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Ein alter Brief liegt vor mir, rauh das Papier, die Schrift verblaßt, auf dem gelben, mit Stockflecken besäten Umschlag ein zerdrücktes Siegel, das mit zierlichen Blumenkränzen umwundene Wappen der Freiherren von Pappenheim: ein schwarzer Rabe im Schild und auf dem Helm – ein schwarzer Unglücksrabe. Die Adresse lautet: A Mademoiselle Diane, Comtesse de Waldner, Dame d'honneur de S. A. I. Madame la grande Duchesse et Princesse héréditaire de Saxe-Weimar à Pyrmont. Datiert ist der Brief vom 15. Juli 1806 aus Stammen, dem Familiengut der Pappenheims; der ihn schrieb, war der Kammerherr des Herzogs Karl August von Weimar, Wilhelm Maximilian von Pappenheim. Der Werther-Geist der Zeit atmet in seinem eleganten Hoffranzösisch, und seltsam warnend tönt für den, der rückwärts schaut, die Stimme des Schicksals zwischen den Zeilen. Also lautet er:
»Meine geliebte Freundin! Der Brief, den ich gestern das Vergnügen hatte, Ihnen zu schreiben, wird schon in Ihren Händen sein. Ich reise morgen früh nach Kassel und Fulda. In sechs Tagen hoffe ich wieder hier zu sein und eine Menge Briefe von Ihnen vorzufinden . . . Ich habe viele gute Bücher eingepackt, die ich nach Weimar schicke, damit sie uns nächsten Winter recht unterhalten mögen. Ich fühle mehr denn je, daß der Geist immer beschäftigt werden muß, wenn wir nicht in Gefahr geraten sollen, in unserer Entwicklung zurückzugehen, wovor uns Gott behüten möge. Ich treffe hier alle Vorbereitungen, daß, wenn ich im Oktober oder November auf acht Tage zurückkehren muß, Sie mich begleiten können und gut untergebracht sind . . .
Schreiben Sie mir bitte recht genau, wie Ihr Befinden ist! Sehen Sie zuweilen meinen Freund Laffert? Rät er Ihnen nicht, das Tanzen, als ein frivoles, für ein junges Mädchen gefährliches Vergnügen, aufzugeben? Welche Vergnügungen haben Sie nicht, während ich es bitter empfinde, von Ihnen getrennt zu sein . . .
Ein kleiner Spaziergang in den Feldern hat mich eben zu einem Platze geführt, wo ich vor vier Jahren begonnen hatte, einen Garten, eine Einsiedelei, kurz, einen Raum zu verwirklichen, so wie er Ihnen gefallen würde. Das Herz klopfte mir: als ich Stammen verließ, um in Weimar Dienst zu tun, mußte ich eine Unternehmung vernachlässigen, die mir so viel Freude gemacht und von der ich mir so süße Freuden versprochen hatte; die Mauer war schon zur Hälfte aufgeführt, da befahl ich, die Arbeit zu unterbrechen, weil ich nicht mehr zurückzukehren glaubte; jetzt, da ich mich mit einer so liebenswürdigen Frau verbinden will, schlich sich der Wunsch, sie wieder aufzunehmen, leise in mein Herz. Wie glücklich wäre ich, Sie mir zur Seite zu sehen in dem Lande, wo ich geboren bin! Der Gedanke, daß Sie zu jung sind, um den Zerstreuungen der Welt zu entsagen und auf dem Lande zu leben, stimmte mich traurig, und ich sah, daß man nicht alles zusammen wünschen und haben kann. Wenn Sie zum mindesten diesem Lande so viel Geschmack abgewinnen könnten, um den Sommer hier zuzubringen! Dann hätte Weimar im Winter stets neuen Reiz für uns beide. Das Land ist schön, man würde mit braven Menschen leben, man genösse all das, was ich besitze, ohne jetzt irgend etwas davon zu haben: die Jagd, die Fischerei, die Gärten, die Früchte bis hinab zu den kleinsten Bedürfnissen des Lebens. O laß uns leben und lieben, wie unsere guten Vorfahren hier lebten und liebten! Entschließen wir uns dazu, uns in ein paar Jahren hier zurückzuziehen! Wollen Sie? Geben Sie mir diese Hoffnung und glauben Sie denen nicht, die Ihnen sagen werden, daß Sie für das Landleben nicht geschaffen sind. Sie haben Geist genug, um mit einem Gatten, der Sie zärtlich liebt, überall leben zu können. Während meines Lebens habe ich mich immer in den süßen Illusionen einer vagen Hoffnung gewiegt; seitdem ich Ihnen verlobt bin, beginne ich an ihre Wirklichkeit zu glauben. Mein Schicksal ist entschieden; ich bin glücklich; wer aber wollte dann nicht dort leben, wo er die meisten Freunde hat, wo er geboren ist – in der Heimat! Wir können leicht auf alle Karriere verzichten, wenn der Ehrgeiz und die Freuden der großen Welt uns nicht verführen, die oft nichts als Reue hinterlassen oder nur vorübergehende Vergnügungen bringen, bei denen Geist und Herz leer bleiben . . .«
Aus einem Bilde der Zeit, zu dem meine Augen hinüberschauen, lächelt der üppige kleine Mund der Braut, eines entzückenden, kaum achtzehnjährigen Mädchens mit tief in die Stirn fallendem blonden Kraushaar mir entgegen. Diesen Brief, diesen einzigen Brief bewahrte sie von dem, der ihr Gatte wurde, ihr Leben lang.
Im Schlosse der Eltern in Ollwiller im Elsaß, zu Füßen der alten Ruine Freundstein, der ihr Geschlecht seinen Namen verdankte, war sie im Jahre 1788 geboren worden. Wieso sie nach Weimar kam und Maria Paulownas, der jungen Erbgroßherzogin Hofdame wurde, weiß ich nicht. Kaum zwei Jahre scheint sie dort gewesen zu sein. Im Herbst 1806 heiratete sie den mehr als zwanzig Jahre älteren Pappenheim; ein Jahr darauf, als ihr erster Sohn geboren worden war, erreichte ihren Gatten das Dekret des Königs von Westfalen, das an alle im Auslande lebenden Kurhessen erging, bei Androhung der Einziehung seiner Güter nach Westfalen zurückzukehren. Was Pappenheim von seiner Braut vergebens erfleht, von seiner Frau vergebens verlangt hatte, Jeromes Befehl sollte es erzwingen: das Leben in der Heimat.
Anders freilich, als er es sich geträumt hatte: statt in den stillen Frieden des ländlichen Besitzes führte der Weg in die rauschenden Feste des Kasseler Hoflebens. War es sein Ehrgeiz, war es ihre Lebenslust, die solche Entscheidung traf – wer weiß es? Im Sommer 1808 kam er mit seinem kleinen Sohn und seiner hochschwangeren Frau, die im September ihrem zweiten Sohn das Leben gab, nach Kassel.Erlebnisse in kurhessischen und russischen Diensten und Erinnerungen an die Gesellschaft in Weimar des Freiherrn Alfred Rabe von Pappenheim. Marburg 1892. Bereits im Winter danach muß das Pappenheimsche Paar am Hof erschienen sein, und die junge Frau mit der herrlichen Gestalt, der schneeweißen Haut, den lachenden blauen Augen und jenem unbeschreiblichen Liebreiz, der weniger in der Regelmäßigkeit der Züge als in der Anmut des ganzen Wesens bestand, muß schon bei ihrem ersten Auftreten die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen haben. Ihre Jugend allein, die der künstlichen Mittel nicht bedurfte, um zu bezaubern, stellte die älteren Damen des Hofes in den Schatten und reizte ihren Neid. Bei Gelegenheit eines Maskenballes, am 5. Februar 1809, erlaubte sich eine von ihnen unter dem Schutze der Maskenfreiheit, Herrn von Pappenheim mit seiner so viel jüngeren Frau zu necken; Gräfin Truchseß, so berichtete der Allerwelts-Geschichtenträger Reinhard nach Paris, machte aus dem Spaß eine große Klatschgeschichte, die dem König zu Ohren kam und wohl bösartiger Natur gewesen ist, denn bereits am 16. Februar erhielt die ebenso ehrgeizige wie eitle Frau den Befehl, den Hof auf immer zu verlassen,Un roi qui s'amusait, a.a.O. S. 225 und 229. Berichte Reinhards. Pappenheim aber wurde zum Grafen und zum Ersten Hofmarschall ernannt, während Diana als Palastdame in den Hofstaat der Königin eintrat.Almanach royal de Westphalie pour l'an 1810. S. 62 und 65.
Ein Nervenleiden, das Pappenheim bereits 1795 gezwungen hatte, den Soldatendienst als Major der kurhessischen Leibgarde aufzugeben und sich einige Jahre in der Stille von Stammen zu erholen, machte sich inzwischen wieder geltend; und neben ihm, dem alternden kranken Mann, sah Diana in der Blüte ihrer Schönheit und Jugend den jungen strahlenden König. War es ein Wunder, daß ihr Herz sich ihm hingab, vielleicht lange bevor sie es sich selbst gestand? Daß sie sich wehrte gegen die erwachende Leidenschaft, daß sie dem heimlichen Werben des Königs aus dem Wege ging, dafür zeugt ein Bericht Reinhards aus dem Jahre 1809. Nach der Rückkehr des Königs aus Sachsen, so erzählten die bösen Zungen in Kassel, sollte es zu einer Einigung zwischen beiden gekommen sein. »Die Abreise der Gräfin nach Weimar«, so fügt Reinhard hinzu, »straft das Gerücht Lügen.« Sie kehrte erst zurück, nachdem die Königin wieder in Kassel eingetroffen und Pappenheim aus Aachen, wo er Genesung gesucht hatte, heimgekehrt war. »Noch kann man also«, schloß der alte Zyniker seinen Bericht, »an die Tugend der Gräfin glauben.«Un roi qui s'amusait, a.a.O. S. 236. Berichte Reinhards.
Im März 1810 begleitete sie die Königin nach Paris. Ihr Mann jedoch wird im Gefolge des Königs nicht genannt. Der Glanz des Pariser Lebens, wo ein Zauberfest das andere jagte, die lachenden Frühlingstage, die bis in den Juni hinein eine Schar fröhlicher, junger Menschen auf Frankreichs glücklicher Erde festhielt, enthielten jene süße berauschende Luft, in der die Blume der Leidenschaft rasch emporblüht und sich wundervoll entfaltet. Niemand freilich wußte davon, die Lästerzungen schwiegen, auch als es wieder heimwärts ging nach Kassel, erwähnte Reinhard in seinen Berichten den Namen der Gräfin Pappenheim nicht, nur von der zunehmenden Krankheit ihres Mannes war hier und da die Rede.A.a.O. S. 210f Da kam der trübe Winter 1810/11 nach der Zurücknahme Hannovers durch den Kaiser. Vor allen Festen fliehend, zog sich das Königspaar mit wenigen Getreuen, unter ihnen Diana von Pappenheim, nach Napoleonshöhe zurück. Hier, wo sie des Königs zerrissene Seele sah, wo zu der großen Liebe jene Empfindung hinzutrat, die dem Weibe die letzten Waffen nimmt – das Mitleid –, öffnete sich ihm ihr Herz. In dem kleinen Landhaus Schönfeld, zwischen Kassel und Napoleonshöhe, trafen sich die Liebenden und vergaßen im Feuer ihrer Leidenschaft den harten Winter, der draußen mit starren Fingern an die Fenster klopfte, und das eisige Schicksal, das alle Blumen der Hoffnung zu knicken drohte.
Am 7. September 1811 brachte Diana das Kind ihrer Liebe zur Welt: Jenny, die Jerome über die Taufe hielt und die, da der Gatte Dianens noch nicht von ihr getrennt lebte, als seine eheliche Tochter anerkannt wurde. Bis dahin hatten selbst die böswilligsten Lästerer das Geheimnis von Jeromes und Dianens Liebesbund nicht zu entdecken vermocht, das Kind mit den leuchtenden, dunklen Augen, der gelblichen Haut, dem fein geschwungenen Näschen war seine Offenbarung. War es etwa auch sein Händchen, das den unglücklichen Pappenheim, dessen Geist sich mehr und mehr umnachtet hatte, in das Dunkel stieß, aus dem es ein Entweichen nicht mehr gab? Diana geleitete den Schwerkranken nach Paris und blieb bei ihm, bis die Ärzte ihr keine Hoffnung mehr gaben. Welche Qualen mögen sie gefoltert haben in dieser Zeit, wie zerrissen mag ihr Herz gewesen sein von der Not des Gewissens, von der unbesiegbaren Glut sehnsüchtiger Liebe!
1812 schrieb Reinhard nach Paris: »Die Gräfin Pappenheim ist zurückgekehrt und wohnt gegenüber dem Schloß in der Wohnung, die der Oberhofmarschall zuletzt innegehabt hat. Ihr Mann ist noch immer in Paris in der Behandlung des Dr. Pinel.«A.a.O. S. 199. Kurze Zeit später zog ein stiller Gast in Stammen ein, und zwei Jahre noch blickten die armen, blöden Augen über die Fluren seiner Väter hinaus, die er so sehr geliebt hatte. Diana besuchte ihn zuweilen, er kannte sie nicht mehr.
Die drohenden Gewitterwolken, die sich um das Schicksal ihres Geliebten zusammenzogen, vor denen so manche, die ihn in Tagen des Glücks umschmeichelt hatten, feige entflohen, fesselten sie nur noch mehr an seine Seite, gaben ihrer Liebe die Weihe gemeinsam getragenen Leids. Und ein Kind von ihm trug sie wieder unter dem Herzen, ein Kind, das vor der Welt keinen Vater haben würde. Sie prunkte nicht mit ihrer Liebe, denn nicht Glanz und Einfluß verlangte sie von ihm, und der König war weit davon entfernt, sich wie ein prahlerischer Roué vor der Welt mit der schönen Geliebten zeigen zu wollen. Darum legte sich schützend der Schleier des Geheimnisses um sie, darum enthalten selbst die späteren Skandalgeschichten kein Wort von Diana von Pappenheim.
Ihre Entbindung stand nahe bevor, als die Russen in Kassel einzogen. Die Angst um sie, die den König folterte, trieb ihn noch einmal nach Kassel zurück zu jenem kurzen Aufenthalt, den niemand begriff und den seine Feinde dahin deuteten, daß er im Schloß verwahrte Reichtümer noch heimlich habe entfernen wollen. Er hatte noch gerade Zeit, die Geliebte in Schönfeld in Sicherheit zu bringen, dann war mit dem Königstraum der Liebestraum vorbei, und niemals sahen sie sich wieder!
In der Zelle des stillen Pariser Klosters Notre-Dame des Oiseaux saß ein Vierteljahrhundert später eine junge Nonne am Schreibtisch und schrieb einer fernen, unbekannten deutschen Schwester diese Zeilen:
». . . Und nun, meine liebe Jenny, will ich die Zweifel zerstreuen, die Deine Gedanken zuweilen bewegen, denn mehr als einmal habe ich, meine geliebte Schwester, mit Madame Duperré von Deiner und meiner Geburt gesprochen. Sie war, wie Du ganz richtig sagst, die intimste Vertraute unseres Engels von Mutter, ihr übergab mich Mama im Augenblick meiner Geburt. Damals, 1813, brachte der König – genötigt, sein Reich zu verlassen – noch die geliebte hochschwangere Frau nach dem Schlosse Schönfeld, wo ich geboren wurde und dessen Namen ich trug. Da Mama genötigt war, in Deutschland zu bleiben, und mich nicht mit sich nehmen konnte, denn Herr von Pappenheim war schon seit langem wahnsinnig und von ihr getrennt, vertraute sie mich ihrer besten Freundin an, nachdem sie ihren Schmuck und alle ihre Wertsachen verkauft hatte, um meine Existenz sicherzustellen. In der Verzweiflung dieser Stunden, wo sie glaubte, als Buße für ihre Sünden alle Bande zwischen sich und dem König zerreißen zu müssen, folgte sie dem Rate der Freundin und teilte ihm mit, ich sei gestorben. Madame Duperré sagte mir, daß sie in ihrem ganzen Leben nichts so bitter bereut habe wie diesen Rat, den sie erteilte, denn des Königs damals tiefverwundetes Herz litt nicht nur sehr unter der Nachricht, es wäre für ihn eine Freude gewesen, für mich sorgen zu können. Bei Dir lagen die Verhältnisse anders. Du wurdest geboren, als unser Vater noch regierte und Mama und Herr von Pappenheim formell zusammenlebten. Das ermöglichte Deine scheinbare Legitimität; der ganze Hof jedoch wußte, daß Du des Königs Tochter seiest, und die Natur selbst schien es beweisen zu wollen, indem sie Dich schon als kleines Kind zu Deines Vaters genauem Ebenbild formte. Aber auch Mama hat es wiederholt Madame Duperré versichert, und als ich mit unserem Vater, der sich inzwischen überzeugen konnte, daß ich nicht gestorben und nicht mit Dir identisch bin, das erstemal zusammenkam, sprach er mir sofort von Dir und erzählte mir alles genau so, wie Madame Duperré es mir schon tausendmal wiederholt hatte. Wir beide sind die einzigen Kinder aus dem Liebesbund zwischen unserer Mutter und dem König. Gottfried und Alfred sind nicht unsere rechten Brüder, denn der eine war schon geboren, als die Pappenheims an den Hof kamen, und den anderen trug sie gerade unter dem Herzen. Ich verstehe vollkommen, meine geliebte Schwester, daß die Rücksicht auf das Andenken Deiner Mutter und die Wohlfahrt Deiner Kinder Dich dazu bestimmen, Deine Beziehungen zu Papa vor ihnen zu verschleiern. Mein und sein Wunsch beschränken sich darauf, daß Du Deinem Herzen freien Lauf läßt, Deinem Vater all die Liebe entgegenbringst, die er verdient und die unsere verklärte Mutter für ihn von uns fordert.
Immer wieder hat sie in ihrem Briefwechsel mit mir von unserer Herkunft erzählt und mir das Versprechen abgenommen, Dir nichts davon zu sagen. ›Im Augenblick aber‹, so schrieb sie mir, ›wo die Verhältnisse Dir eine Begegnung mit Deinem Vater gestatten werden, was so lange unmöglich ist, als er im Exil lebt, und wo er Dir von Deiner Schwester spricht, soll es Deine erste Aufgabe sein, Jenny aufzuklären und sie in meinem Namen zu bitten, all die Liebe und Zärtlichkeit, die ein Kind seinem Vater schuldig ist, ihm entgegenzubringen und ihn nicht des Glückes zu berauben, der Zuneigung seiner Tochter sicher sein zu dürfen.‹ Dieser Brief, liebste Schwester, aus dem ich Dir diese Zeilen abschreibe, ist der einzige, den ich noch von unserer Mutter besitze – auf ihren Wunsch mußte ich ihre Briefe vernichten –, aber dieser eine genügt auch, um alle Deine Zweifel zu beseitigen. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hat, will ich auch ihn verbrennen. In diesen stürmischen Zeiten wissen wir niemals, was geschehen kann. Gerade uns Klosterschwestern kann die Revolution gefährlich werden, und ich will nicht, daß irgend etwas von unserem Engel von Mutter in Hände fallen soll, die es entweihen. Schweren Herzens trenne ich mich von dieser letzten Reliquie, aber dem Andenken und der Liebe zu unserer Mutter muß ich dies Opfer bringen . . .
Papa verläßt mich soeben, er trägt mir alles Zärtliche an Dich auf. Wie sehnt er sich danach, Dich zu umarmen, aber da es in diesen Zeiten nicht möglich ist, mußt Du ihn und mich dadurch entschädigen und unsere Trennung erträglich machen, daß Du recht oft schreibst. Je näher ich unseren Vater kenne, desto mehr liebe und verehre ich ihn. Ich versichere Dich, meine liebe Jenny, man hat viel Böses von ihm erzählt, dessen er nie fähig gewesen ist. Viel ist in seinem Namen geschehen, wovon sein gütiges Herz nichts wußte, und Neid und Haß, die dem Glück wie der Größe auf den Spuren folgen, haben sein Bild beschmutzt und verzerrt. Wir haben die Aufgabe, ihn durch unsere Liebe viel unverdientes Leid vergessen zu machen . . .
Deine Schwester Pauline.«
Das Leben hatte das Haar des Vaters bleichen, der Tod die schönen Augen der Mutter schließen müssen, ehe Jenny erfuhr, von wessen Blut sie war, und daß hinter Pariser Klostermauern ihr noch eine Schwester lebte.
In der Familie wußte jeder, daß diese Frau mit den napoleonischen Zügen eine fremde Blume war, nicht dem friedlichen Hausgärtchen deutscher Familiensippe entsprossen. Ihr selbst war es ein nur dunkel geahntes Geheimnis geblieben. Auf welche Weise sie es erfuhr, weiß ich nicht, denn die ersten Briefe der Nonne, ihrer Schwester, an sie, befanden sich nicht in dem mir übergebenen Paket. Es enthielt nur die folgende kleine Auswahl aus der während vieler Jahre bis zu Jeromes Tode im Jahre 1861 und bis zu dem der Nonne in den achtziger Jahren lebhaft geführten Korrespondenz, die bloß durch wiederholten Aufenthalt meiner Großmutter in Paris unterbrochen wurde. Die Briefe bedürfen keines Kommentars. Nur tote Blätter sind es, und die sie schrieben, schlafen schon lange den ewigen Schlaf, aber die Liebe, die in ihnen atmet, füllt sie mit warmem Blut und lebendigem Leben.
Von Diana blieb nicht viel erhalten. Ein paar Bilder, von denen jedes ein anderes Antlitz zeigt: das süße, lachende Mädchen zuerst, eine schöne, kühle Frau zuletzt. Und ein Brief an Jenny, ihre Tochter. Wie der des liebenden, hoffnungsvollen Bräutigams der einzige ist, der von des unglücklichen Pappenheim Hand, trotz des Jahrhunderts, das über ihn hinwegging, erhalten blieb, so ist der Brief der sterbenden Diana der einzige, der von ihr zeugt. In jenem lag, dunkler Ahnungen voll, die Zukunft verborgen, in diesem weint und schluchzt der Schmerz der Vergangenheit. Hier ist er:
Weimar, den 20. Oktober 1844.
Meine liebe Jenny!
Ich frage nicht mehr, ob ich schreiben darf – ich schreibe! Denn ich kann Dich versichern, daß es mir schlechter geht als im Augenblick der Abreise. Eine tiefe Melancholie erfüllt meine Seele, eine schreckliche Mutlosigkeit beherrscht mich. Wer nur trösten will, glaubt mir versichern zu müssen, daß gar keine Gefahr vorhanden ist, und ich kann nicht einmal daran zweifeln! Schon ein Monat schrecklichster Qualen, und noch kein Schritt näher der Ewigkeit. Und all diese Leiden sollen sich noch oft wiederholen, ehe das Ziel erreicht ist. – O mein Gott, welchen Prüfungen willst Du mich noch unterwerfen!
Ich möchte mich einsperren können und mich vor keines Menschen Augen zeigen; meine Nächte sind immer schlecht, am Morgen habe ich die Empfindung, als hätte ich eine Schlacht gewonnen. Man umgibt mit Sorge und Liebe dieses nutzlose Leben, das zwischen Bett und Lehnstuhl hin und her vegetiert. Wenn diese Zeilen Dir Tränen erpressen – ich kann's nicht ändern, ich kann nicht anders schreiben, und Du weißt ja, daß ich nicht sterben werde! Du darfst auch nicht daran denken, herzukommen. Du kennst meinen Grundsatz meinen Töchtern gegenüber: daß ihre erste und heiligste Pflicht sie neben ihre Gatten und ihre Kinder stellt. In meinem Zustand wirken auch Schmerz und Freude gleichmäßig stark auf mich; erlaubt man jemand bei mir einzutreten, den ich lange nicht gesehen, so ergießt sich ein Strom von Tränen aus meinen Augen, und dann kommt das Fieber. Vielleicht werden Monate, Jahre über meine tiefeingewurzelte Krankheit vergehen – wie könntest Du darüber auch nur eine Deiner nächsten Pflichten vernachlässigen, während ich nichts brauche als Ruhe, Stille und Einsamkeit . . . Ach, könnte ich von dort oben zu Dir hinuntersehen, dann hättest Du den schönsten Trost: meine Mutter hat die dunkle Schranke überschritten, sie ist dort, wo mein Wunsch und mein Gebet sie hingeleiteten.
Ich schließe, meine Jenny, meine geliebte Tochter, denn kein Wort könnte ich äußern, das nicht das Echo eines kranken Körpers und einer tieftraurigen Seele wäre. Bete für mich, mein Kind, aber bete nicht, daß der Gott der Güte mir dies Leben erhalten möchte, das auf mir lastet und immer auf mir lasten wird . . .