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Volle siebzig Werst 1 Werst = 1060 Meter. hatte Jakob Austring bis Neuhof zu fahren, aber was macht das einem jungen Manne, zumal wenn er bequem im Wagen sitzt und sein älterer Bruder, der immer und überall für ihn sorgt, die Zügel hält. Ach, es ist doch gut, so einen Bruder zu haben, der an den jüngeren Geschwistern Vaterstelle vertritt! Er hatte Jakob im Seminar studieren lassen und wollte ihm nun zu der Lehrerstelle in Neuhof verhelfen; daher hatten sich die Brüder schon einen Tag vor der Lehrerwahl auf den Weg gemacht, um den Neuhofer Gemeindeältesten auf ihre Seite zu bekommen. O, das würde nicht schwer sein, war doch der Gemeindeschreiber, den man nicht ohne Grund die rechte Hand des Ältesten nannte, der beste Freund des älteren Austring!
Frohgemut fuhren die Brüder ihres Weges. Jakobs Gedanken flogen in die Zukunft; er sah sich als Lehrer von einer Schar rotbäckiger Buben umringt – denn die Anstellung war ihm doch sicher! – und sah sich nach erfüllter Pflicht froh in das eigene Heim zurückkehren, das Heim, in dem eine junge blonde Frau den Mittagstisch schon gedeckt hatte. Freilich, große Sprünge kann ein Dorfschullehrer wohl nicht machen, aber wenn die Frau fleißig und sparsam ist, kann man schon leben. Und war seine Marie, sein liebes, blondes Mädel, etwa nicht fleißig und sparsam? »Schau nur, daß du die Stelle bekommst,« hatte sie ihm gestern zum Abschiede gesagt, »für das Auskommen will ich schon sorgen!«
Jakob fühlte sich sehr glücklich. Wie schön war es doch, so durch die herrliche Gotteswelt dahinzurollen, einem ersehnten Ziele entgegen! Strahlte die Sonne heute nicht viel prächtiger als in all den Jahren, die er im Seminar hinter seinen Büchern verbracht hatte, ohne einen andern Wunsch als den, so schnell wie möglich die Studienzeit hinter sich zu haben? Und nun hatte er sie hinter sich und die ganze Welt stand ihm offen!
Jetzt holte der Wagen einen Fußgänger ein, der mit gesenktem Kopf müde dahinschritt. Jakob sah sich nach ihm um und fiel dem Bruder in die Zügel.
»Halt, Johann!« rief er erfreut, »das ist ja Witols, mein guter Freund vom Seminar her!«
Johann hielt und Jakob winkte und nickte dem Fremden lachend zu.
»Sascha, kennst du mich denn nicht mehr? Grüß' dich der Himmel!«
Der Angeredete sah sich erstaunt um, als erwache er aus tiefem Sinnen, dann lächelte er Jakob zu und trat an den Wagen heran.
»Mein Bruder – Herr Witols,« stellte Jakob vor und fragte dann, indem er die Hand des Freundes schüttelte: »Wohin des Weges, wenn man fragen darf?«
»Nach Neuhof.«
»Da haben wir ja den gleichen Weg,« entgegnete Johann, »steigen Sie ein, wir fahren zusammen!«
Witols zögerte. Er blickte zum Pferde hin, als wollte er sich überzeugen, was es zu der Aufforderung seines Herrn sagte.
»Steig' nur ein, der Braune hat Kraft genug!« bat nun auch Jakob, und Witols gehorchte.
»Wie geht es dir denn?« erkundigte sich Jakob im Weiterfahren, »wo warst du seit deinem Abschied aus dem Seminar? Warum hast du mir nicht geschrieben?«
»Ach Gott, was hat man denn zu schreiben, wenn's einem schlecht geht?« erwiderte Witols mit kaum verhehlter Bitterkeit. »Wer empfängt denn gern traurige Briefe? Freunde sucht man nur dann auf, wenn man im Glück ist.«
»Unsinn, was du da redest! Bist denn noch immer so schwermütig wie im Seminar? Du bist um zwei Jahre früher mit den Studien fertig geworden als ich, obgleich wir im selben Alter stehen, – und trotzdem klagst du, daß es dir schlecht gehe?«
»Ich klage nicht. Du fragst, und ich antworte.«
Jakob schaute nun aufmerksamer den ihm gegenübersitzenden Kameraden an und bemerkte jetzt erst die Blässe seines eingefallenen Gesichtes, den schmerzlichen Zug um die zusammengepreßten Lippen, die etwas schadhafte Kleidung und die abgearbeiteten Hände. Ihm war, als müsse Witols viel Schweres durchgemacht haben in den zwei Jahren, als wisse er schon viel mehr vom Leben als Jakob selbst.
»Hast du keinen Posten?« fragte er den Freund.
»O ja, aber was für einen!« antwortete Witols; »120 Rubel im Jahr – das klingt ganz schön, solange man nicht nachzählt, wieviel Monate ein Jahr und wieviel Tage der Monat hat. Ich komm' halt nicht vorwärts in der Welt, weil ich keine Schmeicheleien zu sagen verstehe, nicht bitten und betteln kann. Dafür wird das nun meine alte Mutter lernen müssen, denn wenn ich nicht bald mehr verdiene, muß sie ins Armenhaus. Meine Eltern haben ja ihren letzten Kopeken hingegeben, um mich studieren zu lassen. Der Vater ist gestorben, bevor ich was geworden bin, – wer weiß, ob die Mutter es erlebt, daß ich etwas werde.«
Johann wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben und bot den jungen Leuten Zigaretten an, Jakob aber meinte:
»Ach nein, wir sind ja jetzt bald in Neuhof – vielleicht macht es keinen guten Eindruck, die Leute sagen ja oft: wer raucht, der trinkt.«
»Auf wen willst du denn einen guten Eindruck machen?« fragte Witols, aufmerksam werdend.
»Morgen ist Lehrerwahl in Neuhof!« erklärte Jakob harmlos.
»Und du – bewirbst dich um die Stelle?« stieß Witols erschreckt hervor.
»Natürlich! Ich hab' doch noch keinen Posten. Und wer nicht sucht, der findet nichts.«
»Freilich, du hast ganz recht –« Witols bemühte sich, ruhig zu sprechen, aber seine Stimme zitterte. Jetzt erst begriff Jakob, daß auch der Freund wegen der Lehrerwahl nach Neuhof wollte. Er schwieg wie erschreckt, Johann aber wollte Gewißheit haben.
»Sie haben sich wohl auch gemeldet, Herr Witols?« fragte er ein wenig spöttisch.
»Wo gemeldet?«
»Nun, in Neuhof, für die Lehrerstelle.«
»Ich – will es heute tun,« erwiderte Witols zögernd, »aber dann sind wir ja Konkurrenten, Jakob?«
»Was macht das?« meinte Jakob, »wer das Glück hat, wird halt die Stelle bekommen.«
»Ja, ja, wer das Glück hat –« sprach Johann lächelnd; er wußte ja, daß der Gemeindeschreiber sein Freund war, und – er hatte einen Fünfundzwanziger in der Brieftasche! »Ja, so geht's in der Welt! Auf das Glückhaben kommt's an!« fuhr er fort, als die beiden anderen schwiegen.
»Auf das Glückhaben kommt es an!« tönte es im Herzen der beiden Konkurrenten wieder. Wer von ihnen, die sich seit Jahren Freunde nannten und die nun Konkurrenten geworden waren, würde der Glückliche sein? – – –
Im Neuhofer Gemeindehause ging es am nächsten Tage lebhaft zu. Sechs Kandidaten hatten sich gemeldet, hatten ihre Zeugnisse abgeliefert, ihre Forderungen genannt und warteten nun im Vorzimmer auf das Ergebnis der Beratung. Sie befreundeten sich nicht miteinander, denn jeder sah in den fünf übrigen, wenn auch nicht seine Feinde, so doch auch keine Freunde; jeder wollte die gute Stelle haben und sagte sich, daß sie ihm sicher wäre, wenn – eben nicht die fünf andern Bewerber aufgetaucht wären.
Jakob saß allein in einer Ecke. Sein Bruder hatte alles getan, was er für notwendig gehalten hatte, und war in den Krug hinübergegangen; er wollte sich den Anschein geben, als kümmere er sich um die ganze Angelegenheit gar nicht. Er war ja seiner Sache sicher; ein Zehner war gestern abend für Bier und Schnaps daraufgegangen und alle, die was zu sagen hatten in Neuhof, hatten erklärt, daß sein Bruder der tüchtigste Kerl weit und breit sei. Heute schienen sie aber trotzdem verschiedener Meinung zu sein, denn die Beratung nahm gar kein Ende.
Jetzt kam der Gemeindeschreiber zu Jakob heraus, zog ihn mit sich auf den menschenleeren Hof und sagte:
»Herr Austring, jetzt dreht sich die Frage nur noch um Sie und einen gewissen Witols, denn Sie zwei haben die glänzendsten Zeugnisse. Nun ist die Sache aber die: Witols verlangt um 100 Rubel weniger Gehalt als Sie und daher sind die meisten der Herren auf seiner Seite. Könnten Sie nicht die gleiche Forderung stellen wie der andere? Dann wäre Ihnen die Stelle sicher. Später kann ja eine Gehaltserhöhung stattfinden – das läßt sich schon machen – es handelt sich ja nur um den Anfang. Wollen Sie nicht hereinkommen und den Herren erklären, daß Sie mit demselben Gehalt zufrieden sind wie Witols?«
Jakob war während dieser Worte ein wenig bleich geworden, doch seine Stimme klang ganz ruhig, als er nun sagte:
»Ja, das könnte ich wohl tun. Gewiß, ich komme!« Vor seinem geistigen Auge aber stand in diesem Augenblicke eine alte Frau, die ihn kummervoll ansah und ihm zuzuflüstern schien: »Jetzt muß ich ins Armenhaus!«
Entschlossen folgte er dem Schreiber ins Sitzungszimmer.
»Herr Austring,« redete ihn der Gemeindeälteste ein wenig herablassend an, »der Herr Schreiber hat Ihnen ja wohl schon erklärt, wie es steht. Sind Sie bereit, 100 Rubel von Ihrer Gehaltsforderung abzuziehen?«
»Nein!« sagte Jakob leise, aber fest; »ich komme aus einem andern Grunde. Ich hab' mir's überlegt – ich bitte, mir meine Papiere zurückgeben zu wollen.«
Erstaunt sahen die Beratenden einander an, der Schreiber aber zuckte die Schultern, als wenn er sagen wollte: »Wenn ein Mensch verrückt ist, so ist er eben verrückt!«
»Ich wiederhole meine Bitte,« erklärte Jakob nun laut und sicher, »ich weiß sehr wohl, was ich tue, meine Herren.«
»Dann ist also der Herr Witols einstimmig gewählt,« verkündigte der Gemeindeälteste feierlich, indem er Jakob einige Papiere zuschob. Der junge Mann steckte diese schnell in die Tasche und verließ das Gemach. Im Nebenzimmer trat er an Witols heran und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. Der Freund sah ihn erstaunt an:
»Ach so – du also bist der Glückliche gewesen? Ich konnte mir's ja denken!« murmelte er zwischen den Zähnen.
»Du täuschest dich, Sascha,« erwiderte Jakob, »die Herren haben sich einstimmig für dich entschieden.«
»Für mich?« Witols Wangen röteten sich und die ernsten Augen leuchteten auf, »hältst du mich nicht zum Narren?«
»Nein, nein, Sascha, ich hab's ja soeben selbst gehört! Ich gratuliere dir von Herzen!« Damit ging er zur Tür hinaus, um seinen Bruder aufzusuchen. Jetzt, nachdem die Entscheidung gefallen war, wurde ihm doch ein wenig bang zumute; was würde Johann dazu sagen und was – seine blonde Marie?
Es dämmerte bereits, als die Brüder am nächsten Tage ihrem Hause zufuhren. Johann hatte den ganzen Weg über gescholten, hatte erklärt, nichts mehr für den Bruder tun zu wollen, er solle nur sehen, wie er sich selbst forthelfen könne, er sei ein Phantast, ein Narr, ein sentimentaler Tropf, der es nie und nimmer zu etwas bringen werde. Jakob hatte die Vorwürfe stumm angehört, seine Gedanken waren bei Marie, – würde auch sie ihn einen Narren schelten? Würde auch sie sagen, ein armer Teufel habe nicht das Recht, seinem Herzen zu folgen? Sie hatte ja auch alle ihre Hoffnung auf die Neuhofer Lehrerstelle gesetzt!
Bald darauf saß Jakob in dem bescheidenen Stübchen, in dem Marie mit ihrer Mutter hauste. Leise und etwas verlegen hatte er ihr die Ergebnisse seiner Fahrt mitgeteilt, und als er nun sah, wie eine große Träne nach der andern über die rosigen Wangen seines Mädchens rollte, faßte er ihre Hand und flüsterte:
»Wenn du wüßtest, Marie, wie traurig Witols aussah – und wie schlecht es ihm und seiner alten Mutter geht – du wärest mir nicht böse!«
Da hob Marie den gesenkten Kopf, lächelte Jakob unter Tränen an und sagte in herzlichem Ton:
»Bin ich dir denn böse, du lieber Narr du? Stolz bin ich auf dich! Wir sind ja noch jung – und im nächsten Jahr wird's ja wohl auch noch freie Lehrerstellen geben! – Wir wollen uns jetzt lieber ausmalen, wie Witols' alte Mutter sich freut, daß sie nun nicht ins Armenhaus muß!«