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Eine Geschichte aus der Weihnachtszeit.
Das Allerseelenwetter hatte dem scharfen Ostwinde Platz gemacht und dieser überzog bereits die Pfützen mit spiegeldünnem Eise. Nun aber drehten sich die Wetterfahnen, als ob sie eben »Katharinentanz« hielten, bis sie von heftigem Schneegestöber in einer Richtung festgehalten wurden. Alle Fenstergesimse waren von weißen Flocken dicht bedeckt, man brauchte nur zu öffnen, um ganz bequem Schneebälle zu machen.
Damals stand noch in einem Winkel zunächst des Viktualienmarktes zu München ein elendes, kleines Haus. Es hatte nur zwei Fenster im Erdgeschoß und eines im Giebel. – Dennoch wohnten dort zwei Familien: die arme verwitwete Hausbesitzerin Röckl, welche durch Zeitungstragen und Besorgungen, gleich den jetzigen Packträgern, für sich und ihr nunmehr zehnjähriges Staserl den Lebensunterhalt verdiente. – Die einzige Giebelstube wurde von der noch jungen und noch ärmeren Witwe Justine Kellner und ihrem sechsjährigen Franz eingenommen. Nach dem frühzeitigen Tode ihres arbeitsamen Mannes war der kleine Franz ihr Alles auf der Welt; demnach mußte der arme Bub frühzeitig lernen, sich selbst zu behelfen, da die Mutter mehrere Zugeheplätze versah. Das fiel ihm nun gar nicht schwer; denn er lief von einem Marktstand zum andern oder setzte sich zur Verkäuferin unter das große Dach; seinen freundlichen Augen und dem lustigen Geplauder widerstand keine noch so derbe Verkäuferin, und es gab je nach der Jahreszeit allerlei zu naschen, zu beißen und zu knuppern, so daß er niemals Hunger litt, auch wenn die Mutter erst spät abends nach Hause kam. Er war zu allerlei brauchbar und wurde mit Aufträgen von einer Bude zur andern geschickt, oder verwendet, die Einkäufe zu tragen. Bald hieß er nur noch »der Markt-Franzl«. Zur Winterszeit oder bei Unwetter fand er aber im Erdgeschoß stets eine warme Heimstätte. Als er noch ganz klein gewesen, hatte das Staserl ihn wie eine Katze herumgeschleppt und gefüttert. Im verflossenen Jahr jedoch brachte ihn die einsichtsvolle Mutter in einen Kindergarten und seit diesem Herbst besuchte er die Schule; dadurch hörte der Verkehr zwischen beiden beinahe gänzlich auf.
So ging es, trotz aller Armut und Mühseligkeit, den beiden kleinen Familien nach ihrer bescheidenen Ansicht ziemlich gut. – Plötzlich jedoch kam der Umschlag. Eines Tages hustete und fieberte der Franzl, aß nichts, sogar sein Kaffee blieb unberührt; er konnte kaum stehen und gehen, und weinte, als er in die Schule sollte. Er kroch in sein Bett zurück, steckte sich unter die Zudecke und gab kein Lebenszeichen von sich. – Anfangs schalt ihn die Mutter einen faulen Buben, der nur am Schulfieber leide. Aber am zweiten Tage gingen ihr die Augen auf; in Todesangst eilte sie zum Arzte und als dieser ein bedenkliches Gesicht machte, teure Medizin verschrieb und Achtsamkeit anempfahl – da sank sie, alleingelassen, inmitten der Stube auf die Kniee und rief laut: »Was fang ich nur an! wovon sollen wir leben, wenn ich von meinen Dienstplätzen wegbleibe? Herr! erbarme dich unser! erhalt mir das Kind! es ist mein einziges Glück auf dieser Welt!«
Die schiefwandige Giebelstube hatte nach außen eine Fensternische, von wo man den ganzen Raum überschauen konnte. – Als die Mutter halbverzweifelt auf den Knieen lag, blickte durch dieses Nischenfensterlein das Staserl, denn es war in seiner Herzensangst dem Doktor nachgeschlichen und hatte von ihrem Standpunkte aus nicht nur alles mit angesehen, sondern auch angehört.
Nun öffnete sich leise die Thüre und neben der Knieenden stand das Staserl. Sie sagte mit einer weichen, barmherzigen Stimme: »Frau Kellnerin! – ich will den Franzl schon pflegen; meine Schul dauert ja vormittags nur zwei Stunden und nachmittags auch nur zwei; Mittwoch, Samstag und Sonntag hab ich ganz frei. – Die kurze Zeit können wir den Franzl schon allein lassen, – oder meine Mutter schaut ab und zu nach ihm.«
Die Arme blickte zu dem Mädchen auf, als ob der Weihnachtsengel selber in diese Krankenstube eingetreten sei. Sie erhob sich von ihren Knieen und während das Staserl bereits am Bette saß und Franzls fiebernde Hand in der ihren hielt, – ging die Frau zum einzigen Schrank, nahm die versteckte irdene Sparbüchse, worin sie ihr Biergeld von großen Waschtagen her als Notpfennig aufbewahrte, zerschlug sie und trug ein Stück nach dem andern opferwillig in die Apotheke.
Von diesem Tage an teilten sich die Hausgenossen in Franzls Pflege. Das Staserl aber betrachtete sich als die eigentliche Krankenwärterin, und wenn sie kam, wurde ihr augenblicklich Platz gemacht. – Anfangs schlief der Kranke immerfort und bedurfte fast gar nichts; als er aber wieder die Augen aufschlug, ruhten seine Blicke verwundert lange, lange auf dem Staserl, und der Mund verzog sich zu einem Lächeln. Jetzt streckte er das abgemagerte Aermchen aus und ließ seine Hand in Staserls Händen ruhen, dann schloß er die Augen wieder und atmete regelmäßig im tiefen Genesungsschlummer.
Doch mit der Genesung ging es langsam vorwärts, und nun wurde die Pflege weit schwieriger, besonders das Alleinlassen. Da beugte sich das Mädchen eines Tages zu dem Kranken und flüsterte: »Du Franzl, weißt schon? in vierzehn Tagen kommt das Christkind!« – Franz schaute drein, als ob er sie nicht verstehe, dann schüttelte er den Kopf und antwortete: »Zu mir nicht!« – »Warum nicht zu dir, Franz? es kommt ja zu allen Menschen« – entgegnete das Mädchen etwas verwirrt, weil sie nicht wußte, was sie nun sagen sollte. Franz aber erklärte: »Ja, in der Kirche kommt's zu allen Menschen; aber ich kann nicht hineingehen; sonst kommt's nur zu den reichen Leuten; bei mir ist's noch mein lebtag nicht gewesen. – Die Buben haben freilich gesagt, es komme auch zu uns armen Kindern in die Schul; aber ich kann ja nicht hineingehen.«
Inzwischen hatte das kluge Staserl sich besonnen, was sie sagen sollte, um ihren Zweck zu erreichen; sie schlang ihren Arm um Franzels Nacken und flüsterte: »Horch auf! dies Jahr kommt's aber zu dir, weil du krank bist. Es schickt Seine Engel voraus, damit sie ausforschen, ob du's auch verdienst, ob du, allein gelassen, im Bett bleibst und alles befolgst, was man dir sagt. – Wenn du ein Geräusch hörst, dann brauchst du dich nicht zu fürchten, Franzl, es sind die Weihnachtsengel.«
»Ist's aber auch gewiß wahr, Staserl?« frug der Knabe, und seine großen Augen hefteten sich prüfend auf das Mädchen. Sie legte stumm zur Bejahung die Hand auf die Brust und betete im stillen: »Mach's wahr, liebes Christkind!« – Da glänzten die Augen des Kranken in seliger Weihnachtshoffnung. Von dieser Stunde an konnte sie ihn unbesorgt allein lassen mit seinem frommen Glauben. So oft sie jedoch kam, fragte er nach dem Weihnachtsengel, und sie erzählte ihm nun von der heiligen Nacht, von den Hirten auf dem Felde, dem Gloria der Engel. Er lag still da, die Arme über die Brust gefaltet und verlangte die schönen Geschichten stets von neuem zu hören.
Einmal fragte nun das Staserl: »Was möchtest du denn vom Christkind haben, Franzl?« – Der Knabe besann sich nicht, er hatte sich in seiner Einsamkeit lange genug besonnen und sich alles ausgemalt. Nun flüsterte er doch schüchtern, als ob es zu viel wäre: »Weißt, Staserl, ich möchte halt auch einen Christbaum, aber nicht einen leeren, wie drunten auf dem Markte, woran nur im Gipfel drei farbige Papierstreifen sind; ich möchte brennende Lichter darauf und goldne, oder meinethalben auch silberne Nüsse und gute Sachen zwischen den Zweigen, und ich möchte« – jetzt atmete er tief auf, um den geheimen Wunsch aus der Brust zu lassen, eine zarte Röte der Verlegenheit überzog das blasse Gesicht – »ich möchte am liebsten etwas Lebendiges. Dann fürcht ich mich nicht mehr, allein zu bleiben, wenn die Mutter fort ist und auch die Weihnachtsengel wieder fort sind. Staserl, schreib recht schön auf ein Zettelchen: für den Franz etwas Lebendiges – und leg's heut Nacht vors Fenster.«
Staserl war sprachlos. Etwas Lebendiges! Dieser Wunsch überraschte und verblüffte sie gänzlich und warf alle ihre geheimen Pläne über den Haufen. Sie hatte sich auf eine Pelzmütze, Handschuhe, eine Schultasche, Griffel, sogar auf einen Schlitten gefaßt gemacht, – aber etwas Lebendiges! – Sie wurde sehr still und sagte nach einer langen Pause: »Das Christkind wird schon selbst wissen, was für dich am besten taugt, man darf Ihm nichts vorschreiben.« – Franz entgegnete beharrlich: »Wenn's nur etwas Lebendiges ist! und ich will immerfort darum beten.«
An jenem Abend war das Staserl so von Gedanken umsponnen, daß sie förmlich zusammenschrak, so oft die Mutter sie anredete. – Etwas Lebendiges wollte Franzl vom Christkind – und sie hatte ihn so befestigt in seinem Vertrauen; er lag so gehorsam ruhig im Bett, damit die Weihnachtsengel ja recht zufrieden mit ihm sein konnten. Ihr kleines Herz erzitterte bei dem Gedanken, daß sein Glaube an die Erfüllung dieses Gebetes: » Liebes Jesulein, beschere mir etwas Lebendiges!« zerstört werden könnte. – Für den Christbaum und alles drum und dran hatte sie bereits Rat geschafft. Sie wollte von einer Marktbude zur andern laufen, und da, wo Franzl zu sitzen pflegte, würde man ihr gewiß etwas für den kranken Knaben schenken. Aepfel, Nüsse, kleine Lebkuchen, Moos, vielleicht einige weiße, hölzerne Schäflein, wer weiß, vielleicht sogar einen Engel mit Flügeln von Rauschgold. Sie sah in Gedanken ihre Schürze so gefüllt, daß von Schwere die Zipfel in ihrer Hand nachzugeben drohten. Vielleicht würden Sachen zum Verkaufen darunter sein, und sie könnte aus dem Erlös einen Schlitten anschaffen, um Franzl in die Schule zu fahren, denn gewiß wird er lange Zeit schwach und müd bleiben, und in der Schule wäre es doch für ihn viel lustiger, als so langweilig daheim. – Aber – etwas Lebendges, das man auch noch füttern muß! und Franzl wurde selbst gar niemals ganz satt, wie er mit den Worten oft geklagt hatte: »Wenn es nur einmal so viel wäre, bis ich nichts mehr möcht!«
Sie ging in Gedanken alles Lebendige durch. Zuerst dachte sie natürlich an einen Hund. Aber woher einen schönen und noch dazu einen jungen, den man noch abrichten kann, bekommen? und das Füttern! das Füttern! – Eine Katze? ja, ein junges Kätzchen wär leicht zu haben. Aber es ist nur etwas Lustiges damit, so lang sie klein sind und spielen. Nach einem Jahr ist's aus, und sie laufen fort über die Dächer und sind kein bißchen anhänglich an den Menschen. – Ein Huhn? das könnte sie von der Griesbäuerin, die den Franzl sehr gern hat, schon erhalten. Sie mußte jedoch vor sich hinkichern, wenn sie das dumme Huhn in Franzens Stube herumtrippeln sah. – Halt! wie wär eine Taube? – sie fliegt auch fort und in einen Käfig kann man sie doch nicht thun. – Ich hab's! einen Vogel und einen Käfig aus wunderschönem Draht dazu! Ein goldgelbes Kanarienvögelchen, das leicht zu füttern ist, singt, trillert und abgerichtet werden kann.
Jetzt atmete Staserl erleichtert auf! Hatte sie nur erst den Gedanken, Vogel und Käfig würden schon nachkommen. – In der folgenden Nacht träumte ihr von einem großen Walde und einem goldgelben Vogel, der lieblich sang, – von Zweig zu Zweig flog und dem sie nachkletterte. – Husch war er fort und dort, zwischen den Aesten, lauerte eine Katze mit grünen Augen, sie hieb mit der Pfote nach dem Vogel – am Baumstamm bellte ein Hund, sie erschrak und fiel mit lautem Schrei herunter; da lag sie auch wirklich auf dem Boden und die Mutter sagte: »Was ist denn heut mit dir, Staserl? Mach voran, es ist Zeit, wenn du noch zu Franzl und rechtzeitig in die Schul kommen willst.«
Auf dem Schulwege mußte Staserl immer denken, wie sie nur zu einem Karnarienvogel und Käfig gelangen könnte? – Sogar ans Betteln dachte sie; aber sie schüttelte sich davor; am liebsten hätte sie das Geld verdient, das wäre eine stolze Freude gewesen! Doch auf welche Art? – Botengänge auf dem Markte machen? – sie mußte ja sorgen, heimzukommen, um Franzl abzuwarten. – So zuwider ihr das Stricken war, auch dazu hätte sie sich verstanden; woher nur die Strickwolle nehmen? und – sie wurde rot vor Schrecken – was ein Kanarienvogel und ein Drahtkäfig kostet?
Eben ging sie vor einem Spenglerladen vorüber. Da drinnen hingen Käfige in allen Sorten und Gestalten, wie Sennerhäuschen; rot, grün, gelb, lackiert, sogar wie Gold glänzte ein anderer. – Sie blieb stehen, drückte ihre kleine Stumpfnase ans Fensterglas und begann die Wahl. Da schlug es vom Turm der Heilig-Geist-Kirche dreiviertel – und eilig riß sie sich los.
Am Eck des Schulhauses zunächst dem ersten Eingange standen zwei Knaben in eifrigem Gespräche. Wer kannte den einen nicht von weitem? den Erzschelm, den Necker, den lustigen Felix! Alle Mädchen fürchteten sich vor seinem Schabernack und wurden nicht ruhig, bis er aus ihrem Gesichtskreise war; alle Buben standen unter seiner Herrschaft, er war ihr Räuberhauptmann, ihr Karl Moor; auch so vornehm, über sie alle hinausragend, kein junger Graf, der Sohn eines reichen Bankiers; nur den dummen, gemeinen, boshaften Schlingeln war er der Erzfeind.
Da stand er, mit der Pelzmütze auf dem vollen, blonden Haar, das runde frische Gesicht dem aufhorchenden Kameraden zugeneigt, das Ränzchen auf der grauen Joppe; da stand er – schlank, fest in seinen hohen Schaftstiefeln und sagte halb flüsternd: »Besinne dich nicht länger! Dir ist heut das Fleißzeichen gewiß! ich habe das meine verscherzt, weißt, weil ich gestern am boshaften Sepp Justiz ausübte. Flüchtete sich der Feigling in die Peterskirch, wohin ich ihm nicht folgen konnte! Aber er soll mir noch einmal der buckligen Lies' eine Nase drehen! – Gib mir das deine, August! bedenk, eine Mark! – und morgen wieder eine, und jeden Tag eine – in meiner Sparkasse liegen sie haufenweise, und jetzt vor Weihnachten teilt der Lehrer ja täglich Fleißzeichen zur Ermunterung aus. – Was thust du damit? Deine Eltern kaufen dir nichts dafür; aber bei mir ist's wie bar Geld für den schönsten aller Rennschlitten auf Weihnachten. Bring ich wieder kein Fleißzeichen heim, macht mein Vater Ernst mit der Drohung.«
Staserl hatte sich an die Wand gedrückt und den Kopf nur bei der Ecke ein wenig vorgeneigt, um zu lauschen. Ihr war kein Wort entgangen; mit laut pochendem Herzen wartete sie auf Augusts Antwort. Sie sah, wie er verneinend den Kopf schüttelte, wieder und wieder, – wie er sich von Felixens Faust losmachte und davonsprang und letzterer mit dem Fuß stampfte. – Da sprang sie vor und sagte: »Bekomm ich eine Mark, wenn ich dir das Fleißzeichen verschaff? und morgen eine? und alle Tage eine?« –
Felix schaute das Mädchen erstaunt an und brach in ein lautes Gelächter aus. »Du? ja, woher willst du's nehmen und nicht stehlen? Denn das sag ich dir, mit einem gestohlnen mag ich nichts zu thun haben, das taugt nun schon gar nicht für Weihnachten!«
» Verdienen will ich's heute noch und dir verkaufen!« sagte Staserl mit einem stolzen Anflug von Rot in ihrem klugen Gesichte. Dann fügte sie bei: »Eigentlich verdienst du's ja auch, wie jedes weiß; bringst dich nur immer mit deinen lustigen Streichen darum. Bekomm ich eine Mark, und alle Tag eine, wenn ich dir's abliefere?« – »Topp!« rief Felix und schlug in die dargebotene Hand. Dann sprang er durchs Thor, Staserl ging zum zweiten und stieg die Treppe zur Schulstube hinauf.
Das Staserl besaß zwar einigen Grund für ihre Zuversicht; es gehörte jedoch viel Keckheit dazu, denn sie hatte noch niemals ein Fleißzeichen besessen. Worauf also baute sie ihr Luftschloß?
Die Lehrerin, Fräulein Benedikt, kannte ihre sämtlichen Schulkinder aus dem Fundamente und liebte sie wahrhaft mütterlich. Das Staserl hatte es ihr nun besonders angethan mit dem runden, frischen Gesichte, den klugen, verständigen Augen, dem hellen Lachen, das gleich dem Quell unaufhaltsam hervorbrach, sobald eine komische Antwort erklang, oder etwas Lustiges sich in den Unterricht mischte. – Oft hatte die Lehrerin zu ihr gesagt: »Staserl, wenn du nur möchtest, wenn du deine Gedanken nur ein wenig beisammen behieltest und nicht mit zwanzig versteckten Ohren, sondern mit zwei aufhorchtest, – du könntest in der ersten statt vierten Bank sitzen. Staserl, versuch's einmal! Vielleicht schmeckt dir's dann!« – und wie zur Lockspeise hielt sie dem Mädchen das blinkende Fleißzeichen vor die Augen.
Staserl hatte gar kein Verlangen nach der ersten Bank und fand es, ein wenig versteckt von den vordern Reihen, weit bequemer und lustiger. Wozu auch brauchte sie ein Fleißzeichen? für sie war's nur ein farbiges Blättchen, – kein Mensch, nicht einmal ihre Mutter fragte danach.
Nun freilich war's plötzlich anders geworden. Mit einem halben Dutzend solcher farbiger Blättchen konnte sie für ihren kranken Franzl den Weihnachtsengel spielen. » Versuch's einmal!« klang es beständig vor ihren Ohren, während sie eilig die breite Treppe emporstieg, um noch vor dem Schulgebet zu kommen, denn sie wollte auch ums Gelingen zum Christkind beten.
Als ob sie sich bei der Lehrerin bemerklich machen wollte, schritt sie zum Pulte vor, wo dieselbe saß, hob ein herabgefallenes Heft vom Boden und küßte dann leise die auf dem Pulte ruhende Hand. Die Lehrerin lächelte milde, und der Blick folgte liebevoll dem Kinde bis zum Platze. – Mit zum Himmel gerichteten Augen und gefalteten Händen verrichtete heute das Staserl sein Gebet und flehte: »Heiliges Jesulein, verhilf mir zum Fleißzeichen!«
Nun wuchs bereits Staserls Mut, und sie setzte sich mit Ernst und Eifer zur Arbeit, nahm das Buch aus der Schultasche, legte es vor sich und die beiden Hände daneben, während ihre Augen von den Lippen der Lehrerin die Seitenzahl, noch bevor sie ausgesprochen war, abzulesen versuchte. Kaum gesagt, war das Buch aufgeschlagen, und schon streckte sich der Zeigefinger über alle andern in die Höhe mit der stillen Bitte, beginnen zu dürfen. – Ja, sie erreichte es – und nun klang jeder Buchstabe deutlich von ihren Lippen, keiner wurde verschleudert, langsam, mit richtiger Betonung las sie den kurzen Abschnitt. » Gut, gut!« sagte die Lehrerin, und ein wohlgefälliger Blick begegnete Staserls Augen. Errötend vor Glück setzte sie sich und folgte mit ihrem Fingerchen jeder Zeile, ohne sich von den Nebensitzenden, wie ehedem, stören zu lassen.
Nach dem Lesen folgte das Examinieren des Gelesenen, und wieder bat ihr aufgehobener Finger so eindringlich, daß die Lehrerin diese überraschend günstige Wendung unterstützte und dem Mädchen Gelegenheit gab, ihr Verständnis des Gelesenen zu beweisen.
Hierauf kam die Naturgeschichte an die Reihe. Fräulein Benedikt gab eine Beschreibung des Schwimmkäfers. Staserl bannte ihre Augen gleichsam auf jedes Wort, als ob der Schwimmkäfer darauf säße, und so hatte sie ihn Glied für Glied in ihrem Kopfe, und wieder that sie es allen andern in Klarheit und Deutlichkeit zuvor, als das Vorgetragene überhört wurde.
Staserl war nur froh, daß nicht »Schönschreiben« auf dem Stundenplan stand; denn mit gespannter Aufmerksamkeit vermochte sie wohl das Versäumte zuzudecken, aber versäumte Schreibübung ließ eben die Ungeschicklichkeit zurück. – Beim Schlusse der Schule nahm Fräulein Benedikt ein Fleißzeichen aus dem Kästchen, sah nachdenklich vor sich hin, während Staserls Herz pochte und ihr Atem anhielt, – aber das Papierchen fiel wieder ins Kästchen zurück, nur ein ermunternder Blick streifte das errötende Kind. Das kluge Mädchen hatte dennoch alles verstanden und nach der kurzen Täuschung erwachte von neuem der Mut. Mit heiterm Blicke schritt sie in der Reihe die Treppe hinab und fühlte einen Augenblick der Lehrerin Hand auf ihrem Haupte.
Unten angekommen, wartete Felix bereits an der Ecke des Schulhauses und sprang hervor mit den Worten des Räuberhauptmanns: »Her damit!« – Das Staserl schüttelte den Kopf; er stampfte ärgerlich mit dem Fuße und murmelte: »Ich hab mir's ja gedacht!« – Mit verächtlichem Blicke wollte er davongehen, doch die Kleine hielt ihn fest und sagte mit stolzer Gewißheit: »Heute nachmittag um vier Uhr hast du so gewiß das Fleißzeichen, als ich die Mark.« – Dann lief sie spornstreichs fort zu ihrem Franzl. Es wogte so fröhlich in ihrem Herzen, sie wußte selbst nicht warum? hatte sie doch nicht das Mindeste errungen! Ihr war's nur, als fühle sie immer noch die Hand der Lehrerin auf dem Haupte, gleichwie ein Segen strömte es hierein in die junge Seele, und sie freute sich heute zum allererstenmale auf die Schule. Sie studierte den Stundenplan, welchen sie nie zuvor eines Blickes gewürdigt hatte und fand mit erhöhtem Mute das Rechnen und die Biblische Geschichte darauf. Ersteres war ihr angebornes Talent; biblische Geschichten hatte sie jetzt dem Franzl in einemfort erzählt und vorgelesen.
Wohl eine halbe Stunde früher als sonst machte sich nachmittags unser Staserl auf den Weg, um im Vorbeigehen wieder einen Blick auf die Vogelkäfige zu werfen; sie entsann sich auch, daß in der Blumenstraße ebenfalls ein Spenglerladen sei; am liebsten wäre sie durch die ganze Stadt von einem Spenglerladen zum andern gelaufen. Obgleich sie an der Besichtigung Freude hatte, ließ ein innerer Trieb ihr keine Ruh, und so saß sie zu allererst in der Schulbank, was aufs neue Fräulein Benedikts Erstaunen erregte, und weshalb ihr forschender Blick auf dem Mädchen ruhte. Sie begann die Rechenstunde mit den Worten: »Wir wollen eine Wiederholung vornehmen« – und Staserls Wangen blühten auf, wie zwei Klatschrosen. So wurde es ihr möglich, sich am Wettkampf zu beteiligen und nur selten auf dem neuen Wege zu stolpern. Eilig flogen ihr die Minuten, welche ihr sonst so lang erschienen waren, davon; es kam ihr wie eine Unterhaltung vor; sie selbst fuhr mit dem Finger immer auf und nieder, immer, immer hatte sie das Richtige getroffen.
Beim Schluß der Schule hielt Fräulein Benedikt ordentlich eine Anrede und sagte darin, wie sehr es sie freue, wenn bisher lässige Kinder eine Anstrengung zum Fleiße machten, wie das Staserl heute gethan; dafür bekomme sie nun ein Belobungszeichen » zur Aufmunterung«. Mit diesen Worten reichte sie dem von freudiger Erregung erglühenden Mädchen das goldschimmernde Bildchen. – Zu allen Kindern gewendet, fuhr die Lehrerin fort: »Und damit andere es ihr nachthun zur Zeit, wo die Weihnachtsengel den guten Willen preisen, will ich bis dahin alle Tage sechs solche Bildchen als Preise aussetzen für diejenigen, welche bisher keine erhalten haben. Ihr andern da in den ersten Reihen kommt dabei nicht zu kurz.«
Das Staserl fühlte sich, mit dem Aufmunterungsbildchen in der Hand, wie verzückt und hatte den Zweck ganz vergessen. Erst als Felix ihr an der Ecke auflauerte und flüsterte: » Hast du's?« und sie entgegenflüsterte: » Da!« – und dann die Mark in ihrer Hand lag – erst da fiel ihr wieder Franzl ein und der Vogel mit seinem Käfig. Es that ihr kein bischen leid, das Bildchen herzugeben; sie hatte in ihrem Herzen solch goldigen Freudenschimmer, der alles weit überstrahlte; nein, es war nicht das Geldstück, es war die Schulfreude! Dann flüsterte sie noch: »Wart jeden Nachmittag auf mich!« – und beide eilten nach verschiedenen Seiten von dannen.
Fünf Tage waren auf diese Weise verflossen, immer fröhlicher glänzte Staserls Gesicht; es war ihr selbst ganz wunderlich, als ob die Thüre eines verschlossenen Kämmerchens in ihrem Gehirne aufgesprungen sei und bunt durcheinander Zahlen und Buchstaben, Blumen, Käfer und fremde Menschen aus- und einmarschierten. – Und all die Geschichten trug sie heim und kramte ihr Wissen vor dem lauschenden Franzl aus. Wenn sie es erzählt hatte, wurde es ihr noch klarer als zuvor, es wurde niet- und nagelfest in ihrem jungen Gehirn. So konnte es nicht fehlen, daß sie jeden Tag sicher ihr Fleißzeichen bekam. Das Mädchen blickte kaum darauf, es hatte für sie nur Wert des Geldes halber; das Lernen ging ihr über alles, das war ihre Freude, ihr Stolz.
Inzwischen machte sich's Felix in der Schule immer bequemer. Da er seines Fleißzeichens ohne eigne Anstrengung sicher war, flogen die lustigen Gedanken ungefesselt umher und nur mit genauer Not entschlüpfte er den Arreststrafen.
Am sechsten Tage nach Staserls Umwandlung schien die Wintersonne so hell und warm, daß Fräulein Benedikt das dicke Tuch um sich schlang und nach Schluß der Schule ihre Kinder selbst an Stelle der Hilfslehrerin zur Pforte begleite. Eine Weile blieb sie dort stehen und schaute der lustigen Schar, deren Bewegungen und Zungen plötzlich entfesselt waren, liebevoll nach. Als ihr Blick sich nach rechts wandte, gewahrte sie an der Ecke das Staserl und den Felix, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Sie sah das farbenglänzende Fleißzeichen aus des Mädchens Fingern in die ausgestreckten des Knaben übergehen, und zu gleicher Zeit entfiel ihnen ein glänzendes Silberstück, nach welchem Staserl sich hurtig bückte. Dann zog sie ein Beutelchen hervor, schüttelte den Inhalt in ihre Hand und zählte triumphierend die Stücke.
Plötzlich fuhr sie zusammen, denn auf ihrem Arme lag die Hand der Lehrerin. Felix wollte Reißaus nehmen, aber wie fest gebannt blieb er vor dem tiefen, ernsten Blicke und dem leisen Worte: »Folgt mir beide!«
Die Lehrerin wandte sich dem Schulthore zu und schaute nicht um; sie wußte, daß die Kinder ihr folgten.
So erreichte sie das Schulzimmer, dessen Thüre sie für die Nachfolgenden offen ließ. Sie setzte sich auf den erhöhten Stuhl, stützte das Haupt mit dem Arme, in tiefe Gedanken und in Traurigkeit versunken; trotz ihrer Kenntnis der Kinderherzen befand sie sich vor einem Rätsel.
Da kam aus der Brust des Knaben ein solch tiefer, banger Atemzug, daß sie das Haupt erhob und die Kinder prüfend anschaute. Hier standen sie wie zwei Sünder vor dem Richterstuhle, gesenkten Blickes, das Mädchen mit dem Weinen kämpfend, der Knabe mit trotziger Miene, das Fleißzeichen zwischen den Fingern.
Lange ruhten der Lehrerin Blicke auf den beiden. Diese schweigende Sprache drang durchforschend in ihre Seelen. Der Knabe hielt den Atem an, das Staserl jedoch fiel auf die Kniee, erhob beide Hände als wollte sie flehen: »Um Gotteswillen, nur nicht so schweigen, nur ein Wort!« – Endlich brach aus ihrer gepreßten Brust das Schluchzen – und dazwischen die Beteuerung: »Ich hab gewiß nichts Böses gewollt! – Es ist nur für den kranken Franzl! – Er betet auf mein Geheiß zum Christkind, daß Es ihm was bringt, und der Felix zahlt mir das Fleißzeichen, um – um« –
Das Staserl hielt inne; die Lehrerin hatte trotz der dürftigen Auskunft alles verstanden; es zog ein Weihnachtsglanz über ihren Blick, aber sie sagte in ernstem, fast strengem Tone:
»Und du möchtest mit dem Gelde einen Weihnachtsengel spielen? – Erzähle alles!« –
Wer den Zusammenhang ebenfalls verstanden hatte, – war Felix, der bisher so unbekümmert um Staserls Handlungsweise gewesen war. Vergessend, daß er ein Angeklagter sei, trat er aufhorchend an Staserls Seite, las ihr die Worte von den Lippen ab, jede Angst und Beklommenheit war von ihm gewichen, sein wackeres Knabenherz pochte in froher Erwartung der schönen Erzählung.
Und nun berichtete das Mädchen alles vom Beginn der Erkrankung ihres kleinen Pfleglings, bis zum gegenwärtigen Augenblicke. Zum Schlusse zog sie ihr Beutelchen hervor, schüttelte den Inhalt auf ihre Hand, streckte sie gegen ihre Lehrerin aus und rief: »Es reicht schon fürs Lebendige! aber der Käfig!«
Felix vermochte nicht mehr zu schweigen; er rief: »Den Vogel und den Käfig schaff ich herbei! und wenn ich's meiner Nelly sage, dann putzt sie den Christbaum! und erst die Mutter!« –
Doch wie eine dunkle Wolke zog es über seinen Freudenhimmel vom strengen Antlitz der Lehrerin her und sie sprach: »Und ihr glaubt – das Christkind lasse sich mit zwei Betrügern ein? – Ja, erbleicht nur und zittert! nichts Besseres seid ihr – sogar noch etwas Schlimmeres!«
Beide Kinder erblaßten in der That, und der Schrecken malte sich deutlich genug in deren Augen, welche in furchtsamer Erwartung an die Lippen der Lehrerin geheftet waren. Diese sagte:
»Du, Staserl, hast fortwährend den Felix zum Betruge ermuntert, ihm geholfen, seine guten, freigebigen Eltern zu belügen; du hast aber auch seine Nachlässigkeit unterstützt; ja, frag ihn, ob er nicht seitdem noch unaufmerksamer in der Schule war; ich werde gleichfalls seinen Lehrer fragen. – Und mit solch sündhaft erworbenem Gute wolltest du ›Christkind‹ spielen? – O Staserl!« –
Da rollten alle Silberstücke aus des Mädchens Hand zum Boden nieder, und sie bückte sich nicht danach.
Jetzt wandte sich Fräulein Benedikt zu dem Knaben und sagte mit noch strengerem Tone: »Und du, Felix, warst ein Betrüger, Lügner und nicht viel besser als ein Dieb. Deinen liebevollen, vertrauenden Eltern hast du den unverdienten Lohn abgeschwindelt, du hast sie mit kecker, frecher Stirne belogen und um das bestohlen, was dir nicht im mindesten zukommt. Ja, zerknittere nur das Fleißzeichen zwischen den Fingern! es ist in deiner Hand nichts, gar nichts wert.«
Da brach aus des Knaben Brust ein herzzerreißender Ton hervor; beide Kinder lagen nebeneinander auf den Knieen und hoben die Hände empor, wie um Erlösung flehend.
Fräulein Benedikt hatte in ihrer Herzenskunde nur mühsam den strengen Ton eingehalten; jetzt streckte sie jedem eine Hand entgegen, richtete sie auf, zog sie mütterlich an ihre Seite und sagte: »Ich seh's ja, ihr habt nicht mit Ueberlegung gehandelt, ihr seid zur Einsicht gekommen, ihr seid reuige Kinder, und ihr wollt es wieder gut machen, nicht wahr?«
In Felixens Augen schimmerte es von Begeisterung, indem er rief: »Ich will zu meinem Vater gehen und wenn er auch noch so streng ist, alles bekennen! Ich will auf jede Weihnachtsbescherung verzichten!«
In Staserls Blicken lag bei aller Erkenntnis doch eine Trauerwolke, als sie fragte: »Aber was soll ich thun? Muß ich das Geld wieder zurückgeben? Der Franzl hat immerfort um etwas Lebendiges gebetet!«
Die Lehrerin fühlte Erbarmen mit dem Kinde; doch Staserl mußte ihre Strafe tragen – wie jeder Mensch die seine. Indem sie die Geldstücke sammelte und dieselben ins Beutelchen schob, sagte sie: »Ja, Staserl, du mußt es Felix zurückgeben zum Austausch gegen die Fleißzeichen; das muß sein, da hilft nichts! – Aber meinst du denn, Staserl, daß der liebe Heiland nicht ohne dich Franzls Gebet erhören könne? – Ueberlaß dies getrost dem Christkind. – Ihr beiden thut sofort, was recht ist.«
Sie küßten Fräulein Benedikt still ergeben die dargebotenen Hände und gingen Seite an Seite aus der Schulstube, die breite Treppe hinab, schweigend immer weiter und weiter bis zum Elternhause des Knaben.
Als die Kinder sich dem stattlichen Hause näherten, wurden des Knaben Schritte immer zaghafter und langsamer. Bisher hatte er keine Silbe gesprochen; jetzt hielt er das Staserl am Kleide fest und sagte: »Wart nur ein wenig; ich muß erst Atem schöpfen. Was soll ich nur anfangen?« – Er heftete seine Blicke auf die Turmuhr der Frauenkirche und murmelte vor sich hin: »Gleich zwölf Uhr! Um diese Zeit ist der Vater beim zweiten Frühstück – und die Mutter auch!« – Fast erleichtert vom Gedanken solchen Beisammenseins wollte er vorwärts stürmen – wie ein Verzweifelnder ins Schlachtgewühl; jetzt aber hielt ihn das Staserl zurück und fragte mit bebender Stimme: »Was soll ich dabei thun? Ach, Felix, muß ich denn mit hinaufgehen? kann ich nicht unten warten?« – Der Knabe antwortete hastig: »Es hilft nichts, du mußt mit in die Stube hinein! du mußt ja das Geld zurückerstatten; bleib nur an der Thüre stehen.«
Mit einem raschen Anlauf eilte nun Felix durch das Hausthor, die breite Treppe hinauf, daß seine Begleiterin ihm kaum folgen konnte; sie war etwas ermutigt durch ihre Stellung zunächst der Thüre und der Möglichkeit des Entschlüpfens. Felix riß so heftig an der Glocke, daß der öffnende Bediente einen Bettler vermutete – bekanntlich läuten diese am kecksten – und eben schelten wollte; doch Nelly stand bereits daneben und rief: »O Felix, wo bleibst du so lange über die Schulzeit? Mama hat Angst und Papa ist schon ärgerlich; er geht mit großen Schritten im Eßzimmer auf und nieder.«
»Ist Mama auch dort?« fragte der Knabe mit ängstlichem Blicke. Als Nelly es bejahte und das Staserl in der Meinung, daß sie zur Köchin wolle, seitwärts wies, flüsterte der Bruder: »Sie muß mit mir! O Nelly, steh mir bei!«
In Angst und Verwirrung ergriff Nelly Staserls Hand und zog die etwas Widerstrebende mit fort. Die Mutter mochte bereits die Kinderstimmen erlauscht haben, denn sie öffnete die Zimmerthüre und schaute ihnen forschend entgegen. Es war solch liebes, feines, sanftes Muttergesicht, daß von ihm ein heller Ermutigungsstrahl auf die Kinder fiel. – Das Staserl blieb der Weisung nach dicht an der Thüre stehen; Felix trat in seinen hohen Stiefeln fest auf und näherte sich dem Vater, der, die Hand auf den Tisch gestützt, ihm finster entgegensah. Im vollen braunen Haare lagen schon Silberfäden, die Stirne trug Sorgenlinien und die Spuren durcharbeiteter Nächte, die Augen sahen tief und forschend unter den dichten Brauen hervor, die feinen, bartlosen Lippen waren fest geschlossen und öffneten sich nun zu der bündigen Frage: »Hast du wieder Unfug getrieben? Bekenne!«
»Ja, Papa!«
Einen Moment sah der Vater den Knaben sprachlos an; die Mutter war, zum Tode erschrocken, neben ihn getreten. Dieses ungewohnte Eingeständnis ließ sie das Aergste vermuten. Nun fragte der Vater: »Was hast du gethan? Sag es ohne Umschweif, kurz und bündig!«
Und Felix sagte: »Papa, ich habe Euch seit einer Woche belogen und betrogen!«
»Um Gotteswillen! was hast du gethan?« rief in höchster Seelenangst die Mutter.
»Ich habe die überreichten Fleißzeichen nicht selbst verdient, sondern sie dem Staserl dort abgekauft.«
Tiefes Schweigen herrschte. Da schritt das Staserl hervor, streckte die Hand mit dem Gelde aus und sagte: »Da ist es wieder.«
Der Vater starrte darauf, nahm es jedoch nicht. Doch die Mutter nahm es aus der kleinen Hand und schaute dabei forschend in das liebe, offene Kindergesicht.
Nun blitzten des Vaters Augen vernichtende Zornesstrahlen, und er rief: »In solch jungen Jahren schon ein Lügner und Betrüger! und weshalb?«
»Damit ich zum Christkind den großen Rennschlitten bekomme.«
»Immer besser! immer schlechter sollte ich sagen!« rief der Vater in steigender Erregung. »Zuerst Trägheit, dann Genußsucht –und, um sie zu befriedigen, schließlich Lug und Trug – das ist in kurzen Zügen der Anfang aller Verbrecher – da sieh dein Ende, Knabe! – Und das mein Sohn! mein einziger Sohn – der vom Beispiele seines Vaters wahrlich hätte Arbeit, Entsagung, Ehrlichkeit lernen sollen! Aus meinen Augen! entarteter Knabe!«
In heftigster Erregung wollte sich der Vater zur Seitenthüre wenden, als ihm das Staserl näher trat und mit süßer, schmeichelnder Stimme sagte:
»Gnädiger Herr! ich bin mehr schuld, als der Felix, weil ich das Geld für den armen, kranken Franzl von ihm wollte.«
Die zarte, flehende Mädchenstimme und das Wort »für den armen, kranken Franzl« brach wie ein Sonnenstrahl durch dichtes Gewölke. Der Arm seiner Gattin hielt den Erzürnten fest, – Nelly schlang den ihrigen um des Bruders Nacken, – Felix stand unbeweglich und ließ alles über sich ergehen. Alle fühlten, hier walte ein Geheimnis – hier leuchte noch einige Hoffnung. Die Mutter sprach: »Rede nun, mein Mädchen – berichte alles – Schlimmes – und was etwa Gutes dabei ist.«
Da erzählte das Staserl alles bis zum letzten Wort der Lehrerin. Sie betonte am meisten ihre Begehrlichkeit nach dem Gelde, daß Felix beinahe als ein Verleiteter und weit unschuldiger erschien, als sie selbst – und immer milder wurde der mütterliche Ausdruck, immer zärtlicher schlangen sich Nellys Arme um des Bruders Hals, immer glatter wurde des Vaters gefurchte Stirne. – Jetzt erhob Felix zum erstenmal den Blick, das Auge des Vaters begegnete ihm. Da strömte das ganze selige Kindervertrauen hervor und er rief:
»O Papa, ich will mir's zur Lehre sein lassen! ich will arbeiten wie du! Ich will solch ein braver, ehrlicher Mann werden, wie du! Glaub mir's doch! glaub mir's jetzt, vor Weihnachten! Verzeih mir! ich will, ich muß ganz anders werden!«
Da neigte sich der so strenge Mann gerührt, küßte seinen Knaben, und eine schwere Thräne mischte sich in die vielen leichten Kinderzähren. Dann wandte er sich zur Thüre und sagte: »Macht das übrige mit Mama aus.«
Der Sieg war errungen. Was jetzt folgt – erlauschten die Weihnachtsengel und trugen es empor zum Christkinde.
Nur noch eine Woche lang hatten die Weihnachtsengel zu thun, und wenn sie im Schulhaus der Frauenstraße Umschau hielten, konnten sie ihre helllichte Freude haben. Es zog von Felix und Staserl eine fröhliche Lernlust aus und wirkte geradezu ansteckend. Felix war wie umgewandelt. All seine herzgewinnende Lebendigkeit galt nur noch der Schule. Als auf dem Heimweg nach der erwähnten Szene ihn seine Kameraden wie ehedem mit sich fortziehen wollten, stand er in ihrer Mitte wie ein Feldherr und rief: »Damit ist's aus, für ein- und allemal! Ich hab's meinem Vater versprochen, daß ich jetzt mit dem Lernen Ernst mache; und ich halt mein Versprechen! – Wer mich aber verleiten will – der bekommt von mir seinen Denkzettel! – Buben, steht alle zu mir! wir wollen darauf los lernen! Hurrah!« – Die meisten stimmten ein, nur etwelche Schlingel gingen spottend und lachend ihrer Wege.
Der Lehrer vermochte anfangs aus Felix nicht klug zu werden, bis Fräulein Benedikt ihm Aufschluß erteilte. Nun unterstützte er des Knaben Vorsatz auf alle Weise. Er besann sich wegen des Fleißzeichens und beobachtete ihn beim Austeilen derselben. Felix schaute in sein Buch, als ob es ihn nicht im geringsten anginge. Der Lehrer dachte: »Recht hat er! es geht ihn noch nichts an; er muß zuvor die Probe bestehen.« – Dem Knaben war es Ernst mit dieser Verzichtleistung. Noch fühlte er sich keines Lohnes würdig; er fand die Ermunterung im eignen Herzen und im vertrauenden Blick der Eltern. Sie erkannten ohne Fleißzeichen an dessen verändertem Wesen, daß es gut mit ihm stehe, daß er auf bestem Wege sei.
Ganz anders verhielt es sich mit Staserl, das ebenfalls im Lerneifer nicht nachließ. Als ihr die Lehrerin wie gewöhnlich das Fleißzeichen gab, glänzte es wundersam vor des Kindes Augen, und doch war es wie die früheren. Nunmehr erschien es eins mit dem Lernen, ihr Eigentum, ihre Errungenschaft, ihr Ehrenzeichen: – kein Kaufschilling mehr! Sie legte es wie ein Heiligtum zwischen die Buchblätter und preßte das Buch ans Herz. Zu Hause zeigte sie es im Triumphe Mutter und Franzl und verhieß ihm die gleichen Blättchen, wenn er recht fleißig sei. Das Kind wollte damit sogleich den Anfang machen, er durfte ja nunmehr einige Stunden außer Bette sein. Staserl setzte sich zu ihm als Lehrerin und ahmte Fräulein Benedikt haarscharf nach, – damit Franzl das während der Krankheit Versäumte einhole.
Nach wie vor betete der kleine Knabe des Morgens und Abends: »Liebes Jesulein, bescher mir einen aufgeputzten Christbaum mit Lichtern und dazu etwas Lebendiges, Amen.«
Das Staserl flehte dabei innerlich mit wahrem Seelenruf: »O liebes, liebes, liebes Jesulein! erhör Franzls Gebet! Ich hab nichts mehr! Du mußt ihm alles ganz allein geben. Amen.«
Und so war der letzte Tag vor dem heiligen Abende gekommen, die Schule beendet. Doch bevor die Kinder abzogen, war es wirklich, als ob die Legion der Weihnachtsengel sich über alle Schulhäuser und Schulstuben niederließe und mit unsicht- und unhörbarem Flügelschlage die Atmosphäre einweihte.
Lehrer und Lehrerinnen sprachen von dem Gnadenheile, das der Menschheit, besonders aber den Kindern, beim Andenken an die Geburt des Heilandes in der armen Krippe warte. – Alle fühlten die Weihe dieser Stunde, doch von allen fühlten zwei Herzen sie am allermeisten: das waren Staserl und Felix. – Als der Lehrer aus dem Vorrat seiner Fleißzeichen das größte und schönste auswählte und es begleitet mit solch ermunterndem Blicke in des Knaben Hände legte, – und als die Lehrerin der Staserl ebenfalls das schönste gab und so bedeutsam sie dabei anschaute, als wollte sie fragen: »Geht's aber auch so weiter?« – da jubelten die beiden, wie bei einer Weihnachtsbescherung. Hernach kam es noch besser. Felix trat demütig und bescheiden vor seine Eltern und überreichte das Zeugnis seiner Besserung. Sie fragten nicht, ob es verdient oder wieder erkauft sei; – sie sahen die Wahrheit, den Frieden, den guten Willen im vollen Weihnachtsglanze ruhen in ihres lieben Sohnes Gesicht. – Nelly schlang selig die Arme um ihn und rief: »Papa, Mama! nun darf ich aber das Geheimnis verraten? – Dies lange Schweigen hat mir beinah das Herz abgedrückt.«
Beide lächelten zustimmend, – und Felix schaute fragend von dem einen zum andern. – Ein Geheimnis? – Es war ja eben die Zeit der Geheimnisse, aber nur der guten. – Nelly flüsterte ihm ins Ohr: »Wir dürfen jetzt gleich das Staserl herbeiholen und mit ihr alles vorbereiten; denn das Jesulein hat Franzls Gebet erhört: er bekommt einen geputzten Christbaum, etwas Lebendiges und noch allerlei! Still! still! sonst ist's ja kein Geheimnis mehr!«
Strahlend von Seligkeit eilten dann beide fort und holten das Staserl. – Was sie nun thaten und vorbereiteten, wird schon »ans Licht kommen«, wenn die Weihnachtskerzen brennen.
Sei uns gegrüßt, Weihnachtsabend, der jedes Jahr aufs neue die Erde, auf welcher vor so langer Zeit das Kripplein mit dem kleinen Kinde stand, zum Himmel umwandelt; Weihnachtsabend! dessen Minutenzeiger über Millionen von Kinderherzen zieht, die erwartungsvoll pochen; Weihnachtsabend! – voll opferfreudiger Liebe, voll Wunscherfüllung, voll Lust am Kleinsten, das umstrahlt ist vom ewigen Lichte, widerglänzend in unzählbaren Flämmchen des Christbaums. Sei uns gegrüßt, Weihnachtsabend, der die Menschheit bis ins höchste Alter zu Kindern verjüngt, den oft entflohenen Frieden zurückzaubert; Weihnachtsabend, der dem kleinen Krippenkind zu Ehren die Erde beleuchtet, so hell, so in den ärmsten Gassen und Winkeln, wie kein König und Kaiser je empfangen wurde!
Es ist beinahe tageslicht in den Gassen und Straßen – wird's denn dort in dem Häuslein, wo das Staserl aus- und eingeht, nicht endlich auch helle werden? Jetzt brennt erst ein mattes Oellämpchen, die Mutter sitzt beschwichtigend vor Franzls Bett, denn er fragt immer aufs neue, wann das Christkind komme, und dazwischen sagt er zum hundertstenmale sein Gebet. Das Staserl ist heute so unstät, läuft immer wieder fort und lächelt nur auf alle seine bangen Fragen. – Jetzt pocht sein Herz so laut und schnell, wie in den Fiebertagen, denn unten ging die Hausthüre, Flüstern und Geräusch dringt bis herein, durch das schiefe Guckfenster kommt eine Helle, als ob es brenne, Franzl richtet sich im Bette auf, er horcht, seine großen Augen sind auf diesen Feuerschein gerichtet, er streckt den Arm nach der Mutter aus; – auch diese ist ganz erregt, faltet die Hände wie im Gebet, bleibt aber wie festgebannt auf ihrem Stuhle, mit verhaltenem Atem lauschend und harrend.
Endlich öffnet sich die Thüre, – ein Glöckchen ertönt, – Licht strömt ins Gemach – das Staserl trägt einen Christbaum, so hoch und schwer, daß ein größeres Mädchen an ihrer Seite den Stamm halten und stützen muß; es ist ein Christbaum voll bunter, brennender Kerzen, voll silberner und goldener Nüsse, rotbackiger Aepfel, voll farbenreicher Süßigkeiten. Rechts von den beiden steht ein Knabe mit ausgestrecktem Arm; auf seiner Hand sitzt unbeweglich ein goldgelber Vogel; mit der linken trägt der Knabe einen zierlich gearbeiteten Drahtkäfig.
Immer noch starrt Fränzchen mit weitgeöffneten Augen auf die wunderbare Erscheinung; nur das Staserl inmitten der Gruppe ist ihm eine Wirklichkeit. Jetzt schreiten die drei näher zu seinem Bette. Da schlägt der Vogel, verschüchtert durch den Lichtglanz, die Flügel, flattert in der Stube umher, kreist um das Haupt des Kindes und setzt sich ihm gegenüber auf die Vorhangstange am kleinen Fenster. Da löst sich der Bann von Franzls Stimme und er ruft:
»Etwas Lebendiges!«
Nun aber erhebt sich der Christbaum dicht vor seinem Bette; die Tannenzweige berühren sein Köpflein, die schönen Sachen daran neigen sich zu seinen Händen, auf seiner Zudecke steht der Käfig und nun bricht das ganze Quartett des Kinderjubels hervor – eine süße Musik für lauschende Engelscharen und die allersüßeste für das Mutterherz.
Felix erklärt nun, das Vögelchen sei ganz zahm, das eigne abgerichtete Vögelchen seiner Schwester Nelly. Zum Beweis lockt er ihn mit dem Worte: »Hansel!« – gleich fliegt er herab und setzt sich auf des Knaben dichtes Haupthaar, wie in ein Nest. »Greif zu, Franzl, nur keck,« – sagte Felix und wahrhaftig, der Kleine hat ihn. Doch weil seine vor Freude unruhigen Hände noch so vielerlei fassen müssen, thut er den Hansl in das wunderschöne Haus.
Noch ist Christkindleins Bescherung nicht zu Ende. Nelly öffnet den Korb an ihrem Arme und breitet vor Franzl nun einen warmen Anzug, von der Pelzmütze bis zu den Schuhen aus; Felix, der unbemerkt die Stube verlassen hatte, kommt triumphierend mit einem Rennschlitten herein und ruft: »Nach den Feiertagen fährt dich das Staserl zur Schule! hei, gibt das einen Jux!« – Zu Staserl gewendet, flüstert er: »Ich bestellte ihn mir bei Papa statt meines Schlittens, denn ich hätte ihn nicht ohne stete Beschämung ansehen können; weißt du?« – und Staserl nickte verständnisvoll.
Ich kann die Seligkeit, welche nun in Ausrufungen, Lachen, Fragen, Antworten herrschte, nicht beschreiben; ich muß mitjubeln und weiß: alle guten Kinder freuen sich mit uns. – O du lieber Heiland, habe millionenfachen Dank, daß du alle Jahre aufs neue den Erdkreis mit solchem Jubel erfüllst!
Der kleine Franz und seine Mutter sind nun vollauf beschäftigt; denn mit wem könnte auch ein Kind sein Glück und seine Freude besser teilen als mit dem Mutterherzen! – Ohne daß sie es merkten, waren die beiden allein. – Nelly und Felix zogen das Staserl mit sich fort zum Elterhause. So schritten sie durch die taghell erleuchteten Straßen. Als sie in das große Haus traten, mußten sie das schüchterne Mädchen fast gewaltsam mit sich die Treppe hinaufziehen, solch eine ehrfurchtsvolle Scheu brachte die ungewöhnliche Pracht und Helle über sie.
Jetzt ertönte ein wahres Glockenspiel; feierliche Töne drangen durch die weitgeöffnete Thüre und begrüßten die Kinder. Drei ganz gleiche Bäume strahlten ihnen entgegen und mitten im Zimmer stand der Vater, nicht mehr streng und kalt – nein, mit der ganzen, vollen Vaterzärtlichkeit. Er breitete seine Arme und sagte: »Ehre sei Gott in der Höhe! – Friede und Wohlgefallen allen Menschen, die eines guten Willens sind!« Und nun klangen die gleichen Weihnachtsworte, begleitet von den weichen Tönen des Harmoniums, von der Mutter Lippen; dann aber trat sie neben den Vater heran, und beide führten die Kinder zur Bescherung.
Kein Wort deutete auf die vergangenen Schmerzen; die Gaben, welche sich vor Felix und Staserl ausbreiteten, waren jedoch eine verständnisvolle, stumme Sprache. Da lagen Bücher zu unterhaltender Belehrung, Bücher und Landkarten zum ernsten Studium; da lag die lateinische Grammatik, da lagen Bleistift, Zirkel, Farben, Papier; da lagen wunderschöne Stereoskopen mit dem dazu gehörigen Apparate, der die fernsten Gegenden und Kunstschätze plastisch herzaubert; und da lag – eine goldene Taschenuhr – das Zeitmaß! Alles lag da, was die Uebergangsbrücke bildete vom Knaben- zum Jünglingsalter.
Felix verstand diese rührend zarte Mahnung; er stürzte in Thränen aufjauchzend in die Vaterarme und drückte sein erglühendes Gesicht an die Mutterbrust im stummen Gelöbnisse.
Auch für das Staserl lagen unter den nötigen Kleidungsstücken viele schöne, lehrreiche Bücher, auch solche, aus denen sie den kleinen Franz unterrichten konnte und daneben lagen gereiht alle ihre an Felix verkauften Fleißzeichen.
Nelly lief von einem zum andern voll freudiger Teilnahme; sie hatte ihre eigenen Geschenke noch nicht einmal recht besehen. Nun aber zog Felix sie vor den Baum und da stehen sie nun alle in Bewunderung. Plötzlich pfeift es – Nelly horcht und schaut umher; – jetzt wieder – dort in der Ecke hängt ein Vogelkäfig – sie eilt darauf zu. Dann sagt der Vater: »Dein neuer Hansl, – mußt ihn erst zahm machen! aber das ist etwas für euch Mädchen. Habt mir ja auch den Felix so zahm gemacht, ihr beide!«
Am Staserl war allmählich eine Unruhe zu verspüren. Die Freude pochte zu gewaltig in ihrem Herzen, es trieb sie fort zur eignen Mutter und zu Franz, um ihnen die neue, ungewohnte Seligkeit mitzuteilen. Die Frau des Hauses merkte es und sagte: »Nun wollen wir das Staserl gleich in ihren neuen Mantel und ihre Pelzhaube einpacken und per Eilpost heimschicken.«
Das war eine neue Freude: Nelly half ihr in den Mantel, die Mama setzte ihr die Haube aufs Haar und Felix stand vor ihr mit den Handschuhen. – Sie wurde mit dem Dank nicht fertig; man schob sie förmlich weiter, und Felix stopfte ihr noch den Mund mit einer köstlichen Süßigkeit. – Bei ihrer Ankunft zu Hause war auch ihre Mutter im Dachstübchen und hatte dort ein kleines Mahl bereitet. Natürlich begann der Jubel von neuem und das Erzählen wollte kein Ende nehmen. Es nahm kein Ende, bis zum erstenmal die Weihnachtsglocken feierlich durch die stille Nacht läuteten.
Da knieten die beiden Mütter, das Mädchen zwischen ihnen, nieder, und Staserl sprach mit gefalteten Händen das Verslein, welches sie in der Schule gelernt hatte:
Dir, Jesulein, sei Dank und Preis,
Daß Du für uns geboren
Und daß wir sind auf Dein Geheiß
Zum Himmel auserkoren.
Wir nahen mit der Hirtenschar
Und bringen unsre Herzen dar;
Anbetend sie sich neigen,
O, nimm sie ganz zu eigen!
Es zieht von Dir ein Schimmer aus
Und leuchtet durch das Dunkel,
Erhellt das reich' und arme Haus
Mit himmlischem Gefunkel.
Der Gaben reiche, holde Zier
Sind all, o Jesulein! von
Dir,
Denn einzig Dir zu Ehren
Ist solches Festbescheren.
Auch unsre Herzen, Jesulein!
Sind voller Glück und Segen,
Es leuchtet drin der Weihnachtsschein
Und leuchtet Dir entgegen.
O bleib bei uns in Nah und Fern,
Sei unser Licht und Lebensstern,
Daß wir im Dunkel sehen
Und niemals irre gehen.
Der kleine Franz hatte auch seine Hände gefaltet und den Kopf zur Seite geneigt. Aber unter dem Glockengeläute und Staserls Gebet waren seine Augenlider herabgesunken; er murmelte schon halb im Schlafe: »Liebes Jesulein! – ich danke Dir!«
Das ist die Weihnachtsgeschichte von vier glücklichen Kindern. Der Segen blieb bei ihnen durch ihre ganze Jugendzeit, ja, er waltet noch fort und fort und es wäre davon viel Gutes zu erzählen.
Möge dieser Weihnachtssegen allen,
allen Kindern zu teil werden!
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