweißen Wolkenballen dort hinter dem blau verdämmernden Walde standen unbeweglich. Eine seltsame Ruhe war über die Welt gekommen. In den dunkelgrünen Tannen schwieg jenes Rauschen, das sonst immer und immer zu hören ist, bald laut anschwellend, bald leise in der Ferne ersterbend. Selbst die Sonne schien anders als sonst, blasser und gleichsam ruhiger. Trotzdem war es hell und heiß auf der von einem Kranze dunkler Tannen und weiß schimmernder Birkenstämme umrahmten Heide, hell und heiß und still, so still ...
Vom Waldrande her streckten sich blauschwarz die Schatten der Tannen, die gleich Wachtürmen den Eingang in den Wald zu hüten schienen, in die Heide herein; bald mußten sie die ganze Fläche überziehen und drüben auf der entgegengesetzten Seite die jetzt noch im blinkenden Sonnenlicht stehenden Birken berühren, dann mußten Glanz und Wärme der kühlen Abenddämmerung weichen ...
Auf dem großen bemoosten Steine, der gleich einem sagenhaften Riesentier aus vorsintflutlichen Zeiten mitten in der Heide lag, saß Andreas, der Hirtenknabe. Er mochte etwa zwölf Jahre zählen, sah aber schwächlich und zart aus, als wäre er viel krank gewesen. Die schwarzen, ein wenig langen Haare ringelten sich in wirren Locken unter der abgetragenen Mütze hervor; in den ernsten dunklen Augen lag ein sanftes Träumen, als sähe der Knabe mit ihnen eine ganz andere Welt; in dem bleichen Gesichte waren jene eigentümlichen, nicht zu beschreibenden Linien eingegraben, die von verborgenem Leben der Seele und von langem Grübeln zeugen, Linien, die man bei Knaben dieses Alters sonst nicht leicht findet. Wer das Gesicht des kleinen Andreas einmal gesehen hatte, dem blieb es für lange Zeit im Gedächtnis. Es gibt ja Menschen, deren Züge sich uns bei flüchtigem Sehen für immer einprägen, während die große Mehrzahl der andern an unserm Auge vorbeizieht, ohne in unserer Erinnerung Wurzeln zu schlagen. Vielleicht ist es gut so: wie sollte unser Hirn sonst mit all den Eindrücken fertig werden? – –
Die stattliche Herde hatte sich über die Heide verteilt. Einige Kühe rupften nimmersatt an dem grünen Grase, andere hatten ihren Hunger schon gestillt, lagen ruhig in der Sonne oder stießen wie im Scherz mit den Hörnern nach ihren Nachbarinnen. Die Schafe hatten sich am Waldrande zusammengedrängt, und ihr plötzlich ausbrechendes »Mmäää« störte von Zeit zu Zeit die ringsum herrschende Stille. Für den Hirtenknaben gab es jetzt nichts zu tun, er wußte, daß seiner Herde hier keinerlei Gefahr drohte. Anfangs war er ängstlicher gewesen, und oft hatte es ihm geschienen, als sei er gar nicht imstande, eine so große Herde zu beaufsichtigen. Das hatte auch der Talhofbauer gedacht, als die Mutter im Frühling mit Andreas zu ihm gekommen war und ihn gebeten hatte, ihren Sohn als Hirtenbuben aufzunehmen. Denn seine Eltern waren arme Taglöhnersleute, denen es schwer ankam, den Knaben das ganze Jahr hindurch zu erhalten.
»Wird der Knirps denn die Kraft haben, mit dem Viehvolk fertig zu werden?« hatte der Bauer gefragt, »wird er überhaupt so früh des Morgens aufstehen können?« Und die Mutter hatte geantwortet:
»Er schaut nur so schwach aus, aber er kann schon was leisten. Und sollte er faul sein, so scheltet nur, Talhofbauer, oder gebt ihm einen tüchtigen Klaps, das wird ihm nichts schaden.«
Dabei war ihre abgearbeitete Hand mit leisem Zittern über des Sohnes Lockenkopf gefahren; dem Buben aber war so schwer ums Herz gewesen, und er hatte mit Mühe die Tränen zurückhalten können. Stumm hatte er neben der Mutter gestanden und angstvoll zu dem Bauer aufgeblickt. Dem Talhofbauer aber hatte etwas an dem Knaben gefallen, – er hätte selbst nicht sagen können, was? so hatte er denn erklärt, ihn bei sich behalten zu wollen, trotz seiner Kleinheit und Schwächlichkeit. Da hatte die Mutter den Buben zärtlich an sich gedrückt und war dann schnell fortgegangen, um seine Schuhe und den Sonntagsanzug zu holen. Und nun lag die größere Hälfte seiner Dienstzeit bereits hinter ihm, der Herbst stand vor der Tür. – – –
Andreas saß auf dem großen bemoosten Steine und sah träumerisch zu, wie die grüngoldenen Sonnenflecken auf den weißen Birkenstämmen tanzten und wie die blauschwarzen Schatten der Tannen sich immer länger und länger in die Heide hineinreckten. Plötzlich ließ sich ein ganzer Schwarm von schwatzenden, schreienden Krähen auf den Birkenzweigen nieder, deren Blätter bereits in herbstlichem Gelb leuchteten; ein Blatt nach dem andern sank langsam zu Boden, als wollte es vor dem Lärme der Vögel fliehen; dann schwirrten diese wieder davon und alles war still wie vorher. Andreas fühlte sich unlustig zu jeder Arbeit, eine seltsame, schwere Müdigkeit war über ihn gekommen. Vornübergeneigt saß er da und starrte ins Weite; der Rücken schmerzte ihn, als wollte er zerbrechen, und Andreas hätte sich gerne zurückgelehnt, aber er war zu müde, um eine Bewegung zu machen. Nun fing auch der Fuß zu schmerzen an, da glitt der Knabe langsam zu Boden, setzte sich ins Gras und lehnte den Rücken an den Stein, – ah, das war gut! Er fühlte sich wieder ganz wohl und freute sich, daß er so ruhig sitzen durfte, nichts zu tun hatte, mit niemand zu sprechen brauchte, daß er denken und grübeln konnte und in seinen Träumereien in eine andere Welt untertauchen, eine Welt, die gleich wieder verschwand, wenn er sich bewegte. Neben ihm lag sein treuer Kamerad und Gehilfe, der große braune Schäferhund Sultan. Lang ausgestreckt lag er da und schlief. Aber zwei oder drei Fliegen gönnten ihm die Ruhe nicht: als wenn sie sich verabredet hätten, umschwirrten sie mit feinem Summen seinen Kopf, – jetzt ließ eine sich auf dem zottigen Fell nieder und kroch schnell in Sultans Ohr hinein. Das Ohr zuckte zusammen und die Fliege surrte davon, aber dafür versuchte nun die zweite, sich in Sultans Auge hineinzubohren. Die dritte näherte sich inzwischen neugierig den Nasenlöchern, ohne sich um das Erzittern der gequälten Hundeschnauze zu kümmern. Es half nichts, Sultan mußte sich entschließen, die rechte Vorderpfote zu heben und sich damit über den Kopf zu fahren. Aha, nun waren sie alle drei fort! Doch – da kam schon die erste eilig wieder herangesummt und machte Anstalten, auf Sultans Oberlippe einen Spaziergang zu unternehmen. Aber seine Geduld war erschöpft: vorsichtig öffnete er die Augen, schielte wütend zu seinen Quälgeistern hinauf, warf plötzlich den Kopf zurück, – schwapp, eine der Feindinnen verschwand hinter seinen spitzen weißen Zähnen. Nun legte er befriedigt den Kopf auf die Vorderpfoten, blinzelte noch einmal lauernd um sich, schloß dann die Augen und schlief wieder ein.
Eine Weile blickte Andreas lächelnd dem Hunde zu, dann kamen ihm so seltsame Gedanken: wie komisch so ein Hund doch ist! Er lebt und atmet wie ein Mensch und ist doch kein Mensch; und die Fliegen, die leben ja auch. Vielleicht lebt sogar der große graue Stein da, vielleicht ist er nur verzaubert?
Kalt lief's dem Knaben über den Rücken. Jawohl, verzaubert, grübelte er weiter, und eines schönen Tages wird er sich plötzlich bewegen. Wie unheimlich das ist! – Und dann das mit der Fliege: Sultan schnappt nur einmal mit dem Maul, – und die Fliege ist verschwunden. Wo ist sie jetzt?
In tiefes Sinnen versunken, starrte der Hirtenbub vor sich hin. Sein Blick fiel auf ein kleines am Boden liegendes Buch, auf dessen Deckel das Wort »Märchen« stand, und nun waren Fliegen und Sultan vergessen. In dem Buche, da war ja auch die Geschichte vom häßlichen jungen Entlein, die ihm so sehr, sehr gefallen hatte. Der Anfang freilich, der hatte ihm geradezu wehgetan; es war so traurig, von den Leiden des armen Entleins zu lesen, das von allen andern Tieren verachtet und verspottet wurde, nicht wußte, wo es sich verbergen sollte, und Hunger und Kälte ertragen mußte. Und wie bitter es überall verhöhnt wurde! Eier sollte es legen wie das Huhn, oder gar miauen wie die Katze! Und weil es das nicht konnte, sollte es zu nichts nutze sein. Aber nachher, als das verachtete Entlein sich in den schönen weißen Schwan verwandelt hatte, als es hoch, hoch in die Luft aufflog und seine stolzen Schwingen sich glänzend vom blauen Himmel abhoben, – ach, da wurde die Geschichte wunderschön! Stolz und froh machte es einen, von der Erlösung des Entleins zu lesen, und am liebsten wäre man gleich selbst in einen jungen Schwan verwandelt worden, um auf und davon fliegen zu können in die blaue Ferne, weiter und weiter und weiter ...
Aber Andreas hatte auch noch andere Märchen in diesem Sommer gelesen, oh, er hatte viel gelesen! Daher konnte er jetzt, sobald er nur wollte, sich ins Märchenland hinüberträumen: da war er dann der junge Prinz, den die älteren Brüder einen Narren genannt und in die Wildnis hinausgejagt hatten, wo er einem alten verirrten Manne beistand und dadurch ein Gut gewann, wie es keiner der andern je besessen hatte: ein goldenes Horn, mit welchem er ein edelsteingeschmücktes Zauberpferd herbeilocken konnte. Er schwang sich darauf und galoppierte einen steilen Kristallberg hinan, der, im Sonnenlichte in prächtigen Farben erstrahlend, mitten in einem finstern Walde stand und den niemand außer ihm erklimmen konnte. Dort oben aber – dort fand er eine Prinzessin, die war so wunderschön, wie noch nie ein Menschenkind gewesen war. Prinzessin Tausendschön hieß sie, und das war auch der einzige Name, der für sie paßte. Leuchtend wie die Sonne trat sie ihm entgegen und reichte ihm die Hand, und er war glücklich, oh, so sehr glücklich ... Er hatte vergessen, daß er im Alltagsleben ein armer, barfüßiger Hirtenbub' war, dem das Hüten der Herde noch vor kurzem Ärger und Mühe gemacht, er lebte in einer Wunderwelt, die er erst in diesem Sommer kennen gelernt hatte. Bis dahin hatte er sich von den andern Knaben seines Alters kaum unterschieden. Wenn er zurückdachte, wunderte er sich selbst, daß er ein solches Leben hatte führen können: sich mit anderen Buben herumtreiben, Hunde und Katzen quälen, schreien und lachen! Wenn er sich jetzt hier und da für ein Weilchen vergaß und mit den andern lustig war, so war es ihm nachher, als müßte er sich vor sich selber schämen, und das Lärmen und Albern der andern erschien ihm gradezu widerlich. Man konnte mit ihnen auch so gar nichts reden; sie wußten nichts vom häßlichen jungen Entlein, nichts von dem armen Prinzen und dem Zauberpferde, nichts von Prinzessin Tausendschön, – gar nichts wußten sie. Und wenn er ihnen etwas davon erzählen wollte, lachten sie ihn aus und nannten ihn einen Dummkopf. Oft auch riefen sie hinter ihm her: »Prinz Barfuß! sag, wo ist deine Prinzessin Tausendschön?« Mochten sie doch rufen. Ohne sich zu ärgern, ohne die Spötter einer Entgegnung zu würdigen, ging er ruhig zu seiner Herde zurück und lebte sein einsames, an Sehnsucht und Schönheit reiches Märchenleben weiter.
Jene Zauberwelt, in die er sich immer wieder flüchtete und in der es zwar auch Schmerz und Bangen gab, aber noch vielmehr Glück, Reichtum und Hoffnung, hatte ihm Maja erschlossen, Maja, zu welcher er daher wie zu einem Engel, einer von blendendem Glanz umstrahlten Lichtgestalt aufsah.
Maja war die Schwester des Talhofbauern. Sie war schon lange Zeit in der Stadt gewesen, um zu lernen, und sollte wieder dorthin zurück, denn sie wollte Lehrerin werden. Andreas hatte es anfangs nicht begreifen können, wie das möglich wäre. Maja war doch so jung, schön und freundlich und – ein Mädchen; in der Schule aber unterrichteten ja nur Männer, der eine mit einem Schnurrbart, der andere mit einem Backenbart, der dritte mit einer Glatze, und vor ihnen allen hatten die Kinder große Angst. Konnte man denn vor Maja Angst haben? – Allmählich hatte er sich dann an den Gedanken gewöhnt, und da war denn auch gleich der Wunsch in ihm wach geworden, Maja möge an der Schule Lehrerin werden, die er selbst besuchen sollte. Bisher war er noch nicht in die Schule gegangen, obgleich die Mutter lange schon gesagt hatte, es wäre Zeit dazu; aber einen Winter hindurch war er sehr krank gewesen und hatte schon gemeint, sterben zu müssen, im letzten Jahre aber, als wieder von der Schule die Rede gewesen, hatte die Mutter unter Tränen geklagt, daß sie ihm keine Kleider kaufen könne. Jetzt aber würde das ja wohl möglich sein, war er doch den Sommer über im Dienste gewesen und kehrte nicht mit leeren Händen heim. Er mußte nun wohl in die Gemeindeschule kommen, – wenn doch Maja dort unterrichten würde! Wie wollte er dann lernen und aufmerken und jedes Wort behalten, das sie aussprach!
Aber Maja hatte einmal gesagt, sie müsse im Herbst in die Stadt zurück. Und wenn er sich daran erinnerte, wurde ihm das Herz schwer: sie würde fortgehen, weit, weit fort, würde verschwinden, wie abends die goldene Sonne verschwindet, er aber mußte hier bleiben, allein in der Wildnis, ohne Zauberpferd, das ihn zu ihr getragen hätte, – armer, armer Prinz Barfuß!
Andreas fühlte sich so unglücklich, daß er sich zu Boden warf, das Gesicht ins kühle Gras drückte und bittere Tränen weinte. Doch in seinen Kummer mischte sich ein sehnlicher, wenn auch ihm selbst noch nicht ganz verständlicher Wunsch: er wollte lernen, arbeiten, Tag und Nacht nicht ruhen, – vielleicht glückte es ihm dann schneller, aus der Wildnis, in der er umherirrte, hinauszugelangen und Prinzessin Tausendschön zu finden. Ihm kam ein früherer Kamerad in den Sinn, der Hans, an den er lange nicht mehr gedacht hatte. Der war auch ein Hirtenbub' gewesen und sie hatten mehrere Jahre in demselben Hause gewohnt und im selben Zimmer geschlafen. Hans hatte die ganzen Nächte hindurch gelesen und geschrieben. An einem kleinen, wackligen Holztische, auf dem ein armseliges Blechlämpchen trübe brannte, hatte er vor den Büchern gesessen, und wenn Andreas zuweilen mitten in der Nacht aufgewacht war und zu ihm hinübergeblickt hatte, waren ihm immer die glühenden Augen und das bleiche Gesicht des Kameraden aufgefallen. Andreas war eingeschlafen und wieder aufgewacht. – Hans aber saß noch immer am Tische und lernte. Das Zimmer war dunkel und dunstig, von den Lagerstätten der Knechte tönte Schnarchen und Stöhnen, – Hans aber saß und lernte. Oft hatte der und jener ihn gescholten und ihm befohlen, zu Bette zu gehen, – er aber hatte schweigend weitergearbeitet. Späterhin war er in die Stadt gegangen und Andreas hatte schon seit einigen Jahren nichts mehr von ihm gehört. Hans würde wohl auch Lehrer werden.
Ob Maja auch so viel lernen mußte wie Hans? – – – Damit kehrten die Gedanken des Knaben zu ihrem Ausgangspunkte zurück.
Maja war gegen Andreas freundlich gewesen, von jenem ersten Frühlingstage an, an welchem sie auf den Talhof gekommen war. Sie hatte mit ihm gesprochen, hatte ihn gefragt, wo seine Eltern wohnten, wie es ihnen ginge, ob er die Schule besuche, ob er lesen könne? – Ja, das konnte er, die Mutter hatte es ihn gelehrt und er hatte dann allein weitergeübt. – Gut, dann wolle sie ihm Bücher geben, die er draußen auf der Weide lesen könne, hatte Maja gesagt. Und sie hatte Wort gehalten, und so war für Andreas jene Zauberwelt entstanden, in der sich im Grunde genommen alles um Maja drehte. Sie war seine Prinzessin Tausendschön, an die er den ganzen Tag lang dachte und die nachts durch seine Träume schwebte, leicht und strahlend, wie aus einer andern Welt herniedersteigend. Wenn er des Morgens bei Sonnenaufgang mit seiner Herde über den Hof zog, blickte er scheu zu dem Mansardenfensterchen auf, hinter dessen weißen Vorhängen Maja schlummerte; wenn er abends heimkehrte, klopfte ihm das Herz in banger Erwartung: würde er sie jetzt sehen? Und wenn sie dann plötzlich aus dem Garten trat oder in der Haustür erschien, stockte ihm fast der Atem vor freudigem Schreck. Wie Nebel legte es sich ihm vor die Augen, und in diesem Nebel, in welchem alles ringsum verschwand, sah er nur sie, gleich einem Sterne, dessen Strahlen plötzlich durch Wolken brechen. Wenn sie dann auf ihn zukam und ihn freundlich anredete, wagte er kaum aufzuschauen und antwortete nur leise und andächtig, als stände er in einer Kirche. Ihre Stimme klang sammetweich an sein Ohr, wie eine süße, noch nie gehörte Melodie, und ihre weiße, sanfte Hand strich ihm liebevoll die wirren Locken aus dem Gesicht; er aber stand zitternd vor Glück vor ihr und sehnte sich danach, daß sie ihm etwas befehle, etwas von ihm verlange, – er hätte alles, alles für sie getan, ja er wäre sogar gestorben, wenn er ihr damit einen Gefallen erwiesen hätte.
Gegen die andern Leute im Hause war Maja gar nicht so gut und lieb wie gegen ihn, das hatte Andreas wohl bemerkt; sie behandelte zwar alle mit Freundlichkeit, aber zugleich mit einer Art von Hoheit, als ständen sie tief unter ihr, und wenn sie mit ihnen sprach, lag zuweilen auf ihren roten Lippen ein spöttisches Lächeln, und aus ihrer Stimme klang leiser Hohn. O, er hatte das ganz genau beobachtet! Wenn er jetzt die Augen schloß und ganz still dasaß, war's ihm, als höre er diese weiche, ein wenig tiefe Stimme, bei deren Klang er sich so unaussprechlich glücklich fühlte.
Daß Maja zu ihm ganz anders war als zu allen andern, hatte sich ja auch damals so deutlich gezeigt, an jenem unvergeßlichen Sonntage ... Auf dem Talhof versammelten sich damals viele junge Burschen und Mädchen und zogen miteinander in den Wald, um auf der Waldwiese zu tanzen und zu spielen. Auch die Alten gingen mit, setzten sich ins Gras und beobachteten lachend und plaudernd das lustige Treiben des jungen Volkes. Andreas hatte grade seinen freien Sonntag und durfte daher mit in den Wald. Er saß auf einem kleinen Hügel am Rande der Wiese und schaute dem Tanze zu. Auch Maja tanzte ... Andreas mischte sich nicht unter die Großen, – nein, er wußte ganz gut, daß sich das nicht für ihn schickte, daß die Mädels lieber mit den großen Knechten tanzten als mit dem kleinen Hirtenbuben. Und dann: wer weiß, ob er es verstehen würde, die Füße so merkwürdig zu setzen, wie die dort es taten? – Nach dem Tanze wurden verschiedene Spiele gespielt. Da hätte er freilich mithalten können, aber konnte er denn so ohne jede Aufforderung zu den Erwachsenen gehen? Vielleicht paßte es jenen gar nicht. Das Zuschauen aber konnte ihm niemand verwehren; er sah ja auch auf niemand anders als auf seine Prinzessin Tausendschön! Jetzt stand sie in der Mitte eines Kreises, den die andern um sie geschlossen hatten, und blickte prüfend um sich, wie eine Königstochter, die sich den Gemahl erwählen soll! Und dann geschah das Wunderbare.
Andreas hatte sich grade gedacht: »Wie glücklich wird derjenige sein, den sie erwählen wird!«, als Maja mit ihren kleinen, weißen Händchen den Kreis zerteilte und sich suchend umsah. Dann fühlte er ihre Blicke auf sich ruhen, – dann schritt sie auf ihn zu – näher – näher. – Sein Herz schlug so laut, daß er meinte, man müsse es im ganzen Walde hören. In ihrem hellen, duftigen Sommerkleide kam sie daher, die goldbraunen Härchen auf ihrer Stirn bewegten sich leise im Winde, die Augen lächelten ihm ermutigend zu, – jetzt nahm sie seine kleine braune Hand und zog ihn mit sich fort zu den Spielenden. Im ersten Moment war es ihm durch den Kopf gegangen: davonlaufen, – sich verstecken. Und doch konnte er nicht anders als Maja folgen. Ja, wenn eines der andern Mädchen ihn so bei der Hand gefaßt hätte, da hätte er sich natürlich freigemacht, gebissen und gekratzt hätte er, um sich loszureißen. Aber es war ja kein gewöhnliches Mädchen, das ihn erkoren hatte, es war ja Prinzessin Tausendschön. Mußte er da nicht gehorsam, wenn auch zitternd vor Aufregung, mit ihr gehen? – Wie aus weiter Ferne hörte er das Lachen und Necken der andern, der Alten wie der Jungen.
»Schaut nur, wen sie gewählt hat! Da hat sie aber lange suchen müssen!«
»War denn kein anderer zu finden?«
»Warum sollte es denn ein anderer sein?« fragte Maja mit spöttischem Lachen.
»Na, etwas klein geraten ist der da halt!«
»Er wird aber noch wachsen.«
»Ach so, sie will auf ihn warten!«
»Prinz Barfuß!« rief dazwischen ein kleines Mädel, das den Spitznamen des Hirtenknaben kannte. Andreas aber wunderte sich im stillen, daß er sich aus all dem Spott gar nichts machte. Seine heißen Finger ruhten so sicher in der kühlen, weißen Hand Majas, die jetzt mit ihm in den Kreis trat und mit froher Stimme auf den Gesang antwortete, mit dem die andern sie begrüßten. Und dann kam das schönste, das wunderbarste: zur Feier der Hochzeit der Königstochter – so wenigstens faßte Andreas es auf – sollte jede ihrer Gefährtinnen dem nächsten Burschen einen Kuß geben; die Mädchen sträubten sich, die Burschen bestanden lachend auf ihrem Rechte, – Prinzessin Tausendschön aber neigte sich lächelnd zu Prinz Barfuß und – küßte ihn, küßte ihn mit ihrem vollen, roten Munde auf die blassen, leise zitternden Lippen ...
Er fühlte den sanften Druck dieses roten Mundes, fühlte, wie ihre Locken gleich duftigen Blüten auf seiner Wange lagen, und hörte wie im Traume das erneuerte Spottgelächter der andern. Da hielt er es plötzlich nicht mehr bei ihnen aus, er mußte allein sein mit seinem wild pochenden Herzen. Er machte sich von den Burschen los, die ihn lachend umringt hatten, sprang mit ein paar schnellen Sätzen dem Walde zu und verschwand im Schatten der Bäume. Dort warf er sich ins feuchte Moos, das sein glühendes Gesicht kühlend umschmeichelte, und – war glücklich. Ein nie geahntes, nicht zu beschreibendes Wonnegefühl durchrieselte seinen ganzen Körper und das Herz tat ihm fast weh vor Glück und Sehnsucht und Unruhe.
Nach einer Weile erhob er sich und sah sich unschlüssig um. Warum war er eigentlich davongelaufen? Was wollte er allein hier im Walde, durch den bereits die Abenddämmerung wandelte? Seine Prinzessin war ja drüben auf der hellen Wiese! Sollte er wieder zurück? Oder würde seine Glückseligkeit dort in dem Lärm der andern sterben müssen?
Dann kam ihm ein Gedanke, der ihm die Augen weit und leuchtend machte und den Atem in der Brust stocken ließ. Einen Kranz, einen kleinen, bunten Kranz wollte er winden, leise an Maja heranschleichen und ihr den Kranz ins Haar drücken ...
Und eifrig machte er sich daran, am Waldrande nach Blumen zu suchen. Als er beide Hände voll Maßliebchen, wildem Mohn, Sternblümchen und Schlangenkraut hatte, setzte er sich nieder und flocht mit bebenden Fingern einen Kranz. Prinzessin Tausendschön war doch wohl noch im Walde? Wenn sie doch nur nicht schon heimgegangen wäre, wenn doch nur nicht!
So, jetzt war das Kränzlein fertig. Andreas stand auf und schlich leise zum Festplatz zurück.
Wie war er eigentlich auf die Idee gekommen, für Maja einen Kranz zu winden? Er, der dumme, kleine Hirtenbub'? Und noch dazu aus so einfachen Blumen! Hatte sie doch in dem Gärtchen vor dem Hause die schönsten Blumen, die er je gesehen hatte. Wenn ihr sein Kranz nun gar nicht gefiel, wenn sie ihn fortwarf? – Seine Schritte wurden langsamer ...
Jetzt stand er am Rande der Wiese. Ja, es waren noch alle da! Sie spielten jetzt ein anderes Spiel, zu dem sie sich in zwei Reihen auf den Rasen niedergelassen hatten. Voller Freude bemerkte er, daß Maja in der Reihe saß, die näher zu ihm war, und daß sie ihn nicht kommen sah. Sein Mut wuchs. Die Hand mit dem Kranz auf dem Rücken bergend, schritt er vorsichtig näher. Jetzt stand er hinter Maja. Wie sein Herz schon wieder klopfte, – ob Maja das am Ende hören konnte? – und wie die Hand zitterte, die sich jetzt langsam hob und den Kranz leise und zart auf Prinzessin Tausendschöns Köpfchen drückte! – Maja aber erschrak nicht, wie er gefürchtet hatte. Langsam wandte sie den Kopf und blickte ihm mit ihrem süßen Lächeln grade in die Augen. Dann schlang sie den Arm um ihn, zog ihn neben sich ins Gras und sagte freundlich, sie habe sich über sein plötzliches Verschwinden gewundert. Die andern aber fingen wieder zu lachen und zu spotten an:
»Seht nur, wie Prinz Barfuß seine Prinzessin geschmückt hat!«
»Er beschämt euch, ihr Großen!« riefen einige der Mädchen, »von euch hat niemand an so was gedacht.«
Was ging Andreas ihr Reden an? Er hörte gar nicht darauf, er saß stumm neben Prinzessin Tausendschön und fühlte sich wie im Himmel. Maja behielt den Kranz den ganzen Abend im Haar.
Etwa eine Woche später ging Andreas einmal an der halboffenen Tür des Mansardenstübchens vorüber, und da sah er über Majas weißbedecktem Bette sein welkes Kränzlein hängen. Sie hatte es also aufbewahrt, zur Erinnerung an jenen Abend ... Wie ein Trunkener taumelte er die Treppe hinab.
Seit jenem Waldfeste war das einförmige Hirtenleben auf der stillen Heide dem Knaben lieber denn je. Was hatte er jetzt nicht alles zu denken, zu hoffen, zu träumen! Ganz genau malte er es sich aus, wie er um Prinzessin Tausendschön kämpfen und ringen wollte und wie sie auf dem Gipfel des Kristallberges seines Kommens harrte. Und wenn die Wildnis noch so schauerlich war, und wenn er noch so lange ohne Weg und Steg umherirren sollte, – schließlich mußte er ja doch das Zauberpferd finden und den Kristallberg erklimmen!
Als Andreas eines Tages in der Mittagstunde mit seiner Herde heimgekehrt war, kam ganz unerwartet seine Mutter auf den Talhof. Sie kam sonst nur selten, alle paar Wochen einmal, und meist Sonntags, und suchte ihn dann draußen auf der Heide auf. Ach, wie die Freude ihn jedesmal gleich einer heißen Woge überflutete, wenn er die Mutter kommen sah! Wenn er ihre harten und doch so sanft liebkosenden Hände fühlte, die liebe traurige Stimme hörte, in das liebe blasse Gesicht und die lieben treuen Augen blickte, die lieben, wie mit silbernem Spinngewebe überzogenen Haare streichelte! Warm und wohl wurde es ihm dann ums Herz, aber auch traurig, so seltsam traurig. Es war eine Traurigkeit, die er nicht benennen, nicht ausdrücken konnte, die er aber ganz deutlich im tiefsten Grunde seines kleinen Herzens spürte und die ihm die Tränen mit Gewalt in die Augen trieb.
»Fehlt dir was, mein Kind?« fragte die Mutter dann wohl besorgt, »geht es dir hier schlecht?«
»Ach nein, Mutter, mir geht's ja so gut, – das ist nur so –« und mit leisem Aufschluchzen schlang er die Arme um ihren Hals und schmiegte sich fest, fest an ihre Brust ... Dann plauderten sie. Die Mutter erzählte ihm von ihren Freuden und Leiden, von alten Zeiten, von der Zukunft, von den Gefahren in dieser Welt und dem Sternenglanz droben im Himmel. Zuweilen hörte er zwar ihre Worte, verstand sie aber nicht, gab sich auch keine Mühe, sie zu verstehen: er lauschte nur dem Klang der lieben Stimme wie einem süßen Zauberliede, das er schon oft und oft gehört, ohne seiner müde zu werden, und er träumte dabei von seinen Kindertagen, in denen der Mutter Stimme ihn in den Schlaf gesungen hatte. Ach ja, das waren glückselige Stunden!
Zuweilen besuchte ihn auch der Vater, aber über dessen Kommen freute Andreas sich nicht so wie über das der Mutter. Zwar liebte er auch des Vaters freundliches Gesicht und seine stille Zärtlichkeit, aber sein Herz wurde dabei nicht so warm und weich wie beim Anblick der Mutter. Der Vater pflegte von seiner Arbeit zu erzählen, von diesem und jenem Nachbarn, oft klagte er auch, wie schwer er es doch habe und wie gut es andern ergehe; Andreas verstand und überdachte jedes Wort des Vaters, aber sein Herz empfand dabei nichts, es war weder froh noch traurig.
Andreas hatte auch einen älteren Bruder, den Karl, aber der besuchte ihn niemals. Der war Knecht gewesen, hatte eine Zeitlang auch in der Stadt gedient und arbeitete jetzt bald hier, bald da; er hielt es nirgends lange aus und man erzählte sich nichts Gutes von ihm. Einige lobten ihn zwar als einen mutigen Burschen, der sich von niemand Unrecht tun lasse, ohne es zurückzuzahlen; »wenn's nur mehr solcher Kerle auf der Welt gäbe!« sagten sie. Andere aber – und das waren die meisten – behaupteten, er sei boshaft und unaufrichtig, auch nicht ganz ehrlich, und wenn er so fortmache, werde er sich noch eine Schlinge um den Hals verdienen. Andreas konnte sich nicht erinnern, je eine angenehme Stunde mit dem Bruder verbracht oder auch nur ein freundliches Wort von ihm gehört zu haben. Seine Stimme klang immer höhnisch und verächtlich, wenn er mit dem kleinen Bruder sprach, den er einen Dummkopf nannte, einen Schwächling, aus dem nichts Rechtes werden würde, der gar nicht wert sei, auf der Welt zu leben. Auch gegen Vater und Mutter war der Karl oft unfreundlich und undankbar, und die Mutter hatte oft über sein Betragen geweint ... Nein, wenn Andreas sich an all das erinnerte, konnte er den Bruder nicht ein bißchen lieb haben; der Gedanke an Karl war ihm geradezu quälend.
Als Andreas heute die Mutter zum Tor hereinkommen sah, lief er ihr froh entgegen; da bemerkte er, daß sie sich schnell mit dem Zipfel ihres buntgestreiften Umlegetuches über das Gesicht fuhr. Er blieb stehen und schaute sie forschend an. Die Mutter versuchte zu lächeln, trotzdem wußte Andreas plötzlich, daß sie unterwegs geweint hatte, viel geweint, und sein Herz erbebte. Was war zu Hause geschehen?
»Mutter, warum weinst du?« stieß er zitternd hervor.
»Ich weine ja nicht, mein Junge!« entgegnete die Mutter und lächelte wieder.
»Doch, Mutter, ich weiß es. Ist – der Vater krank?«
»Nein, nein, mein Kind, wirklich nicht! Ich bin nur so – im Vorbeigehen hereingekommen, – ich dachte, du könntest mich vielleicht ein Stück Weges begleiten; aber du bist ja gleich so erschrocken wie ein kleiner Spatz, du Dummerchen!« Sie strich ihm über das Haar und er wurde ruhiger.
Die Talhofbäuerin schritt über den Hof. »Sieh 'mal an, Andreas hat lieben Besuch bekommen!« rief sie und nickte freundlich mit dem Kopfe.
»Wart' einmal, mein Sohn,« sagte die Mutter, »ich will die Wirtin fragen, ob du mich begleiten darfst.«
Sie trat an die Bäuerin heran und sprach leise mit ihr, indem sie Andreas den Rücken kehrte. Der Knabe beobachtete gespannt das ihm zugewandte Gesicht der Bäuerin und bemerkte, wie es plötzlich sehr ernst wurde; dann nickte die Frau zustimmend, sah fast mitleidig zu ihm herüber, sprach noch ein paar Worte und verschwand im Kuhstall, während die Mutter sich ihm mit den Worten zuwandte:
»Lauf schnell ins Zimmer, Andreas, und zieh deinen Sonntagsrock an, die Wirtin gibt dich für heute nachmittag frei. Du kannst bloßfüßig bleiben, es ist ja warm.«
Andreas gehorchte und war bald wieder bei der Mutter, die bis an das Ende der Allee vorausgegangen war. Sie betraten den schmalen Fußweg, der zwischen Äckern und Wiesen auf die Chaussee hinausführte. Die Mutter schien ganz in Gedanken versunken und Andreas wußte noch immer nicht, wohin sie ihn führte. Neben ihr herschreitend, blickte er von Zeit zu Zeit fragend zu ihr auf, und es war ihm, als suche sie nach Worten, um ihm das mitzuteilen, was sie mitzuteilen hatte.
»Mein Junge,« begann sie endlich leise und langsam, »da hat der Karl uns nun großen, großen Kummer gemacht. Der Vater ist vor Schreck und Arger fast krank; er will nichts mehr vom Karl wissen, – daher ist er auch nicht mitgekommen.«
»Was hat Karl angestellt, Mutter?«
»Ach, mein Kind, es ist mir so schrecklich, es dir zu sagen, aber du mußt es ja doch wissen. Ach Gott, hab' ich ihn dazu erzogen? hat er das im Elternhause gelernt?« Ihre Stimme brach und sie fuhr sich wieder mit dem Tuchzipfel über die Augen. »Er hat sich – mit anderen Taugenichtsen zusammengetan – und hat sich – an fremdem Gut vergriffen – den Speicher im Birkenhof haben sie in der Nacht erbrochen, allerlei Vorräte gestohlen, auch das Geld, was der Bauer dort in der Truhe verwahrt hatte, weil's ihm dort sicherer schien als in der Wohnung, – wahrscheinlich haben sie das erfahren, die schlechten, schlechten Menschen!«
Die Mutter schwieg wieder und Andreas las in ihrem Gesicht eine herzbrechende Trauer.
Karl war also ein Dieb geworden, einer, der nachts in fremde Speicher stieg, – und das war sein Bruder ...
»Ach, und wenn das nur schon alles wäre!« fuhr die Mutter noch leiser und mühsamer fort, »es ist ja noch viel schrecklicher, viel unbegreiflicher! Der Birkenbauer ist in jener Nacht spät heimgekommen und hat im Speicher Geräusch gehört, da ist er denn hinein, – und wie er die Burschen gesehen hat, hat er seinen Revolver gezogen; aber die – die Diebe haben auch Waffen gehabt – und einer hat losgeschossen ... Der Bauer ist noch vor Sonnenaufgang gestorben, aber er hat noch sagen können, wer im Speicher war und – daß unser Karl sein – Mörder ist.«
Andreas war's, als stehe sein Herz plötzlich ganz still; er wagte es nicht mehr, zur Mutter aufzublicken; er sah hinab auf die Staubwölkchen, die seine bloßen Füße auf dem sandigen Wege aufwühlten, und sagte sich immer wieder: »Ein Mörder ist einer, der einen Menschen getötet hat.« Schließlich raffte er sich zu der Frage auf:
»Und wohin gehen wir jetzt, Mutter?«
»Auf's Gemeindeamt, mein Kind. Dort haben sie den Karl eingesperrt, aber er wird wohl noch heute weitergeführt werden, in die Stadt. Da dachte ich mir: wir wollen ihm doch Lebewohl sagen, wer weiß, ob wir ihn je im Leben wiedersehn? Ihr seid ja doch Brüder, einer Mutter Söhne, – meine Söhne!«
Die Mutter schluchzte. Dann schritten sie stumm weiter. Andreas hörte nichts als das Knirschen des Sandes zu ihren Füßen und das Rauschen des Windes, der durch die Chausseebäume fuhr. Wie gebeugt unter einer schweren Last gingen sie Hand in Hand dahin, die Frau trotz der Hitze fest in ihr großes Umlegetuch gehüllt, als wolle sie sich darein verkriechen, Andreas neben ihr in seinen weißen Leinwandhosen und dem grauen Sonntagsrocke.
Sein Bruder war ein Dieb und ein Mörder, und sie gingen, ihn im Gefängnis zu besuchen, – der Gedanke ließ den Knaben nicht mehr los. Den Bruder bedauerte er nicht, aber um der Mutter willen tat ihm das Herz bitter weh.
Dort hinter den Bäumen wurde das Gemeindeamt schon sichtbar: ein weißes Haus mit rotem Dach und vielen Fenstern. Es kam näher und näher, – jetzt mußten sie hinein. Bang folgte Andreas der Mutter, die schnell die Stufen zur Haustür erstieg; er schämte sich vor den Leuten, die ihn eintreten sahen.
Der Gendarm, seine Frau und sein Sohn saßen noch beim Mittagessen. Die Ankömmlinge setzten sich bescheiden auf eine Holzbank an der Wand und warteten still.
»Sie kommen wohl wegen Ihres Sohnes?« fragte die Frau des Gendarmen, »werden wohl schon erfahren haben?«
»Ja,« antwortete die Mutter leise, »wir wollten ihn noch einmal sehen.«
»Freilich, freilich! Das versteh' ich sehr gut. Ja, ja, wir Mütter, wir haben manchmal was auszustehen!« Die Frau seufzte.
»So geht's, wenn einer keine Obrigkeit anerkennen will!« polterte jetzt der Gendarm mit tiefer, ärgerlicher Stimme los, indem er den Löffel beiseite legte und sich mit dem Handrücken über Mund und Schnurrbart fuhr; »was so einer will, das soll geschehen, meint er. Ja, aber so ist das denn doch nicht auf dieser Welt! so weit sind wir gottlob noch nicht! Noch gibt es Handeisen und Gefängnismauern für solche Kerle!«
Andreas sah, wie die Mutter den Kopf tief senkte und wie die Frau des Gendarmen ihrem bärbeißigen Manne einen warnenden und zugleich bittenden Blick zuwarf; dann stand sie auf und begann den Tisch abzuräumen. Die Mutter aber näherte sich jetzt zaghaft dem Gendarmen und bat leise, er möge sie zu ihrem Sohne führen.
»O nein, das geht nicht!« erklärte der, »ich habe strengen Befehl, niemand zu ihm zu lassen, ich muß gehorchen.«
»Aber – ich bin doch seine Mutter! Gilt denn das Verbot auch für die Mutter?«
»Ja, was ist dabei zu machen! – Freilich, Sie werden ihn schwerlich je wiedersehn; so ein Taugenichts!«
»Ach, Herr Gendarm, hab' ich ihn denn gelehrt, so zu sein?« klagte die Mutter, »Gott ist mein Zeuge, daß er von mir nichts Schlechtes gelernt hat.« Und sie begann zu weinen.
»Na, sage ich denn, daß Sie schuld sind?« meinte nun begütigend der Gendarm, »welche Mutter wird denn wollen, daß ihr Sohn so einer werde?«
»Führ' sie doch zu ihm!« mischte sich seine Frau jetzt in das Gespräch, »eine Mutter will sich doch von ihrem Kinde verabschieden, auch wenn es Schande über sie gebracht hat. Verstehst du das denn nicht?«
»Aber wenn's jemand erfährt, kann ich meinen Posten verlieren.«
»Wer soll's denn erfahren? Wir sind ja doch allein hier in der Stube, und wenn sich jemand zeigt, rufen wir euch.«
»Na, meinethalben. Aber Sie müssen zu ihm in die Zelle, herausführen darf ich ihn nicht! Und sobald ich rufe, müssen Sie fort.«
Er nahm einen großen Schlüssel, der an einem Nagel bei der Tür hing. »Also kommen Sie! Aber –« er blieb wieder stehen – »daß Sie es niemand erzählen! Und auch du nicht, Bub'! Ich hab' Feinde genug in der Gegend, die sich das gleich zunutze machen täten.«
»Wir werden schweigen, Herr Gendarm, und vergelt's Ihnen Gott!« flüsterte die Mutter, nahm Andreas bei der Hand und folgte dem Gendarmen über den Gang zu einer kleinen Tür, vor welcher quer eine schwere Eisenstange lag. Der Gendarm sperrte ein großes Vorhängeschloß auf, schob die Eisenstange beiseite, steckte den Kopf in das finstere kleine Gemach und rief:
»He, du! schläfst du? Du hast Gäste bekommen, darfst ein paar Worte mit ihnen reden!«
Damit schob er Andreas und die Mutter in die Finsternis hinein und machte die Tür hinter ihnen zu; Andreas hörte mit bangem Erzittern, wie er die Stange wieder vorlegte und sich mit wuchtigen Schritten über den Gang entfernte.
Im Hintergründe der Zelle raschelte es, als wenn sich jemand aus Stroh herauswühle, und dabei klirrte etwas.
»Wer ist's denn?« fragte eine rauhe, unfreundliche Stimme. Andreas hatte sich allmählich an das Halbdunkel gewöhnt und sah nun einen großen, schlankgewachsenen Burschen auf die Mutter zukommen. Ja, das war der Karl. Die Mutter näherte sich ihm mit gerungenen Händen.
»Karl! Mein Sohn, mein lieber –« sie schlang die Arme um seinen Hals und lehnte sich schluchzend an ihn. Die Arme des Sohnes aber hoben sich nicht, um die Mutter zu stützen; sie hingen steif am Körper herab, und wieder tönte das leise Klirren durch den dunklen Raum. Da griff die Mutter erschreckt nach Karls Händen und hob sie ein wenig in die Höhe, – an jedem Handgelenk saß ein breiter Eisenreif, und dazwischen hing eine kurze Kette ...
Die Mutter stöhnte auf und fuhr entsetzt zurück; klirrend sanken die Hände des Gefangenen wieder herab.
»Mein Sohn, ach mein Sohn! in der Finsternis des Gefängnisses und beim Klirren der Ketten finde ich dich!« wehklagte die Mutter, Karl aber fragte rauh:
»Bist du hergekommen, um zu weinen und zu jammern? Dann konntest du auch zu Hause bleiben. Und wozu hast du denn den Buben mitgebracht? Was soll der hier?«
Andreas war bei der Tür stehen geblieben, ohne sich näher zu wagen, aber Karl tat ihm sehr leid und er hätte ihn gern umarmt und getröstet, doch als er jetzt die böse Stimme hörte, überlief es ihn kalt. Sein Herz blieb zwar voll Mitleid und Trauer, aber dem Bruder ein freundliches Wort sagen, – nein, das konnte er jetzt nicht mehr. Er rührte sich nicht vom Fleck und starrte mit großen, kummervollen Augen zur Mutter hinüber, die eben entsetzt ausrief:
»Karl, Karl, hast du denn gar kein Herz im Leibe? Wie kannst du nur so zu mir sprechen? Wir kamen, weil wir dich lieb haben, du aber –«
Karl lachte spöttisch auf. »Was hab' ich denn von eurem Kommen? Ihr könnt mir ja nicht helfen. Und euer Gejammer anzuhören, ist doch wahrlich kein Vergnügen für mich!«
»Vergnügen? Karl, war es am Ende ein Vergnügen für dich, das zu tun, was du getan hast? Hast du in deinem Elternhause gelernt, an so was Vergnügen zu finden?«
»Ich hab' nichts Schlechtes getan!« stieß Karl trotzig hervor.
»Nicht, mein Sohn? Warum klirrt denn die Kette an deinen Händen? – Sag' mir's, Karl, sag mir's: Bist du wirklich unschuldig? Klebt an deinen Händen nicht – das Blut deines Nächsten? Sag' mir's, mein Sohn! Ich werde dir glauben, ich werde Gott auf den Knien danken, wenn du mir sagen kannst, daß du unschuldig bist!«
Karl stand stumm da und blickte trotzig zur Seite.
»Du kannst es nicht sagen?« flüsterte die Mutter bang.
»Unschuldig bin ich natürlich nicht,« begann Karl jetzt, »aber auch nicht so schuldig, wie du glaubst. Wir haben nur genommen, was der Birkenbauer anderen genommen hatte. Das haben wir getan. Man weiß ja doch, wie der zu seinem Hab' und Gut gekommen ist! Hat er nicht genug gewuchert und gestohlen, als er noch den Krug in Pacht hatte? Hast du nicht oft genug über ihn schimpfen gehört?«
Die Mutter horchte gespannt auf jedes Wort des Sohnes, aber ihre verweinten Augen blickten ihn verständnislos und voller Angst an, und ihre bleichen Lippen flüsterten:
»Ich versteh' dich nicht, Karl, ich weiß nicht –«
»Ja, du gehörst ja auch zu jenen Dummen, die bis zum letzten Atemzug für andere arbeiten, du und der Vater und alle eure Freunde! Ihr plagt euch und hungert, – andere essen und trinken und feiern Feste. Das wird aber einmal anders werden! Jeder muß das erhalten, was er verdient hat! Es gibt Menschen, die des Lebens nicht wert sind, – die müssen beiseite geschafft werden, dann wird's schöner werden auf der Welt!«
»Aber Karl, ich begreife nicht– – du konntest doch nicht glauben, die Welt schöner zu machen, indem du Böses tatest? Aus Bösem kann nur Böses entstehen. Und, mein Sohn, hast du denn gar nicht an die Gebote Gottes gedacht? An das: Du sollst nicht stehlen, – Du sollst nicht töten? Das Blut, Kind, das Blut, das an deinen Händen klebt, wie willst du das fortwaschen?«
»Was wollte denn der Birkenbauer anderes tun als töten?« rief Karl halb trotzig, halb gequält, »ist ihm also nicht ganz recht geschehen, dem Schuft?«
Die Mutter schwieg entsetzt, dann trat sie wieder ganz nahe an den Sohn heran und fragte eindringlich:
»Karl, glaubst du denn gar nicht mehr an Gott? Fürchtest du dich denn gar nicht vor seinem Zorn?«
Der Gefangene wandte sich ab und murmelte: »Kümmere dich doch nicht auch noch darum, – das geht mich allein an.«
Die Mutter sank auf das Strohlager zu des Sohnes Füßen nieder und flehte mit gerungenen Händen:
»Karl, besinne dich! Bitt' den lieben Gott um Verzeihung, mein Sohn! Wie willst du sonst das ertragen, was dir bevorsteht? Und wie soll ich zu Gott für dich beten? Ach, hab' ich dich denn ganz verloren, an Leib und Seele?« Und ihre mageren Finger wühlten verzweifelt in den grauen Haaren, von denen das bunte Kopftuch herabgeglitten war.
Jetzt hielt Andreas sich nicht länger. Mit einem Satze war er bei der Mutter, schlang beide Arme um sie und bat:
»Mutter, weine doch nicht! Ach liebes Mütterchen, weine doch nicht so!«
Es klopfte an die Tür und der Gendarm mahnte zum Aufbruch. Sich schwer auf Andreas Schulter stützend erhob sich die Mutter wie unter einer niederdrückenden Last.
»Wir müssen uns trennen, mein Sohn,« flüsterte sie heiser; »wer weiß, wer von uns beiden zuerst die Erde verlassen wird, – lange werd' ich das Leben wohl nicht mehr ertragen. Aber wenn du je wieder in die Heimat zurückkommst, mein Sohn, so suche mich auf, – mich oder mein Grab. Vergiß nicht, daß ich deine Mutter bin.«
Der Gendarm öffnete die Tür und steckte den Kopf herein.
»Es ist Zeit, Frau, sonst könnte jemand kommen!« rief er. Karl stand steif da und blickte zu Boden. Schwer hob und senkte sich seine Brust, und plötzlich rollten zwei große Tränen über seine Wangen.
»Gottlob, du weinst, mein. Sohn!« flüsterte die Mutter wie getröstet, indem sie ihn an sich preßte und seinen gesenkten Kopf liebkoste, »lebwohl, mein Junge, – Gott wird dir helfen. Lebwohl!« Dann wankte sie zur Tür, die der Gendarm jetzt weit öffnete. Andreas folgte ihr schnell, und während die Tür wieder zufiel, hörte er noch einen Moment lang das Rascheln des Strohes, das Klirren der Ketten und ein dumpfes Aufschluchzen ...
Die Mutter verließ das Gefängnis wie eine Schlafwandlerin, die von nichts weiß, nichts hört und nichts sieht. Das Umlegetuch hatte sie über den Arm geworfen, ohne darauf zu achten, daß ein Zipfel am Boden schleifte; ihr Kopf war unbedeckt, das Haar in Unordnung. Nach einer Weile erst kam sie zu sich und blickte sich wie erwachend um. Als sie Andreas an ihrer Seite sah, war's, als erinnere sie sich an etwas, und leise aufseufzend ergriff sie des Knaben Hand.
So schritten sie denn wieder in heißer Nachmittagssonne stumm nebeneinander über die staubige Chaussee, bogen in den schmalen Feldweg ein und standen bald am Anfange der Allee, welche direkt zum Birkenhof führte.
»Du wirst nun wohl allein den Weg finden, mein Sohn,« sagte die Mutter langsam und mit belegter Stimme, »ich muß machen, daß ich nach Hause komme.«
Sie fuhr ihm mit dem Tuch über das Gesicht, um die Tränenspuren zu verwischen, und drückte ihn fest an sich. »Mein Junge, – gelt, du bleibst brav? Du wirst nie so einer wie der Karl?« fragte sie in flehendem Ton, »du wirst die Gebote Gottes und die Lehren deiner Mutter nie vergessen, nicht wahr, Kind?«
Andreas streichelte ihre blassen Wangen, strich ihr das Haar glatt, küßte sie immer wieder und flüsterte traurig:
»Ach, Mütterchen, ich werde ja immer, immer bei dir bleiben, ich werde dich lieb haben, bis ich sterbe! Nur wein' nicht mehr, Mütterchen, hörst du? Ich halt' es sonst nicht aus!«
»Ich werde nicht mehr weinen, mein lieber Junge, ich weiß ja, daß ich noch einen Sohn hab'. Sorg' dich nicht um mich, Kind; sobald ich Zeit hab', besuch' ich dich wieder auf der Heide!«
Sie nickte ihm liebevoll zu und schritt eilig weiter.
Bald darauf betrat Andreas wieder die große Wohnstube im Talhof. Die Bäuerin sah ihn nachdenklich an, schien etwas fragen zu wollen, besann sich aber und forderte ihn auf, sein Vesperbrot aus der Küche zu holen. Andreas dankte, er hatte keinen Hunger. Nachdem er seinen Sonntagsrock mit dem Alltagskittel vertauscht hatte, nahm er Buch und Gerte in die Hand und ging hinaus. Die Viehmagd hatte ihn schon mit Ungeduld erwartet und trieb eben die Herde aus den Ställen. Da rief die Bäuerin ihn nochmals zurück und sagte, indem sie ihm ein Stück Käse und eine Schnitte Schwarzbrot in die Tasche steckte:
»Nimm's nur mit, Andreas, der Hunger wird sich schon wieder einstellen.«
»Na, hast du dein Brüderchen noch getroffen? Wann wird er denn abgeführt?« fragte einer der Knechte auf dem Hofe in höhnischem Ton.
Andreas sah ihn stumm an und ging weiter; er wußte nicht, was er antworten sollte. Hinter seiner Herde zum Hof hinausgehend, hörte er, daß die Bäuerin dem Knechte ärgerlich etwas zurief, – was, das verstand er nicht.
Da war er nun wieder auf seiner Heide, der Heimat seiner Träume, seines Glückes und seiner Sehnsucht ... In trübe Gedanken verloren starrte er vor sich hin, bis die Augen sich langsam schlossen. Und da war er auch schon im Zauberwalde, und dann in der Burg des Drachens, der einen Zauberring unter seiner feurigen Zunge versteckt hatte, und er fand den Ring und floh auf den Schwingen des häßlichen jungen Entleins über das Meer, bis er an eine dunkle Höhle kam, in der seine Mutter ihn weinend erwartete, und dann kam Prinzessin Tausendschön und ...
Andreas fuhr plötzlich auf. Zum erstenmal war es ihm passiert, daß er bei der Herde eingeschlafen war. Ein jäher Schreck durchrieselte ihn: wenn die Tiere sich inzwischen zerstreut, im Walde verlaufen hatten? – Nein, Gottlob, sie weideten ruhig um ihn her und Sultan paßte auf. Der große Stein, auf dem Andreas geschlafen hatte, lag nun ganz im Schatten. Da stand er auf und trieb die Herde weiter zur Mitte der Weidefläche hin, wo die Sonne noch schien. Denn er liebte die Sonne und trauerte allabendlich um sie, wenn sie hinter dem Walde verschwunden war.
Wie war der heutige Tag doch seltsam gewesen und wie endlos lang! Und wie war jetzt alles so anders als gestern und vorgestern! Er nahm sein Märchenbuch in die Hand, aber er hatte keine Lust zu lesen; nein, an einem solchen Tage konnte man doch nicht lesen! Etwas Schweres lastete auf seiner Brust und benahm ihm fast den Atem; seine Gedanken flogen wie verirrte Vöglein umher und kamen doch immer wieder auf denselben Punkt zurück: Karl. Heute noch würde man ihn in die Stadt führen, hatte der Gendarm gesagt. Ihm war's, als sähe er den Bruder mit gefesselten Händen zwischen zwei Soldaten die staubige Chaussee entlang schreiten; die Kette klirrte leise ... Vielleicht geht er gerade jetzt dort hinter dem Walde vorbei ... Wann wird er zurückkommen? Vielleicht nie mehr ... Und alle Leute werden nun davon reden und werden ihn, Andreas, mit höhnischen Blicken ansehen, denn er ist ja der Bruder eines Mörders. Und – was wird Maja sagen? – Heiß überlief den Knaben die Scham bei dem Gedanken. Ach, nun wußte sie's wohl schon, denn auf dem Talhof war doch gewiß davon gesprochen worden. Sie würde nun wohl nie, nie mehr mit ihm sprechen, und fortgehn, ohne ihm lebwohl zu sagen ...
Unerträgliches Weh schnürte ihm das Herz zusammen. Noch nie hatte er sich so unglücklich und verlassen gefühlt wie in diesem Augenblick. Er warf sich ins Gras und stützte den Kopf in beide Hände. Wie still es ringsherum war, wie unheimlich still! Und wie einsam er doch war, hier und überall! Niemand kümmerte sich um ihn, niemand erwartete ihn, und daheim in der rauchigen Stube weinte seine arme Mutter sich die Augen aus.
Mit einem Male sprang Andreas auf und lauschte atemlos. Warum knackten die Zweige im Walde, als wenn jemand durch's Gebüsch schlüpfte, und – wer trat da plötzlich aus dem Schatten der Bäume, schlank, mit goldbraunem Haar und in hellem Kleide?
Ja, sie war es, seine Prinzessin Tausendschön! Einen flachen, weißen Korb trug sie am Arm, – sie hatte wohl Schwämme gesucht. Nach wem schaute sie jetzt denn aus? Er duckte sich schnell hinter einem Wacholderbusch, Maja aber hatte ihn schon entdeckt und kam schnell auf ihn zu.
»Andreas! Ah, wo du dich verkrochen hast! kaum zu finden!« Sie stellte den Korb zu Boden und setzte sich ins Gras. Ihr Haar war ein wenig zerzaust und mit Sommerfäden bedeckt, und auf dem Scheitel lag sogar ein gelbes Blättchen.
»Sieh nur, Andreas, was ich hier für schöne Schwämme gefunden hab'!« sagte sie vergnügt, indem sie in den Korb wies, »wo bin ich aber auch umhergekrochen! Ach, schön ist's hier draußen bei dir im Walde. Mir tut es so leid, daß ich fort muß.«
Sie schaute ernst zu den im Herbstschmuck prangenden Birken hinüber. Andreas stand neben ihr und sah hinab auf ihr braunes Haar, die weiße Stirn und die im Schoß ruhenden Hände.
»Sie wird fortgehen, und ich werd' sie nie mehr sehen,« sagte er sich, und das Gefühl des Verlassenseins überkam ihn wieder so stark, daß er kaum die Tränen zurückhalten konnte.
»Warum bist du so stumm und so bekümmert?« fragte Maja, »komm, setz' dich neben mich!« Sie ergriff seine Hand und zog ihn zu sich nieder. »Denkst du an deinen Bruder? Du Armer, ich seh', du hast gar geweint! Das sollst du nicht, Andreas,« – sie strich ihm liebkosend über die Wangen – »du bist ja nicht schuld daran, daß dein Bruder – – und vielleicht ist er auch gar nicht so schlecht, weißt du; er hat das alles vielleicht nicht recht überlegt und jetzt tut's ihm ganz gewiß leid. Ich weiß, daß du dich grämst, Andreas, denn du hast ein Herz, das mit jedem mitdulden muß. Ja, ja, so ein Herz hast du. Aber weißt du, wenn einmal in ein solches Herz das Glück einzieht, dann ist es auch reicher und strahlender als das Glück der andern Menschen, die so stolz sind auf ihr starkes und hartes Herz. Du wirst das schon noch an dir selber erfahren!«
Mährend des Sprechens hatte Maja den Arm um den Knaben gelegt und ihn sanft zu sich herangezogen, so daß sein Kopf an ihrer Schulter lehnte. Wie in seligem Traume hörte er ihre weiche Stimme, die ihm nun von der Zukunft sprach, von Kämpfen und Entbehrungen, die ihm wohl bevorstanden, aber auch von den Siegen und Erfolgen, die ihm zufallen würden, wenn er nicht nachließ im Arbeiten und Hoffen; sie sagte ihm, daß sie ihm gern über die erste schwere Zeit hinübergeholfen hätte, denn sie habe ihn lieb, aber sie müsse selbst wieder hinaus in den Kampf, morgen schon müsse sie zurück in die Stadt.
Als Maja dem Knaben ins Gesicht sah, erschrak sie: er war bleich wie Linnen und seine Lippen zitterten.
»Andreas!« rief sie eindringlich, »willst du den Kampf nicht kämpfen?«
»Ich will!« sagte Andreas, und die eigene Stimme klang ihm fremd, wie aus weiter Ferne kommend. Maja sah ihm ernst in die Augen, nahm seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte ihn auf die bebenden Lippen.
»Gräme dich nicht und fürchte dich nicht, Andreas, geh' mutig den rechten Weg!« sprach sie dann mit freundlichem Lächeln, und ihm war, als läge die eben noch so dunkle Heide in strahlendem Sonnenglanz. Maja stand auf, ergriff ihren Korb, winkte dem Knaben noch einmal zu und ging davon.
Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden, nur die Wipfel der höchsten Tannen brannten noch in sanfter Glut. Andreas blickte mit leuchtenden Augen der entschwindenden Gestalt des jungen Mädchens nach. Neues Leben, neues Glück füllte sein Herz. Ja, er wollte kämpfen. Durch Wälder und Sümpfe, durch Wüsten und Meere wollte er wandern, bis er seine Prinzessin wiedergefunden ...
Die Jahre hasten vorwärts in wilder Jagd, das eine geht, das andere kommt, wie die weißen Wolken, die am Horizonte auftauchen und am Himmel vorüberziehen, – von wo kommen sie? wohin verschwinden sie? – – –
Jagend, taumelnd, weinend und jubelnd eilen die Menschen durch das Leben, – wohin? wohin? – Dort hinter der weißen Mauer wartet geduldig der Friedhof ...
Die Jahre hasten und hasten ...
Eine große Stadt. Das Leben braust durch sie hin. Die Stadt regt sich und redet. Da sinkt der Abend herab und Tausende von Lichtern flammen auf, aber die Stadt kommt noch nicht zu Ruhe, sie redet fast noch lauter als am Tage. Dann verlischt ein Licht nach dem andern, – die Stadt verstummt. Aber lange noch, nachdem sie in kurzen, unruhigen Schlummer gesunken, schimmert in einem der Riesenhäuser hoch oben unterm Dach ein einsames, mattes Lichtlein. An einem einfachen, mit Büchern und Heften bedeckten Holztische sitzt ein junger Mann und arbeitet. Sein Antlitz ist totenblaß, aber in den dunklen, gedankenvollen Augen glüht ein warmes Feuer. Er ist in seine Arbeit so vertieft, daß er das Einschlafen der Stadt nicht bemerkt hat, oder ist er es so gewöhnt, daß sie vor ihm zur Ruhe geht? Als er nun endlich die Feder aus der Hand legt und die dicken Bücher zuklappt, spielt um seinen Mund ein träumerisches, halb glückliches, halb sehnsuchtsvolles Lächeln. Er steht auf, tritt ans Fenster und blickt über das Häusermeer hinweg nach Osten, der Morgenröte entgegen. Dort in der Ferne liegt seine Heimat, dort wartet ein grauhaariges Mütterchen auf den glücklichsten Tag seines Lebens.
Wie ein frommes Lied durchzieht die Seele des Jünglings das Märchen aus der Kinderzeit, das Märchen vom Elasberge und von Prinzessin Tausendschön, die den Prinzen Barfuß erwartet ...
Über seiner Heimat erglänzt der Morgenstern. Der Morgen kommt, – er kommt ganz gewiß.