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Alles kam zu gutem Abschluß, zwar nicht schnell, nicht in Monaten, aber doch in Jahren: der Prozeß wurde gewonnen, die Baronin gelangte in den ungeschmälerten Besitz ihres Vermögens, in den Bezug ihres ansehnlichen Wittums. Sie besah nun Mittel genug, um die Stadtwohnung als Absteigequartier behalten, in Meran überwintern, das Landhaus kaufen, es umbauen, Garten und Park anlegen zu können, wie es bereits oben geschildert wurde.
Und Fränzchen? Nach der Reihe will ich nun berichten, wie es Fränzchen ging.
»Ging?« Das Wort paßt eigentlich nicht, denn Fränzchen ging nicht einen schritt vorwärts. Der rechte Fuß verlor jede Gelenkigkeit, es zeigte sich eine stets zunehmende Anschwellung des Knöchels ohne irgendeine äußere Veranlassung durch Stoß oder Fall. Wieder wurde der Arzt herbeibeschieden, aber das Kind weinte nicht, wie es Kinder gewöhnlich bei Nennung dieses gefürchteten Namens tun; sie hatten ja bereits Freundschaft geschlossen. Fränzchen lächelte ihm entgegen, und als er sich zu seinem Bette niederbeugte, schlang es beide Arme um seinen Nacken, um sich aufzurichten, ohne den schmerzenden Fuß zu bewegen.
Der Fuß wurde gründlich untersucht; es tat weh, aber die Patientin hielt tapfer aus. Jetzt sprach der Arzt: »Was sagst du dazu, Fränzchen, wenn wir mitten im Sommer »Winter spielen« und Eis darauf legen?« - »Ja!« erwiderte es mit seinem kurzen, zustimmenden Tone und Kopfnicken, ertrug die Eisüberschläge mit Heiterkeit und machte seine Späße dazu, indem es zum gesunden Fuß sagte: »Du mußt Haus hüten und darfst nicht mit aufs Eis.«
Aber auch diese Kur half nichts. Nun wurde der Fuß eingewickelt, vergipst; es durfte ihn nicht bewegen, es durfte sich in seinem Bette nicht rühren. Dennoch gingen der Kleinen weder Geduld noch Späße aus. Sie betrachtete den Fuß wie ihre Puppe und redete beständig mit ihm. Eines Tages fragte der Arzt: »Was macht das arme Füßchen?« und sie antwortete: »Es ist ja kein armes Füßchen, man hat es sehr lieb und bedient es wie einen Prinzen.«
Von nun an nannte sie den kranken Fuß ihren »Prinzen« und alle - Doktor, Mama, Gabriele, die Zofe und sie mit eingeschlossen – bekamen Hofämter zugeteilt, wie sie aus einer Märchenerzählung gelernt hatte.
Obwohl sie wieder leicht aufatmete und gleich einer Rose erblühte, obwohl der Fuß weniger schmerzte, konnte sie doch nicht auftreten. Sie verbrachte den ganzen Tag im bequem eingerichteten und durch einen Druck beweglichen Rollstuhle. Auf diese Weise hatte sie das siebente Lebensjahr erreicht, fast nie getrennt von ihrer Mutter. Wer zum Besuche kam, wurde in die große Wohnstube, Fränzchens eigene Welt, geführt. Man glaubte in einem Gewächshause zu sein, wo zwischen Blumen und Gesträuchen Sisi herumflog, unbelästigt vom Hündchen Monkei, das seine Kunststücke bereitwilligst machte. Da gab es allerlei zu sehen: einen Teich von Farnkräutern umsäumt, in welchem Gold- und Silberfische schwammen, einen Park mit Ruhebänkchen für die Puppen, sogar ein zweistöckiges Puppenhaus und noch vielerlei Gegenstände zu Spiel und Gebrauch.
Obwohl also Fränzchen sich in den Lehrjahren der Kindheit befand, hatte der Arzt jede geistige Anstrengung verboten; dennoch lernte es in anderer Weise beständig, wenn Gabriele aus dem Institute nach Hause kam, glänzten ihr Fränzchens Augen fragend entgegen, und es rief: »Erzähle mir etwas von der Schule!« Diese setzte sich dann zum Schwesterchen und wiederholte alles, von Weltgeschichte, Geographie, der Natur und was sie in den Büchern gelesen, wie eifrig mußte Gabriele aufgemerkt haben, wie klar mußte es in ihrem Geiste haften, um es dem Verständnisse des Kindes anzupassen! O, es waren viel schönere Geschichten, als jene, die Gabriele bisweilen vorlas von schlimmen Knaben und Mädchen, über die sich Fränzchen wunderte und betrübte. Aber diese »Märchen« – so nannte das Kind alle Erzählungen von Kaisern, Königen, Rittern und fremden Tieren – die waren sehr schön! Und weil dies alles der kranken, kleinen Schwester so gut gefiel und sie dabei lernte, ohne zu lernen, verdoppelte Gabriele Aufmerksamkeit und Fleiß, und weil sie daheim stets alles wiederholte und auf Fränzchens Bitten immer aufs neue erzählte, haftete es fest in ihrem Geiste, nachdem die anderen Zöglinge es längst vergessen hatten, und Gabriele nahm dadurch in der Schule den ersten Platz ein. Dies kam nur vom »Kleinen Haussegen«.
Aber noch in anderer Weise spürte Gabriele diesen Haussegen an sich. Sie war durch die erwähnten Erfolge ein etwas ehrgeiziges Mädchen geworden und dürstete nach Lob, das sie reichlich zu verdienen strebte. Kaum hatte sie also ihre Erzählungen beendet, als sie auch schon zu den Hausaufgaben eilte und neben Fränzchens Rollstuhle schrieb oder auswendig lernte. Das Kind war viel zu jung, um die Wichtigkeit dieser Sache zu begreifen, es störte also durch Fragen oder Bitten. Da hieß es: »Gabriele, bring mir Sisi im Käfig,« – »Gabriele, ich möchte trinken,« – »Gabriele, Monkei scharrt an der Türe, laß ihn doch herein,« – »Gabriele, bist du noch nicht fertig?«
Eben zerbrach sich das fleißige Mädchen den Kopf über einem schwierigen Rechnungsansatz und meinte, auf der Spur zu sein, als solch eine Bitte alles zerstörte. Da rief es ärgerlich wie niemals zuvor: »Laß mich doch einmal in Ruhe, du Plagegeist!«
Fränzchen verstummte; es weinte nicht, aber es war erschrocken über dieses seltsame, böse Wort. Totenstille herrschte.
Gabriele konnte jetzt ungestört nachdenken, und dennoch ging's nicht: sie mußte scheu nach Fränzchen blicken, das regungslos im Stuhle saß und nicht einmal die Mama bemerkte, die währenddem eingetreten war. In weiser Mutterliebe für ihre beiden Töchter sagte diese jetzt nichts. Alss aber Fränzchen immer noch schwieg, fragte sie leise, zu ihm herabgebeugt: »Was ist meinem Fränzchen?« Und nun legte die Kleine das Haupt an der Mutter Brust; das innere Weh brach gewaltsam los, und sie rief unter Schluchzen: »Mama, ich bin solch ein Plagegeist, o, solch ein Plagegeist!«
Gabriele war augenblicklich an ihrer Seite. O, sie hatte über das rasche Wort ja bereits eine quälende, vorwurfsvolle Reue empfunden. Die liebe Kleine mit ihrem Leiden, das sie so heiter und geduldig ertrug, sollte eine Plage für andere sein! Sie schlang die beiden Arme um ihr Schwesterchen, von der anderen Seite kamen die beiden Arme der Mutter,- zwei Lippen küßten die linke und zwei die rechte Wange, und nun brach Fränzchen, noch schluchzend, in ein glückseliges Lachen aus, und es regnete Liebkosungen und Schmeichelworte.
Die Mutter brauchte keine Predigt zu halten, denn von dieser einfachen Szene ging der Segen über Gabriele aus, ihre Geduld trotzte jeder Unterbrechung. Aber auch Fränzchen hatte etwas gelernt: ein Blick auf die im Nachdenken versunkene Gabriele scheuchte das fragende Wort von den bereits geöffneten Lippen. Es sah verstohlen hin, bis die günstige Zeit gekommen war und es dann jubelnd rufen konnte: «Bist du fertig, Gabriele?«
Aber noch andere, außerhalb des engen Familienkreises, standen unter dem Einflusse dieses »Haussegens«.
Cilli, das ländliche Stubenmädchen und zugleich Fränzchens Zofe und Wagenschieberin, besaß manche bildungsfähige Eigenschaft, und die Baronin ließ es nicht an Geduld fehlen, das junge Mädchen anzuleiten. Es gab freilich viel zu ermahnen und zu verzeihen, aber schließlich hieß es immer: »Alles will ich vergeben, nur nicht Lug und Trug, diese Wurzeln der Schlechtigkeit. Beim ersten Vorkommnis solcher Art verläßt du mein Haus.«
Dieser großen Fehler hatte sich Cilli niemals schuldig gemacht; die übrigen stammten mehr aus Unwissenheit und Leichtsinn als aus bösem Willen. Nur was im Katechismus verboten war, galt ihr als Sünde. Darunter befand sich nichts von einer Ausrede, vom Horchen, Plaudern, Neugierde, und wie derartige schlechte Angewöhnungen heißen. Nur wenn die Sonne höherer Erkenntnis dem Gewissen leuchtet, gewahrt man sie, gleichwie der feine Staub erst sichtbar wird im Sonnenglanze.
Eines Nachmittags hatte die Baronin mit Gabriele einen notwendigen Ausgang zu machen und ließ Fränzchen in Cillis Obhut. Es bedurfte keiner besonderen Überwachung, Cilli konnte in und außerhalb des Zimmers ihre Geschäfte besorgen, Fränzchen verstand es trefflich, allein zu spielen, und saß heute vor seinem großen Puppenhause, emsig beschäftigt, es neu einzurichten und ein Gastzimmer instand zu setzen. Es besaß ja so viele kleine und große Puppen wie der Marionettenkasten des Schauspielers. Da gab es eine Mama und einen Papa, Kinder und Gespielen, eine Köchin und eine Zofe, und zu Weihnachten waren auch Gäste angekommen, für die Platz gemacht werden mutzte. Da saß es also seelenvergnügt, auf seinem Schoße aber spann und schnurrte die weiße Mülli, während Monkei voll Eifersucht über diesen Vorzug emporblickte, alle paar Minuten aufwartete und bittend das Kätzlein zu verdrängen suchte.
Wie schon bemerkt, glich die große Stube einem Gewächshause und einem Raritätenladen zugleich; denn es standen auf Gestellen und Schränken allerlei Vasen, Kästchen, Gläser, Büsten, kurz alles, was in das Reich der Nippsachen gehört und Fränzchen Vergnügen machte. Cilli hatte schon manchen Blick der Neugierde darauf geworfen. Doch sie durfte die schönen Sachen nicht einmal abstäuben; dies tat die Baronin selbst, um nichts in Gefahr zu setzen. Besonders ward Cillis Neugier durch ein vergoldetes Kästchen angelockt, das erst seit wenigen Tagen dort neben dem Wappenkelche stand und – wie wunderbar! – Musik aufspielte, ohne daß eine Hand es berührte. Nachdem ein Stückchen beendet war, schwieg es eine kurze Weile, dann ging's von neuem an und zwar ganz anders!
Cilli hatte nachts davon geträumt und es sich in den Kopf gesetzt, das Kästchen bei nächster Gelegenheit zu untersuchen; eine günstigere als eben jetzt gab es nicht, Fränzchen saß hinter dem Puppenhause, und der Orangenbaum stand auch noch dazwischen. Sie schlich also zum Gestelle, streckte sich auf den Fußspitzen, weil sie etwas klein war, nahm das Kästchen herunter, öffnete den Deckel und sah nun sonderbare Walzen mit Stiftchen, wie gerne hätte sie diese angerührt! Aber – aber – wenn plötzlich die Musik begänne und Fränzchen es merkte? In diesem Augenblicke, wo es hieß: »Soll ich, oder soll ich nicht?« vernahm sie Tritte und stimmen auf der Treppe, und in der Angst stellte sie zitternd das Kästchen auf den Platz; weil sie aber nicht hinaufreichte, stieß sie an den Pokal, und kling! kling! lag er auf dem Boden. Monkei fuhr bellend empor, Mülli sprang von Fränzchens schoß mit einem Satz in die Mitte der Stube.
In diesem hochpeinlichen Augenblicke öffnete sich auch die Türe, die Baronin und Gabriele blieben wie festgewurzelt stehen, und jene rief: »Mein kostbarer Wappenpokal! Cilli, was hast du getan? Mädchen, bist du stumm geworden? so antworte doch!«
Jetzt atmete die arme Sünderin tief auf und stotterte: »Die Katze, die elende Katze!« und trieb das unschuldige Tier, um nur selbst zu entwischen, aus der Stube.
Ja, es war die Katze gewesen; Gabriele hatte mit eigenen Augen den Sprung gesehen. Traurig hoben beide die Glasscherben auf. Der Familienpokal, aus dem bei ihrer Hochzeit, bei Gabrieles und Fränzchens Geburt und manchen Festen Gesundheit getrunken worden war! »Glück und Glas, wie bald bricht das!« seufzte die Baronin; sie hob die Trümmer mit dem Wappen sorgfältig auf, dann klingelte sie dem Stubenmädchen und hieß es die Splitter zusammenkehren. Cilli erschien so zaghaft und teilnehmend, als ob die Sache sie selber anginge, und brachte, ihrer Gewohnheit zuwider, kein Wort über ihre Lippen. Die Baronin aber sagte: »Daß mir die Katze nie mehr in das Zimmer kommt!« Damit war die Sache abgetan.
Nun erst fragte die Mutter: »Wo ist Fränzchen? Was? so mäuschenstill vor seinem Puppenhaus, die Hände im Schoße? Du hast wohl geschlafen? Nicht? Was ist dir denn?«
Doch Fränzchen antwortete nichts und saß immer noch da wie in einem Banne. Die Mutter hielt es für Schrecken über das vorgefallene; aber es war etwas anderes, etwas noch Unklares im Geiste des Kindes. Die Glasscherben klirrten darin, Und darauf hörte es Monkeis Gekläff und fühlte die Mülli vom Schoß herabspringen, erst nachdem es geklirrt hatte. Nein, die gute weiße Mülli war nicht die Verbrecherin; wie hätte sie auf seinem Schoße spinnend das Unheil anstiften können! Und doch war sie angeklagt von Cilli angeklagt! Und doch war sie hinausgejagt und für immer aus der Stube verbannt worden! O, wie weh dieses dem Kinde tat! es hatte solches Erbarmen mit der verleumdeten Mülli. Plötzlich stand es klar vor Fränzchen: Cilli hatte es getan! Aber jetzt wuchs das Weh und die Angst. Dann hatte Cilli gelogen und sie mußte aus dem Hause! Cilli war so arm und so gerne da, und Fränzchen hatte Cilli lieb! Aber was hatte die Mutter gesagt? Lug und Trug seien die Wurzeln aller Schlechtigkeit. O arme Cilli und arme Mülli und armes Fränzchen und arme Mama, die keinen Familienpokal mehr besaß und jetzt auch noch Cilli fortschicken mußte!
Der Zufall oder die Fügung Gottes wollte es, daß der Garteninspektor aus der Stadt kam, um neue Anordnungen zu treffen, weshalb die Baronin mit Gabriele ihn begleitete. Cilli wurde zu Fränzchen gesendet, weil das Wetter feucht und trübe war, nicht passend zu einer Gartenfahrt für die Kleine. Cilli war in ihrem Leichtsinn überglücklich, so gut durchgekommen zu sein, und trat scherzend zu Fränzchen. Aber bei ihrem Anblicke brach der verhaltene Jammer des Kindein ein solch heftiges Schluchzen aus, daß Cilli verwirrter vor der Kleinen stand als kurz zuvor bei den Scherben des Pokals. »Ha. ja, was ist's denn nun?« fragte sie und faltete die Hände. Fränzchen schluchzte mit aller Anstrengung die Worte: »Cilli, nicht die Katze, – du hast den Pokal herabgeworfen! – du hast gelogen – du mußt fort – aus dem Hause! – Und meine arme Mülli darf nicht mehr in die Stube! O Cilli!« und dabei hob Fränzchen die nassen Augen und die gefalteten Hände empor zu dem Mädchen.
Cilli aber stand da wie vernichtet, und plötzlich fiel ihr der oft vernommene Spruch ein, den Fränzchen stets beim Anblicke des Mondes zu sagen pflegte: »Ein Auge ist, das alles sieht, was in der weiten Welt geschieht.« Niemand hatte ihre Tat gesehen, und doch war sie aufgekommen und die Lüge dazu! Und Fränzchen hatte sie nicht verraten, jetzt aber würde es dieses wohl tun, denn es klang ihr in die Ohren: Du mußt fort!
Wie vernichtet von all diesem sank Cilli vor dem Rohrstuhle auf die Kniee und rief: »Und nun werden Sie es der Mama sagen! O, Fräulein Fränzchen, ich muß fort aus dem Hause!«
Aber das Kind erwiderte kopfschüttelnd: »Nein, ich sag's nicht; ich verklage nicht!« – Nach einer kurzen Pause rief sie fröhlich: »Cilli, sag' du's!« Ich will bitten, daß dir die Mama verzeiht; aber sagen – weißt du – muß man ihr gar alles! Sie verzeiht dir, sag's nur, und dann darf auch die Mülli wieder ins Zimmer!«
Cilli erhob sich von ihren Knieen, weinend, aber schwankend, ob sie um Verzeihung bitten, es darauf ankommen lassen oder nur gleich auf und davon laufen sollte. Da streckte Fränzchen die Hand nach ihr aus, und jetzt öffnete sich die Tür, und die Baronin kam, um etwas zu holen. Fränzchen rief ihr entgegen: »O Mama, komm', komm'! Cilli hat dir etwas zu sagen! Bitte, Mama, sei so gut!«
Und Cilli gestand gesenkten Hauptes: «Ich hab gelogen! Ich hab' das Glas herabgeworfen, nicht die Katze!« Das letzte Wort glich fast einem Schrei, so heftig brach die Angst hervor.
»Mama, Cilli wird nie mehr lügen!« gelobte Fränzchen. Die Baronin stand eine weile schweigend zwischen den beiden. Dann wischte sie sich eine Träne aus den Augen, beugte sich zu ihrem Töchterchen, küßte es und sagte dann zu Cilli: »Ist das dein heiliger Ernst? Willst du künftig die Wahrheit reden, selbst wo sie dir Nachteil bringen kann?« – »Ja, gnädige Frau, ich will's!« sagte Cilli mit fester Stimme und leuchtenden Blicken, die sich zu Fränzchen kehrten, »verzeihen Sie mir das eine Mal, gnädige Frau!«
»Es ist dir verziehen! Jetzt geh' und hol' die weiße Mülli herein! Man muß auch gerecht sein gegen ein Tier.«
Cilli eilte fröhlich von dannen und suchte die Katze, die sich in einem Winkel verkrochen hatte. Jetzt trug sie Mülli zärtlich auf den Armen, streichelte sie für die Schläge, welche sie ihr zur Bestätigung des begangenen Verbrechens zugeteilt hatte, und brachte sie im Triumphe auf Fränzchens Schoß.
Ja, der »Haussegen« hatte wieder gewirkt an Cilli und den anderen Dienstleuten, die diesen Vorgang durch das tief gerührte, dankbare Mädchen erfuhren.
Aber beim hellsten Lichte fehlen auch niemals die Schatten, und eines Tages sah die Mutter solch einen Schatten auf ihr Fränzchen fallen.
Das Kind ordnete mit seiner gewöhnlichen Pünktlichkeit die verschiedenen Spielsachen und verhielt sich dabei ganz schweigend. Da fragte die Mutter: »Ei, Fränzchen, warum so still?« Es antwortete: »O Mama, ich rede heimlich mit den Puppen, und sie antworten mir auch heimlich.« Die Baronin mochte denken, es wäre besser, wenn ihr Kind mit Kindern spielte, wo Rede und Gegenrede stattfindet, als nur mit Puppen und Menschen, die ihm stets den Willen täten, sie sagte also: »Wie wär's, wenn ich dir eine laut redende Gesellschaft einlüde? Es gibt genug nette Kinder deines Alters hier, Mädchen und Knaben.« Fränzchen entgegnete ganz schnell und entschieden: »O bitte, nein, Mama, ich brauche keine Gespielen; ich habe niemals Langeweile! Du bist immer da, und dann kommt Gabriele; ich habe Cilli, die Puppen, die Spielsachen; ich habe die Mülli, den Monkei und Sisi und die Blumen.«
»Aber Fränzchen,« erwiderte die Mutter, »wir sind keine Kinder.«
»Ihr seid mir lieber als Kinder; ich mag nicht mit Kindern spielen.«
»Und warum nicht, kleines, dummes Fränzchen?«
»Weil sie doch nicht bei mir bleiben und weit fortlaufen; weil sie untereinander zanken und alle meine Spielsachen in Unordnung bringen oder gar zerbrechen.«
Da sagte die Mutter mit sehr ernster Miene: »Ei, Fränzchen, das gefällt mir nicht von dir? es ist selbstsüchtig! Man nennt es Selbstsucht; das ist aber eine Sünde und eine häßliche Eigenschaft. Ich will es dir besser erklären. Man darf nicht immer an sich selbst denken, was einem angenehm oder bequem ist, sondern man muß im Gegenteile denken, was anderen wohl tut, was anderen bequem ist. Und sag' mir einmal, Fränzchen, bringst du nicht auch Unordnung in deine Spielsachen? Zerbrichst du nicht auch hie und da etwas? – Nun wohl, was geschieht hernach? Du stellst wieder Ordnung her, und das zerbrochene Spielzeug wird ebenfalls hergestellt. Ist's denn ein so großer Unterschied, ob das Übel durch andere oder durch dich geschieht? Ich dächte fast, das letzte ist ärgerlicher, weil uns die eigenen Ungeschicklichkeiten näher angehen als die fremden, willst du dir etwas davon merken, Fränzchen? Du horchst ja so begierig auf!«
Fränzchen erwiderte in seinem entschiedensten Tone: »Ja, Mama!«
Die Baronin war durch diesen »Schatten der Selbstsucht« etwas besorgt geworden, weil man keinen Flecken an einem kostbaren Gegenstande sehen will. Sie mußte den ganzen lag über daran denken, und die Sorge störte ihre sonst treffliche Nachtruhe.
Ihr Lager befand sich in einem großen, aus alter Zeit stammenden Himmelbett mit geschnitztem Wappen, und das kranke Kind lag immer neben ihr in diesem weiten Räume; ein Nachtlicht verbreitete genügende Helle im Gemach. In dieser Nacht wurde ihr Schlaf öfters unterbrochen; da jedoch Fränzchen so ruhig neben ihr lag, verhielt sie sich ebenfalls ruhig, um das Kind nicht zu wecken. Doch einmal konnte Sie dem Verlangen nicht widerstehen, sich leise emporzurichten, um ihr schlafendes Kind zu betrachten.
Aber Fränzchen schaute die Mama mit offenen, freundlichen Augen an, lächelte ihr entgegen und schlang die beiden Arme um sie, indem es sagte: »O Mama, heute dauert die Nacht einmal wieder lang!«
»Wieder lang?« entgegnete die Mutter verwundert und setzte bei: »Hast du nicht geschlafen?«
»Nein, Mama, ich bin ganz wach schon lange, lange!«
»Aber, liebes Kind, warum hast du mich denn nicht geweckt?«
»Warum sollte ich dich wecken, Mama? Mir fehlt ja nichts, und es ist so gut, zu schlafen. Ich gab mir immer alle Mühe, recht ruhig zu sein.«
»Immer, Fränzchen? Soll dies heißen, daß du öfters in der Nacht mit offenen Augen daliegst?«
»Ja, Mama, aber mir tut nichts weh! Komm', schlaf' wieder ein!«
Die Mutter nahm ihren Liebling in die Arme und schloß kein Auge, bis sie die langsamen, regelmäßigen Atemzüge der schlafenden an ihrer Brust fühlte. Morgens beim Erwachen sagte Fränzchen: »Aber heute nacht war's gut!«
Das Kinderleben besteht aus kleinen Begebenheiten, wie auch kleine Samenkörner ausgestreut werden, aus denen zur Sommerszeit die nährenden Halme erwachsen. Solch eine Kleinigkeit verscheuchte noch vollends den gefürchteten Schatten.
Tante Frida kam oftmals aus der Stadt zum Landbesuche, denn sie hatte alle lieb, die Mutter und ihre Kinder, Aber Fränzchen war doch ihr besonderes Augenmerk, und so brachte sie ihm jedesmal eine liebe Überraschung. Dieses Mal kam eine neue Puppe zum Vorscheine, die allerdings eine Ähnlichkeit mit Fränzchen besaß: rosige, runde Wangen, freundlichen Mund, dunkle Augen, die sich rasch bewegten, und gleiches Haar. Dazu war sie genau angekleidet wie Fränzchen, und, o Wunder! in einem eigenen Puppenkoffer lagen alle Kleider, Tücher, hüte, wie das Kind sie besaß. Tante Frida sagte: »Das bist du, die Dame deines Hauses. Sitz nur gleich auf das Sofa des Salons!«
Das war eine große, große Freude, solch ein herrlicher Gedanke! Der konnte nur der Tante Frida in den Kopf kommen!
Von jetzt an brachte Fränzchen die eigene Person und die Puppe nicht mehr auseinander; ja wenn diese gestoßen wurde, hätte sie Schreien mögen, und wenn Gabriele ihr etwas unsanft das Haar kämmte, fuhr Fränzchen mit beiden Händen gegen ihren eigenen Kopf und bat: »Zaus' mich nicht so!«
Beim stets wechselnden Spiele kam es Fränzchen nun eines Tages in den Sinn, für seine Puppenkinder eine Gouvernante zu nehmen, und es wählte aus seinem Vorrate ein solid aussehendes Fräulein. Noch am selben Nachmittag sollte das »Fräulein«, wie es kurzweg genannt wurde, eintreffen, und es mußte für dieses ein Zimmer ausgewählt und eingerichtet werden. Es entstand nun die Frage, wohin man das Fräulein logieren solle. Gabrieles Vorschlag ging aufs Mansardenzimmer; Fränzchen war jedoch nicht einverstanden: es sei zu entfernt von der Kinderstube und die Treppe zu steil und unbequem. Dann meinte Gabriele, neben der Rüche wäre noch ein Stübchen: aber Fränzchen erwiderte beinahe entrüstet: »Wo es immer nach dem Essen riecht? Puh! Das Fräulein muß ein besseres Zimmer bekommen!«
»Aber es ist kein anderes mehr da!« versicherte Gabriele.
Plötzlich rief Fränzchen: »Ich hab s! Ich überlasse dem Fräulein mein schönes Vorzimmer! Das wird ihm aber gefallen!«
»Wo empfängst du sodann deine Morgenbesuche?« gab die Schwester zu bedenken, und die Dame des Hauses erklärte: »Ich kleide mich morgens schneller an als bisher und gehe vom Schlafzimmer in den Salon. Die Mama hat einmal gesagt, man dürfe nicht immer nur an sich und seine eigene Bequemlichkeit denken.«
Beim nächsten Besuche der Tante Frida ging es schon stark gegen den Herbst. Und wieder spannten sich die glänzenden Silberfäden durch die Luft, und wieder kam über Fränzchen das selige Weihnachtsgefühl, denn es lebte noch in der Nähe des Kinderhimmels voll Glauben an die höhere Abstammung der Weihnachtsgaben. Seine schönsten Spielsachen waren ja nichts gegen eine schlichte Kleinigkeit vom Christkind. Zu der letzten Weihnachtszeit hatte es sich über einen bekannten, bereits im Kaufladen gesehenen Gegenstand höchlich verwundert und die Mutter ihm die Erklärung gegeben, das Christkind erteile bisweilen den Menschen solche Aufträge, besonders aber, daß man die armen Kinder in seinem Namen zu Weihnachten bescheren solle. Sie wollte deshalb mit Tante Frida ebenfalls eine solche Armenbescherung herrichten; Gabriele und Fränzchen sollten dazu eingeladen werden. Man könne den Armen alte Kleider, Schuhe, Tücher und was nächstens abgelegt werde, geben und alles dieses zuvor hübsch ausbessern, bügeln und putzen.
Das war ein jubelnd aufgenommener Vorschlag, von jetzt an gab es Beschäftigung in Hülle und Fülle, sodaß die »Dame des Hauses« gelangweilt dasaß und das »Fräulein und die Kinder« einmal die ganze Woche über nicht aus dem Bette kamen.
Nebst der Arbeit war Fränzchen ängstlich besorgt, seine Kleider zu schonen, weil diese im Winter abgelegt und mit zur Bescherung genommen werden sollten. Es weinte bitterlich über einen unvorsichtig hineingebrachten Fettfleck und kannte nur durch dessen rasche Entfernung wieder getröstet werden. Doch sein liebevolles Christkindherz verlangte nach einer wirklichen, eigenen Spende. Es bat die Mutter, alle seine Puppen, die nicht zur Familie und zum Hause gehörten, gleichfalls opfern zu dürfen, damit die armen Kinder auch ein Spielzeug hätten; es wollte gewiß keine anderen dafür; die Puppenfamilie brauche so wenig eine Gesellschaft wie sie, Gabriele und Mama.
Und so kam's! Und so gab's eine echte, selige Gnadenzeit. Nur Glanz strömte um die Familie, kein Schatten legte sich dazwischen. Aber auch mit Fränzchens Fuß hatte es sich bedeutend gebessert. Die vor Jahren ausgesprochene Hoffnung des Arztes war in Erfüllung gegangen, und er erinnerte die Baronin an die Worte: »Ich habe schon schlimmere Fälle sich zur vollen Genesung entwickeln sehen; nur dürfen wir beide die Geduld nicht verlieren.«
Niemals war sie den beiden abhanden gekommen, aber auch der kleinen Patientin selbst nicht. Anfangs ging sie am Arm der Mutter, dann mit dem Stocke allein durchs Zimmer, und alle im Hause jubelten darüber, später ging sie auf der ebenen Landstraße, während der Rollwagen nebenher fuhr für den Fall einer Ermüdung. So glücklich sah die Kleine dabei aus und sie grüßte alle Kinder, und alle grüßten sie. Alle wichen aus ihrem Wege, und wenn ein wilder Knabentroß sich balgte, löste sich bei ihrem Herannahen der Knäuel, sie zogen die Mützen und grinsten einen freundlichen Gruß; hatte sie etwas zu Boden fallen lassen, So rauften sich förmlich die Knaben um die Ehre, es aufheben und Fränzchen nachtragen zu dürfen, und manches kleine Mädchen bot ihm einen Blumenstrauß.
Für Fränzchen war so vieles neu; darum blieb es gern bei Handwerkern stehen und beobachtete scharf. Am besten gefielen ihm die Schnitter in Feld und Au, und manchmal lag es auf einem Heuhaufen, emporblickend in den Äther, wo abends die Sterne und der Mond hervorkamen, und lauschend auf den Vogelsang und die Stimmen der Natur. Die Mutter störte Fränzchen nicht und gönnte ihm diese lebensvolle Poesie.
So war Fränzchen 9 Jahre alt geworden und durfte auch allein in Hof und Garten gehen. Eines Tages folgte auf Regen Sonnenschein, solch ein prächtiger, lieber Sonnenschein, daß er sogar die stehen gebliebenen Pfützen vergoldete. Fränzchen trieb sich im Hof umher und kam zu solcher Pfütze. Da wandelte es unbezwinglich die seltsamste Kinderlust an, hineinzupatschen, bis es tüchtig emporspritzte. Es tat's, es spritzte so tüchtig, daß seine beiden vorher glänzenden Schuhe mit Rot förmlich überdeckt waren. Nie vorher empfundener Jubel erfüllte das Kindesherz, und es lief, so eilig es vermochte, zur Mutter, zeigte ihr die beschmutzten Schuhe und rief: »O sieh nur, Mama, jetzt kann ich's machen wie die anderen Kinder!«
Und die Mutter weinte vor Freude! Sie hätte am liebsten die kotigen Schuhe so, wie sie waren, in den Schrank gestellt zum Andenken, daß ihr ehedem lahmes Kind »herumpatschen« konnte. Aber sie sagte doch mit weiser Mäßigung ihrer Freude: »Fränzchen, einmal und nicht wieder!« Und das Kind verstand sie und antwortete: »Ja!«
Das ist die wahre und einfache Geschichte vom »Haussegen«. Möge Gott ihn fürderhin bewachen, damit er eine lange Lebenszeit fortdauere und sich immer schöner und reicher entfalte!