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Der Haussegen.

I.

Der langgezogenen, bläulichen Alpenkette gegenüber steht auf grünen Matten, abseits vom Marktflecken und durch einen klaren, schilfumsäumten Forellenbach getrennt, ein stattliches Haus. Der wohlgepflegte, parkähnliche Garten, der große, von Glasscheiben und Vorhängen umschlossene Balkon, die mit Blumen und wilden Reben umrankte Veranda, sowie die vollständige Sauberkeit des Hofraumes lassen deutlich erkennen, daß es kein bäuerlicher Besitz, sondern eine Villa im Gebirgsstile sei, eben diejenige mit dem »Haussegen«.

Wer kennt nicht die verschiedenen Arten dieses frommen Gebrauches? Bisweilen ist es ein am Giebel angebrachter Vers, dann wieder ein großes, geschnitztes Kruzifix in der Stubenecke oder in goldener Umrahmung. Die oben bezeichnete Villa hat jedoch eine andere, bewegliche Art, in jedem Raume abwechselnd waltend, und jetzt eben erscheint dieser Haussegen auf der Veranda.

Von einem erwachsenen Fräulein geschoben rollt ein Korbwagen durch die Haustür, und darin sitzt aufrecht ein achtjähriges Mädchen mit klugen, braunen Augen, vollen Wangen, rosigen Lippen, blühender Gesichtsfarbe: kurz gesagt, ein Bild der Gesundheit und des kindlichen Frohsinns.

Nun steht der Wagen. Die große Schwester läuft ab und zu, bringt dies und jenes, bis eine reiche, eigene Welt sich um das Kind gestaltet hat. Es braucht nur die Hände nach rechts und nach links zu strecken, und in seinem Bereiche sind Bilderbücher, Puppen, bunte Wolle oder Bänder, Nadel, Faden, Schere; es braucht nur die Augen aufzuschlagen, da hüpft auch schon Sisi dicht an die Stäbe des Käfigs und pipst, da erhebt sich die weiße Katze aus ihrer schläfrigen Ruhe und schleicht heran, da sitzt aufrecht mit erhobenen Pfötchen der kleine Rattenfänger Monkei.

Aber warum entsteigt das Kind nicht dem engen Raume und springt in den weiten Garten hinaus, der ein noch schönerer Spielplatz ist? Warum läßt es sich von der Schwester bedienen und holt sich nicht selbst alles aus Feld und Haus?

Ach, trotz des gesunden Aussehens fehlt der Kleinen doch etwas: die Füße sind beinahe gelähmt! Aber wir wollen nicht klagen. Wer weiß, ob sie ohne dieses Gebrechen der Haussegen geworden wäre! Bevor ich hiervon weiter erzähle, muß ich in die Vergangenheit zurückgreifen und von den Eltern der beiden Mädchen berichten.

Sie besaßen einen ganzen Schatz von Glück: Schönheit, Jugend, Gesundheit, vornehme Geburt, hohe Amtsstellung, die Gattin ein hübsches eigenes Vermögen, und eben war dazu ihr erstes Kind geboren, freilich ein Mädchen, denn weil das alte Adelsgeschlecht auszusterben drohte, wurde ein Knabe als künftiger Stammhalter sehnlich erwartet. Doch man gab diesem Mädchen den Namen Gabriele, eingedenk der alten Sage, dann folge gewiß bald ein Knabe darauf.

Mehrere Jahre ließ jedoch dieser Knabe auf sich warten, und als nun gar der Majoratsherr plötzlich starb und Gabrielens Vater an dessen Statt die Familiengüter übernahm, steigerte sich natürlich das Verlangen nach diesem Stammhalter, und der Jubel war unbeschreiblich groß, als man ihn mit nächstem erwarten durfte.

Doch während der Zeit des Erwartens zogen schwere Sorgenwolken über ihre Häupter. Die Majoratsgüter waren gänzlich verschuldet, Äcker, Wiesen, Wälder in vernachlässigtem Zustande, die sämtlichen Gebäude ganz baufällig; von einer Woche zur anderen mehrten sich die übernommenen Verpflichtungen. Anstatt ein reicher Mann geworden zu sein, verarmte der Besitzer vielmehr, denn seinen einträglichen Staatsposten hatte er beim Antritt der Majoratsgüter niedergelegt.

Kummer und Ärger zehrten an seiner Gesundheit, und er fühlte, daß er diese Kämpfe und Arbeiten unmöglich zum glücklichen Ende bringen könne. Da fürchtete er sich förmlich vor der Ankunft seines Stammhalters. Und – er blieb aus! Dagegen erschien ein rundes, gesundes Mädchen, weil aber für den Ankömmling bereits der erbliche Name Franz bestimmt war, trug man ihn auf das Mädchen über und taufte es Fränzchen.

Und jetzt schon, wo es nichts als schlafen oder Grimassen schneiden konnte, wurde das kleine Ding der Haussegen; war ja doch der Vater befreit von der Sorge für seinen Stammhalter. Nun stand er oftmals vor der Wiege und beobachtete das körperliche und geistige Erwachen des Kindes und dachte wieder an etwas anderes als an Schulden und Geld, wenn die Arbeitsleute in die Stube drängten und ihm den heißen Kopf noch heißer schrieen, horchte er plötzlich auf die feine Kinderstimme, sprang auf, machte sich gewaltsam »eine Gasse« und ließ alle stehen, um ins Kinderzimmer zu eilen und nachzuschauen. Wenn er zurückkehrte, hatte sich der Kopf abgekühlt, und wie sein Kind vom Weinen zum Lächeln übergegangen war, lächelte auch er und dachte: »Was kümmert es mich, ob das alte Majorat zugrunde geht! Ich besitze ja keinen Stammhalter, und mein eigenes Leben wird es schon noch ausdauern.«

Aber solange man noch lebt, muß man ein schützendes Dach über seinem Haupte haben, und das Schloßdach gewährte nicht den mindesten Schutz. Die Gutskasse war leer; somit griff er zum Vermögen seiner Frau, um die nötigen Ausbesserungen zu machen. Doch es wurden deren so viele nötig, daß es bald gänzlich in dem alten, nunmehr wieder stattlichen Schlosse stak, wohl verbrieft und pünktlich eingetragen. Natürlich gab dieses dem Gutsherrn viel zu denken, verscheuchte ihm Schlaf und Appetit und machte ihn wortkarg. Er wurde von Tag zu Tag bleicher und magerer; alles reizte ihn und trieb den gefürchteten roten Fleck auf seine hohlen Wangen. Die achtjährige Gabriele schlich bei seinem Eintritt aus dem Zimmer, um in Hof und Garten ungestört zu springen, zu jubeln und zu spielen. Selbst die Gattin sah ihn forschend an, ob sie dieses oder jenes vorbringen dürfe, ohne ihn zu reizen. Nur ein Wesen im Hause fürchtete ihn nicht und fragte nicht das mindeste nach seiner finster bewölkten Stirne: das kleine, nunmehr zweijährige Fränzchen.

Bereits begann es in jener nur den Eltern verständlichen Sprache, mit Weglassung aller unbequemen Laute, zu reden. Sein erstes Wort war zärtlich und liebkosend: »Papa!« Dann kam, begleitet vom fragenden Mienenspiel, noch dazu: »Wo Papa?« Die Fingerchen lockten ihn von weitem, die Arme streckten sich nach ihm aus, in welcher Umgebung er auch weilen mochte; bei seinen Gehversuchen fiel es in seinem Liebeseifer nicht selten, um ihn rascher zu erreichen, und wenn er dann erschrocken herbeisprang, lachte es ihm entgegen. Überhaupt verstand es sich besser auf das Lachen, als auf das Weinen; es leuchtete um das Kind der Sonnenschein von Glückseligkeit. Sobald die Kleine in des Vaters Nähe kam, war er gleichsam vergoldet von diesem Sonnenschein, der die finsteren Wolken zerteilte. Die Gattin sorgte eifrig dafür, daß es oftmals geschah. Sie hatte bisher vergebens alle erdenklichen Mitttel angewendet. Da der Arzt auf eine reichlichere Ernährung drang, forschte sie in den alten mütterlichen Kochbüchern nach den dort angegebenen Speisen, die so wundersam wirkten. Er lächelte bei ihrem Anblicke und belud seine Teller damit. Doch nach einem Versuche schob er sie wieder beiseite und seufzte. Da brachte die Mutter eines Tages Fränzchen mit zu Tische, und das schmeichelnde Ding rutschte alsbald vom Sessel auf Papas Knie. Es griff mit unersättlichem Kinderappetit nach allem, und wenn er sich nicht beeilte, war sein Teller unversehens leer. Aus väterlicher Fürsorge beeilte er sich nun erstaunlich, und weil Fränzchen ihn so sehr liebte, schob es ihm noch jeden zweiten Bissen in den Mund.

Aber noch anderweitig mußte die Kleine dienen. Der Verwalter benützte die Anwesenheit des Kindes und die heitere Stimmung des Vaters zu Vorschlägen, die auf Hindernisse und Bedenken stießen und doch ausgeführt werden mußten; die Untergebenen wählten solche Augenblicke, um eine Ungeschicklichkeit oder ein Versehen einzugestehen, wenn er aber zu lange am Arbeitstisch gesessen, lenkte die besorgte Gattin die Gedanken des Kindes auf Papa hin, und dann trippelte Fränzchen eilig fort. So leise die Schritte einher kamen, so leise das Kind anklopfte: es wurde doch gehört und herein gerufen. Dann war's vorbei mit der Arbeit, mit Sorgen und Verdruß! Dann mußte er spielen mit seinem Kinde, sei es in der Stube oder im Garten; dann mußte er alle zerbrochenen Dinge »ganz machen«.

Von Tag zu Tag entfaltete sich das Kind lieblicher, und wer in seine Nähe kam, wußte Geschichten davon zu erzählen. Es gab so viele Züge der Herzensgüte zu berichten; wie Fränzchen seine Puppen so mütterlich hegte und pflegte, sie niemals herumzerrte, sondern sanft ins Stühlchen setzte, ihre Kleider glatt strich und ihnen dann alle selbst empfangenen Lehren wiederholte; wie es erschrak, wenn eine seinem Arm entschlüpfte und auf die Stirne fiel; wie es dann so zärtlich diese Stirne küßte, bis es nicht mehr wehe tat. Man erzählte, wie die Kleine herbe Reuetränen weinte, weil sie unvorsichtig die weiße Katze getreten und das zerkratzte Händchen ohne Klage verbarg; wie so zärtlich sie die Schwester umhalste und mit Innigkeit sagte: »Gute Schwester, gute Gabriele!«; wie fest sie das Händchen auf die Lippen drückte, um den Kuß weit hinauszuwerfen; wie rasch sie alles bemerkte, wenn der Mama etwas entglitt, und wie sie eilig danach trippelte, es aufzuheben; wie ihr angeborner Ordnungssinn kein Stäubchen duldete; wie sie jedes Tier und jede Blume schonend und sanft berührte; wie sie Papas faltenreiche Stirne rieb und dabei schmeichelnd ermahnte: »Gut sein, Papa! nit bös Gesicht machen!«; wie sie fast scheu auf seine bleichen Wangen schaute, mit beiden Händen in die rote Rübenbrühe fuhr, damit seine Wangen färbte und triumphierte: »Nun is Papa sön, wie Mama!«; wie sie für Sisi den Zucker vom Munde nahm, und es schmeckte doch so gut; wie sie jedem die Hand entgegenstreckte, arm und reich, und jedem gab, was es verlangte; wie sie so flehentlich »bitte« und »danke« sagen konnte und wie sie niemals zögerte, einzugestehen, daß »Fränzi bös 'wesen, nun aber gut sein wolle«!

O, es gab hundert Dinge gegenseitig zu berichten, und immer länger weilte der kranke Mann nach Tische bei seinem Lieblinge, seinem Augentroste, seinem Haussegen, wie er einmal das Kind selbst nannte, indem er beifügte: »Was fingen wir nur an ohne sie! Wir vermöchten vor dunklen Sorgen den Himmel nicht zu sehen!« Und als ob er nicht ungerecht gegen Gabriele sein wollte, sagte er noch: »Fränzchen bedarf ja unser auf Schritt und Tritt; aber mein braves, großes Mädchen steht bereits wacker auf eigenen Füßen.«

Ja, das Kind war des Mannes letzte Freude und entlockte sogar noch den sterbenden Lippen ein Lächeln. Als alle an seinem Lager standen, als die Kleine, nichts ahnend von dem bitteren Ernste dieser Stunde, nach dem goldblinkenden Sterbkreuze die Hand ausstreckte, segnete er damit sein Kind, entzog es ihm und flüsterte wehmütig lächelnd: »Für mich – das Kreuz, – für dich – der Segen.« Dann schloß er seine Augen für immer; das Lächeln aber blieb auf den Lippen.

Ja, der Vater hatte sein Fränzchen mit dem Kreuz gesegnet, wie wir bald erfahren werden.


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