Joachim Wilhelm von Brawe
Der Freigeist
Joachim Wilhelm von Brawe

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Zweiter Auftritt.

Henley, Clerdon.

Clerdon (unruhig). Ich muß zu Ihnen, liebster Freund, meine Zuflucht nehmen – eine tötende Unruhe jagt mich überall herum – meine ganze Seele ist Aufruhr –

Henley. Ich erstaune, Clerdon, welche eine plötzliche Ursache –

Clerdon. Nicht plötzliche, Henley. Schon seit einiger Zeit haben die oft erwachenden – wie soll ich sie nennen – Vorurteile der Kindheit – ja, diese mögen es zu meiner Beruhigung sein – mein Innres in eine qualvolle Zerrüttung gesetzt; schon lange hat das Andenken meines unglücklichen Vaters alle Ruhe aus meiner Seele verwiesen.

Henley. Ich weiß es, ich kenne die unmännliche Schwermut, die Sie manchmal befällt, und ich erröte Ihrentwegen darüber. Aber ein so wildes Entsetzen, eine so außerordentliche Bangigkeit nahm ich nie an Ihnen wahr.

Clerdon. Nein, ich darf Ihnen die Ursache nicht eröffnen. Sie würden meiner spotten.

Henley. Ich Ihrer spotten! Beleidigende Vermutung! Nein, Clerdon, ich bin weder ein Unmensch noch ein verächtlicher Leichtsinniger. Eins von beiden muß der sein, der über einen Freund in der Betrübnis spotten kann. Ich würde fürchten müssen, daß Ihre Freundschaft gegen mich zu ermatten anfinge, wenn Sie länger anstünden, mir Ihre Bekümmernisse mitzuteilen.

Clerdon. Was werden Sie sagen, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich unmännlich, klein genug bin, mich durch die nächtliche Geburt einer beunruhigten Einbildung so aufbringen zu lassen?

Henley. Wie? Ist's möglich –

Clerdon. Ja, meine Schande ist Ihnen nunmehr bekannt; o könnte ich sie vor mir selbst verbergen! Haben Sie Mitleiden mit meiner Schwachheit – Doch lassen Sie mir Gerechtigkeit widerfahren; nicht das fürchterliche Schicksal, das mir verkündigt zu werden scheint, schrecket mich: Diese Drohungen, die eiteln Geschöpfe eines aufgebrachten Blutes, war ich nie zu achten gewohnt; nur das Andenken meines Vaters, das so stark in mir rege gemacht worden, quälet mich – Mir kam es vor, als sähe ich ihn diese Nacht, und wie? – peinigende Vorstellung! – sterbend zu meinen Füßen liegen. Schon hatte eine tödliche Blässe sich über sein ehrwürdiges Gesicht gezogen. Seine Augen, die in Tränen schwammen, richteten sich flehend nach mir empor. Kein Unwille flammte in ihnen; sie kündigten nur den gütigen, den versöhnten Vater an. Er breitete seine zitternden Hände gegen mich aus und bat mich mit gebrochner und sterbender, doch, Henley, mit so rührender Stimme, daß mein Innerstes sie hörte, mich einem fürchterlichen Abgrunde nicht zu nähern, zu welchem nicht fern von uns ein lockendes Ungeheuer – das Schrecken hat gemacht, daß ich seine Gestalt vergessen – mich hinrief. Er fiel endlich tot zu meinen Füßen nieder. Ganz außer mir, ward ich von Empfindungen, die allen Ausdruck übersteigen, durchstürmt.

Henley. Vielleicht haben die beständigen zaghaften Vorstellungen –

Clerdon. Hören Sie den Erfolg. Mich dünkte, die schmeichelnde Stimme des Ungeheuers besänftigte nach und nach diese brausenden Bewegungen. Ja, bewundern Sie, Freund, die Gewalt derselben; sie zwang mich, die Ermahnungen meines Vaters zu vergessen und mich dem Abgrunde zu nähern. Doch in dem Augenblicke schien eine glänzende Wolke eine prächtige Gestalt aus ihrem Schoße herabzulassen, in der ich die Züge des Granville – der sonst mein Freund war – zu erkennen glaubte, nur daß sie mit etwas Feierlichen und Erhabnen vermischt waren, das über die Menschheit, selbst in ihrer größten Würde, ist. Ein majestätischer Schimmer durchfloß den ganzen Raum um ihn her. Mit freundlicher Hand wollte er mich von dem gefährlichen Orte hinwegwenden; verächtlich stieß ich sie zurück, und in diesem Augenblicke kam es mir vor, als wenn das Ungeheuer meinen Freund vor meinen Augen tötete. Wütend stürzte ich mich auf dasselbe los, ihn zu rächen, als plötzlich – wie flieht meine Seele vor der schrecklichen Erinnerung zurück – der ganze Himmel sich über uns öffnete und Feuer und Ungewitter ward. Ein stürmender Donner schleuderte mich und den Vorwurf meiner Rache in den gräßlichen Abgrund hinab, und ich erwachte.

Henley. Allzu schwacher Freund, dies kann Sie ängstigen?

Clerdon. Ich gestehe es, ich schäme mich vor mir selbst; und was mir Erstaunen erweckt, so scheint seit einiger Zeit meine Natur ganz ausgeartet zu sein und eine gewisse unwiderstehbare Schwermut ihr Gift durch meine Seele ergossen zu haben. Überall öffnen sich mir dunkle melancholische Aussichten; überall bin ich, wie mich dünkt, von Gefahren belagert.

Henley. Dies macht, weil Sie sich noch nicht ganz von dem Joche der alten Vorurteile entfesselt, noch nicht weit genug über den Pöbel hinweggeschwungen haben und immer schüchtern zurücksehn.

Clerdon. Sollte denn aber dieser innre Zwang, dieses unüberwindliche Gefühl, dieses Schwert, das – ich will aufrichtig reden – meine Brust oft mitten unter den Spöttereien durchbohrte, mit denen ich die Religion angriff, sollte dies alles nur Gewohnheit, nur Vorurteil sein?

Henley. Nicht anders, Gewohnheit, Vorurteil, Milzbeschwerung, wie Sie es nennen wollen. Wie sind Sie doch heute so überaus kleinmütig! Ein Traum – denken Sie mir nicht mehr daran, es schmerzt mich zu sehr, Sie so erniedrigt zu sehn.

Clerdon (nach einigem Nachsinnen). Unglücklicher, liebreicher Vater, wie grausam habe ich dir begegnet!

Henley. Hören Sie auf, Sie werden immer schwermütiger. – Doch eben itzt finde ich ein bequemes Mittel darwider. Die blühenden Gänge des Gartens dieses Hauses scheinen Sie zu rufen. Dieser entzückende Morgen hat alle ihre Schönheiten erhöht. Versuchen Sie es; vielleicht verwehen frischere Lüfte die Nebel Ihres Gemütes. Sie müßten sehr fühllos sein, wenn bei dem Anblicke jener lachenden Aussichten keine sanfte Wollust sich Ihrer bemeistern sollte. Ich würde Sie begleiten, wenn nicht einige Geschäfte mich zurückhielten.

(Clerdon geht ab.)


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