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Samstag, 9. Mai.
Nun bin ich also fort vom lieben Sonnenberg am See, fort in der fremden, großen Stadt und schreibe die ersten Zeilen in das Büchlein, das mir mein geliebtes Vaterle gab mit den Worten: »Laß dir dies Buch ein Freund und Vertrauter werden in der Fremde. Ein Tagebuch führen ist eine gute und schöne Gewohnheit. Man ist ganz offen, man gibt sich Rechenschaft über sein Denken und Handeln und es ist eine bleibende Erinnerung.« – So will ich es gebrauchen. Der liebe Gott gebe, daß ich nur Gutes und Frohes hineinschreiben kann. –
Der Abschied war herb und bitter, aber wir waren beide tapfer, beide, denn auch dem Vaterle ist's arg nah gegangen. Am letzten Abend kam er früher vom Sanatorium herüber wie sonst, nahm mich bei der Hand und trat mit mir auf die Terrasse vor dem Haus.
Unvergleichlich schön lagen der See und die Berge im Abendglühen. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und frohen Menschenstimmen. Die Fischerboote kamen heim, in der Ferne verschwand ein Dampfer. Und wohin ich schaute, ein Blütenmeer. Die alten, großen Birnbäume standen wie schneebeladen da, in den Beeten leuchteten die Schwertlilien und Frauenherzen violett und rot. Ums Haus blühte der Flieder und Goldregen. Und alles, alles in Sonnenglühen getaucht. Es war eine Pracht – und ich mußte sie verlassen. Daß ich das alles so sah, so genießen konnte und aufschreiben kann, das verdank' ich meinem Vaterle, der mir immer alles Schöne draußen in der Natur gezeigt hat und die Liebe zur Heimat ins Herz pflanzte. Wie lieb ich sie habe, das merkte ich eigentlich erst beim Abschied. Ist das immer im Leben so? Daß man das erst recht liebt, was man verloren hat?
Ich hoffe nicht, denn das wär' traurig. In der Schule lernten wir das Gedicht: »O lieb', so lang du lieben kannst,« – das will ich doch recht beherzigen. –
Vaterle sprach draußen so liebe, gute Worte, daß der Mensch jede neue Aufgabe mit Freuden und mit besten Kräften erfüllen soll und daß er hoffe, daß ich sein tapferes und tüchtiges Hannele sein werde.
»Schau', Hannele,« sagte er, »ich hab' dich immer zu Hause behalten, du hast weder Kochkurse, noch Nähkurse, noch Kinderpflegekurse mitgemacht, du hast alles daheim gelernt, aber ich weiß, du wirst mir Ehre machen. Ich glaub', ich hab' dich zu einem tüchtigen Mädel erzogen, das anpacken kann, wo es nottut. Und was deine wissenschaftliche Ausbildung anbelangt, da kannst du dich überall sehen lassen, grad weil's keine einseitige Berufsbildung war, die ich dir gab.« Er pätschelte mich auf die Schulter und schloßt »Also mach's gut!«
Ich gab ihm die Hand drauf und dann gingen wir noch ein bißle auf und ab.
Warum mußte es auch eine solch herrliche Mondnacht sein!
Ich konnte und konnte nicht einschlafen und endlich stand ich auf und schlich mich aus dem Hause hinunter an den See, löste die Gondel und fuhr hinein in den gleißenden Mondschein. Ich mußte an Storms »Immensee« denken, wie der junge Mann hinausschwimmt zur Wasserlilie, die im Mondlicht liegt. Sie war ihm Sinnbild seiner Liebe und er hat sie nicht erreicht. –
Für mich blüht noch keine Lilie im Mondschein – wird sie einmal für mich blühen und werde ich sie erreichen? –
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Samstag, 9. Mai.
§»Liebes Vaterle! Meine beiden Telegramme wirst Du bekommen haben, jetzt will ich Dir ganz ausführlich berichten über meine Reise. Ich nenne sie meine Reise vom Sonnenberg ins Schattental, denn bis jetzt erscheint mir alles um mich in tiefem Schatten. Warum mußte auch am Abschiedsmorgen der See so blau, so glitzernd sein, warum strahlten die Schneeberge so überirdisch schön, warum blühte und duftete der Sonnenberg schöner denn je? O Vaterle, der Abschied war doch arg, arg bitter, die erste Stunde saß ich ganz unglücklich da, ich war gottlob, ganz allein, aber dann hörte ich im Geist Deine liebe Stimme sagen: »Guck' dich nur ja recht um auf der Fahrt. Weißt du, die Welt ist überall schön, man muß nur nie vergleichen, sondern jedes Bild für sich betrachten.«
Und da verbiß ich meinen Schmerz und schaute zum Fenster hinaus. Und es war schön!
Zuerst die herrlichen Berge und Wälder im Maiengrün, dann die Felder, Dörfer und Städte voll arbeitender Menschen, und wieder fiel mir ein Ausspruch von Dir ein. Du sagtest einmal:
Wenn ich so im Zuge durch die Lande sause, dann packt mich immer eine große Hochachtung vor den Menschen, diesen kleinen, winzigen Geschöpflein auf dem Erdball. Mit ihrer emsigen Arbeit haben sie der Erdoberfläche ihren Stempel aufgedrückt, sie haben sie eingeteilt in Felder wie ein Schachbrett, sie haben die Flüsse gelenkt, die Berge mit Wald bedeckt oder freigelegt, ihre Burgen, Städte und Dörfer stehen mächtig da.
Daran mußte ich denken und da kam mir zum Bewußtsein, wie Du bei all meinem Denken und Tun dabei bist und ein großer Trost kam über mich. Wenn wir auch getrennt sind, Du bist bei mir mit Deinem Geist und ich will Dein Kind sein in Gedanken und Taten.
So genoß ich jetzt die Reise mit frischem Mute. Aber eine kleine Enttäuschung brachte sie mir doch. Weißt Du, in vielen Jungmädchenromanen kommen so interessante Reiseerlebnisse vor: Da steigt ein eleganter Herr ein, der sich natürlich in die Heldin verliebt und nachher kriegen sie sich. Ich hab' gar, gar nichts dergleichen erlebt, obwohl ich ja nicht im Damenabteil gefahren bin. Eine nette, alte Dame, die aber gar nichts Romanhaftes an sich hatte, fuhr mit mir und am Abend da kam's und ging's an jeder Station, aber die Leute redeten nie miteinander. Ist das schon das förmlichere Norddeutschland? Wenn ein Neuer hereinkam, dann guckten die andern ihn ganz feindselig an, und der Gute hatte doch auch seinen Platz bezahlt und wollte halt mitfahren. Warum sind eigentlich die Menschen nicht freundlicher gegeneinander?
Es war Nacht, als ich in Weimar ankam. Ich hatte doch ein bißle Angst, wie die fremden Verwandten, die ich nur bei Maxens Hochzeit kennen gelernt hatte, mich empfangen würden. Aber es ging alles gut und der Aufenthalt in Weimar war herrlich. Am Bahnhof war der Bruder Hertas sehr galant. Die Schwiegereltern waren sehr freundlich. Sie leben in einer reizenden Villa, sind in der Hofgesellschaft, aber der Goethesche Geist, der doch eigentlich über allem in Weimar schweben sollte, ist schon arg verflüchtigt, wie Du ja gleich damals bei der Hochzeit entdecktest. Aber das war mir gleich. Am andern Tag ließ ich mich überall herumführen, und der Vetter war ganz verblüfft, daß ich alles so genau wußte – o Vaterle, es war doch herrlich, daß ich mit Dir Goethe und Schiller gelesen und studiert hab'. Das Goethehaus, das herzige Gartenhaus, Tiefurt, das Wittumpalais, alles ist so schön, so reich an Erinnerungen, da lebt und webt der Goethesche Geist! Auch im Schillerhaus war ich, und ich war fast noch ergriffener wie bei Goethe. Dort atmet alles Glück, Anerkennung, Reichtum. Hier fast Ärmlichkeit, Leid und Schmerz über das frühe Ende dieses herrlichen Menschen.
Du sagtest immer: Für euch junge Menschen muß doch Schiller das Höchste sein, und trotz aller Verehrung und Bewunderung für Goethes Größe, fühlte ich in dem stillen Zimmer eine solch heiße Liebe für Schiller, solch ein leidenschaftliches Mitleid. Ich muß Dir darüber schreiben, denn als ich davon anfing bei dem Vetter, da lachte er nur und sagte: ›Ach, lassen Sie doch die alten Herren, mir steht dieser Goethe- und Schillerrummel bis oben.‹ Und er fing an, mir Komplimente zu machen, und dazwischen erzählte er drollige Sachen, daß ich trotz allem lachen mußte. Aber von meinen Gedanken schwieg ich natürlich.
Am andern Tage fuhr ich weiter und kam um 1 Uhr an. Bruder Max und Schwägerin Herta waren am Bahnhof, beide arg lieb und nett und natürlich erfüllt von ihrer Japanreise. Ich versteh' ja nicht viel von der japanischen Kunst und gefallen tut sie mir auch nicht, nur die Farben sind schön und leuchtend, ich sagte denn auch gleich: ›Also gell, ihr verschont mich mit eurer japanischen Kunst, mich interessieren eure beiden Buben viel mehr.‹ Sie lachten und versprachen, mich nur einzuführen in meine Pflichten und mir alles zu zeigen. Ihr Haus ist sehr nett. Es ist ein Doppelhaus, in der einen Hälfte wohnen wir, in der andern eine Hauptmannsfamilie. Der Garten gehört beiden Mietern.
Und jetzt, Vaterle, Großvaterle, die beiden Buben sind herzig, goldig zum Fressen! Sie sehen sich gar nicht gleich, wie sonst Zwillinge. Der eine, das Mäxle, ist blond, das Hermännle ist dunkel. Ich kann Herta wirklich nicht begreifen, daß sie jetzt von den Kindern fortgeht. Sie sagt aber: ›Mit einem halben Jahr kennen die Kinder ihre Mutter noch nicht. Wer ihnen die Nahrung gibt und sie pflegt, den kennen sie.‹ Sie liest alles aus Büchern. O Vaterle, ich muß es sagen, Du wärst, glaub' ich, nicht zufrieden. Alles wird so geschäftsmäßig behandelt, wie wenn die Buben auch Kunstwerke zum beschreiben und betrachten wären. Ich hab' auf die ganze japanische Geschichte eine arge Wut, es ist doch viel Modesache dabei.
Bruder Max hat ja viel Anerkennung dafür, er gilt als bester Kenner und sein Buch soll ein großer Erfolg werden. Besonders um dafür abschließende Studien zu machen, gehen sie hinüber. Na, mir ist's gleich, ich hüte die Kinder und will alles gut machen als Dein tapferes Hannele. Verzeih' mir nur, aber manchmal denk' ich, wenn die beiden nicht ihre japanische Kunst im Kopf hätten, wär' ich daheim auf meinem lieben Sonnenberg bei Dir! Aber ich will mich fügen und Du bist ja bei mir im Geiste.
Behüt' Dich Gott, und sei herzlich geküßt von Deinem Hannele.«
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10. Mai.
Die ganze Reise und Ankunft hab' ich ausführlich heimgeschrieben. So kann ich gleich mit meinem Leben hier beginnen. Zwei Tage war ich noch mit Max und Herta zusammen. Sie waren beide arg lieb, besonders Bruder Max, aber er ist mir doch ein bißle fremd geworden. Ob das immer mit verheirateten Geschwistern so geht? Max ist viel selbstherrlicher geworden, seine Frau vergöttert ihn und ist ganz sein Werkzeug. Und das soll eine glückliche Ehe sein? Das versteh' ich nicht. Er und sie lieben sich ja, aber er merkt gar nicht, wie er sie tyrannisiert und sie ist glücklich dabei. Mögen sie es bleiben, aber meine Auffassung von der Ehe ist anders. Da müssen doch beide sich gegenseitig Opfer bringen, beide müssen sich abschleifen und nicht immer nur eines. Und wenn sie Kinder haben, so müssen doch die Eltern zuerst für die sorgen und können nicht mehr nur an sich denken.
So mein' ich halt, hätten die beiden ihre Japanreise aufgeben müssen, oder wenigstens Herta. Ich will ja so gern die Kinder hüten und beschützen, aber kann ich's auch, wird in den 4 Monaten nichts geschehen? Mir wird oft ganz angst und bang. Ich hab's auch Max und Herta gesagt, aber die haben mich beruhigt und so gelobt, daß ich ganz wild geworden bin! –
Herta hat mir alles gezeigt; dann ist sie mit mir ins Nachbarhaus gegangen zu der jungen Frau Hauptmann, die mich bemuttern und mir auch hie und da helfen soll. O, wie bin ich entzückt von dieser Frau, ihrem Mann, den drei Kindern und dem künstlerischen Heim. Und sie war so lieb und gut mit mir. Als wir fortgingen, sagte Herta:
›Sie ist eine ganz außerordentliche Frau, ich bin ja nicht immer mit ihr einverstanden, aber ich bewundere sie.‹ Ich schwieg, denn ich hatte das Gefühl, daß ich immer auf der Seite der Frau Hauptmann sein würde. Dann besuchten wir Onkel Ernsts. Wie ich mit denen auskomme, weiß ich noch nicht. Ihre Wohnung ist sehr überladen, sehr viel Gesellschaftsräume, die Tante sehr elegant, redet arg geistreich. Sie will meine Bildung in die Hand nehmen. Onkel Ernst ist still, ich hab' das Gefühl, er läßt alles gehen wie's geht und will nur seine Ruh' haben. Gerty ist ›todschick‹, wie sie zehnmal sagte. Sie ist sehr hübsch, aber sie weiß es und das merkt man. Wie sagt Goethe: ›Man fühlt die Absicht und man wird verstimmt‹, wenigstens mir ging's so. Vetter Karl-Adolf geht aufs Gymnasium und ist ein lieber Bub. –
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14. Mai.
Liebes Vaterle! Nun sind Max und Herta schon drei Tage fort und ich bin Alleinherrscherin. Die beiden sind nach Berlin gefahren, früher als beabsichtigt, ich war nur noch zwei Tage mit ihnen zusammen. Der erste Tag verging mit Schauen, Schwätzen und Auspacken, am Nachmittag machte Herta mit mir zwei Besuche bei unsern Nachbarsleuten, die mir arg gut gefallen haben, und bei Onkel Ernsts. Da geht's nun sehr vornehm zu; Diener, Auto, eine große Wohnung, sehr schön, aber nicht gemütlich. Onkel Ernst war arg lieb gegen mich, auch Tante und Gerty, aber mit den beiden bin ich nicht recht warm geworden, ich glaub', ich passe nicht zu ihnen. Aber ich will noch warten mit meinem Urteil, sonst bist Du nicht zufrieden. Am nächsten Tage waren wir alle zum Abschiedsfest für Max und Herta bei ihnen eingeladen. Ich wäre eigentlich lieber gemütlich daheim geblieben, aber Herta wollte nicht, sie fand es zu sentimental, den Abschied so langsam vorzubereiten. So zog ich mich nett an, und wir gingen durch die Stadt. Vaterle, jetzt begreif' ich Dein Urteil über die Mode. Weißt Du, ich war ganz traurig, als Du mir nicht erlaubtest, meine lustigen, bunten Kleider einzupacken und immer nur für schlichte Farben warst, für das einfache Leinenkleid, und Du sagtest, für die große Stadt passen die leuchtenden Farben nicht. Ich dachte: Warum freut sich's Vaterle über sein buntes ›Sommerblümle‹, in der Stadt ist doch auch Sommer. Aber jetzt seh' ich, Du hast recht, recht wie immer. In den Straßen voll grauer Häuser, ohne Grün, ohne Bäume, zwischen den Wagen und elektrischen Bahnen, da sieht das Bunte so auffallend, so grell aus. Wie an Fastnacht kamen mir die Leut' alle vor, so verrückt, und ich war froh, daß Herta auch ein einfaches, weißes Leinenkleid anhatte, das zwar arg eng war. Ich mußte immer ans Nähkätterle denken, die sich entrüstete, als die Jackenkleider für mich ankamen, über die engen Röcke.
›Mer hätten's doch zahlen können, warum haben Sie so g'spart am Stoff.‹
O, Nähkätterle, meine Röcke sind noch weit gegen alle, die ich hier sehe. Wenn sie nicht geschlitzt wären, fast bis ans Knie, könnten die Frauen gar nicht drin laufen. Wenn dann immer ein nettes Fußwerk herausguckte, dann ließ ich mir's gefallen, aber man muß sich oft totlachen über die krummen Bein' und »Zigarrenkistlefüß'«, die da zum Vorschein kommen.
Das Essen war sehr gut, es gab herrliches Eis mit viel Schlagrahm. Der ist überhaupt in Norddeutschland an der Tagesordnung und heißt »Schlagggsahne« mit mindestens drei g. Man braucht ihn nicht zu bestellen, wie bei uns, man kann ihn jeden Tag kaufen. Ich werd' es aber nicht allzuoft tun, obwohl es halt meine Lieblingsspeise ist.
Nach Tisch tutete das Auto und wir weiblichen Wesen stiegen ein, während die Herren zu Fuß wanderten, wir wollten uns dann treffen. Die Fahrt war herrlich. Ich mußte nur schauen, denn alles ist so anders wie bei uns. Schon die Straßen. Es sind keine so großen weißglänzenden Landstraßen, sondern eine teilweis gepflasterte Chaussee und oft daneben ein weicher sogenannter Sommerweg. Dann diese endlosen Kornfelder, Rübenfelder, so weit man schauen kann und dazwischen Windmühlen und schwarze Streifen Kiefernwälder als Abschluß am Horizont. Auch die Dörfer sehen anders aus. Keine lustigen, weißen Bauernhäuser mit grünen Läden und viel Blumen an den Fenstern und den Misthaufen vor der Tür, die offen und frei nebeneinanderliegen, sondern eine lange Dorfstraße, daran liegen die Häuser mit den Höfen dahinter und alles mit einer Mauer abgeschlossen, man sieht nichts vom Misthaufen, vom Leben und Treiben der Menschen und Tiere wie bei uns im Süden. Es ist alles so ernsthaft. Auch die Wälder. Aber in dem Forsthaus, in dem wir einkehrten, sah's fröhlich aus. Ein Förster in grüner Uniform kam heraus und die Frau Försterin brachte Kaffee und »Stullen« mit Schinken, richtiges gutes Landbrot. Nachher gingen Gerty, Karl und ich in den Wald. Aber Gerty konnte nicht recht laufen in ihrem engen Rock und den Stöckelschuhen, sie fand es tödlich langweilig und kehrte wieder um. Karl und ich freuten uns über den herrlichen Geruch, die Eichhörnle und über viele Rehe, die wir auf einer Lichtung stehen sahen. Es war so schön, so schön, wohl ganz anders wie daheim, aber Vaterle, Du hast recht, die Natur ist überall schön auf der ganzen Welt.
Das war mein erster Ausflug im »Schattental«, es war auch der erste Sonnenstrahl.
Hier hab' ich mich nun allein eingerichtet. Ich hause mit Ricke und einem Zimmermädchen. Ricke ist so eine preußische Nanett', sie regiert das Hauswesen, ist aber arg nett gegen mich. Sag' aber der Nanett', sie brauche nicht eifersüchtig zu sein, sag' ihr nur, die Ricke wüßte keine so schönen Geschichten aus ihrer Jugend, von Liebeserklärungen und Eroberungen, denn sie wäre sicher nie so hübsch gewesen wie unsre liebe Nanett' mit dem klassischen Profil! Das Zimmermädchen besorgt den Haushalt und die Wäsche und ich die beiden Buben. Nur jeden Nachmittag will Ricke sie für sich haben. Das ist ganz gut eingerichtet, denn dann kann ich all den Aufforderungen zum Tennis, zu Gartenfesten nachkommen, ohne meine Pflicht zu versäumen. Die Buben schlafen auch bei mir im Zimmer, sie sind arg lieb in der Nacht und schreien nie. Ich bin fast den ganzen Tag mit ihnen im Freien. Gottlob! liegt das Haus im Grünen, in einer richtigen Stadtwohnung hätt' ich's, glaub' ich, nicht ausgehalten. So seh' ich doch Bäume und Blumen, höre Vogelgezwitscher, und das heimelt mich an; wenn auch alles anders ist, und mich das Heimweh immer wieder packt. Aber ich will Deine schönen Worte beherzigen, ich dank' Dir so sehr für Deine Briefe. Ich werde nun pünktlich jeden Sonntag schreiben und berichten, wie es uns dreien geht, und immer wieder schreiben, wie Dein Hannele an Dich denkt und Dich liebhat als
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14. Mai.
So wundervolle Worte hat Vaterle mir geschrieben. Ja, es ist wahr, bis jetzt war mir der Sonnenberg das Herrlichste, das Schönste. Da lebte ich in Glück und Freude und genoß nur Schönes und Liebes. Und ich hab' eigentlich immer nur genossen, denn auch meine Arbeit war mir Freude und Genuß, und nichts weiter geleistet, als daß ich froh und dankbar war und freundlich und lieb gegen jeden. Aber eigentlich war und ist es doch der Sonnenberg vom Vaterle und wie er schrieb: »Schau', Kind, ich habe mich auch durch manches Schattental gerungen und gekämpft, bis ich auf unsern Sonnenberg kam und dort unser Heim baute für Euch Kinder! Und es ist ja immer ein Kreislauf im Menschendasein. Auch Du wirst durch manches Schattental wandern müssen, bis Du Deinen Sonnenberg findest und aufbaust. Aber ich hoffe, Du hast so viel Licht vom Sonnenberg Deines Vaters mitbekommen, daß es auch die dunkeln Wege durchleuchtet« – da erfaßte mich das Bewußtsein, daß das ganze Leben noch vor mir liegt, daß meine glückliche Kindheit ja nur der Anfang war und daß hier, wo ich zum erstenmal allein etwas leiste, Pflichten und Verantwortung trage, mein Leben als erwachsener Mensch erst beginnt. Werde ich's richtig ausfüllen, werde ich ein guter tüchtiger Mensch werden? –
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Samstag, 16. Mai.
Wie die Frau Hauptmann Wartenberg möchte ich werden, sie ist für mich das Ideal einer deutschen Frau. Sie ist keine Schönheit, aber etwas Strahlendes geht von ihr aus. Ihre braunen Augen sind so sonnig und dabei so gescheit, ihr goldbraunes Haar ist lockig und voll und ganz einfach aufgesteckt. Sie hat so gar nichts Modisches, sondern es ist alles wie eigens für sie gemacht, obwohl sie kein »Eigenkleid« trägt und der Mode nicht aus dem Weg geht. Auch ihr Haus ist ganz auf sie selber zugeschnitten. Alles hat bei ihr »a Gattig«, wie die Schweizer sagen. Es sind doch dieselben Räume in den beiden Häusern, Hertas Einrichtung ist viel reicher, viel kostbarer, aber es ist halt von einer Möbelfabrik hereingestellt, während bei Wartenbergs alles selber ausgedacht, viel selber gemacht und alles selber eingekauft ist für ihren ganz bestimmten Zweck. Heut reden alle Leut' von individuell, aber ich glaub', sie reden viel mehr davon, als sie danach handeln, denn mir kommt's vor, als wenn die meisten doch nur täten, was grad die Mode will. –
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Am Abend.
Ich konnte heut nachmittag nicht weiter über die Frau Hauptmann schreiben, denn sie kam selber herüber zu mir auf die Veranda. Wir sagen daheim arg unhöflich: »Wenn mer de Esel nennt, kommt er g'rennt«, diesmal sag' ich lieber den norddeutschen Vers: »Wenn man von der Sonne spricht, so scheint sie!« So war's auch.
»Kommen Sie ein wenig zu mir in den Garten, Fräulein Hannele, ich bin allein und Sie auch, wie ich sehe.«
»Ja, Frau Hauptmann, Ricke ist mit den Buben im Stadtpark. Sie will sie unbedingt jeden Nachmittag für sich haben.«
»Das ist recht so, dann haben Sie auch Ihre freie Zeit. Meine drei sind auch fort, ihre Tante hat sie sich heute ausgebeten. Meine Schwägerin hat selber keine Kinder, da muß ich manchmal unsre drei schicken. Ich bewundere sie, die sich so über ihr Alleinsein grämt, daß sie so gut gegen fremde Kinder ist. Ich weiß nicht, ob ich's könnte.«
»Doch, o doch,« rief ich, »Sie können doch alles Gute und Schöne.«
»Sagen Sie das nicht, Sie kleine Schmeichelkatze. Es ist so leicht, im Glück gut zu sein, ob man's auch im Unglück könnte? Man muß sich das immer und immer wieder sagen, und man darf sein Glück nie selbstverständlich hinnehmen. Immer dankbar sein, dann genießt man alles Gute doppelt.« Sie fuhr sich übers Haar, eine Bewegung, die ich gleich an ihr bemerkt hab'.
»Aber nun hören Sie,« fuhr sie fort, »am Donnerstag abend haben wir eine Jugendgesellschaft, da wollte ich Sie herzlich einladen. Und wollen Sie mir vorher ein wenig helfen?«
»Ja ja, mit tausend Freuden.«
»Also abgemacht, Sie kommen nach Tisch, dann richten wir alles, mein Mann hilft natürlich tüchtig mit. Und jetzt sagen Sie mir, wie gefällt Ihnen unser verschrienes Norddeutschland. Ich bin ja auch eine Süddeutsche, aber ich sage doch ›unser‹, denn hier habe ich meine Heimat gefunden.«
»Ich hab' noch nicht viel davon gesehen, aber ich glaub', ich kann jetzt schon sagen, es gefällt mir gut. Mein Vater hat mir immer gesagt: ›nur beim Betrachten nie vergleichen, sondern überall das Schöne und Eigenartige suchen.‹ Und so suche ich hier nicht nach Bergen, Tälern und Höhen, die unendliche Ebene mit dem weiten Horizont, den Kornfeldern, den schwarzen Kiefernwäldern hat so etwas Großzügiges und Ernstes.«
»Wie die Menschen,« nickte die Frau Hauptmann. »Natur und Menschen stimmen immer zusammen. Im heiteren, fruchtbaren Süddeutschland, da brauchen sich die Menschen nicht so zu quälen, es wächst ihnen ja fast alles in den Mund. Die Natur ist verschwenderisch, im Norden ist sie karg. Da muß ihr der Mensch alles in harter Arbeit abringen. Ich will Ihnen ein kleines Gedicht sagen, das ich meinem norddeutschen Mann zum ersten Geburtstag unserer Ehe schenkte.« – Und nun sprach sie ein Gedicht, das ich mir nachher von ihr geben ließ, drum schreib' ich es hier an die richtige Stelle:
Aus nordischer, karger Erde
Ist hart und rauh ihr Gebilde,
Und blüht doch so leuchtend rot –
Und blüht trotz Sturmwind und Regen,
Schmückt schimmernd die ernste Heide,
Bis zu dem herbstlichen Tod.
Auf nordischer, karger Erde
Stehn hart und ernsthaft die Menschen,
Und doch ist ihr Herzblut so rot –
Schlägt heiß in Arbeit und Kämpfen,
Schlägt heiß in Begeist'rung und Liebe
Getreu bis in den Tod!
»O, Frau Hauptmann, Sie dichten,« rief ich ganz begeistert.
»Für den Hausgebrauch,« lachte sie.
»Ach, das muß herrlich sein.«
»Ja, es gibt mir viele schöne und frohe Stunden. Ich habe schon mit acht Jahren angefangen, dann habe ich immer Tagebuch geschrieben – das tun Sie sicher auch?« fragte sie plötzlich, »das sah doch ganz wie ein Tagebuch aus, was ich vorhin auf Ihrem Tische liegen sah.«
»Ja,« gestand ich, ganz froh, auch etwas Gemeinsames mit ihr zu haben.
»Das ist recht, das gibt so viel Klarheit. Und was für Freude hat es meinem Mann als Bräutigam gemacht, als ich ihm meine Tagebücher zum Lesen gab. So wird's Ihnen auch gehn.«
»An den Bräutigam hab' ich wirklich noch nicht gedacht,« lachte ich.
»Desto besser, dann können Sie noch länger Tagebuch führen. Mit der Verlobung hört's nämlich meistens auf, da hat man ja einen Menschen, dem man alles sagen kann und das bleibt auch später so. Wir haben uns ein Ehebuch angelegt, in das wir alle Ereignisse gemeinsam eintragen, da schreibe ich auch meine Gedichte hinein.«
»Darf ich das einmal sehen?« bat ich.
»Ja, gern.«
»O, danke, danke vielmals, Frau Hauptmann.«
»Da kommt mein Mann,« rief sie plötzlich, über ihr Gesicht ging ein freudiger Schein und sie eilte ihm entgegen. Richtig, Hauptmann Wartenberg sprang an der Gartentür vom Pferd und trat schnell herein, während der Bursche mit dem Pferde forttrabte.
»Grüß' dich Gott, mein Lieb!« hörte ich die Begrüßung und beide schauten sich so froh, so strahlend an, daß ich ganz neidisch wurde. Er begrüßte auch mich arg herzlich als »unsre liebe neue Nachbarin.« Ich mag ihn sehr gern, er imponiert mir mit seiner Ruhe und Tüchtigkeit. Er betet seine Frau an und ist rührend mit seinen Kindern, etwas streng mit den Buben, aber die vergöttern ihren Vater. Ein so schönes, inniges Familienleben, wie wohl unseres gewesen wäre, wenn Mutterle nicht so früh hätte sterben müssen. Ich hab' sie ja gar nicht gekannt. Ob sie wohl dem Onkel Ernst, ihrem Bruder, glich, dann war sie sanft und gut, denn das ist er auch, nur für einen Mann paßt das nicht so gut, es wird leicht zur Schwäche. Onkel Ernst ist so schwach gegen Tante Klara, er tut alles, was sie will, das hab' ich bei der Autofahrt gleich gemerkt. Ja so, davon hab' ich ja noch gar nichts geschrieben, ich hab's in Vaterles Brief erzählt. Ich merke, daß ich müde bin, denn mein Bericht ist ganz durcheinander gekommen. Ich will aufhören.
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Sonntag, 17. Mai.
Liebes Vaterle! Heut hab' ich ein bißle Heimweh nach unserem schönen Sonntagmorgenfrieden auf dem Sonnenberg. Wie feiertäglich war's doch, wenn die Glocken über den schimmernden See klangen, es war wie wenn die ganze Natur in Sonntagsstimmung lauschte. Hier merkt man nicht viel vom Sonntagmorgen. Nicht einmal viel Kirchgänger sieht man, ich glaub' in der Großstadt sind die Leute nicht arg fromm, sie haben keine Zeit. Sie hasten und eilen immer, von der Arbeit, zum Vergnügen, ein behagliches Ausruhen und Nachdenken gibt's nicht oft, wie mir scheint. Was zitierst Du immer von Scheffel: ›Still liegen und einsam sich sonnen, ist auch eine tapfere Kunst‹. Die Kunst wird hier wohl selten gepflegt, und doch kann man dabei am besten gute und fromme Gedanken haben. Du und ich haben dabei die schönsten Stunden verlebt, gell lieb's Vaterle? Das waren unsere Andachtsstunden, wenn wir so am Sonntagmorgen hinauswanderten und uns am Seeufer lagerten, und ich Dich über alles fragen durfte und Du mir die Welt, die Religion, das Leben zeigtest, daß ich es begreifen konnte. Wie schön war das; wie ich das hier vermisse. Aber Du mußt nicht glauben, daß ich den Kopf hängen lasse, nein, ich will doch Dein tapferes Hannele sein. Ich bin lustig und sing' den Buben vor und freu' mich über jedes grüne Blättle und Blümle, über das Vogelgezwitscher im Garten, über all die Menschen, die gut zu mir sind. Und die zurückhaltenden Norddeutschen sind alle arg nett gegen mich. Wohl lachen sie manchmal über meine süddeutsche Sprach', aber nicht spöttisch, sondern voll Freud', sie hören's gern. Am liebsten hab' ich bis jetzt die nette Frau Hauptmann Wartenberg mit ihrem Mann und den drei herzigen Kindern. Am Donnerstag bin ich bei ihnen zu einer Tanzgesellschaft eingeladen, meine erste Gesellschaft hier draußen in der Welt! Halt' mir den Daumen, daß ich nicht sitzen bleibe! Denn, weißt Du, wenn mir das passiert, geh' ich nie mehr auf Bälle. Wenn die Herren nix von mir wissen wollen, dann lass' ich sie laufen. O Vaterle, nun hör' ich Dein Lachen. Lach' nur Dein dummes Hannele aus, es hat's manchmal nötig. – Aber wenn ich an Dein Lachen denk', dann kommen mir fast die Tränen, so sehn' ich mich danach. –
Den beiden Buben geht's gut, sie schlafen, trinken, werden trocken gelegt und schreien, das ist ihr Tageslauf.
Behüt' Dich Gott und sei geküßt von
Deinem Hannele.«
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22. Mai.
Gestern war also der große Tag für mich: meine erste Gesellschaft.
Den ganzen Nachmittag half ich der lieben Frau Hauptmann beim Richten und Vorbereiten. Es war nur Jugend eingeladen, drum gab's nur kalte Speisen, aber welche Menge! Frau Wartenberg lachte, als ich ganz erstaunt war, und sagte: »O Fräulein Hannele, Sie kennen unsre Leutnants nicht, die haben einen tüchtigen Appetit.«
Gott sei Dank! dachte ich, denn Leut' mit gutem Appetit können nicht so hochmütig und blasiert sein, wie Gerty mir die hiesigen Leutnants geschildert hatte.
»Machen Sie sich recht, recht schön,« sagte die Frau Hauptmann, als ich um 6 Uhr fortging, um meine beiden Lieblinge noch zu besorgen. Ich badete sie, gab ihnen die Milch, und dann zog ich mich schnell an. Da kam zuerst ein wehmütiger Gedanke über mich. In vielen Geschichten wird der erste Ball geschildert als große Staatsaktion mit langen Vorbereitungen, mit Erscheinen der Friseuse, mit mütterlichen Ratschlägen. Alles, alles kann ich ja gut vermissen – nur, daß ich so ganz allein war, kein Mutterle, das mich schmückte – aber dann verbiß ich tapfer meine Wehmut und holte eines von meinen drei fröhlichen Kleidern hervor. Da stand die liebe, alte Nähstub' auf dem Sonnenberg vor mir mit dem alten Kätterle, das an der Nähmaschine saß und ganz verwundert schaute, als Vaterle sagte: »Und nun noch ein paar recht fröhliche Kleider, weiß und lustig, vielleicht mit bunten Bändern.« Und so nenn' ich meine Kleider: fröhliche Kleider und ernste Kleider und schaffige Kleider und stille Kleider.
Ich zog mich an und guckte in den Spiegel und war wirklich ganz zufrieden – und dann schnell hinüber. Da waren schon eine Menge Gäste angekommen, denn als ich die Tür aufmachte, da blitzte es nur so von Uniformen und dazwischen von hellen Kleidern. Die Gruppe an der Türe drehte sich um und schaute mir entgegen, da fühlte ich, wie ich rot wurde. Aber tapfer ging ich auf Gerty zu, die in der Mitte stand.
»Grüß' Gott, Gerty, bitte stell' mich deinen Freundinnen vor.«
Gerty lachte und sagte:
»Hier meine Cousine, Hannele Hohenzell, direkt vom Lande importiert,« und spöttisch fügte sie hinzu: »nach der allerneusten Mode gekleidet.«
Zuerst war ich verlegen, aber der Spott machte mich wild, und ich sagte trotzig: »Mach' mir mein fröhliches Kleid nicht schlecht, bei mir hat wenigstens der Stoff gelangt, das kann man nicht von allen, die ich hier seh', behaupten.«
Dann verbeugte ich mich und ging schnell weiter, während die Herren alle arg lachten. Was sie redeten, verstand ich nimmer. Ich sagte der lieben Frau Hauptmann Grüß' Gott, sie nahm mich und führte mich herum, und alle Herren drängten sich herbei und ließen sich vorstellen, es war ein Geschwirr von Namen, verstanden hab' ich keinen. Nachher dann schon. Auch zu Gertys Gruppe kamen wir und da sah ich, wie ein Leutnant, der neben Gerty stand, mich lange anschaute mit so ernsten, schönen Augen. Der kam nachher auch zu mir und sagte: »Gnädiges Fräulein, was meinten Sie vorhin mit dem ›fröhlichen Kleid?‹« Und da erzählte ich ihm von der Nähstub', vom Vaterle, vom Sonnenberg, und wurde gleich ganz vertraut mit ihm.
Aber dann kam Gerty und rief: »Herr von Raven, wo bleiben Sie, wir wollen tanzen. Ist das nicht blöd, es soll kein one step und kein Tango getanzt werden, Frau Wartenberg erlaubt es nicht!«
»Gottlob!« rief ich, »die neumodischen Tänze kann ich nicht und will sie auch gar nicht lernen, denn es sind doch Tänze von fremden und wilden Völkern. Wir deutschen Mädels sollten uns schämen, Negertänze nachzumachen.«
»O, die Weisheit vom Lande,« spottete Gerty.
Ich hab' den ganzen Abend bemerkt, daß Gerty sich über mich lustig machte und mich vor den andern verspottete. Aber es hat ihr wenig genützt, denn ich war immer umringt von den Herren, sie tanzten alle gern mit mir und machten mir viel Komplimente. Glauben kann man sie ja nicht, aber Spaß macht's doch. Herr von Raven hat mir am besten gefallen. Schade, daß er so ganz im Bann von Gerty zu sein scheint. Beim Abschied sagte er: »Gnädiges Fräulein erzählten mir so schön vom Sonnenberg, dort ist jetzt aber sicher tiefer Schatten, denn die Sonne ist ja zu uns gekommen.« Und als Frau Wartenberg mir einen Kuß gab und sagte: »Gute Nacht, Sie liebes, sonniges Mädel,« da leuchteten seine Augen auf – oder hab' ich mir's nur eingebildet? Davor will ich mich ganz besonders hüten, ich denke mir die Enttäuschung furchtbar, wenn man sich einbildet geliebt zu werden und nachher steht man vor dem Nichts. – Doch genug, ich glaub', ich fange schon an von der Liebe zu schreiben und hab' erst ein bißle in das Weltgetriebe geguckt. –
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23. Mal.
Kaum war ich heut nach Tisch fertig mit Aufräumen, Anziehen der Buben für den Spaziergang, Anziehen von mir für das Tennis, als es tutete und Gerty im Auto an der Gartentür erschien.
»Schnell, schnell, Mama braucht nachher das Auto, wir müssen uns eilen!« rief sie und ich sprang hinunter. Im Wagen saß noch ein Herr, der sich langsam erhob als ich näher kam, unverkennbar ein Engländer.
»Hannele, hier Mr. Watson,« stellte Gerty vor und dann ging ein Englischreden an, daß ich verwundert fragte:
»Du, Gerty, kann der Herr kein Deutsch?«
»O doch,« erwiderte der selber.
»Nu also!«
»Du kannst wohl nicht Englisch,« fragte Gerty und lachte.
»Aber, Gerty, du weißt doch, wie viel ich französisch und englisch reden muß im Sanatorium mit den Patienten. Das sind kranke Leut', da tu' ich's gern, aber mit den gesunden Ausländern red' ich nur deutsch. Wir sind doch in Deutschland.«
»Du bist wohl im deutschen Sprachverein?«
»Ach geh mir doch weg mit deinen ewigen Vereinen! Man kann doch auch einmal etwas für sich allein denken und tun.«
»Das verstehst du nicht,« erwiderte Gerty und fing wieder englisch an, aber der Mister antwortete deutsch zu meiner inneren Schadenfreude.
Wir waren angekommen bei den Plätzen, die alle von Spielern belebt waren, es sah lustig aus und ich freute mich. Einige Mädels und Herren von gestern waren da, nur nicht der eine, Herr von Raven. Der erste, der kam, war Leutnant Warburg, der mir gestern schon immer Komplimente gemacht hatte. Wir setzten uns zusammen auf eine Bank und guckten zu, Gerty und Watson waren gleich zum Spielen gegangen. Der Leutnant redete auf mich ein, daß ich immer lachen mußte.
»Gnädiges Fräulein, nehmen Sie sich nur in acht vor unserm Don Juan, der schwebt immer in höheren Regionen der Verehrung und Anbetung.«
»Das glaub' ich gern, mit so einem hohen Stehkragen, da muß man immer in die Höh' gucken, da kommt das Anhimmeln von selber.«
Herr von Raven, denn der war's, lachte und rief: »Da hast du's, Warburg.«
»Also mein Stehkragen interessiert Sie, mein gnädiges Fräulein?«
»Ja, ich dachte schon gestern immer, wie Sie wohl einen bayrischen Knödel herunterschlucken, und bei dem Gedanken wurde mir's ganz bang.«
»Ha! Ihre Phantasie beschäftigt sich mit mir voll Mitgefühl, ich danke Ihnen,« rief er mit Pathos und nun lachten wir alle drei.
»Herr von Raven, spielen Sie mit?« rief Gerty herüber.
»Nein, mein gnädiges Fräulein, ich komme heut nur als Zuschauer.«
»Dann los, Hannele!«
Ich sprang auf, obwohl ich viel lieber noch mit Herrn von Raven geschwätzt hätte. Aber dann freute ich mich, ihm zu zeigen, daß ich eine gute Spielerin bin. Und wirklich, mein Partner, ein netter Leutnant Flemming und ich, wir schlugen Gerty mit ihrem Engländer. Raven und Warburg klatschten Beifall, kriegten dafür einen zornigen Blick von Gerty. Jetzt kamen noch die andern Mädchen von gestern, eine gefällt mir besonders gut. Sie heißt Isy Braun, ein schönes, großes Mädchen, mit braunen Augen und dunklem Kraushaar. Sie hat so etwas Lebensfrohes und Tüchtiges, die möcht' ich zur Freundin haben. Sie ist arg beliebt, alle Herren mögen sie, und ich glaub', ein Hauptmann Kampe, der liebt sie. Er war gestern schon immer in ihrer Nähe, ohne viel zu reden, als sie heute kam, da strahlte sein Gesicht, ich sah es ganz zufällig. Sie spielten auch zusammen als unsre Ablösung.
»Sie spielen ja glänzend, gnädiges Fräulein,« rief Warburg.
»Sie spielen wohl viel auf Ihrem schönen Sonnenberg?« fragte Raven.
»Ja, ich spiele immer mit den Patienten vom Sanatorium. Wir haben einen herrlichen Platz auf der Höhe, man kann weit, weit ins Land schauen. Unten liegt der See und drüber grüßen die Alpen, und herrliche Bäume geben Schatten!«
»Sie haben ein klein wenig Heimweh, mein gnädiges Fräulein?«
Fast wären mir die Tränen in die Augen geschossen, als er mich so lieb fragte. Zuerst konnte ich nur nicken, aber dann schaute ich ihn an und da – ich weiß nicht, wie's kam – war's mir auf einmal ganz fröhlich zumute und ich sagte:
»Aber es geht immer wieder schnell vorbei, besonders wenn Sie mich so freundlich fragen.«
Da wurde sein Gesicht auf einmal ganz ernst, fast traurig. Was war geschehen?
Ich wollte ihn gerade fragen, da war Gerty da und setzte sich auf die Bank. Ich hab' mich aber für sie geschämt, man konnte ihre Beine fast bis ans Knie sehen in ganz durchsichtigen Strümpfen, der Rock so eng, die Bluse so dünn! Und eine andere, die noch kam, war genau so durchsichtig, wirklich, ich dachte, im Badeanzug ist man mehr angezogen, wie in diesen engen, dünnen Sachen.
Wie hat Vaterle recht gehabt, ich muß ihm Abbitte leisten, denn ich war doch nicht so recht zufrieden, daß meine Kleider nicht ganz nach der allerneusten Mode gerichtet wurden. Auf den Modebildern kamen mir die schlangenartigen Damen so wunderhübsch vor. »Das Papier ist geduldig,« lachte 's Vaterle und er hatte recht, recht wie immer. Warum kommt mir die Erkenntnis manchmal so spät? Ich muß halt noch viel, viel lernen. –
»Wenn Sie das Bild eines altpreußischen Offiziers kennen lernen wollen, so schauen Sie meinen Freund Wittinghaus an, gnädiges Fräulein, dort kommt er,« sagte jetzt Raven. Ich schaute auf und sah einen jungen Leutnant, schlank und sehnig, mit schmalem, ernstem Gesicht und gerader, wie abgeschlossener Haltung. »Ein famoser Mensch, ich freue mich, daß ich im Oktober mit ihm zusammen zur Akademie komme.«
»Herr Wittinghaus ist ein fürchterlicher Streber,« sagte das Fräulein neben Gerty, Fräulein Ilse Berend, die Tochter eines Großkaufmanns.
»Sagen Sie das nicht, gnädiges Fräulein, das hat keinen guten Klang. Und Wittinghaus ist alles andere. Er ist pflichtgetreu und fleißig, aber kein Spielverderber und überall dabei.«
»Warum denn heut nicht beim Tennis?«
»Weil er Dienst hatte.«
»O, dieser entsetzliche Dienst. Ich war jetzt in England, da hatten die jungen Männer immer Zeit zum Sport. Unsre deutschen Männer sind Stubenhocker.«
Jetzt aber wurde Raven bös.
»Stubenhocker, wir Offiziere?! Da kennen eben gnädiges Fräulein unsern Dienst nicht.«
»Ach, ich nehme alles zurück, nur keine Gespräche über Dienst! Wir sind doch zum Vergnügen hier.«
Herr Wittinghaus war inzwischen herangekommen, begrüßte uns und wurde mir vorgestellt. Er gefiel mir gut. Er stellte sich neben Fräulein Berend und entschuldigte sich. Sie lächelte ihn an, mir kam es kokett vor, was ich mir darunter vorstelle. Sie sah entzückend aus dabei. Er scheint sie zu verehren, was ich nicht begreife, aber ich will noch nichts sagen, sondern gut zugucken. Mich wird wohl so schnell keiner verehren, denn der Leutnant Warburg zählt nicht. Da kann ich beobachten, das denk' ich mir sehr interessant. Dann kann ich vielleicht einmal einen Roman schreiben, ich möchte so furchtbar gern etwas dichten, berühmt werden, ach, das muß herrlich sein. Vaterle hat gesagt, ich soll alle kleinen. Begebenheiten aufschreiben, aber ich möchte lieber überwältigende Ereignisse schildern in meinem großen Roman, der mich zum Ruhme führt. –
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28. Mai.
Ich seh' hier so viel Fremdes und Eigenartiges. Manches gefällt mir, aber manches kann ich nicht verstehen. Das ist vor allem Onkel Ernsts Hauswesen. Jedes macht was es will, kommt und geht, und nicht einmal die Mahlzeiten werden eingehalten. Und doch sagt Vaterle immer: »Die Mahlzeiten sind die festlichen Ruhepausen im Arbeitsleben des Tages!« Wie eilt er sich immer und müht sich, um rechtzeitig dazusein – und hier! Der Onkel und Vetter Karl-Adolf sind pünktlich, aber die Tante und Gerty machen, was sie wollen.
Heut war ich dort, um mit Karl-Adolf ein wenig zu lernen. Da fand ich Gerty mit dem Mr. Watson im Wohnzimmer. Beide rauchten Zigaretten, der Engländer rekelte sich auf einem Ledersessel. Er wollte Gerty zu einer Radfahrt abholen.
»Wie lange bleibst du hier?« fragte Gerty.
»Vielleicht eine Stunde, ich will mit Karl-Adolf Französisch durchnehmen.«
»Dann kannst du Mama sagen, daß ich mit Mr. Watson ausgeradelt bin.«
»Ja, weiß das die Tante nicht?«
»Wie soll sie es wissen? Sie ist ja seit drei Uhr in der Sitzung der Frauenstimmrechtsgruppe.«
»Glaubst du, daß sie es erlaubt?«
»Du dummes Ding! Wenn meine Mutter in ihrer Versammlung für die Frauenrechte redet, kann sie doch ihrer Tochter nicht verbieten, einen Ausflug zu machen, mit wem sie will. Nein, mein Kind! Selbständig muß das junge Mädchen werden. Die Mütter können uns gottlob! nicht mehr am Gängelbande führen.«
»O, Gerty, was redest du da,« rief ich ganz erschrocken, aber die beiden lachten und eilten hinaus.
Ganz nachdenklich ging ich zu Karl-Adolf hinüber in sein Zimmer.
»So, Karl-Adolf, da bin ich.«
Er sprang strahlend auf.
»Hannele, das ist famos von dir. Du willst mir helfen?«
»Natürlich, aber hast du schon dein Vesperbrot gehabt?«
»Ach nein, das wird fast immer vergessen!«
Ich ging schnell hinaus und rief dem Mädchen, das brachte dann auch Milch und Brötle herein, aber so mürrisch, daß Karl-Adolf nachher sagte: »Du bist mein guter Engel, Hannele. Du sorgst für mich, schau' hier kümmert sich keines um mich. Vater ist auf dem Büro, der kann es nicht. Mutter ist dauernd in Vereinen und Sitzungen. Gerty ist auch immer unterwegs. Da treiben die Dienstboten halt was ihnen gefällt. Und dann die Gesellschaften. Im Winter sind die Eltern täglich eingeladen. Und ich sitze allein und lerne.«
»Ich will gern kommen, Karl-Adolf, und dir helfen und mit dir schwätzen. Du bist ja das Patenkind von meinem Vater, da muß ich auch ein bißle für dich einstehen. Sei recht fleißig und mach' uns Ehre!«
Ich gab ihm einen Kuß, reichte ihm sein Brot und erzählte ihm allerhand Lustiges vom Sonnenberg. Und dann lernten wir tüchtig. Als ich heimging, war ich so froh, dem lieben Bub geholfen zu haben, aber doch traurig über die Wirtschaft bei Onkel Ernst. Und Gerty mit ihrem Engländer hat mir gar nicht gefallen. Ob Herr von Raven davon weiß?
Wie ich das dachte, sagte plötzlich eine Stimme neben mir:
»So nachdenklich und versunken, mein gnädiges Fräulein?« und Herr von Raven stand vor mir. Ich bin natürlich rot geworden, aber er sah mich so gut an, daß ich gleich meine Verlegenheit überwunden hatte und ihm die Hand gab.
»Und die sonnigen Augen sind auch ein wenig umschattet, warum?«
»Das kommt am End' vom Lernen,« lachte ich und erzählte ihm davon.
»Immer fleißig und hilfbereit.«
»O je, das ist nicht so gefährlich, ich hab' ja so viel freie Zeit hier, meine kleinen Schützlinge schlafen halt noch viel am Tag.«
»Haben Sie gute Nachrichten von Ihren Geschwistern? Es war wohl für Ihre Frau Schwägerin schwer, von den Kindern fortzugehen?«
»O nein,« sagte ich ziemlich empört, »sie nahm es arg leicht, sie lebt und denkt halt zuerst für ihren Mann, sie geht ganz in ihm auf. Das versteh' ich nicht.«
Er lachte und sagte neckend:
»Das verstehen Sie nicht? Ihr armer zukünftiger Mann!«
»Ach was, Sie wissen schon, wie ich's meine. Der Mann ist doch ein ausgewachsener Mensch und kann für sich selber sorgen, aber so kleine Würmle, die brauchen Pflege, die brauchen die Mutter. Wenn ich nun nicht hier wär' –«
»Aber Sie sind doch hier – ein Glück für uns alle. Guten Abend, gnädiges Fräulein!« Er verbeugte sich und war fort.
Was soll das heißen? Er sagte es so merkwürdig: ein Glück für uns alle! – ich will nicht drüber nachdenken.
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31. Mai. Pfingstsonntag.
Liebes Vaterle! Heut ist Pfingsten, da haben sie hier eine schöne Sitte. Alles wird mit ›Pfingstmaien‹ geschmückt, die Stuben, die Haustür, die Ladentüren, die Wagen auf der Straße, die Schiffe auf dem Flusse. Es sieht festlich und fröhlich aus. Die Städter holen sich die Waldespracht in ihre grauen Mauern. Ich hab' auch die Zimmer geschmückt und freu' mich über die zierlichen Birkenzweige. Es gibt viele Birken hier zulande und die weißen Stämme, das feine Geäst und das helle Grün bilden einen schönen Gegensatz zu den ernsten dunkeln Kiefern.
Und es ist sinnig, daß am frohen Pfingstfest die helle Birke regiert.
Ich werde den Tag heut bei Wartenbergs verleben. Das ist so nett, daß wir zusammen im gleichen Garten wohnen, da kann ich immer herüberspringen und nach den Buben schauen. Ricke hat sich ihre Schwester, ein nettes altes Fräulein, eingeladen. Sie sitzen im Garten und trinken den ganzen Tag Kaffee und essen Kuchen dazu. So viel Kaffee und Kuchen, wie hier verzehrt wird! Ich hab' gar nicht geglaubt, daß es in einer Stadt so viel gibt.
Nun laß dir noch einiges erzählen. Vorgestern war bei Tante Klara große Beratung über meine Bildungsmöglichkeiten hier. Mir schwirrt noch der Kopf von all den Vorträgen, die es hier gibt und die Tante Klara und Gerty besuchen. Das muß ja in den Köpfen wie Kraut und Rüben aussehen, wenn sie jeden Tag einen andern Vortrag hören. Da ist:
Ein Zyklus über Kommunalpolitik,
über Hegels Philosophie,
über englische Literatur,
über Wagners Musikdramen,
über Frauenstimmrecht,
über Monismus,
über Rassenhygiene!
O, Vaterle, ich bin ja so froh, daß die meisten schon vorbei sind, aber in den letzten über die Hegelsche Philosophie mußte ich noch gestern abend.
Dann fand Tante, daß ich zu wenig in der modernen Literatur und Kunst bewandert sei. Die nordischen Romane werden jetzt gelesen und die Mädels lesen alles, was neu herauskommt, und überall wird davon geredet.
›Du mußt dich ja schämen, wenn du nicht mitreden kannst, also lies die Sachen und komm mit in die Vorträge!‹
Ich sagte ›ja‹; denn gegen Tante Klaras Ansichten zu kämpfen halt' ich für aussichtslos, drum ist Onkel auch so still.
Gestern war also der Vortrag. Da saßen sie nun, fast lauter Damen, voll Andacht und machten arg geistreiche Gesichter und machten Notizen. Aber ich glaub', so viel mehr wie ich haben die meisten nicht verstanden, denn ihre Fragen kamen mir teilweise ganz dumm vor. Und ob eine irgend etwas davon in ihr tägliches Leben mitnimmt, glaub' ich nicht. Du sagtest einmal: ›Die Werke der großen Philosophen sind für die meisten Menschen unverständlich. Die Gelehrten und Professoren sollten sie studieren und in einfachen Leitsätzen uns andern bekanntmachen. Dann kann sie der schlichte Mensch begreifen und in sein Leben mitnehmen, denn weißt du, die Philosophie muß auch in Taten umgesetzt werden, wie alles im Leben.‹ Aber dieser Vortragende sagte keine einfachen Sätze, alles war so voll Fremdwörter und so verzwickt. Sämtliche Damen waren aber begeistert.
›Nein, diese Geistesgröße!‹ rief Tante Klara.
›Er hat eine wunderschöne Hand,‹ sagte Gerty.
›Wer? Der Hegel?‹ fragte ich.
›Dummes Schaf, der Redner.‹
Damit war aber mein Respekt vor Gerty dahin, denn wenn sie auf die Hände des Redners geguckt hat, so konnte sie doch nicht aufpassen und alles, was sie jetzt sagt, ist Geschwätz.
O, Vaterle, man darf sich nicht verblüffen lassen, Du hast recht. Ich will Augen und Ohren aufmachen, aber im Herzen bleib' ich dein altes, dummes Hannele, das Dich herzlich küßt.«
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1. Juni. Pfingstmontag.
O je, von den überwältigenden Ereignissen, von denen ich neulich träumte, ist nix zu spüren, mein Leben geht ganz still und friedlich dahin. Zweimal in der Woche Tennis, zweimal Stunde und einen Nachmittag Lernen mit Karl-Adolf. Der Morgen ausgefüllt mit den Kindern, mit Tagebuch-, Briefe- und Aufgabenschreiben. Die Buben sind herzig. Jeden Morgen kann man einen kleinen Fortschritt beobachten, sie kennen mich ganz gut, lachen mich an und zausen mir die Haare. Mir tut Herta so leid, daß sie all das nicht genießen kann. – Am Sonntag bin ich immer bei meinen lieben Nachbarsleuten eingeladen. Gestern war auch Raven und Wittinghaus da, es war herrlich!
Das Glück dieser Familie zu sehen und sich mitfreuen zu können! Und dann die Gastfreundschaft, man fühlt sich so wohl, so daheim. Die beiden Buben sind herzig und hängen an mir, und das jüngste Mädele ist mir so lieb wie meine Zwillinge.
Es war gestern ein köstlicher, sonniger Pfingsttag. Am frühen Morgen schrieb ich an Vaterle und an die Geschwister, dann zog ich mein allerschönstes »fröhliches Kleid« an und ging hinüber, denn Frau Wartenberg hatte gesagt, ich sollte so früh wie möglich kommen. Herr von Raven war schon da. Ich freue mich immer, wenn ich ihn hier treffe, sonst überall belegt ihn Gerty mit Beschlag. Bei Wartenbergs hab' ich ihn für mich.
»Gnädiges Fräulein, einen ganzen Tag müssen Sie mit Wittinghaus und mir vorliebnehmen, werden Sie sich nicht langweilen und nach Ihrem Verehrer mit dem hohen Stehkragen oder nach dem ›todschicken‹ Engländer sehnen?« neckte er.
»Ach, Herr von Raven, solche Reden nennt man fishing for compliments, oder auf gut Deutsch: Sie wissen doch genau, daß Sie mir von allen am besten gefallen und ich mich freue, mit Ihnen zusammenzusein.«
Es war gewiß nicht mädchenhaft, daß ich das sagte, aber ich kann halt nix dafür, zu ihm muß ich immer alles sagen, was ich denke und fühle.
Er sagte nur ganz einfach:
»Ich danke Ihnen,« und dann fragte er nach Vaterle. Und da erzählte ich ihm von unseren schönen Sonntagmorgen mit den Andachtsstunden draußen in der Natur und daß ich's hier so vermisse.
»Das glaube ich gern. Aber man kann sich auch ein tiefreligiöses Gefühl im Trubel der Großstadt bewahren und Stunden der Einkehr und des Gebetes finden sich überall. Vielleicht sind sie, weil sie schwerer erkämpft sind in den Versuchungen des Lebens, sogar wertvoller,« sagte er mehr für sich.
»Ihr Herr Vater muß ein seltener Mensch sein –«
»Hallo!« rief da der Hauptmann von der Veranda, »Fräulein Hannele rufen Sie doch die Jungens zu sich, ich muß noch rasch etwas arbeiten.«
Nun holte ich die beiden Buben in den Garten und Herr von Raven blieb bei uns.
»Tante, bitte, bitte, eine Geschichte, die von den Sonnenblumen.«
»Nein, die von den Hosen.«
So bettelten die beiden.
»Weißt du, Onkel Raven, die Geschichten macht Tante für uns aus dem Kopf.«
»Darf ich zuhören?«
»Eigentlich nicht, Sie sind viel zu groß für meine Geschichten.«
»Die von den Hosen, bitte, bitte.«
»Nein, die von den Sonnenblumen,« sagte ich schnell und erzählte.
Ich will versuchen, das Geschichtle hier ein wenig nett aufzuschreiben.
Die Sonnenblumen blühen! Hinter dem alten Haus stehen sie in Reihen zu beiden Seiten des Weges. Wenn Klein-Fritzle vorbeigeht, so neigen sich die herrlichen großen Blüten über seinen Lockenkopf, so groß sind sie. Sonst aber kümmern sie sich um keinen Menschen. Ihre gelben Blumengesichter sind nach der Sonne gerichtet, sehnsüchtig und strahlend. Sie sind Kinder der Sonne und wissen es. Am Morgen schauen sie nach Osten und grüßen ihre Mutter, wenn sie sieghaft am Himmel aufsteigt. Und am Abend schauen sie nach Westen und winken dem rotglühenden Sonnenball ihre Abschiedsgrüße zu. Und wenn Wolken den Himmel bedecken und Wind und Wetter toben, immer schauen sie dorthin, wo die Sonne hinter den Wetterwolken wartet. Sie wissen es und harren mit ihren gläubigen Blumengesichtern, mag sie der Wind noch so zausen.
Und die Mutter ging mit Klein-Fritzle in den Gartenweg und zeigte ihm die Kinder der Sonne.
»Siehst du, wie sie sich drehen, immer dem Licht entgegen. Das ist ihre Freude. Immer drehen sie sich.«
»Krrrr« machte es plötzlich, und die beiden schauten verwundert auf. Es war die alte Wetterfahne, die sich gedreht hatte.
»Ich drehe mich auch, ich drehe mich auch, warum bewundert ihr mich nicht?« rief sie herunter.
»Ich dreh' mich nach dem Winde. Hu! wenn er angebraust kommt, mach' ich schnell ein Kompliment und dreh' mich nach der andern Seite, da kann er mir nichts anhaben. Immer wende ich mich nach der Seite, wo's ruhig ist. Das ist doch viel besser, als auf die Sonne zu warten und sich zausen zu lassen. Ich drehe mich, ich drehe mich nach dem Winde, das ist meine Weisheit!«
»Horch wie die Wetterfahne knarrt! Sei doch still du alte Wetterfahne,« rief Klein-Fritzle hinauf, »du drehst dich nach dem Winde, das gefällt mir nicht, ich will lieber die Sonne suchen und auf sie warten wie die lieben, schönen Sonnenblumen.«
Und die Mutter gab ihm einen Kuß!
»Das ist ja reizend, gnädiges Fräulein, Sie sind eine kleine Dichterin, das müssen Sie aufschreiben,« sagte Raven, als ich geendet hatte.
»O je, das ist doch nichts Besonderes, ja – ich möchte einen großen Roman schreiben und berühmt werden.«
»Erleben Sie lieber schöne Geschichten,« antwortete er.
»O, zum Erleben hab' ich auch kein Talent,« und ich erzählte ihm von meiner Reiseenttäuschung und daß mein Leben doch hier auch so friedlich dahinginge.
»Ja, aber was wollen Sie denn? Doch nicht gleich Mord und Totschlag, Entführung oder Selbstmord vor unglücklicher Liebe? Ach, gnädiges Fräulein, seien Sie froh und dankbar, daß Ihr Leben so ruhig und sicher dahingeht, die Stürme kommen immer noch. Sie wissen ja nicht, wie Sie durch Ihren Frohsinn, Ihr Glück, Ihre sonnige Güte andere Menschen erfreuen, das ist viel, viel besser als Romane schreiben oder erleben zu wollen, glauben Sie mir.«
»Ich muß wohl, denn Sie sagen das Gleiche wie mein Vater. Und doch ist in mir solch ein Drang nach Taten und nach ›Erfolgen,‹« gestand ich.
»Das ist der Überschwang Ihrer holden siebzehn Jahre.«
»Bitte achtzehn, Herr von Raven.«
»Wirklich schon so alt,« neckte er.
»Tante, Tante, bitte, weitererzählen,« baten die Buben.
»Nein, Ihr Lauserle, jetzt ist's genug, dort kommt Herr Wittinghaus, sagt dem schön Grüß Gott.«
Sie sprangen ihm entgegen und nachdem er uns beide begrüßt, ging Wittinghaus mit den Buben hinein und wir blieben noch allein.
»Wie lang bleiben Ihre Geschwister fort, oder vielmehr wie lang dürfen wir Sie noch hier behalten?«
»Bis 1. August. Dann kommt mein Vater und holt mich mit den Buben ab zur Reise an die See. Anfang September wollen die Japaner zurückkommen, dann liefern wir die Zwillinge hier ab und kehren heim auf den Sonnenberg.«
»Aber im September kommen Sie hierher und bleiben noch ein paar Tage mit Ihrem Herrn Vater?« fragte er ganz dringend.
»Ich hoffe ja, ich hoffe auch, daß mein Vater Sie alle kennen lernt. Frau Wartenberg hat mir schon versprochen, sie gibt Vaterle zu Ehren eine Gesellschaft mit allen Leuten, die ich haben will.«
»Darf ich da auch dabei sein?«
»Aber natürlich!« rief ich.
»Ich danke Ihnen,« sagte er nur wieder und küßte mir schnell die Hand. Ich wurde arg verlegen und war froh als Frau Wartenberg zu Tisch rief. Da war allgemeine Unterhaltung. Ich saß neben Herrn von Raven – es war so schön.
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7. Juni.
Liebes Vaterle! Heut will ich Dir wie in einem Kasperletheater meine neuen Bekannten vorführen. Zuerst die Mädels, die mit mir Stunden haben.
Da ist zuerst Ilse Berend, die Tochter eines Großkaufmanns, ein sehr schönes Mädchen, das sich immer nach der allerneusten Mode kleidet und frisiert und auch bewegt, denn ich finde, die Körperbewegungen richten sich auch nach der Mode und jetzt trippeln sie alle und machen so ruckweise Bewegungen wie Bachstelzen und Spatzen im Sand. Sie redet nur von internationalen Beziehungen, von den Reisen, die sie gemacht, von todschicken Badeorten und Toiletten. Dann ist Melitta Jansen da, die ein Eigenkleid trägt und Schnecken auf den Ohren, daß sie fast nichts hören kann, und die von intellektuell redet, und Ella von Walden, die nur rhythmisch und ästhetisch ist und Sandalen trägt. Zum Schluß die liebste und beste: Isy Braun, blühend und lebensfroh, voll Interesse und künstlerischer Betätigung. Aber über allen steht mir die Lehrerin Fräulein Elisabeth Brand. Sie ist so fein, so lieb und gescheit. Es liegt wie ein Schleier von Wehmut über ihr, sie hat sicher irgend etwas Trauriges erlebt. Wir haben uns schon allerhand ausgedacht, die Mädels haben die tollsten Romane vorgebracht, bis ich dazwischenfuhr und sagte, ein solches Leid wär' doch zu zart, daß unsre derben Mädelsfinger es anfassen dürften. Da lachte aber die Intellektuelle und meinte, für derbe Bauernfinger wäre es freilich nichts, aber sie ginge immer den feinsten Stimmungen nach und suche die Unterströmungen zu ergründen, und lauter so unverstandenes Zeug. Ich hab' sie schwätzen lassen.
Isy hat mich aufgefordert, sie zu besuchen und so war ich dort, es hat mir arg gut gefallen. Ein so inniges Familienleben, voll Liebe und Regsamkeit. Jedes betätigt sich, eine Tochter geht auf die Studienanstalt, Isy malt, und die jüngste lernt tüchtig im Haushalt und zwar bei der Mutter.
Also kann man bei der Mutter auch etwas lernen, was neulich verschiedene Mütter und Töchter bei Tante Klara bestritten haben. Wenn Du das alles gehört hättest, was da geredet wurde, Du hättest gelacht, Dein herrliches, befreiendes Lachen, das ich so liebhab'. Ach, wenn ich daran denke, so überkommt mich das Heimweh nach Dir.
Ich will drum lieber aufhören, sonst mach' ich Dir und mir das Herz schwer und ich will doch sein und bleiben Dein tapferes Hannele.
Heut abend ist Gesellschaft bei Onkel Ernsts.«
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8. Juni.
Heut mußte ich wieder an das befreiende Lachen von Vaterle denken, ich glaub', ich hab's geerbt.
Gestern war eine kleine Gesellschaft bei Onkel Ernsts. Die Mädchen aus der Stunde, ein paar Leutnants, ein Referendar und der Engländer Mr. Watson. Neben mir saß der Leutnant Warburg und auf der andern Seite der Referendar. Der Leutnant Warburg, der mir immer so den Hof macht und das Blaue vom Himmel runter schwätzt, war auffallend still, ich merkte gleich, daß er ein bißle angesäuselt war. Nun kam die Rede auf Musik und Wagner und alles schwelgte und schwärmte.
Die musikalisch rhythmische Ella von Walden zitierte grad mit Pathos:
»Winterstürme wichen dem Wonnemond,« da erklang in die Pause ihres Atemholens die Stimme meines Tischherrn:
»Ja, ja, die Winterstrümpfe, die geben warm.«
Große Stille, entrüstete Blicke – das kam mir so komisch vor, daß ich in lautes Lachen ausbrach. Die Leutnants stimmten ganz erleichtert ein, nur die rhythmische Ella, Gerty und der Engländer taten noch empört.
Nachher kam Herr von Raven zu mir und sagte:
»Wir sind Ihnen so dankbar, gnädiges Fräulein, es war für uns alle peinlich, daß Warburg mit dem kleinen Schwips herkam.«
»Das war doch nicht schlimm, ich hab's gleich gemerkt, aber er ist ja so still und friedlich. Und seine Ansicht mit den Winterstrümpfen war doch richtig. Grad in den Winterstürmen kann man sie gut gebrauchen.«
Und nun lachten wir beide.
»Sie haben so ein wundervoll befreiendes Lachen,« sagte er.
Da erzählte ich ihm halt wieder einmal vom Vaterle und daß er einmal zu mir gesagt hatte:
»Laß alle deine Verehrer einmal einen Schwips kriegen, dann lernst du sie am besten kennen.«
»O weh,« lachte da Herr von Raven, »so muß sich ja das ganze Regiment beschwipsen – und ich auch!«
»Sie sind doch nicht mein Verehrer!« sagte ich hastig.
»Was bin ich denn?« fragte er ganz dringend.
Da sagte ich, ich weiß jetzt noch nicht wie es kam:
»Ich hab' halt gemeint Sie wären mein Freund.«
Da leuchteten seine schönen Augen ganz auf, er nahm schnell meine Hand und küßte sie:
»Ja, das bin ich, Fräulein Hannele.«
Seine Stimme klang ganz tief, zum erstenmal nannte er mich Fräulein Hannele, und das »le« sagte er mit seiner norddeutschen Betonung so eigen fremd und doch so lieb. –
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19. Juni.
Heut war's Tennis nicht so schön – ich sag's nur dir, mein liebes Buch – denn Raven war nicht da. Aber ich hab' mich doch ganz gut unterhalten mit Wittinghaus, er ist sein bester Freund. Und beobachten konnte ich nach Herzenslust. Wittinghaus verehrt wirklich Ilse Berend. Sie ist sehr, sehr hübsch, das ist wahr, aber sie kommt mir arg oberflächlich vor. Wittinghaus müßte das doch auch merken, aber man sagt ja, die Liebe macht blind.
Heut kam die Rede auf Reisen. Da fing nun Ilse Berend an zu erzählen und sagte endlich:
»Wer nicht viel gereist ist, dem fehlt doch jeder weite Blick, der kann überhaupt das meiste nicht richtig beurteilen.«
»Da muß ich mich wirklich ganz beschämt verkriechen,« sagte Wittinghaus lächelnd, »denn ich bin über mein deutsches Vaterland nicht herausgekommen.«
»Warum denn? das verstehe ich nicht!«
»Weil ich kein Geld dazu hatte, mein gnädiges Fräulein!« sagte er ruhig.
»Ach, nun kokettieren Sie wieder mal mit dem armen preußischen Leutnant,« lachte Ilse.
»Ich kokettiere nie,« sagte er mit Betonung. »Ich hab' es oft bedauert, daß ich nicht reisen konnte. Aber meine deutsche Heimat kenne ich, und meine Liebe ist vielleicht gerade deshalb so stark. Auch in der Einseitigkeit liegt eine Stärke, ein Glück.«
»Um Gottes willen nur nicht einseitig!« rief Ilse, »das ist ja das Herrliche am Ausland, daß man so vielseitig wird, und einseitig auf Deutschland stolz zu sein, haben wir wahrlich nicht nötig. Wir müssen noch viel vom Ausland lernen, dort ist doch eigentlich alles besser.«
»Und da behaupten Sie, nicht einseitig zu sein,« lächelte er wieder nachsichtig.
»Ja, das behaupte ich!«
»Aber, Fräulein Ilse,« mischte ich mich ins Gespräch, »Sie sind doch einseitig zu Gunsten des Auslands.«
»Nun helfen Sie Süddeutsche auch noch dem Stockpreußen, das finde ich unglaublich,« eiferte Ilse.
»So ist's recht, mein gnädiges Fräulein, der Süden und Norden müssen fest zusammenhalten, dann kann die ganze Ausländerei uns nichts anhaben.«
»Und ich behalte doch recht, wie streben die Deutschen hinaus, wie lernen sie, wie holen sie alles herein. Gottlob! wir werden internationaler. Ich könnte zum Beispiel sehr gut im Ausland leben,« schloß sie triumphierend.
»Aber doch hoffentlich nur als Deutsche?«
»Ich weiß nicht, ich könnte auch einen Ausländer heiraten.«
Wittinghaus sah ganz zornig aus als er rief:
»Sie reden mehr als Sie verantworten können, gnädiges Fräulein.«
»Wollen Sie mich schon wieder schulmeistern?«
Und dann trat sie ganz nah an ihn heran, lachte ihn an und sagte:
»Ich nehme feierlich alles zurück und bin und bleibe gut schwarz-weiße Untertanin.«
Nun lachte er auch, aber er tat mir doch leid.
Auch Isy mit Hauptmann Kampe hab' ich beobachtet. Ich glaub', er getraut sich nicht recht um Isy zu werben. Er hört ihr immer strahlend zu, wenn sie so lebensfroh erzählt und alles so sicher und ruhig beurteilt. Er zweifelt wohl, daß Isy zärtlich und hingebend sein kann, sie hat so etwas Starkes, Sicheres. Und doch glaub' ich, geht es Isy wie wohl jedem jungen Mädchen. Es ist doch unsre Bestimmung, uns beschützen und umsorgen zu lassen von starker Liebe und wir sehnen uns alle nach Zärtlichkeit, wenn wir auch noch so herb und trotzig erscheinen. –
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20. Juni.
Es regnet, es regnet, der Regen klatscht an die Fensterscheiben. Aber wo ist das trauliche Plätschern der Dachrinnen ins Regenfaß, das ich so lieb hab'? Wie sangen wir als Kinder im Takt der fallenden Tropfen:
Es regnet es regnet
Es regnet seinen Lauf –
Und wenn's genug geregnet hat.
So hört's halt wieder auf! –
Mich packt wieder einmal das Heimweh nach meinem Sonnenberg im Regen!
Wie schön ist doch das Regenwetter auf dem Land. Ich war vorhin in der Stadt. Überall schmutzige Straßen, triefende Regenschirme, hastende Menschen, die ziemlich unzufrieden aussehen – je schöner sie angezogen sind, denn – das Regenwetter in der Stadt ist nur eine Kleiderfrage, glaub' ich, vor allem für die Damen. Da kann ein schöner teurer Federnhut verderben, da leiden die hellen Kleider und Schuhe. Keiner denkt an den herrlichen erquickenden Sommerregen draußen auf dem Land. Wie Segen rauscht er dort herunter, jedes Blättlein trinkt ihn, die Blumen kuscheln sich wohlig zusammen und lassen sich mit tausend diamantenen Tropfen schmücken. Über die Landstraße rieseln silberige Bächlein, es duftet so frisch, so rein, so fruchtbar. Und an den Häusern da tropft die Dachrinne und singt denen in der Stube ein heimeliges Lied. Aber 's ist auch herrlich, im Regen zu wandern mit festen Stiefeln und Wettermantel, mit naßkalten Backen und blanken Augen. Und gar, wenn's aufgehört hat! Hier sehen die Häuser alle wie verweint aus mit großen nassen Flecken, die Nässe der Straßen trocknet langsam und ungleichmäßig und die Sonne, der frischgewaschene Himmel müssen sich in schmutzigen Pfützen spiegeln. Draußen alles Reinheit, Duft und Schönheit, leuchtender alles Grün, bunter alle Farben, blauer der See und die Berge! – O du schönes Heimatland in Sonne und Regen. –
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21. Juni.
Liebes Vaterle! Nun sollst Du auch die Herren kennen lernen, die mit uns Tennis spielen und die ich überall treffe. Da ist zuerst, der mir am allerbesten gefällt: Leutnant von Raven. Frau Wartenberg kann ihn nicht genug loben, wie tüchtig er sei als Soldat. Er ist schon Oberleutnant und kommt im Oktober auf die Kriegsakademie. Er macht mir nicht den Hof, das mußt Du nicht denken, aber er ist gern mit mir zusammen und wir unterhalten uns über alles. Er hat so gute und schöne Ansichten und erinnert mich oft dabei an Dich. Ich hab' ihm schon viel von Dir erzählt. Dann ist sein bester Freund Leutnant Wittinghaus; Herr von Raven sagt, er wäre das Urbild eines altpreußischen Offiziers, so ernst, einfach und pflichtgetreu. Dann ein Leutnant Warburg, der mir arg den Hof macht und über den ich immer lachen muß. Herr von Raven nennt ihn den Don Juan des Regiments. Auch ein Engländer ist dabei, der mir aber nicht besonders gefällt. Er verkehrt viel bei Onkel Ernsts, nur wenn aufs Segeln die Rede kommt, dann finden wir uns. Ein netter Hauptmann Kampe, noch ein paar Leutnants und Referendare, wir haben wirklich Auswahl.
Wir sind natürlich durch das Tennis viel zusammen, man kann sich gut kennen lernen, aber am liebsten bin ich doch bei Wartenbergs mit den Herren zusammen. In ihrem Hause ist die Stimmung immer besonders schön. Nie wird über andere Menschen geredet, immer werden ernste Gespräche angeregt, und dabei kann man auch arg lustig sein. Ich freu' mich so, daß Du die beiden Menschen kennen lernst, sie werden Dir gefallen. Und Herr von Raven auch.
Den Buben geht's gut und mein Leben fließt ruhig dahin. Die Stunden machen mir viel Freud', weil Fräulein Brand es herrlich versteht. Sie spricht sich mit uns über alles aus, und wir dürfen auch unsere Meinung sagen. Da kommt natürlich viel unreifes Zeug zum Vorschein, aber mit einer lieben Art führt sie uns zu klaren Ansichten.
Neulich sagte sie: »Seht, ich bin noch jung genug, um euch alle zu verstehen, eure Wünsche, eure Pläne, eure Träume. Und doch wieder alt genug, um alles von einer etwas höheren Warte betrachten zu können. Darum habe ich so gern junge Mädchen bei mir.«
»Das Geld für die Stunden gibt sie dem Lehrerinnenverein, sie will niemand schädigen, sie will nur ihre Einsamkeit ausfüllen und ein wenig die Mädchen zu ›altmodischen Frauen‹ erziehen,« erzählte mir Frau Wartenberg.
In jeder Stunde warnt sie vor dem Zuviel, dem Anhäufen von unverstandenem Wissen, dem Überschätzen der Bildung.
»Lieber wenig wissen, aber Gutes und fürs Leben Brauchbares.«
»Was halten Sie vom Abiturium der jungen Mädchen, Fräulein Brand,« fragte Isy neulich.
»Es ist gut, daß dem Mädchen, das Lust und Kraft hat, die Möglichkeit einer solchen Ausbildung gegeben ist. Aber der Wert fürs Leben wird überschätzt. Jeder mittelmäßige Junge macht sein Abitur und kein Mensch staunt ihn an, aber wenn ein Mädchen es bewältigt, wird sie bewundert, besonders von den Frauen. Sie denken dabei nicht, wie sie damit den Mädchengeist im allgemeinen herunterdrücken. – Wenn ich wählen sollte zwischen der modernen Frau der Frauenbewegung und der altmodischen Frau, ich würde die Altmodische wählen. Denken Sie doch an Frau Rat Goethe, die geliebte Frau Aja.«
Solche Gespräche haben wir in der Stunde, es ist ja keine Schulstunde, es ist eine Lebensstunde, wie Frau Wartenberg sie nennt. Ich bin froh, daß ich dran teilnehmen darf, sie ist so ganz in Deinem Sinn.
Für heute gute Nacht, es ist spät geworden. Der Abendstern steht leuchtend am Himmel, ich kann ihn grad sehen. Er schaut auch zu Dir über die Berge, ich trage ihm viele, viele liebe Grüße auf für Dich von deinem
getreuen Hannele.
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23. Juni.
Was mußte ich heute erleben, ich bin noch ganz aufgeregt.
Den ganzen Tag war ich zu Hause, denn wir hatten große Wäsche. Am Abend kam Ricke mit einer Karte von ihrer Schwester, sie möchte doch heute noch zu ihr hinaus in die Parkstraße kommen.
»Ach, Fräulein Hannele, was soll ich machen, ich bin heute so müde, mich tragen die Füße kaum mehr.«
»Ich will an Ihrer Stelle gehen, Ricke, es ist ja erst 8 Uhr, noch heller Tag.«
»Wenn Sie das tun wollten, Fräulein Hannele! Es ist bestimmt nichts Wichtiges, aber meine Schwester ist so eigen.«
»Ja, ja, ich geh' gern.«
Und so wanderte ich nach der Parkstraße. Gottlob – mußte ich nur kurz durch die richtige Stadt gehen, durch das Steinmeer, das mich immer noch bedrückt. Die Parkstraße liegt hinter dem Stadtpark im Grünen. Ich traf das Fräulein Wollmann bei ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne und erfuhr, daß ein Vetter aus Amerika geschrieben hatte. Sie saß mit einer großen Brille vor dem Brief, ganz erfüllt, und ich hatte das Gefühl, ihr kleines Zimmer konnte kaum die Fülle der Phantasiegebilde fassen, die der Brief in ihr weckte. Ich hörte eine Weile geduldig zu und versprach dann, alles der Ricke getreulich zu berichten. Als ich fortging, dämmerte es. Grad dem Hause gegenüber mündet ein Weg des Stadtparks auf die Straße. Als ich heraustrat, sah ich plötzlich auf dem Weg im Schatten der Bäume Gerty und den Engländer engumschlungen stehen. Er redete eifrig und dann küßte er sie und sie küßte ihn auch. Ich blieb wie angewurzelt stehen, ich dachte, es wäre Täuschung, aber nein, es war Gerty in ihrem blauen Leinenkleid, und den Engländer erkannte ich gleich. Sie gingen tiefer in den Park und ich rannte heim. Ich mußte mich zusammennehmen, um Ricke alles richtig auszurichten, dann eilte ich hinauf ins Schlafzimmer und suchte mich zu beruhigen.
Warum verlobt sie sich nicht mit dem Engländer, wenn sie ihn liebt. Es ist doch unrecht, sich heimlich zu treffen und zu küssen. Ihre Eltern würden es sicher zugeben, Gerty setzt ja alles durch. Und dabei treibt sie ihr Spiel mit Raven. Das ist doch unrecht. Ich versteh' Gerty nicht. Ich versteh' hier so vieles nicht und kann doch niemand fragen. Es ist so schwer, allein alles durchzudenken, auch du kannst mir nicht immer helfen, liebes Tagebuch.
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25. Juni, nachts im Bett.
Wo soll ich anfangen, wo soll ich aufhören? Mein Herz und meine Gefühle drängen mich zum Schreiben alles innerlich Erlebten, aber mein Verstand sagt, die äußeren Ereignisse kommen zuerst. Und er soll recht haben.
Heut morgen ging ich mit den Buben im Kinderwagen in den Stadtpark, den Teich entlang. Weit vor mir sah ich den Engländer mit seiner großen Dogge kommen, und auf dem Seitenweg, der auf den Teich zumündet, zwei Offiziere, Hauptmann Kampe und Raven. Ich fuhr ein wenig schneller, um Raven zu treffen – du liebes, verschwiegenes Tagebuch, dir will ich's gestehen, ich hab's ja so bitter büßen müssen. –
Dabei achtete ich nicht darauf, daß die Dogge in wilden Sprüngen auf mich zuraste, Kampes Terrier entgegen. Sie riß mich um, ich stürzte und ließ den Wagen fahren. Mehr weiß ich selber nicht, alles andere hat man mir erzählt. Ich fiel so unglücklich mit dem Hinterkopf auf einen Stein, daß ich besinnungslos wurde. Unterdessen fuhr der Wagen auf seinen Gummirädern einfach weiter übers Gras hinein in den Teich. Raven stürzte ihm nach ins Wasser, hielt den umstürzenden Wagen auf und hob ihn mit ungeheurer Kraftanstrengung so lange über Wasser, bis Kampe ihn herausziehen konnte. Die Kinder wurden dabei nicht einmal naß, sie wachten nur auf und schrien. Mich hatte der Engländer inzwischen mit Wasser bespritzt, bis ich wieder zu mir kam. Da lag ich nun, und neben mir stand Mr. Watson und dahinter Raven, triefendnaß.
»Die Kinder, die Kinder!« rief ich angstvoll.
Aber schon hörte ich ein kräftiges Geschrei und neben mir lagen beide in ihren Kissen, der Kinderwagen stand dabei, voll Nässe und Schlamm. Ganz verwundert schaute ich um mich, da kam auch schon das Bewußtsein des Geschehenen. Ich wollte mich aufrichten, aber der linke Fuß tat arg weh.
»Gleich kommt ein Wagen,« beruhigte mich der Engländer.
Und richtig, auf dem Fahrweg kam ein geschlossenes Auto, Kampe sprang heraus.
»Wieder aufgewacht, gnädiges Fräulein, das ist ja famos. Und alles heil und gut bei Stimme,« sagte er, auf die schreienden Kinder deutend.
»Gott Lob und Dank! Aber aufstehen kann ich nicht, ich hab' mir wohl den Fuß verstaucht.«
»Ich kann Sie leider nicht tragen,« sagte Raven ganz traurig, »sonst mache ich Sie total naß und schmutzig.«
»Nun aber keine langen Reden mehr, nur mal schnell!« drängte Kampe. »Mr. Watson trägt Fräulein Hohenzell, ich werde mich der Schreihälse bemächtigen. Vorwärts in den Wagen! Raven, Sie fahren mit, wir setzen Sie an Ihrer Tür ab.«
Da saß ich denn im Auto, Kampe neben mir mit den Kindern, etwas hilflos, mir gegenüber Raven, naß und schmutzig. Noch wußte ich nicht, wies gekommen war, aber eine solche Ruhe überkam mich, ich schloß die Augen und hörte wie im Traum das Auto halten, weiterfahren, wieder halten. Erst als ich Frau Wartenbergs Stimme hörte, schaute ich wieder um mich. Da lag ich auf dem Ruhebett im Gartenzimmer, die Buben in der Korbwiege daneben und Frau Luise, wie ich jetzt die liebe Frau Hauptmann immer nenne, sagte freudig:
»Ein paar Tage Ruhe und alles ist wieder gut. Der Doktor wird gleich hier sein und den Fuß behandeln, und an Gesellschaft wird's nicht fehlen.«
Zuerst kam der Doktor, ein lieber alter Herr, ein bißle wie Vaterle. Der verordnete fünf Tage Ruhe, Massieren und Wickeln.
Dann schickte der Engländer einen großen Strauß, daran hing ein Bild der Dogge mit der Unterschrift: I beg your pardon!
Und dann kam vor Tisch Frau Luise und fragte:
»Können Sie heut nachmittag zum Tee Besuch vertragen, Hannele? Ich möchte gern kommen und Herr von Raven auch?«
Sie sah mich ganz schelmisch dabei an, und ich bin sicher rot geworden.
»O ja, o ja, ich muß doch Herrn von Raven danken, er hat ja die Kinder gerettet.«
»Ja, das hat er wirklich,« sagte Frau Luise ernst, »denn wir dürfen gar nicht dran denken, was den Kindern hätte geschehen können, während Sie so dalagen.«
Ich brach in Tränen aus und rief: »Und ich bin schuld daran.« –
Frau Luise war ganz erschrocken und tröstete mich und zankte mich. Aber als ich allein war, da hab' ich mit dem Schuldgefühl gerungen. Denn das bleibt bestehen, wenn ich nicht schneller gefahren wäre, um ihn zu treffen, so hätt' ich wohl auf die Hunde geachtet und vielleicht der Dogge ausweichen können.
O, wie mich dieser Gedanke quält, und niemand kann ich ihn sagen, nicht einmal dem Vaterle. Und das betrübt mich so, es ist, wie wenn der fremde Mann sich zwischen uns beide dränge. Aber ist er mir noch fremd? Nein, o nein, er hat mich ja bewahrt vor Schuld, wenn auch ahnungslos, er hat die Kinder gerettet, unsere ganze Familie vor Unglück behütet, ich bin ihm so dankbar – nein – nicht nur das – ich hab' ihn lieb – da steht mein süßes Geheimnis, das sich mir heut enthüllt. –
Die gute alte Ricke hat mich eben unterbrochen. Ganz besorgt fragte sie, ob ich nicht schlafen könne, ob das Schreiben im Bett nicht schädlich sei?
»O Ricke, nur noch ein wenig, dann schlafe ich bestimmt. Sie haben so viel Mühe durch mich, es tut mir unendlich leid.«
»Aber Fräulein Hannele, das ist ja nicht schlimm. Frau Hauptmann von drüben hilft mir bei den Kindern. Diese Frau ist ein Engel, so geschickt und flink. Ich begreife, daß der Herr Hauptmann so glücklich ist mit einer solchen Frau.«
»Ja, Ricke, das ist wahr, wie rührend gut ist sie zu mir!«
»Zu Fräulein Hannele muß man aber auch gut sein,« sagte die alte Ricke liebevoll. »Aber nicht mehr so lang schreiben! Morgen ist auch wieder ein Tag. Gute Nacht, Fräulein Hannele.«
»Gute Nacht, liebe Ricke.«
Damit ging sie.
Ich lag den ganzen Tag und ruhte. Frau Luise hatte mir eins meiner »fröhlichen Kleider« angezogen, eine hellseidene Decke über den kranken Fuß gebreitet. Das Haar mußte ich offen tragen, weil mein Hinterkopf noch ganz geschwollen ist.
»Wie ein Bild,« sagte Frau Luise.
»Wie der Struwwelpeter!«
»Kind, Sie wissen gar nicht, was für herrliches Haar Sie haben und wie herzig Sie aussehen, aber ich will Sie nicht eitel machen. Jetzt schlafen Sie bis 5 Uhr.« –
Und dann war's 5 Uhr. Es klopfte, die Tür ging auf, Frau Luise kam herein und dahinter Raven. Er sah ganz blaß aus, aber als er mich sah, leuchteten seine Augen wieder auf, wie an jenem ersten Abend.
»Da bring' ich den Lebensretter, danken Sie ihm recht schön. Ich sorge solang für den Tee.«
Und dann waren wir allein.
»O Herr von Raven, wie soll ich Ihnen danken, ich kann's ja gar nicht in Worte fassen.«
»Bitte, bitte, danken Sie mir nicht,« bat er hastig. »Doch, doch, ich werd' alles meinem Vaterle schreiben, der wird Ihnen danken, besser wie ich.«
»Das dürfen Sie nicht tun, Sie dürfen mir nicht so danken,« wehrte er ab.
»Nein, ich sage nichts mehr,« rief ich schnell, »aber geben Sie mir Ihre Hände,« und schnell ergriff ich sie und sagte: »Euch dank' ich, Ihr lieben Hände, Ihr habt die Kinder gerettet, Ihr habt mir meine Lebensfreude erhalten, mich vor Schuld bewahrt, eine ganze Familie vor Unglück behütet!« Und rasch zog ich sie an meine Lippen und drückte sie an mein Gesicht.
Aber schon waren sie mir entzogen.
»Was tun Sie, Fräulein Hannele?« rief er ganz erschrocken.
»Ich bedank' mich halt so gut ich's kann,« sagte ich und schaute ihn an.
Da ging wieder das Leuchten über sein Gesicht und er murmelte:
»Sie liebes, herziges Kind.« –
Da mußte ich die Augen niederschlagen, ein süßes Gefühl überrieselte mich – war das die Liebe – ich glaub's –, dann kam Frau Luise wieder herein und dahinter Ricke mit dem Teebrett. Als sie alles geordnet hatte, trat die gute Alte ganz feierlich auf Herrn von Raven zu und sagte:
»Herr Leutnant, der liebe Gott möge Sie segnen, für das was Sie an uns getan haben.«
Herr von Raven gab ihr die Hand.
»Ich muß dankbar sein, daß Gott mir vergönnt hat, etwas Gutes zu tun.«
Ich hätte ihm am liebsten einen Kuß gegeben für diese schlichten Worte.
Ich hab' das Gefühl, keiner von den andern jungen Herren hätte so gesprochen. Sie fühlen's vielleicht, aber es ist jetzt nicht Sitte und Mode, von Gott zu reden. Alle tun so, wie wenn das überwunden wäre, sie philosophieren, machen kritische Bemerkungen, verspotten alles, und hüten sich, ein ernstes Gefühl zu zeigen. Was ist schuld daran? Das Lesen von all den verrückten Büchern, die vielen Vorträge, die von allem Wissen einen Löffel voll geben, der dann »tröpflesweis« verabreicht wird!
Sind wir Mädchen schuld und dieser schreckliche Flirt?
Aber er ist anders!
Oder ist er's erst geworden? Redet er nur so mit mir? Hat er mich lieb? – – –
»Hannele darf heute nicht viel reden, Herr von Raven, Sie müssen uns unterhalten. Ich muß ab und zu nach meinen fünf Kindern sehn, die Zwillinge gehören mir auch in diesen Tagen. Sie sind alle im Garten, Ricke und Anna sind dabei.«
Wir tranken Tee, Herr von Raven reichte mir alles, denn beim Bewegen tat mir der Kopf noch weh.
Und dann erzählte er.
Von seiner Heimat droben an der Ostsee. Von seiner Familie, von 1813–14, von der herben Unterdrückung und der herrlichen Erhebung. Von dem eisernen Schmuck und dem Silber mit dem Kriegsstempel. Mir kam eine große Hochachtung vor den Norddeutschen, die so viel gelitten, gekämpft und entbehrt haben für ihr Vaterland.
Er sprach so begeistert und richtete seine Worte immer an mich, daß ich ganz mitgerissen wurde.
»Jetzt versteh' ich alles noch besser, was Sie neulich über die Norddeutschen sagten, liebe Frau Hauptmann. Kennt Herr von Raven Ihr schönes Gedicht?«
»Ich glaube, ja.«
»Ist hier die Rede von den Werken meiner Frau?« fragte da plötzlich die Stimme des Hauptmanns. Er war durch die Veranda gekommen.
»Da will ich auch mitreden, denn sie hat mich heut wieder erfreut. Darf ich's sagen, Lieb?«
»Ja, ja,« nickte Frau Luise lächelnd.
»Heute ist nämlich unser Hochzeitstag, da hat sie mich mit diesen lieben Versen beglückt.«
Und er zog sich einen Stuhl herbei und sprach mit warmer Stimme:
»Wohl möcht' ich nicht immer von Liebe sagen,
Dies heilige Wort in den Alltag tragen,
Dies feiertägliche Wort.
Doch von deiner Liebe Strahlen umwunden,
Werden zum Feste mir alle Stunden,
Drum klingt es ja fort und fort.«
Wir beide saßen ganz still.
»Wie schön,« murmelte ich und fühlte, wie Ravens Augen auf mir ruhten. Das Ehepaar hatte sich die Hand gegeben.
»Jetzt muß ich aber nach den Kindern sehen, es wird Abend,« rief Frau Luise und eilte in den Garten: ihr Mann schaute ihr strahlend nach.
»Nun, Fräulein Hannele, wie geht's? Was machen Sie für Sachen! Gut, daß immer so mutige Leutnants zur Stelle sind. Gibt es noch etwas zu essen und zu trinken, ich komme nämlich mit einem Bärenhunger.«
Sehr kritisch betrachtete er die Reste des Gebäcks.
»Halt, ich hab' einen Vorschlag! Fräulein Hannele, können Sie uns noch ein wenig vertragen?«
»Aber natürlich!« rief ich, »noch recht, recht lange, bitte, bitte.«
»Wir wollen die Rettung der Zwillinge und unsern Hochzeitstag hier bei Ihnen feiern! Luise, Luise, höre, wir veranstalten ein kleines Fest bei Fräulein Hannele. Du holst unser Nachtessen herüber, Ricke hat doch sicher auch was Gutes für ihr Fräulein, und ich spende eine Flasche Sekt. Wollen wir Raven auch noch dazu einladen?«
Er sah mich ganz verschmißt an, ich sagte aber tapfer:
»Natürlich, er ist doch als Lebensretter fast die Hauptperson, aber nur, wenn er nichts Besseres vorhat.«
Und nun schaute ich Raven verschmitzt an, ich wollte keine sentimentale Stimmung aufkommen lassen, man wird nur geneckt.
Raven sagte natürlich freudig zu, und nun ging eine lustige Geschäftigkeit los. Der Hauptmann und Raven drangen zu Ricke in die Küche, während Frau Luise ihrer Köchin Bescheid sagte. Ich lag hilflos dazwischen, aber so froh, so glücklich – es war der schönste Abend meines Lebens – Vaterle würde mir verzeihen, wenn er's wüßte, daß ich ohne ihn so glücklich war –, Frau Luise versorgte noch die Kinder oben im Kinderzimmer; Anna schläft bei ihnen. Dann brachte Ricke ein festliches Mahl. Herr von Raven saß neben mir und fütterte mich und war so lieb und gut. Wir waren alle fröhlich und daneben gab's ernste Gespräche über militärische Dinge, über Politik und auch über den Krieg. Zum erstenmal sah ich da zwei Menschen vor mir, die mit Begeisterung vom Krieg sprachen, von seinem Segen und seiner Kraft, die Menschen von all dem Wust von Verrücktheit und Schlechtigkeit zu befreien. Sie beide müssen ja als erste hinaus. Der Hauptmann hat seine geliebte Frau und seine Kinder und doch leuchteten seine Augen, als er vom Krieg und Sieg Deutschlands sprach.
Ich saß ganz ergriffen da. Und als Raven rief:
»Zu was bin ich denn Offizier geworden? Um mein Vaterland zu schützen in bewehrtem Frieden, aber, wenn es bedroht ist, in siegreichem Krieg mit meinem Leben,« da mußte ich ihm recht geben.
»Worte und Taten müssen sich decken, das ist des Lebens einfachste Weisheit,« sagte der Hauptmann. So viel Kluges und Tüchtiges sagte er noch, mir war oft ich hörte Vaterle sprechen, ich glaub', die beiden werden sich gut verstehen. Auch Herr von Raven wird ihm gefallen, ich weiß es.
Der Abend verging so schnell, so wunderschön war's, daß ich ganz traurig wurde, als Frau Luise sagte:
»Jetzt ist's genug. Herr von Raven, sagen Sie unsrer lieben Patientin gute Nacht. Fritz, du trägst Fräulein Hannele hinauf und dann ist Schluß der Sitzung.«
Herr von Raven stand ganz betrübt auf, ich hatte das Gefühl, er hätte mich am liebsten hinaufgetragen, er sagte aber natürlich nichts davon, sondern dankte mir für den Abend und gab mir die Hand.
»Auf Wiedersehen!« sagte ich, da rief er schnell:
»Ja, darf ich morgen wiederkommen?«
»Wenn's Frau Hauptmann erlaubt.«
»Ja ja, aber nun Schluß!« drängte Frau Luise.
Und nun gab's auch Schluß.
Ich will auch aufhören, obwohl ich doch nicht schlafen kann. So schön war's, er war so lieb und gut. Ob er mich so liebhat wie ich ihn? Ob er jetzt an mich denkt? –
Gute Nacht, du schönster Abend meines Lebens! –
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26. Juni.
Es gibt ein Verslein: Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht – – der Reif, der meine Blümlein verdorren machte, fiel am Morgen, heute morgen, unvergeßlich wird mir der Tag bleiben.
So herrlich war der Abend gestern, ich konnte kaum schlafen. –
Der Morgen kam, ich wartete noch oben auf den Doktor, als Gerty hereinkam, sehr flott, im Tenniskostüm.
»Na, wie geht's, du Heldin des neuesten Stadtklatsches? Und als Partner hast du dir Raven ausgesucht! Überfall eines wütenden Hundes – Ohnmachtsanfall – Beinbruch – Kinderrettung durch einen Offizier mit Lebensgefahr, unheimlich aufregend, der gute Mr. Watson wurde ganz lebhaft bei der Schilderung.«
»Ach Gerty, rede doch nicht so. Die Hauptsache ist doch, daß die Kinder heil sind. Mein Fuß ist auch gar nicht schlimm.«
»Und du bist natürlich hingerissen von dem mutigen Lebensretter? Du wirst dich in ihn verlieben –, aber tue das nicht, mein Kind!«
»Gerty, ich verbiete dir, solches Zeug zu reden.«
»Verbiete mir's lieber nicht, sondern sei dankbar, daß ich dich vor einer unglücklichen Liebe mit gebrochenem Herzen bewahre,« lachte sie. »Raven ist nämlich so gut wie verlobt und zwar« – da machte sie eine Pause – »mit mir!«
Sie schaute mich spöttisch dabei an, ich hab' aber gottlob tapfer ausgehalten, obwohl mein Herz so wild schlug. Reden konnte ich nicht.
»Es wird dich interessieren, wie das kam,« sagte Gerty und setzte sich behaglich in einen Stuhl ans Fenster, dann fing sie an, wie wenn sie mir eine harmlos nette Geschichte erzählen wollte, und wußte doch, wie namenlos weh sie mir tat.
Ich lag da ganz wirr, ganz zerschmettert. Gerty verlobt mit Raven, Gerty, die den Engländer geküßt, die mit ihm heimliche Zusammenkünfte hatte – ich konnte es nicht fassen.
Aber ich will versuchen, so gut ich kann, Gertys Erzählung aufzuschreiben. Wohl bin ich jetzt ruhiger, aber so schnell geht's halt nicht, meinen Schmerz zu bewältigen.
»Wir waren vor zwei Jahren auf Hela. Weißt du, wo das liegt, du süddeutsches Landkind?«
Ich nickte nur.
»Es ist ziemlich langweilig da, ich wäre lieber in Zoppot geblieben, das ist todschick, auch Mama, aber Papa hatte ausnahmsweise seinen Kopf durchgesetzt,« sie lachte dabei spöttisch.
»Ein einziges kleines Hotel, das Kurhaus ist am Strand gegen Danzig. Da wohnten wir und zufällig der alte Raven mit seinem Sohne Fritz auch. Wir lernten uns kennen; Fritz Raven verliebte sich natürlich frisch und fröhlich in meine sweet seventeen. Aber zum Verloben wär's nicht gekommen, wenn nicht ein ganz dramatischer Zwischenfall eingetreten wäre. Der ältere Bruder, Gerhard von Raven, er ist inzwischen nach Amerika verduftet, hatte Wechsel auf den Namen von Fritz gefälscht. Die wurden nun eingefordert. Vater und Sohn waren ganz verzweifelt. Vater Raven vertraute sich Papa an und Papa löste die Wechsel ein. Als Fritz voll Dankbarkeit kam, da sagte der gute dumme Papa, der von Anfang an in Fritz von Raven rein vernarrt war, ich horchte nämlich an der Tür:
»Lassen Sie allen Dank und machen Sie mir eine große Freude. Ich sah mit innigem Interesse, daß Sie meine Gerty liebhaben. Ich vertraue Ihnen meine Tochter an, machen Sie sie glücklich, sie ist noch so jung, ihr ganzes Werden und Sein liegt in Ihrer Hand.«
Ich war eigentlich empört über den letzten Satz, aber sonst war ich zuerst mit der Sache einverstanden. Was Raven antwortete, hörte ich nicht mehr, denn ich ahnte, daß ich gerufen wurde, und da konnte ich doch nicht mehr am Schlüsselloch bleiben. Und richtig, Papa holte mich und war ganz gerührt, und Raven war feierlich und ergriffen und wir gaben uns einen Kuß, während Papa eine salbungsvolle Rede hielt.
Aber dann kam Mama und fuhr dazwischen und erklärte, es wäre ein Blödsinn, eine solch frühe Verlobung, ich hätte ja überhaupt noch nichts vom Leben gesehen. Das Geld gäbe sie gern, aber ihre Tochter nicht, jedenfalls noch nicht. Die ganze Sache wäre überstürzt und verfrüht. Was Papa einwarf vom großen Glück der ersten Liebe, von junger Ehe, von Ineinandereinleben, alles widerlegte sie und ich war ganz auf ihrer Seite.
Mit 17 Jahren schon gebunden, abhängig von einem Männerwillen, das kam mir auch nicht erfreulich vor. Und so wurde die Verlobung gelöst – aber nur halb, das ist das Reizvolle daran. Raven und Papa, der ihn nicht gern verlieren wollte, einigten sich, daß ich meine volle Freiheit haben sollte, daß er in zwei Jahren wieder anfragen solle und daß er sich bis dahin gebunden fühle.
Am 1. August ist die Zeit um, da tritt er wieder an, darauf freu' ich mich diebisch. Ob ich dann Ja sage oder Nein, weiß ich noch nicht. Es hat ja seine Vorzüge, im Oktober nach Berlin zu kommen. Mama müßte tüchtig Geld herausrücken. Aber auf der andern Seite ist er mir zu ernsthaft, zu schulmeisterlich. Jedenfalls war die ganze Zeit famos, immer so jemand im sicheren Hintergrund zu haben! Den Wechsel hat er übrigens schon längst eingelöst, er hat ja gespart in dieser Zeit, das war geradezu komisch.
Also nun weißt du meinen Roman, und mit dem Verlieben warte bis August. Entweder lass' ich ihn frei – oder ich nehme ihn, dann mußt du deine Gefühle aufs Vetterliche einstellen.«
Ich war ganz verstört und stammelte:
»Was weißt du von dem Engländer und mir?« fragte sie hastig. »Ach was, das ist nur ein Flirt, das verstehst du nicht,« und sie stand rasch auf.
»Auf Wiedersehn, gute Besserung, die Eltern lassen schön grüßen und Karl-Adolf auch.«
Und fort war sie.
Nun ist doch schon der Tag vergangen, und ich dachte, ich wäre ruhiger geworden. Aber wie ich das schreibe, überkommt mich mein Schmerz und meine Verwirrung, wie heute morgen. Ich kann es noch nicht fassen. Was soll ich tun? Raven wird ja todunglücklich mit Gerty, aber ich kann nichts dagegen tun. Was hat Onkel Ernst, in bester Absicht, ihm für ein schweres Schicksal auferlegt. – Wenn ich nur ein Wort, eine Andeutung zu Gerty machte, so würde sie gerade das Gegenteil tun.
Ihn kann ich doch nicht warnen! Und jemand davon sagen, darf ich doch auch nicht.
Lieber Gott hilf mir, ich will ihn ja nicht für mich frei haben, ich will ihn nur retten vor einer unglücklichen Ehe mit Gerty. Ich fühl's, wie er leidet, nun wird mir manches klar. Er sieht selber, daß er zu Gerty nicht paßt. O, mein Gott, erleuchte Gerty, daß sie kein so frevelhaftes Spiel mit dem Heiligsten im Menschenleben treibt, mit der Liebe und Ehe! –
Ich komme mir so gereift so alt vor seit gestern, wie ist alles verwandelt. – –
Ich hab' die liebe Frau Luise vorhin gebeten, keine Gäste hereinzulassen, ich kann niemand sehen, auch ihn nicht – ich fühl' mich so elend, so traurig. – –
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27. Juni.
Die Stunden schleichen dahin – Frau Luise meint der Sturz hätte mich so angegriffen, und pflegt mich rührend. Sie glaubt auch, der fröhliche Abend sei zuviel für mich gewesen und macht sich Vorwürfe. Niemand ahnt den wahren Grund. Gottlob! nur noch ein paar Tage, dann bin ich wieder die Alte, ich will stark und tapfer sein und meine Pflichten erfüllen. Lieber Gott, gib mir die Kraft, meine arme Liebe zu tragen, nicht trauernd, sondern stark und heiter.
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28. Juni.
Ein schöner, friedlicher Sonntag – und ich so elend, so traurig.
Er war hier – schon zweimal – und hat so besorgt fragen lassen.
Frau Luise war ganz gerührt und redet immer von ihm und lobt ihn, sie ahnt ja nicht, wie weh sie mir tut.
Ja, ich hab' ihn lieb, lieb, wie lieb, das weiß ich jetzt erst. Aber ich will tapfer sein und meinen Sonntagsbrief an Vaterle schreiben, er darf nichts merken.
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28. Juni.
Liebes Vaterle! Verzeih, wenn mein Brief heut so kurz wird, aber ich bin noch müd von den Ereignissen dieser Tage, die sich aber gottlob alle in Wohlgefallen aufgelöst haben. Am Freitagmorgen hat mich nämlich im Stadtpark ein großer Hund umgerannt, so daß ich gestürzt bin und mir dabei den Fuß verstaucht habe. Beim Fallen ließ ich den Kinderwagen los, der wäre in den Teich gerollt, die Kinder wären ins Wasser gefallen, wenn nicht der Leutnant von Raven ihn aufgehalten und so die Kinder gerettet hätte!
Alles, alles ist so gut abgelaufen, ich muß nur ein paar Tage liegen. Auf den Kopf bin ich auch gefallen, ich hoffe nur, daß das keine dauernde Erscheinung bei mir bleibt, es wär' doch schade, wenn Du nicht mehr sagen könntest: ›Mein Hannele ist gottlob nicht auf den Kopf gefallen.‹
Du siehst, ich kann schon wieder Späßle machen, also geht's mir ganz gut. Ich hab' Dir versprochen, immer alles zu berichten, drum erzähl' ich Dir dieses Erlebnis getreulich, und gell, Du ängstigst Dich nicht, es ist wirklich gut abgelaufen. Die Buben sind kreuzfidel und von mir wird's morgen auch heißen: ›Fünf Tage war der Frosch so krank, jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank!‹
So grüß' ich Dich herzlich als Dein getreues
Hannele.«
□
Sonntagabend.
Grad war Frau Luise bei mir, sie sah so blaß und erregt aus, wie ich sie noch nie gesehen. Ich fragte sie ganz besorgt:
»Liebe, liebe Frau Hauptmann, was haben Sie?«
»Nichts, nichts, mein Kind.«
»Doch, Sie sind erregt, bitte, bitte, darf ich es nicht wissen?«
»Nun also,« antwortete sie. »Eben haben wir erfahren, daß der Thronfolger von Österreich und seine Gattin in Serajewo von Serben ermordet worden sind.«
»Ach, das ist ja schrecklich, aber wir können doch nichts dafür?«
Da mußte sie fast lachen und sagte: »O Kind, nun gibt es wohl Krieg!«
»Aber doch mit Deutschland nicht?«
»Wer weiß,« sagte sie. »Mein Mann und Raven sitzen drüben und reden sehr, sehr ernst von der Zukunft.«
»Ich versteh' ja gar nichts von Politik, bitte, bitte, erklären Sie mir doch alles.«
»Das kann ich nicht so schnell, liebes Kind, aber wir wollen heut nicht schon alles schwarz in schwarz sehen. Unser Kaiser ist immer für den Frieden eingetreten, er wird's schon recht machen. Und wenn der Krieg wirklich kommt, dann sind wir tapfere deutsche Frauen, nicht wahr, mein liebes Hannele!« Und sie strich mir beruhigend über mein ängstliches Gesicht.
Bei dieser Frau löst sich immer alles so schön und wohltuend aus.
An ihrer Ruhe will ich mir ein Vorbild nehmen.
Ach, ich habe Ruhe so nötig! –
□
6. Juli.
Ich schäme mich, ich schäme mich. Acht Tage habe ich mich verkrochen, feig und mutlos. Hab' nur meinem Schmerz nachgehangen. Ist das meine Pflichterfüllung, meine Tapferkeit? »Worte und Taten sollen sich decken, das ist die einfachste Harmonie des Lebens,« sagte der Hauptmann. Und ich hab' so versagt!
Im Glück gut zu sein, ist leicht, wie Frau Luise sagte. – – Und ist denn mein Unglück gar so groß? Ich hab' einen Mann lieb, der an eine andere gebunden ist, aber nicht unlöslich. Wenn er mich wirklich liebt, dann bittet er Gerty offen und ehrlich, ihn freizugeben; und wenn er mich nicht genug liebt, wenn seine Gefühle nur die eines Freundes sind, dann muß ich halt meine Liebe tapfer tragen.
Aber nicht nur mit Worten, sondern auch in Taten. Ich geh' jetzt zu Frau Luise and sag' ihr, daß ich wieder ganz gesund wäre. –
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6. Juli abends.
Ich war drüben and Frau Luise war so lieb und gut und so froh über mich.
»Gottlob! liebes Hannele, nun sind die Augen wieder klar! Nun haben wir wieder das liebe, sonnige Mädel, unser aller Freude! Und wir können Freude jetzt so gut brauchen, in der Welt sieht's ernst aus.«
Ich bat sie, mir alles zu erklären, und da wanderte sie mit mir im Garten auf und ab und suchte mir die politische Lage verständlich zu machen. Es war ja ein wenig schwer, und alles konnte ich auch nicht verstehen, aber Frau Luise sagte, das ginge wohl vielen Menschen und ihr selber so. Die Hauptsachen begriff ich ganz gut und fühlte mich wie emporgehoben über mein eigenes kleines Leid. Was ist auch die Liebesgeschichte eines kleinen Mädels gegen die gewaltigen Geschicke der Völker, und doch tut's halt weh. –
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9. Juli.
Ich hab' ihn gesehen, aber nur von ferne. Er sah blaß aus.
Und dann kam Gerty, schwer war's, ihr unbefangen zu begegnen, aber ich hab' tapfer standgehalten. Sie war aufgeregt und zerfahren und dabei so spöttisch gegen mich. So sagte sie lachend: »Weißt du, Hannele, angeln ist doch sehr amüsant! So einen Fisch an der Angel tüchtig zappeln zu lassen, gibt solch prickelndes Gefühl. Findest du nicht? Du kennst das jedenfalls von deinem geliebten See her?«
»Nein, das kenne ich nicht und will's auch nicht kennen lernen, denn das ist grausam!«
»So, so, grausam, aber du kennst ja den Vers:
›Ein wenig Teufel in dem Leib
Steht gar nicht übel jedem Weib!‹
Leb' wohl Hannele!«
Und fort war sie.
Ich war noch ganz empört über sie, da kam Isy Braun.
»Hören Sie, Hannele, eben habe ich Gerty mit dem Engländer getroffen. Sie müssen ihr sagen, daß sie sich ins Gerede bringt.«
»Ich kann ihr nichts sagen, Isy. Wir sind zwar Basen, aber wir stehen nicht so zusammen.«
»Ja, es ist so schwer, sich in andrer Menschen Angelegenheiten zu mischen. Ach, und doch, wie oft könnte ein Wort Segen spenden,« sagte Isy ganz bekümmert.
Ich mußte an den Hauptmann Kampe denken. Warum sprach der auch das erlösende Wort nicht? Glaubte er, Isy liebe ihn nicht? Wohl war sie immer gleichmäßig in ihrer sicheren, frohen Art, wohl hatte sie etwas Abgeschlossenes in der Betätigung ihrer Kunst. Aber sie war doch ein Mädchen wie wir alle.
Warum schwieg er? wenn ich ihn einmal fragte? Aber Isy hat recht, es ist so schwer, sich einzumischen in die Schicksale anderer Menschen, vor allem für ein Mädel, das selber nicht aus und ein weiß.
Wir haben noch lieb gesprochen, und sie hat erzählt von den Schwestern und ich versprach ihr, bald einmal zu kommen in ihr schönes, trauliches Heim. –
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12. Juli.
Liebes Vaterle! Gestern nachmittag war ich bei Brauns, Du hättest deine Freude an den Gesprächen gehabt. Frau Luise war noch da und der Hauptmann holte uns ab.
Es kam die Rede auf die Frauenbewegung.
›Sie hat ihre segensreiche Berechtigung gehabt, aber jetzt kämpft sie gegen offene Türen. Sie hat seinerzeit den Mädchen die Tore zu jeglicher Ausbildung geöffnet. Jetzt wird wohl kein Mensch einem Mädchen dies wehren, wollen,‹ sagte Frau Braun.
›Ich betrachte die Frauenbewegung immer nur vom Standpunkt der Notlage. Da lasse ich sie gelten. Wenn sie aber Selbstzweck wird, bekämpfe ich sie, bekämpfe sie vor allem in unsern Kreisen. Da drängen doch die meisten Mädchen nach Berufen nur, weil es jetzt Mode ist, sich außer dem Hause zu betätigen. Und doch ist ihre beste Betätigung, sich zu Hause für ihren wahren Beruf als Frau und Mutter vorzubereiten.‹
›Aber, wenn sie nicht heiraten?‹
›Dann können sie auch ohne Beruf segensreich wirken.‹
›Ach Gott, da bin ich wohl bei Ihnen arg schlecht angeschrieben mit meinem Kunststudium?‹
›Aber, Fräulein Isy, wer von Gott mit einem Talent begnadet ist, der muß es zur Freude der andern pflegen und mehren.‹
›Also lassen Sie mich in Gnaden bestehen!‹ lachte Isy.
›Ich kämpfe vor allem gegen die Frauenbewegung, wie sie jetzt ist. Das Frauenstimmrecht als Programm, führt sie ganz ins radikale Lager.‹
›Die wahre Frauenbewegung ist doch die: Die Frauen zu bewegen, ihre Macht in der Welt zu edlen Zwecken zu gebrauchen. Mit ihrer Weiblichkeit das Schöne, Große zu pflegen und den Mann damit emporzuheben,‹ sagte der Hauptmann. ›Wir Männer schauen zu euch auf, wir wollen euch nicht Seite an Seite im Lebenskampf, denn dort siegt doch der Starke. Und ein unterlegenes Weib ist ein trauriger Anblick.‹
Ich hab' tüchtig aufgepaßt und hoffentlich hab' ich's richtig aufgeschrieben. Alles, was der Hauptmann sagte, war so schön, es ist doch herrlich, wenn die Männer die Frauen so verehren. Herr von Raven denkt auch so, er sprach neulich begeistert von der deutschen Frau. Aber wir müssen auch dessen würdig sein.
Gell, ich hab' hier schon viel gehört und gesehen vom Leben?
Ach, in drei Wochen bist Du hier, da kann ich Dir alles mündlich erzählen, das geht doch viel besser. Ich zähle schon die Tage.
Behüt' Dich Gott und sei geküßt von
Deinem Hannele.«
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15. Juli.
Es war heut wieder ein so schöner Tag, fast wie vor meinem schmerzlichen Erlebnis. Vaterle hatte an Frau Luise zwei große Körbe Kirschen geschickt, von den schwarzen Spätkirschen aus dem Garten. Und dazu eine herrliche Seeforelle. Sie schickte gleich herüber, und ich hab' mich gefreut als ich die heimatlichen Körbe sah und war stolz, denn so süße, schwarze Kirschen gibt's hier nirgends. Wir fingen gleich an tüchtig zu essen, Kurt und Fritzle auch, und bereiteten alles zum Einmachen vor, denn die Früchte waren durch die Reise überreif geworden.
Wir waren mitten im Essen und Richten, als die Küchentür aufging. Der Hauptmann erschien, und hinter ihm Raven. Beide brachen in helles Lachen aus.
»Ihr habt wohl alle Tinte getrunken? Herrgott, Raven, meine Frau hat die Kinder, Fräulein Hannele und sich selber vergiften wollen, retten Sie, helfen Sie!« und lachend drangen beide ein.
Wir verstanden zuerst gar nicht, was los war, aber als wir uns beguckten, da hatten wir alle tiefschwarze Lippen und Zähne von den Kirschen. Da stimmten wir natürlich in das Lachen ein, boten aber mit viel Anpreisen den Herren die Kirschen an, und bald sahen sie genau so aus wie wir.
»Ich kann ja gar nicht ins Kasino,« klagte Raven. »Drückt denn alles, was vom Sonnenberg kommt, mir gleich einen unauslöschlichen Stempel auf?« fragte er mich leise.
Ich senkte den Kopf und antwortete nicht.
»Ich bin so glücklich, Sie endlich wiederzusehen,« fuhr er fort, »ich war in großer Sorge. Bitte, sehen Sie mich doch an.«
Da schlug ich die Augen auf, aber als wir uns anguckten mit den schwarzen Mündern, da mußten wir beide hell lachen, und gottlob! war damit meine Befangenheit vorbei. Tapfer redete ich mit ihm.
»O, diese herrliche Forelle, das gibt ein Festmahl, Luisle, wann wird sie verzehrt?« fragte der Hauptmann dringend.
»Ich denke, heute abend, und da kommen Sie natürlich auch, Herr von Raven. Wittinghaus und Kampe kannst du noch bitten, Fritz.«
»Darf ich einen richtigen heimatlichen ›Kirschenblotzer‹ dazu backen,« bat ich.
»Aber freilich, das gibt ein vollständiges Abendessen vom Sonnenberg. Wenn das uns nicht schmeckt!«
»Was ist ein ›Kirschenblotzer‹?« fragte der Hauptmann.
»Eine Art Kirschenkuchen, er wird Ihnen schon schmecken.«
»Selbstverständlich!« rief Raven dazwischen und der Hauptmann lachte wieder einmal arg verschmitzt.
Der Abend kam und war herrlicher wie je. Ich saß neben ihm, und wieder mußte ich ihm viel von daheim erzählen, vom Garten und vom See, die Kirschen und die Forelle hatten das Heimweh ja wieder geweckt.
Einmal fragte er ganz dringend: »Sie könnten sich wohl nie entschließen, irgend wo anders zu leben, als in Ihrer geliebten Heimat?«
Ich hätt' am liebsten gesagt: Mit dir, wo du willst – aber das konnte ich ja nicht und so sagte ich: »Darüber hab' ich noch nie so recht nachgedacht. Mein Vater schrieb mir ja einmal, du wirst Dir schon einmal einen eigenen Sonnenberg aufbauen, aber das meinte er bildlich.«
»Wie meinte er das?«
»Nun, daß ich mein eigenes Leben erleben muß und mir die Sonne darin bewahren soll.«
»Ich möchte Ihren Herrn Vater kennen lernen.«
»Das werden Sie ja! Am 1. August kommt er. Er schrieb zwar heute, er hätte zwei schwere Patienten, vielleicht könnte sich die Abreise verzögern, denn das wäre mir doch das liebste Mitbringsel, wenn er den Jaköble und die Frau vom Polizeidiener gesund machte. Der Jaköble hat zehn Kinder und der Polizeidiener fünf, ich kenn' sie alle gut, es wär' schrecklich, wenn die beiden sterben müßten, sie sind so nötig auf der Welt. Aber Vaterle macht sie sicher gesund, ich will gern noch ein paar Tage länger auf ihn warten.«
»Wenn nur der Krieg nicht alle Pläne umwirft!«
»Der Krieg, ich denke, die Gefahr ist vorüber?«
»O nein, und ein Krieg wäre ein Segen für uns, für die ganze Menschheit.«
»O, Herr von Raven, wollen Sie mir das einmal erklären, ich stell' mir unter Krieg nur etwas Furchtbares, Unbeschreibliches vor.«
»Und doch bringt er sicher auch Wunderschönes mit sich. All die Verweichlichung, der weibische Zug unter den Männern wird weggeblasen. »Im Felde da ist der Mann noch was wert« – das Nörgeln und Besserwissen hört auf. Jeder weiß die einfache Tatsache, wir müssen unser Vaterland verteidigen mit unserm Leben. Das ist so einfach, so klar, da fällt alle Eigensucht von einem ab. Ach, gnädiges Fräulein, ich ersehne den Krieg. Nicht aus persönlichen Gründen, mein Leben liegt vorgezeichnet, noch eine Klarheit muß ich mir verschaffen – mit und ohne Krieg –, aber für Deutschland ist jetzt der beste Zeitpunkt. Wir haben ja nur Feinde ringsum, wenn wir noch warten, so erdrücken sie uns.«
»Raven, Raven, Sie werden doch Fräulein Hohenzell nichts von der Kriegsgefahr reden?« rief der Hauptmann Kampe.
»Warum nicht?« sagte Frau Luise, »wir deutschen Frauen wollen teilnehmen an allem, was im Vaterland vor sich geht, und Fräulein Hannele ist doch ein erwachsenes Mädchen, sie soll nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben gehen. Wir müssen tapfere und starke Jugend haben für alle Fälle.«
»Aber heut wollen wir noch fröhlich sein. Auf Ihr Wohl, Fräulein Hannele, Ihr Vater soll leben!«
Wir stießen alle an und dann reichte mir der Hauptmann eine Postkarte:
»Hier ist eine Karte an ihn, wollen Sie alle unterschreiben.«
Diese herrliche Forelle
Länger noch als eine Elle
Ward verzehret auf der Stelle.
Und das Dankgefühl, es quelle
Über unsres Hauses Schwelle
Nach dem See mit Blitzesschnelle;
Tön' in Worten froh und helle
Für Geheimrat Hohenzell-e!
Und ich schrieb meinen Namen drunter und Raven auch.
»Dein Hannele,« murmelte er, »ein so lieber, lieblicher Name.«
Ich wurde rot und befangen und wandte mich schnell ab. Allein haben wir an diesem Abend nimmer miteinander gesprochen. –
□
18. Juli.
Ich weiß nicht, was dem Mäxle fehlt. Er trinkt nicht ordentlich, mag nimmer sitzen und ist so unruhig in der Nacht. Er wird mir doch nicht krank werden! Ich hab' gestern und heut das Tennis und die Stunden abgesagt, ich geh' nicht von seinem Wagen. Der gute, alte Sanitätsrat war da, konnte aber nichts sagen. Jedenfalls hab' ich die beiden Kinder getrennt, Anna hat 's Hermännle in Obhut.
Ich saß heute den ganzen Nachmittag an seinem Bettle und hielt auch im Schlaf die heiße zuckende Kinderhand in der meinen. Ein ernstes mütterliches Gefühl kam über mich und eine bebende Angst. Welcher kostbare Schatz ruht in meiner Hand, ein junges Menschenleben, das Größte, das Schönste, was es gibt! Und die Mutter ist weit fort, um toten Schätzen nachzugehen, leblose Werke zu studieren und könnte doch ein lebendiges Kunstwerk im Arm halten. Ich begreife Herta nicht. Aber was nützt das Grübeln! Ich will meine Angst bannen und meine Pflichten getreulich erfüllen. Der liebe Gott bewahre das Kind vor Krankheit und geb' mir Kraft und Einsicht. –
Zum Schreiben hab' ich keine Ruhe heut'.
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19. Juli.
Liebes Vaterle! Die lustige Karte von unserm Forellenschmaus hast Du wohl erhalten, Du siehst, mir geht's wieder ganz gut. Nur das Mäxle ist nicht in der Reihe, aber der Sanitätsrat ist nicht besorgt.
Was Du mir über Dein Kommen schreibst, versteh' ich vollständig. Ich bin stolz, daß Du mich für so verständig hältst und will's auch verdienen. Ich warte gerne noch länger, denn Du gehörst jetzt zuerst Deinen Kranken. Wie schön wird das sein, wenn Du die beiden Menschen, die ja für ihre Kinder unentbehrlich sind, wieder gesund machst. Dein Beruf ist doch unendlich groß und herrlich, wie viele Menschen hast Du schon geheilt, wie viele glücklich gemacht!
Der Krieg droht ja immer noch und mich quälen so viel Gedanken, grad wenn ich an Deinen Beruf denke. Da strebt ihr nun immer, jegliches Leben zu erhalten und im Krieg gilt es gar nichts, da ist dieser Begriff grad ins Gegenteil verkehrt. Schreib' mir doch einmal darüber, ich kann das alles nicht so durchdenken.
Verzeih, wenn heut mein Brief so kurz ist, Mäxle ist arg unruhig und nimmt mich ganz in Anspruch.
Für heut leb wohl und sei innig geküßt von
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20. Juli.
Mäxle ist doch kränker geworden. Der Sanitätsrat weiß noch nicht recht, was draus wird. Ich bin die ganze Nacht nicht zum Schlafen gekommen, das arme Büble war so unruhig. So ein kleines Kind ist doch ein hilfloses Würmle, es kann nicht sagen, wo's weh tut, man muß erraten und versuchen und beobachten.
Ich hab' gestern nur kurz heimgeschrieben, hoffentlich kann ich nächsten Sonntag nur Gutes berichten, ich möcht' dem Vaterle alle Sorge ersparen, er hat selber soviel und auch der Krieg quält ihn, ich merke es seinen Briefen an. Gott lenke alles zum Guten! –
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26. Juli.
Mein Gott, mein Gott, nun ist die Sorge und die Angst doch bei uns eingezogen und ich flüchte mich zu meinem lieben Tagebuch, um die stürmenden Gedanken zu beruhigen.
Mäxle, das arme, arme Kind ist schwer krank und muß viel leiden. Ich bin Tag und Nacht bei ihm, der Sanitätsrat ist zufrieden mit meiner Pflege, das ist mein einziger Trost. Ich bin ganz getrennt von allen wegen der Ansteckung, Anna ist mit Hermännle im untern Stock, Ricke bringt mir das Essen und alles, was ich zur Pflege brauche. Von draußen dringen aufregende Gerüchte zu mir, alles ist in Spannung und Erregung wegen des Kriegs. Frau Luise schickt mir liebe Briefe.
Mächtige, ungeheure Ereignisse bereiten sich vor, ich aber sitze still am Krankenbettle und flehe den lieben Gott an um das junge Leben. Alles, alles andere ist für mich in weite Ferne gerückt. –
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26. Juli.
Liebes Vaterle! Die Krankheit Mäxles geht ihren Gang. Der liebe Sanitätsrat hat Dir ja alles geschrieben und mir versprochen, morgen nochmals zu schreiben. Die Operation ging glatt, ich konnte alle Hilfeleistungen geben.
O, Vaterle, Du versiebst mich, wenn ich heut nur kurz schreibe. Ich bin nicht imstande, meine Gedanken ruhig zu sammeln. Und was soll ich Dir berichten, als daß ich mich bestrebe, meine Pflicht bis ins kleinste zu erfüllen und an nichts anderes denke, als an das Gebet um Mäxles Gesundheit.
Heut kam ein lieber Brief aus Tokio vom 25. Juni. So ahnungslos, so voll interessanter Erlebnisse, wie aus einer andern Welt.
Ich hab' nichts von Mäxles Krankheit geschrieben, wie Du wünschtest, gebe Gott, daß es nie nötig wird, davon zu schreiben.
In diesem Beten sind wir ja eins und das tröstet Dein Hannele, das Dich herzlich küßt.«
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30. Juli.
Liebes Vaterle! Mäxle wird wieder ganz gesund, ich hab' Dir ja schon telegraphiert. Ich bin so glücklich, so dankbar, daß der Schmerz über Dein Fernbleiben gemildert ist. Ich seh' es so gut ein, Du hast die Schwerkranken, denen es ja auch langsam besser geht, dann willst Du für den Kriegsfall das Sanatorium zum Lazarett umwandeln, und hast bei der Aushebung zu tun. Du schreibst so schön; jeder Mensch hat jetzt aufgehört, an sich zu denken, er lebt nur fürs große Ganze, fürs Vaterland.
Ich will lernen, auch so zu denken; wenn wirklich der Krieg kommt, brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Ich tue alles, was Du schreibst, ich bleibe ruhig hier auf meinem Posten. Geld habe ich reichlich und werde alles gut einteilen. An Frau Luise hab' ich ja eine treue Beraterin. Ich bin so stolz auf Dein Vertrauen, ich danke Dir und will mir alle Mühe geben.
Mit innigem Kuß Dein tapferes Hannele.«
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31. Juli.
Krieg, Krieg, da steht das schreckliche Wort und ist kein Wort mehr, sondern Wirklichkeit. Ich lese und höre vom Kriegszustand, von Empörung über unsre Feinde, von Begeisterung und Tatendurst und fühl' mich emporgehoben über mich selber und verschlinge alle Nachrichten und lasse mich hinreißen. – Und doch – und doch – mein liebes Buch, Dir will ich's gestehen – mein Denken und Fühlen ist ja nur bei ihm!
Morgen holt er sich die Entscheidung bei Gerty und dann geht er hinaus in den Krieg, frei oder gebunden – das ist mir gleich in diesem Augenblick, er geht fort, setzt sein Leben ein im blutigen Kampf. Wird er wiederkommen? Wird er fallen, wird er siegen? So ist der Krieg, das Vaterland für mich eins mit ihm. Ist das klein, eigensüchtig gedacht? Ich weiß es nicht, ich hoffe, der liebe Gott sieht in mein Herz und weiß, wie ich's meine und hilft mir, groß zu denken und zu fühlen, mich über meine eigenen Wünsche zu erheben mit den andern Menschen. Oder denken die auch nur an ihr eignes Leben und nimmt's der liebe Gott halt als eine große Gesamtheit entgegen? – Könnte ich doch mit jemand reden, aber vor acht Tagen ist nicht dran zu denken.
Gottlob! Mäxle ist über jede Gefahr, es geht täglich besser, bei ihm kann ich ruhig der Zukunft entgegensehen, aber nun türmt sich neues Leid voll überwältigender Schwere über mein Leben. Von einem Schattental ins andre muß ich wandern. Wo ist mein Sonnenberg? Wie hab' ich halb scherzhaft der lieben Frau Luise erzählt von meiner Reise vom Sonnenberg ins Schattental, und wie Vaterle einen so schönen Vergleich gezogen hat! Nun ist's bitterer, bitterer Ernst. –
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31. Juli, abends.
Ob wohl in diesen Tagen die Gedankenverbindungen stärker sind?
Vorhin bringt mir der Bursche von drüben einen lieben Brief von Frau Luise, voll Zuspruch, Mut und Freudigkeit, und eine kleine Geschichte, die sie für ihr Ehebuch in diesen schweren Tagen verfaßt hat. Es ist wie eine Antwort aus meine Gedanken heute morgen.
Sie heißt
Ich steh' auf der Höhe und schau' in die Sonne.
In den glühenden, leuchtenden Sonnenball, der dort drüben über den dunkeln Wäldern hängt.
Breit und glitzernd liegt der Widerschein auf dem Fluß, golden schimmern die Höhen. Wohin ich schaue, Glanz und Glut.
Ich hab' in die Sonne geschaut, und meine Augen haben ihre Feuergarben zu Kränzen gewunden.
Und wie ich mich wende nach dem Tal, das schon im Schatten liegt, so hängen überall leuchtende, glitzernde Kränze, Sonnenkränze, die meine Augen gewunden aus den Strahlen des versinkenden Sonnenballs.
Und meine Augen schmücken mit gebender Lust die dunkelsten Winkel des Tales mit jenen Kränzen des Lichts. –
Sonne, Sonne, Lebenssonne, laß meine Seele deinen Glanz erfassen, daß auch sie Kränze winde aus deinen Strahlen und sie über die dunkelsten Stunden des Lebens hänge, daß sie umstrahlt sind, wie das dunkle Tal vor mir im Abendgrauen!
Ja, ich will auch Kränze winden für meine dunklen Stunden. –
□
2. August, abends.
Er ist fort, fort vielleicht auf Nimmerwiedersehen! Aber ich hab' ihn noch gesehen, gesprochen, – und er hat mich geküßt. Ich komm' mir wie geweiht vor und will stark und tapfer sein.
Wo soll ich anfangen zu schreiben? Heut ist der erste Mobilmachungstag, der Krieg beginnt, die Truppen ziehen aus! Das steht so einfach da, in meinem Zimmer ist's so still, so friedlich, wie immer, und draußen ist alles in Aufruhr, in Begeisterung, in Abschiedsschmerz.
Ich kann nur dasitzen und die Hände falten und beten: Gib uns Sieg, lieber Gott, und schütze unsere Lieben!
Ich hab' die Zeitungen, die Extrablätter verschlungen und doch nur über allem der eine Gedanke:
Wo ist er, ist er schon fort?
Frau Luise schickte mir Nachricht, daß ihr Mann und Raven heute nacht ausrückten. Da stand ich zitternd am Fenster und wartete. Ich hatte das Gefühl, daß er noch einmal zu Wartenbergs kommen würde, um Abschied zu nehmen und Grüße an mich zu bestellen. Und er kam.
Ich erkannte ihn fast nicht in Feldgrau mit dem Helm im Überzug und den hohen Gamaschen. So schön, so ernst und kriegerisch sah er aus. Ich weiß nicht, wie ich hinunterkam, ich stand plötzlich vor ihm.
»O, Fräulein Hannele, Sie kommen mir entgegen,« rief er und seine Augen leuchteten auf.
»Ich mußte Sie doch noch einmal sehen.«
»Ich wäre heute bis ins Kinderzimmer gedrungen.«
»Sie wollten zu mir?«
»Ja, Hannele, Ihren Segen will ich mir holen, ohne den hätte ich die Stadt nicht verlassen.«
Er nahm meine beiden Hände und zog mich ins Haus.
»Leben Sie wohl, Sie Sonnenkind!«
»Gott schütze Sie, Gott behüte Sie!« stammelte ich.
»Ich danke Ihnen,« sagte er nur, und dann beugte er sich herunter und küßte mich auf die Stirn.
»Dein Gebet soll mich begleiten, Hannele, Du liebes, liebes Kind.« Und dann war er fort.
Zuerst hab' ich wild geschluchzt vor Schmerz und Trennungsweh, aber dann wurde ich ruhig, und ein großes Vertrauen ist über mich gekommen. Wie stolz und ruhig ging er hinaus, sein Leben fürs Vaterland zu wagen, da darf ich, die er geküßt, nicht weinen und verzagt sein.
□
3. August.
Die Begeisterung ist wunderbar. Die Truppen ziehen hinaus, jubelnd, voll Mut und Zuversicht und die Daheimgebliebenen sind stark. Die Zeitungen schreiben so schöne Worte, ich bin ganz überwältigt von allem. Der liebe Sanitätsrat hat mich nämlich eine Stunde mitgenommen in die Stadt, als Mäxle so gut schlief.
»Das müssen Sie sehen und miterleben, das ist ein Ereignis für Ihr ganzes Leben, die Erhebung, die Größe unseres ganzen Volkes! So etwas ist noch nie dagewesen!«
Und ich bin ihm so dankbar, daß ich's schauen konnte.
Jetzt sitze ich wieder im Kinderzimmer und bin noch ganz erfüllt und hingerissen –
Und denke an ihn, der draußen in den Kampf zieht und den ich so lieb, so lieb hab'.
□
5. August, nachts.
Endlich schläft Gerty, die arme, arme Gerty! Wie war sie selbstherrlich, stolz und ablehnend, jetzt liegt sie da, ein armes, verzagtes Menschenkind.
Ich will ihr ja so gern helfen. Gottlob hab' ich sie endlich zum Schlaf gebracht.
Mein liebes Tagebuch, laß dir mein Herz ausschütten, so viel ist heut geschehen, Trauriges, namenlos Trauriges und doch auch Schönes.
Ich war heut morgen so froh, denn unser Mäxle ist bald wieder ganz gesund. Morgen soll alles desinfiziert werden, dann darf ich wieder zu Hermännle und der lieben, lieben Luise, dann kann ich wieder teilnehmen am Leben draußen, an den großen, herrlichen Ereignissen dieser Tage.
Ganz glücklich verging der Tag, Mäxle lag schon festschlafend in seinem Bett, ich saß am Fenster, da sah ich Gerty in Eile in den Garten stürzen. Ich eilte leise hinunter, und sie riß mich ins Gartenzimmer und rief atemlos:
»Hannele, du mußt mir helfen, du mußt Mr. Watson retten. Schnell, schnell, du mußt zu ihm und ihn herholen, hier sucht ihn keiner und dann kann er heute nacht fliehen.«
»Um Gottes willen, was ist geschehen?«
»Mr. Watson soll verhaftet werden als Spion, ich hab's erfahren auf Papas Büro. Ich kann nicht zu ihm, mich kennt man zu sehr, vielleicht wird seine Wohnung schon bewacht. Dich kennt niemand, du mußt es tun, Hannele, hier hast du ein paar Zeilen für ihn. Und dann, Hannele, da – da nimm meine Antwort für Raven, ich geb' ihn frei für dich, das ist mein Dank – dafür mußt du Watson retten.«
Sie drückte mir Zettel und Brief in die Hand, ganz betäubt nahm ich beides.
»Geh, geh, ich flehe dich an, jede Minute ist kostbar.«
»Ja, ich helfe dir,« sagte ich – sie gab mir ja mein Glück, in diesem Augenblick wär' ich für sie durchs Feuer gesprungen.
Ich zog meinen Staubmantel an und setzte meinen Tennishut auf.
»Er wohnt in der Parkstraße 3, du mußt eilen!«
»Paß mir auf's Mäxle auf, er schläft schon, sei recht leis!« rief ich noch und eilte davon.
Parkstraße, das war die Straße, wo Rickes Schwester wohnte. Da hatte ich ja damals Gerty mit dem Engländer gesehen.
Ich rannte und rannte und als ich einmal Atem holte, merkte ich, daß ich Gertys Brief an Raven noch krampfhaft in der Hand hatte. Ich schloß ihn und warf ihn in den nächsten Briefkasten, ohne ihn zu lesen; es war ein kurzer Kampf, aber ich dachte, wenn's Glück kommt, so will ich warten und nicht vorwitzig sein.
Niemand begegnete mir, endlich bog ich in die Parkstraße. O Gott, dort standen ja so viele Leute vor einem Haus, ich drängte mich hin, es war Nr. 3!
Was war geschehen?
»Es geschieht dem Kerl ganz recht.«
»Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.«
»Haben sie denn den Japaner?«
»Ja, der wurde gleich abgeführt, die Schriften sind ihm gottlob! abgenommen.«
So hörte ich abgerissene Gespräche. Ich nahm all meinen Mut zusammen und trat ins Haus. Schnell dachte ich mir was aus und fragte den Schutzmann:
»Ich möchte gern in den dritten Stock zu Fräulein Wollmann. Was ist denn hier geschehen?«
»Ein Japaner hat den Engländer, der hier wohnt, erschossen. Beides Spione, die wir morgen früh verhaften sollten. Nun, den einen brauchen wir jetzt nicht mehr zu füttern. Sie können ruhig hinaufgehen, Fräulein,« sagte er, als ich vor Schreck zurücktaumelte. »Das Dynamit, das wir gefunden, ist schon in Sicherheit.«
Ich stand ganz fassungslos, dann schlich ich hinauf, ich mußte doch den Schein wahren. Fräulein Wollmann wohnt ja Nr. 7.
Ich kam an der offenen Türe seiner Wohnung vorbei, sah zwei Schutzleute stehen und eine jammernde alte Frau, dann eilte ich wieder hinunter.
»Sie haben wohl niemand getroffen, Fräulein,« sagte der nette Schutzmann, »ich glaube, die Hausbewohner sind alle geflohen, sie dachten, sie fliegen in die Luft. Die Leute sind ja rabiat vor Spionenfurcht. Nun, diesmal hatten sie eine gewisse Berechtigung.«
Ich nickte nur stumm und rannte davon voll Grauen und Schmerz. Arme Gerty, arme Gerty!
Wie ich nach Haus gekommen bin, weiß ich nimmer, Gerty stand in der Zimmertür, zitternd, erregt.
»Ist er gewarnt, kommt er?«
»Er ist nimmer da, Gerty.«
»Also gerettet, gerettet! Erzähle, was hast du erfahren, rede, rede, Hannele!«
Sie schüttelte mich.
»Sag', was ist? Hast du ihn gesehen, gesprochen? Du sagst, er ist fort. War er es schon, oder – ist er gefangen?«
»Nein, Gerty, er ist frei, fort für alle Zeit,« sagte ich leise.
»Was heißt das?«
Sie starrte mich an, dann schrie sie auf:
»Er ist tot, tot, sag's nur, sag's doch!«
»Gerty, Gerty, sei ruhig. Schau, ihm ist jetzt wohl. Er hat ja ein großes Unrecht begangen und nun hat er's gutgemacht mit seinem Tode.«
»Er ist tot, er ist tot,« wimmerte Gerty und dann brache sie in wildes Weinen aus. Sie warf sich auf mein Bett und schrie und schluchzte, daß mir ganz angst wurde.
»Er darf nicht tot sein, nein, nein, ich hab' ihn lieb, ich will mit ihm fliehen. Ich will zu ihm, ich werde ihn retten!«
Ich suchte sie zu beruhigen und streichelte sie und flüsterte:
»Lieber, lieber Gott tröste sie.«
Da fuhr sie auf.
»So sei doch still mit deinem Gott, es gibt ja keinen Gott, der mir hilft.«
»Rede nicht so, schäme dich,« rief ich aber da ganz empört.
Da duckte sie sich und wimmerte:
»O, Hannele, ich bin so unglücklich, so unglücklich,« bis sie endlich einschlief auf meinem Bett.
Ich bin dann hinuntergegangen zu Ricke und Anna, die noch auf dem Küchenbalkon saßen und nichts gemerkt hatten, und schickte Anna zu Onkel Ernsts und ließ sagen, Fräulein Gerty bliebe heute nacht bei Fräulein Hannele. Sie würde morgen den Grund selber berichten. Dann ging ich wieder hinauf. Mäxle schlief gottlob! immer noch ruhig und Gerty auch.
Jetzt sitze ich vor der verhängten Lampe und schreibe in mein liebes Buch. Endlich darf ich auch ein bißle an mich selber denken. An ihn, dem meine ganze Liebe gehört, und ja jetzt gehören darf. Und ich bete zum lieben Gott: Schütze und behüte ihn und bring ihn mir glücklich heim! Amen. –
□
9. August.
Liebes Vaterle! Nun ist's so gekommen, und wir sind getrennt für lange Zeit, aber im Geiste bist Du ja bei mir. Dein lieber, herrlicher Brief hat mich beglückt, ich bin ruhig und tapfer und komme mir soviel älter geworden vor durch diese großen Ereignisse, die die Welt erschüttern. Aber, lieb's Vaterle, laß Dir gestehen, mehr wie der Weltkrieg hat mich halt doch mein ureigenstes Erlebnis gereift, das ich Dir jetzt anvertrauen will. Laß mich meinen Kopf an Deine Brust legen, dann kann ich's besser sagen. Ich hab' ihn so lieb, Vaterle, nicht lieber wie Dich, aber anders, heißer, stürmischer. Und er hat mich auch lieb, denn er hat mich beim Abschied geküßt. Wenn er aus dem Krieg zurückkehrt, dann wird er wohl zu Dir kommen und mich von Dir erbitten, und Du wirst »ja« sagen, denn er ist so gut, so tüchtig und Dein Hannele hat ihn so lieb.
Meine Liebe hat eine Vorgeschichte, die ich Dir einmal schreiben will. Ich hätte Dir's schon längst gestanden, aber ich glaubte, meine Liebe sei hoffnungslos, und da wollte ich sie allein überwinden. Jetzt aber weiß ich, er hat mich auch lieb und nun sollst Du's gleich erfahren, denn ich könnte nie ein Geheimnis vor Dir haben. O, Vaterle, es ist Herr von Raven. Er heißt Fritz, aber ich hab' ihn noch nie so genannt.
Verzeih' mir den verwirrten Brief, es ist fast zuviel, was auf mich einstürmt. Wenn ich ruhiger bin, so will ich ausführlicher schreiben, aber Du verstehst mich auch so, bei Dir ist all meine Wirrnis geborgen in Deiner großen Liebe.
Ich küss' Dich innig und dankbar als
Dein Hannele.«
□
10. August.
Ich weiß nicht, wo ich Zeit zum Schreiben hernehmen soll und doch ist so viel geschehen in diesen Tagen. Draußen Begeisterung und Jubel über den glänzenden Sieg von Lüttich, eine fieberhafte Tätigkeit von Männern und Frauen, und ich sitze still im Krankenzimmer bei Mäxle, der noch viel Pflege braucht, und bei Gerty. Sie ist noch bei mir. Krank und matt liegt sie da, aber ich hoffe, sie wird bald gesund werden und eine andere Gerty, eine Gerty, die ich liebhaben kann. Ich hoffe es nicht nur für mich, nein, für sie selber, denn sie war so zerfahren und unzufrieden, wie sie mir gestern gestand.
Am Morgen nach dem stürmischen Unglücksabend kam ein Brief von Tante Klara:
»Ich bin empört, daß Du in dem Hause bleibst, das noch nicht desinfiziert ist. Ich verlange, daß Du sofort heimkommst, gleich badest und frische Kleider anziehst. Erst dann will ich Dich sehen.«
Um halb neun Uhr kam schon Onkel Ernst. Gerty schlief noch fest, ich empfing ihn und sagte ihm alles.
Ganz erschüttert saß er da.
»Das arme, arme Kind! Und keins von uns hat etwas gemerkt. Ihre Mutter hat keine Ahnung. Wie sollte sie auch? Sie ist ja nie zu Hause! Wir haben ja kein Heim, kein Zusammenleben, wir sind ja nur Berufs- und Gesellschaftsmenschen. – Laß mich zu Gerty,« bat er dann aufstehend.
»Ich will schauen, ob sie aufgewacht ist, Onkel Ernst.«
Gerty lag wach im Bett.
»Wer ist da, Hannele? laß niemand herein, nur nicht Mama!«
»Dein Vater ist da.«
»Laß ihn nicht herein, bitte, bitte.«
»Aber Gerty, er weiß alles und ist sehr betrübt.«
»Er weiß alles? Du, du hast mich verraten,« rief sie zornig und brach in Tränen aus.
»Gerty, Gerty, es ist doch dein Vater, der dich liebhat.«
»Keiner hat mich lieb, keiner hat sich um mich gekümmert.«
»Du machst dich krank, wenn du so weinst und tobst.«
»Ich will krank sein, ich will sterben!«
»Jetzt sei aber still, du versündigst dich! O, Gerty, hör deinen Vater, der kann dich doch besser trösten wie ich.«
Sie antwortete nicht und ich eilte hinaus. Onkel Ernst ging allein zu ihr, ich wollte die beiden nicht stören, aber ich betete vor der Tür, daß sie sich verstehen möchten. Nach einer Weile kam Onkel Ernst wieder heraus.
»Liebes Hannele, Gerty möchte so gern noch bei dir bleiben, wird es dir nicht zuviel?«
»O nein, Onkel Ernst, wenn sie nur bald wieder gesund wird.«
»Gesund an Leib und Seele,« sagte Onkel Ernst. »Ich danke dir, Hannele.«
Als ich bei Gerty eintrat, lag sie ruhig da und schaute mir entgegen.
»Ich glaube, Hannele, ich habe meinen Vater nie gekannt bis heute.« Und dann schwieg sie.
Der Tag verging. Das Kinderzimmer und alles, was mit Mäxle in Berührung gekommen war, wurde desinfiziert. Ich war wieder berechtigt, unter Menschen zu gehen, doch ich wartete noch mit dem Besuch bei Frau Luise, obwohl mich meine Sehnsucht mächtig hinüberzog, ich wollte vorsichtig sein.
Mäxle und Gerty nahmen mich den ganzen Tag in Anspruch. Am Abend fing Gerty an zu fiebern, der alte Sanitätsrat war arg besorgt.
Heut geht es aber wieder besser. Ruhe, Ruhe ist ihre ganze Kur.
□
16. August.
Mein einzig geliebtes Vaterle! Wie lieb und gut Du bist und wie Du mich verstehst! Und Du hast meine Liebe geahnt, obwohl ich doch nur so wenig von ihm geschrieben hab'. Du kennst halt Dein Hannele.
Meine Liebe sei gesegnet, schreibst Du, sie lasse mich teilnehmen am großen Weltgeschick. Ja, auch ich kleines Mädel hab' mein Liebstes dem Vaterlande geben müssen, das hebt mich trotz Angst und Sorge, über mich selber hinaus. –
Gestern war ich bei Frau Luise zum erstenmal. Ich fiel ihr um den Hals und sagte ihr alles.
Sie umarmte mich zärtlich.
»Nun sind wir wie Schwestern. Komm, Hannele, sag' ›du‹ zu mir! Gemeinsam wollen wir die Trennung von unsern Liebsten tragen als tapfere deutsche Frauen.«
Alle Menschen sind so lieb und gut zu mir. Die Mädels besuchen Gerty und mich, und da reden sie so nette vernünftige Sachen. Melitta Jansen und Ella von Walden, die so verzwickt und unnatürlich waren, sind jetzt liebe Mädels geworden, sie stricken, sie helfen, wo sie können. Ella von Walden führt ihren Haushalt ganz allein, da ihre Mutter noch in einem Sanatorium ist. Sie jammerte ein bißle über die eintönige Hausarbeit, da sagte ihr Luise so etwas Hübsches, daß ich's Dir aufschreiben will. Unbewußt hab' ich's ja auf unserm lieben Sonnenberg immer so gemacht, drum hat mir das Wirtschaften so viel Freude bereitet.
Luise sagte: »Sie können auch die Hausarbeit künstlerisch heben. Nehmen Sie sich die schönste Hilfe dazu, die Sonne.«
Wir guckten sie ganz verwundert an.
»Sie ist die beste Helferin bei der Hausarbeit. Nicht nur die Künstler, liebe Isy, brauchen ihre Strahlen, ihre Reflexe, ihre Wirkungen, auch die ganz prosaische Hausfrau braucht sie und hat sie lieb!«
»Aber bitte, wie denn?« rief Ella von Walden, »erklären Sie es uns, liebe Frau Hauptmann, bitte, bitte!«
Wir stimmten alle in Ellas Bitten ein.
»Nun also,« lachte Frau Luise, »ich will euch einen kleinen Vortrag halten, einen Tageslauf mit ihrer Hilfe beschreiben: Ich bin aufgestanden und öffne die Fenster, um meine Helferin zu begrüßen. Mit strahlendem Licht flutet sie herein. Ich lege die Betten auseinander, die Kissen ins Fenster. Bin ich ängstlichen Gemütes, so freue ich mich, wie sie jetzt alle Bazillen tötet, die vielleicht in den Kissen stecken, Schnupfenbazillen, Influenzabazillen, und ich nicke meiner Helferin dankbar zu. Bin ich poetisch veranlagt, so freue ich mich, wie sie die Kissen küßt, auf denen Mann und Kinder geruht, und hoffe, daß sie sie mit köstlicher Wärme durchstrahlt, die sich in Träume von Helle und Freude in der kommenden Nacht verwandelt. Mit diesen Gedanken bereite ich den Frühstückstee oder Kaffee, dessen Duft mir wieder von der Sonne erzählt, von der heißeren Glut unter chinesischem oder javanischem Himmel. Habe ich so viele Vorträge besucht, wie Fräulein Gerty, dann denke ich natürlich an Welthandel und Weltwirtschaft, oder an ›die Kulturaufgaben in China‹ von Paul Rohrbach.«
Wir mußten alle lachen, und Gerty stimmte mit ein.
»Aber weiter, weiter, wir sind doch erst beim Frühstück!« bat Ella wieder, die entschieden der Ansicht war, daß alles besonders für sie gesagt sei.
»Nun gut, wenn ihr wirklich noch mehr hören wollt! Jetzt kommt die Küchenarbeit! Welch ein köstlicher Anblick: Auf dem Küchentisch liegt das vom Markt gebrachte Gemüse. Zartweißer Blumenkohl, leuchtende Gelberüben mit den grünen Blätterbüscheln, ein Rotkohl mit blaugrauem Schimmer, glänzend rote Tomaten, gelbe Äpfel, Petersilie, Sellerie – welche Farben, welcher Duft! Alles, alles das Werk meiner geliebten Sonne, die all das Gemüse, all das Obst zum Reifen gebracht und mit Farben überschüttet hat. Bin ich naturwissenschaftlich aufgelegt, so denk' ich über das Chlorophill nach, und dabei fallen mir die anregenden Skizzen von Wilhelm Bölsche ein. Bin ich, wie Fräulein Isy, für Kunst gestimmt, so berausche ich mich an den Farben, an der Zusammenstellung, und vergleichend leuchten mir die alten holländischen Stilleben von Snyders und so weiter oder die modernen von Cezanne und van Gogh entgegen – Fräulein Isy weiß natürlich noch viel mehr!«
»Ich glaube, jede von uns bekommt eine kleine Randbemerkung bei diesem Vortrag,« rief Isy. »Jetzt kommt entschieden Hannele dran!«
»Also, Hannele, eine Frage: Wo glaubst du, hilft die Sonne weiter?«
»Ich weiß, ich weiß,« rief ich ganz stolz, »beim Waschen, beim Bleichen, beim Trocknen.«
»Natürlich, Hannele kommt ja vom Sonnenberg, da weiß sie das alles besser wie wir,« sagte Ella.
»Ja, wirklich, und wer dabei ein wenig literarische Neigungen hat, wie mein Tagebuch schreibendes Hannele, dem fällt natürlich bei der Bleiche die Geschichte der Hosen des Herrn von Bredow ein oder beim Trocknen, ganz klassisch, Goethes Nausikaa: ›Die hohe Sonne, die allen hilft, vollendet gar leicht das Tagewerk!‹ Aber das Tagewerk der Hausfrau ist noch nicht beendet, die Wäsche muß doch geflickt, gebügelt und versorgt werden. Wie duftet sie nach Sonne, Gras und Blumen, und dieser Duft regt meine Gedanken an. Wenn ich die Strümpfe der Buben stopfe, so denke ich, wie sie draußen in der Sonne getollt haben, wie fest sie auf ihren Füßen stehn, und ich wünsch' ihnen diese Festigkeit fürs ganze Leben. Und wenn ich die kleinen Hemdlein vom Jüngsten bügle, dann seh' ich es vor mir draußen in der Sonne liegen und weiß, daß es von ihr alle Kraft, alle Lebensfreude erhält.«
»Das klingt wie ein Märchen, was Sie uns da sagen,« rief Isy ganz begeistert.
»Nein, nein, es ist Wirklichkeit, ihr könnt' es alle selber erproben und noch ausspinnen,« sagte Luise.
»Aber wenn die Sonne nicht scheint?«
»Kinder, Kinder, ein wenig Phantasie muß doch jeder Mensch haben. Dann denkt man sich halt das Schöne alles aus!«
Wir lachten, und Ella ging ganz befriedigt nach Hause.
»Ja ich glaube, man kann das Hauswirtschaften von einer höheren Warte betrachten, als ich bisher getan,« sagte auch die intellektuelle Melitta.
»Vom volkswirtschaftlichen, vom künstlerischen, vom ästhetischen, vom sozialen Standpunkt, wie Sie wollen, ich kann Ihnen noch mehr fremdwörterliche Standpunkte aufzählen,« lachte Luise.
»Aber das beste ist, man macht die Arbeit mit Lust und Liebe.«
»Gnädige Frau, ich bewundere Sie,« sagte Melitta begeistert.
Solche Gespräche führen wir manchmal.
Tante Klara kam auch, sie war ruhig und gütig und ausnahmsweise einverstanden mit den Vorschlägen, die Gerty machte. Sie will bei mir bleiben und sich beim alten Sanitätsrat ausbilden als Helferin beim Roten Kreuz.
Mir ist all diese Betätigung verschlossen, denn die Kinder und der Haushalt brauchen mich. Anna mußte zu ihrer kranken Mutter und kommt vorderhand nicht. So mache ich all ihre Arbeit. Aber je mehr desto besser. Nur Arbeit hilft jetzt über die Angst und Sorge des Wartens und Sehnens. Wir stricken fleißig jeden freien Augenblick.
Und jetzt, Vaterle, darf ich Dir gestehen, daß ich mit heißer Sehnsucht einen Brief von ihm erwarte. Hilf mir geduldig sein, es ist so schwer. Luise hat auch noch keine Nachricht, es dauert wohl sehr lange.
Geduldig warten und vertrauen ist unsere Losung.
Lebe wohl und sei innig umarmt von Deinem Töchterle.«
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18. August.
Meine liebe Lehrerin Fräulein Brand leistet ungeheuer Großes beim Roten Kreuz. Tag und Nacht ist sie im Dienst der Wohltätigkeit. Sie kam gestern bei mir vorbei, sie strahlte förmlich.
»Jetzt ist der Triumph der altmodischen Frau, der Frau, die pflegt und sorgt und wohltut. Abgeschüttelt aller Ballast von Überwissen, Überbildung. Das Herz auf dem rechten Fleck, den Geist erfüllt mit Begeisterung, die Hand weich und geschickt, so schafft die Frau. O, wie herrlich sind die deutschen Frauen!«
Und sie erzählte von den Lazaretten, vom Bahnhofsdienst.
Lange konnte sie nicht bleiben und ich bin ganz hingerissen, aber auch ganz niedergedrückt zurückgeblieben. Da schaffen die Frauen und helfen für den Krieg und ich sitze in meinen vier Wänden gebunden.
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19. August.
Jetzt bin ich getröstet. Ich schüttete der lieben Luise mein Herz aus, daß ich so unglücklich wäre, nicht mithelfen zu können draußen.
»O Hannele, mir ist's ja auch so ergangen, aber dann hab' ich alles durchdacht und habe mich in einer kleinen Geschichte frei geschrieben. Sieh, wenn unsre Männer wieder echte Männer sind, dann können wir wieder echte Frauen sein. Und wir sind's als echte Mütter! Daheim bei den Kindern, dann, wer keine Kinder hat, draußen bei der ganzen Menschheit sind unsre mütterlichen Pflichten.
»Du bist ja bei den Zwillingen auch so ein kleines Mutterle.«
Hier ist die kleine Geschichte.
Am Tisch, im Scheine der traulichen Lampe sitzt die Mutter. Zwei blondlockige Buben spielen am Boden mit Soldaten, und in der Korbwiege liegt das Jüngste in ahnungslosem Schlaf. Die Mutter hat die Flickarbeit in den Schoß sinken lassen, sie liest. Mit brennenden Augen und glühenden Wangen verschlingt sie die Zeitungsnachrichten vom Krieg, von Schlachten, von Siegen, von Mut und Tapferkeit und Heldentaten! – Und ihr Liebster ist dabei.
Mit zagenden Blicken liest sie die Verlustlisten, ein Schatten dunkelt ihre Stirne.
Dann überfliegt sie die Aufrufe vom Roten Kreuz, die Taten der Frauen, wie sie helfen, schaffen, sich zusammenschließen und wirken in der Öffentlichkeit.
Eine heiße Ungeduld erfaßt sie. Still muß sie daheimsitzen und kann nicht helfen draußen, wie die anderen Frauen. Unnütz kommt sie sich vor.
Aber da fällt ihr Blick auf die spielenden Buben und das schlafende Jüngste – ihre Ungeduld wird ruhig – es ist ihr, wie wenn eine Stimme zu ihr spräche:
O du Törin! Bist du nicht Mutter? Deine Taten sind ja die größten unter allen. Schau dich um!
Sind nicht die Männer alle, die draußen kämpfen, Söhne deutscher Mütter, die sie erzogen zu wehrhaften Helden, die ihnen das Höchste in die Herzen pflanzten, die Liebe zum Vaterland, auf daß sie jetzt herrliche Früchte trage draußen im Felde bei der Ernte.
Sieh! wenn jetzt viele Frauen Einkehr halten, sich abwenden von den Irrwegen, die sie gewandert, abtun den Tand fremder Mode, ausrotten aus ihrem Geist die Gedanken an all die Bücher, die ihren Müßiggang vergifteten, verzichten auf den sinnlosen Wettstreit mit den Männern, und sich aufschwingen, befreit und stolz auf ihre Frauenwürde und ihren Frauenwert, zur Höhe des Lebens, auf der wir stehen im heiligen Krieg – die Mutter, die wahre deutsche Mutter, sie steht schon lange dort, sicher in ihrem Muttergefühl. Sieh! du kannst nicht helfen draußen auf dem Kampfplatz des Lebens. Aber du hütest das Heim, bis der Mann dir wiederkehrt. Du pflegst deine Kinder an Leib und Seele, Tag und Nacht, du ringst nach eigenem Aufstieg, um ihnen Vorbild zu sein, auf daß ihr würdig den Heimkehrenden empfanget.
O, deutsche Mutter, du Segen des Vaterlands!
Mit stillem, verklärtem Ausdruck hat die Mutter gelauscht, jetzt legt sie die Arbeit beiseite und bringt die Kinder ins Bett.
Die beiden Buben beten ihr Abendgebet und fügen mit heller Stimme hinzu:
»Lieber Gott im Himmel, bring uns den Vater glücklich wieder heim!«
Und die Mutter flüstert:
»Und laß mich eine gute Mutter sein.«
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23. August.
Liebes Vaterle! Gottlob! kann ich Dir wieder gute Nachrichten geben. Mäxle ist gesund, aber halt noch arg zart, und Gerty ist wieder ganz bei der Hand. Vetter Karl-Adolf ist meine Stütze und Hilfe. Wenn er so kommt voll Bubenbegeisterung, erfüllt von allem Neuen, dann reißt er uns beide mit fort und wir drei stürmten am liebsten mitten in die Schlachten. Er ist nur unglücklich, daß er erst fünfzehn Jahre alt ist und sich nicht als Kriegsfreiwilliger stellen kann. Sein bester Freund, der schon siebzehn Jahre ist, läuft stolz in Uniform herum, das drückt ihm fast das Herz ab.
Weißt Du, Vaterle, Du könntest ihm einmal schreiben, er ist doch Dein Patenkind. Schau, er möchte am liebsten nix mehr lernen, die Schule kommt ihm so unwichtig vor. Ich tröste ihn, so gut ich kann, aber Du kannst's doch besser.
Deine Briefe sind ja mein Trost, denn von ihm ist noch keine Nachricht gekommen!
Ich warte und sehne mich und bin
Dein getreues Hannele.«
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1. September.
Nun halt' ich ihn in Händen, den Brief, der mein ganzes, ganzes Glück birgt. Er hat mich lieb, er hat es mir geschrieben in so herrlichen Worten, daß mir vor Seligkeit die Tränen kamen und ich die Hände falten mußte.
»Dein, dein Fritz!«
O, Fritz, deine Worte ruhen an meinem Herzen und ich bete zu Gott, daß er mich auch Worte finden läßt, die dir sagen, wie lieb ich dich hab'.
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Am Abend.
Ich hab' ihm geschrieben, mein ganzes Herz hab' ich ihm ausgeschüttet und am End' hab' ich doch halt nichts anderes schreiben können, als: ich hab' dich lieb. –
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2. September.
Mein liebes Vaterle! Er hat geschrieben, so schön, so innig! Auch Du hast wohl seinen Brief in Händen, er schrieb, daß er sein Leben vor Dir ausbreiten wollte. Du solltest ihn ganz kennen und er hoffe von ganzem Herzen, daß Du ihn annehmen würdest als Deinen Sohn, um ihm Dein Liebstes anzuvertrauen.
O, Vaterle, ich bin so glücklich, so namenlos glücklich, trotz aller Angst und Sorge. Aber ich trage mein Glück ganz still, die Zeit ist ja so ernst und voll Not und Leid. Sein Freund Wittinghaus ist gefallen, als einer der ersten, ein so tüchtiger, guter Mensch.
Wie dicht liegen heut Glück und Leid zusammen.
Ich will tapfer sein.
Immer Dein Hannele.«
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12. September.
Gerty wohnt immer noch bei mir und geht jeden Tag in ihren Kursus. Sie ist ganz verwandelt, sie verehrt Luise, und auch mich hat sie lieb. Sie fragt aber nie, ob Raven geschrieben, und von ihrem Erlebnis redet sie auch nicht.
Heut saßen wir am Abend lang zusammen mit Luise. Wittinghaus ist gefallen, sein Tod hat uns alle erschüttert.
Aber Luise fand tröstende Worte: »Seht, er ist doch auf der Höhe seines Lebens gestorben, im schönsten Augenblick. Seine Zukunft lag aussichtsreich vor ihm, der Krieg war die Erfüllung seiner Gegenwart. Da fiel er. Ob sein Leben ihm alles gehalten hätte, was er von ihm erwartete? Ich weiß nicht. Er liebte Ilse Berend, ich glaube nicht, daß er mit ihr glücklich geworden wäre. Vielleicht hat sein herrlicher Tod im Sieg von Lüttich ihm vieles erspart.
»Ich will euch eine kleine Skizze vorlesen, die ich heut meinem Mann schickte.«
Und sie las:
Schräg fällt die Abendsonne über den grünen Rasen auf das Gartenbeet mit den drei Fuchsiastöcken.
Schwer hängen die roten Blüten herunter, die Sonne liegt darauf und durchleuchtet sie zu purpurner Glut. Sie sehen aus wie fallende Blutstropfen. Fallende Blutstropfen, – rinnender Lebensquell! –
Ist es so schwer, das Leben hinzugeben, ist das Leben allein des Lebens wert? Nein, o nein – wenn die Wunden bluten und die roten Tropfen den grünen Rasen färben um einer edlen Sache willen – um das Höchste, das Vaterland – dann ist es leicht!
Und ich seh' die Krieger hinausziehen ins Feld, und manch einer wird seine Blutstropfen fallen sehen und sie dünken ihm leuchtende Blumen, die den Altar des Vaterlandes schmücken helfen. –
Fuchsienblüten – fallende Blutstropfen – ihr singt mir das Lied vom schönen Tod!
□
19. September.
Liebes Vaterle! Du hast ein Lebenszeichen von Max und Herta, Gott sei Dank! Sie sind gefangen, aber gut aufgehoben, mehr zu wünschen wär' ein Unrecht in dieser schweren Zeit. Die Kinder sind gesund und ich versuche, sie mit aller Sorgfalt zu betreuen, daß ich sie mit gutem Gewissen ihren Eltern zurückgeben kann. Wann wird das sein? Wann? Warten, vertrauen und beten, und nicht fragen und drängen und ungeduldig sein! –
Wie herrlich, wie unvergleichlich ist unser deutsches Heer!
Was Du mir schreibst aus dem Lazarett, hat mich ganz gerührt.
Ja, alle, alle drängen wieder hinaus mit ungebrochenem Mut!
Gerty ist jetzt in einem Lazarett tätig. Gestern kam sie ganz ergriffen heim.
Es war ein Bayer angekommen, dem beide Arme fehlten. Als sie ihn erschüttert fragte, sagte er treuherzig: »O, des isch no nit 's Ärgscht. Mir wird's scho guat gean, z' schaffen brauch' i nimma, die andern Leut' sorgen halt für mi!«
Und ein anderer, dem das Bein abgenommen war, erzählte neulich lachend am Morgen:
»Fräulein, was ich heut nacht geträumt hab'! Ich war wieder im Feld und hatte schon mein Ersatzbein. Da schoß so ein Halunke, ein Franzos und traf das Holzbein, ich spürte natürlich nichts und freute mich königlich.«
»Das sind Helden, die lachend ihre Leiden tragen,« rief Luise, als ich ihr's erzählte und sie hat recht.
Ich warte wieder sehnsüchtig auf Nachricht von ihm. Hast Du seinen Brief bekommen? Willst Du mir ihn schicken? Jede Zeile von ihm ist mir ja kostbar.
Leb' wohl, sei umarmt von Deinem Hannele.«
□
20. September
Lasse das große Schweigen siegen,
Du deutsche Frau in der Heimat!
Übertöne es nicht mit Reden des Alltags,
Mit den kleinen und großen Worten von gestern! –
Draußen stehen die Helden im brüllenden Donner des Krieges,
Im wehen Stöhnen des Sterbens,
Im hellen Kampfschrei des Lebens –
Umbraust und umdröhnt – und doch in heiligem Schweigen.
Siehe, sie lauschen!
Sie hören im heiligen Schweigen die Stimme des Herzens,
Und ihr Auge wird leuchtend und ihre Seele
Erfaßt den Sieg und den Reichtum des Lebens! –
Und du in der Heimat?
Willst du mit großen und kleinen Worten von gestern
Das heilige Schweigen vernichten?
Lausche, lausche auch du!
Hast du die Schönheit und Anmut des Leibes dem Manne gegeben
Zu edlem Entzücken?
Hast du die Liebe, die Güte des Herzens den Deinen gegeben
In opfernder Gabe?
Hast du den Hochflug, die Fülle des Geistes den andern gegeben
Zum Wohle des Ganzen?
Hast du das Leben mit Kränzen der Schönheit umwunden
Zur Freude der Menschen?
Hast du den göttlichen Funken geschürt zur lodernden Flamme,
Zu eigner Erhöhung?
Hast deinen Reichtum gedankt dem Gott aller Welten?
Oder hast du's vergessen im Alltag der Selbstsucht,
In den eitlen und lauten Worten von gestern?
Lausche den Stimmen des Herzens
Im heiligen Schweigen! –
Und wenn du lauter und rein dich geschwiegen,
Öffne die Lippen den Worten der Güte, der Andacht,
Der Liebe, des Stolzes, des heißen bebenden Dankes –
Und sie werden dir klingen wie Segen des großen Schweigens.
Die Einsamkeit steht vor mir wie ein blühender Baum,
Sein Schatten umdunkelt die Sehnsucht der Seele,
Sein Duften umschmeichelt die Träume des Herzens.
Doch der Sturmwind, der durch die Krone braust,
Weckt mich zu bebendem Lauschen!
Sturmwind des Krieges,
Rüttle die Blüten vom Baum meiner Einsamkeit
Und werfe sie mir in den Schoß,
Auf daß ich sie winde zum Kranz
Für den Mann meiner Liebe,
Die duftenden Blüten vom Baum meiner Einsamkeit!
Diese beiden Gedichte hat Luise ihrem Mann ins Feld geschickt. Ihre Angst, ihre Sorge löst sich in ernsten, schönen Gedanken, ich suche ihr nachzustreben. –
□
27. September.
Liebes Vaterle! Ich baue meinen Sonnenberg langsam auf, die ersten Sonnenstrahlen fallen ja schon ins Schattental, es sind seine Briefe.
Bist Du mir bös, wenn ich nichts draus erzähle? Nein, nein. Du sagst ja selber, die ersten Liebesworte zweier Menschen sind heilige Geheimnisse. Du hast seinen Brief, und willst ihn mir schicken, ich danke danke Dir.
Verzeih', wenn ich heut nicht mehr schreibe, Du verstehst mich ja auch ohne Worte.
Dein dankbares Hannele.«
□
3. Oktober.
Mein liebes Tagebuch, so lange hab' ich nichts mehr geschrieben. Aber Luise hatte recht damals: wenn man verlobt ist, hört das Tagebuchschreiben meistens auf. Da hat man ja einen Menschen, dem man alles, alles sagen kann. Und obwohl er draußen im Schützengraben liegt und ich hier sitze, so sind wir uns immer nah und sagen uns alles, was unsre Herzen und Seelen erfüllt.
»Die Liebe muß auf Wahrheit und Vertrauen beruhen,« schrieb er mir.
Luise nimmt innigen Anteil an meinem Glück und an meiner sorgenden Angst. Es geht ihr ja genau so, ihre Liebe ist ja so heiß, wie am ersten Tage. Für uns beide ist im Namen Fritz alles eingeschlossen. Wir sitzen viel zusammen und stricken, und gestern las sie mir wieder eine schöne kleine Skizze vor, die sie ihrem Mann geschickt hat.
Ich schreibe sie hier ab.
□
Sonntagmorgen.
Sonnige, sonntägliche Stimmung ringsum. Ich sitze auf der kleinen Anhöhe vor der Stadt und meine Augen schweifen weit über die Lande, die in üppiger Herbstfülle prangen.
Friede, Friede überall, nirgends ein Zeichen des Krieges – nur der Soldatenstrumpf in meinen Händen und meine stürmenden, sorgenden Gedanken.
Da taucht ein Spaziergänger neben mir auf, ein alter Herr. Er grüßt höflich und sagt lächelnd: »Auch Sie stricken, gnädige Frau. Alles, alles strickt. Aber warum lassen Sie nicht die Maschinen stricken, das geht doch viel schneller.«
»Sie vergessen all die guten Wünsche, die wir hineinstricken, das kann keine Maschine,« antwortete ich halb ernst, halb scherzend. –
Als er weitergegangen, packt mich auf einmal der Gedanke, den ich da ausgesprochen, mit zwingender Gewalt.
Ja, all die tausend und abertausend Frauen, die im deutschen Vaterland stricken und nähen, sie erfüllen ihre Arbeit mit den heißen Wünschen für das Heil der Krieger draußen. Bewußt und unbewußt sind ihre Gedanken voll sorgender Liebe bei den Kämpfenden, die ihrer Hände Arbeit tragen werden, ihre Wünsche gehen mit den Gaben hinaus ins Feld, und wie eine goldene schützende Wolke schweben sie über Kampf und Tod. –
Da klingen die Kirchenglocken der Stadt in mein Sinnen.
Die Glocken klingen und klingen, und wie in einer Offenbarung seh' ich sie alle, alle, die da gläubig knien und beten, nicht nur drunten in der Stadt, nein, überall in dieser Stunde im deutschen Vaterlande beten sie in den Kirchen. Nicht die vorgeschriebenen Gebete, nicht aus dem Gesangbuch, nein, aus allen Herzen, von allen Lippen steigt ein heißes, inbrünstiges Gebet gen Himmel:
»Mein Gott, schütze meine Lieben draußen im Krieg!«
Und ich sehe die alten Kirchengemälde vor mir mit den betenden Engeln, von deren Lippen wehende Bänder emporflattern mit ihren Gebeten. Und mir ist, wie wenn aus all den Kirchen, ja, aus allen Häusern goldene Bänder emporflatterten mit immer und immer demselben Gebet:
»Mein Gott, schütze meine Lieben draußen im Feld!«
Und die Bänder verschlingen sich und wie eine goldene schützende Wolke schweben sie über Kampf und Tod.
Und ich sehe die goldenen Gedanken-Wolken sich treffen mit einer stolzen, silberglänzenden, die sich ballte aus dem Gedanken, der die Millionen deutscher Krieger beseelt: Der Wille zum Sieg! Zum Sieg des Rechtes, der edelsten Güter der Menschen! –
Wie Ruhe kommt's in meine stürmenden Gedanken.
Draußen die Kämpfenden, erfüllt von edlem und stolzem Streben, daheim die Zurückgebliebenen, beseelt von frommen und schlichten Gefühlen, und alle vereint zu Taten, die Gutes und Starkes schaffen.
Wie schön ist es, sich frei schreiben zu können von all den wogenden Gedanken.
□
9. Oktober.
Liebes Vaterle! Heut nur kurze Zeilen. Antwerpen gefallen, großer Siegesjubel!
Karl-Adolf kam herbeigestürzt und erzählte mir alles. Er hat einen Brief von Dir und ist arg dankbar dafür.
»Onkel Adolf hat recht. Wenn die Deutschen nicht so vorzügliche Schulen gehabt hätten, wenn sie in der Schule des Heeres nicht bis ins kleinste gehorsam und pünktlich gewesen wären, so wäre die unvergleichliche Mobilmachung, die unvergleichliche Haltung jedes einzelnen nicht möglich gewesen. Wir Jungens könnten nicht pflichtgetreu genug sein, denn große Pflichten würden uns erwarten. Ich will mir's merken, du sollst nicht mehr über mich zu klagen haben, Hannele.«
»O, Karl-Adolf, das hab' ich doch nie getan, ein bißle stupfen hab' ich dich manchmal müssen, das war alles.«
»Du, Onkel Adolf ist famos, wenn der Krieg vorbei ist, komme ich zu euch.«
Er hängt an mir und mit Gerty kommt er jetzt auch gut aus.
»Das verdank' ich alles dir, du bist unser guter Engel, Hannele.«
»Nein, das hat alles, alles der Krieg gemacht.«
»Ja, es ist eine herrliche, herrliche Zeit.«
Ganz glücklich zog er ab.
Auch ich bin glücklich und küsse Dich als
Dein treues Kind.«
□
14. Oktober.
Er hat das Eiserne Kreuz! Mein Held, mein Stolz! Ich küsse dies Ehrenzeichen in Gedanken. – Wann darf ich dich selber einmal küssen, deinen lieben Mund, deine schönen Augen? – –
Dein Kuß auf die Stirne hat mich geweiht, möchten meine Küsse dich einst glücklich machen. –
□
15. Oktober.
Hauptmann Wartenberg hat auch das Eiserne Kreuz und ist leicht verwundet, er kommt zurück. Strahlend, selig kam Luise herüber. Sie fährt heut abend nach Hannover und holt ihn ab. – Wie Neid wollte es mich beschleichen – lieber Gott, verzeih' es mir! –
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18. Oktober.
Liebes Vaterle! Bei Wartenbergs sind sie glücklich, und ich bin's mit ihnen. Der Hauptmann hat einen Armschuß, ganz ungefährlich, hat das Eiserne Kreuz und bleibt wohl vier Wochen zu Hause.
Daß mein Fritz das Kreuz hat, hast Du ja durch ihn selber erfahren und hast mir ja so lieb und stolz geschrieben gestern. –
Heute war ich drüben. Das Glück strahlt aus den Augen der beiden und dabei sind seine Augen so ernst, so in sich gekehrt. Alle, alle, die von draußen kommen, haben den gleichen Ausdruck in den Augen, der mir Tränen in die meinen treibt. Jedem einzelnen möcht' ich danken, denn jeder ist ein Held.
Hauptmann Wartenberg erzählt nicht viel, er sagt: es ist alles so groß, so erhaben, so furchtbar und schreckensvoll, das kann man nicht so erzählen, jetzt noch nicht.
Nur so kleine Züge von Mut und Heldentum und goldenem Humor schildert er.
Sein Bursche Dietrich, eine männliche Nanett', ist mitgekommen.
»Ach, ich muß es doch der Frau Hauptmann sagen, der Herr Hauptmann ist zu kühn. Immer ganz vorne, immer der erste, er sollte sich ein wenig schützen.«
»Aber er ist doch der Hauptmann, er muß euch führen,« sagte Luise tapfer, aber ihr Herz hat doch gezittert, wie sie mir gestand.
Vaterle, er hat auch von ihm erzählt, wie tapfer er sei, wie gut mit seinen Leuten, ich mußte weinen vor Angst und Stolz zugleich.
Leb' wohl für heute und sei innig geküßt von
Deinem Hannele.«
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20. Oktober.
Alles Glück für Sie, liebes Fräulein Hannele! Sie wissen ja, Raven ist unser Freund, mein treuer Kamerad. Erhalte Ihnen der liebe Gott Ihr schönes, verdientes Glück!«
So sagte Hauptmann Wartenberg, und ohne daß ich fragte, erzählte er immer von ihm, er verstand meine Sehnsucht.
Vaterle schrieb: »Es ist, wie wenn durch den Krieg ein besser Verstehen, ein innigeres Eingehen aufeinander entstanden wäre. Die Herzen sind offener und die Gesichter zeigen sich ohne Masken.«
Das ist so wahr, das fühl' ich täglich, besonders auch bei Gerty. Gestern schüttete sie mir endlich ihr Herz aus.
»Die Liebe zu Mr. Watson war wie ein Zwang. Raven war mir so langweilig damals – verzeih mir, Hannele – der fremde Mann nahm mich gleich gefangen, jetzt kann ich's kaum begreifen.« –
»Ich bin geheilt, Hannele,« schloß sie endlich. »Dir dank' ich viel, wenn auch der Krieg das Meiste getan hat.«
»Und ich gönne dir Raven von Herzen – ohne Neid, ohne Bedauern, nicht wahr, du glaubst mir?« – sagte sie nach einer Weile.
Und wir küßten uns.
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25. Oktober.
Liebes Vaterle! Mein Dasein geht still dahin und ist doch so reich an innerem Erleben. Während ich bei den Kindern sitze und stricke oder mit ihnen spiele, wenn ich meine Hausarbeit verrichte, immer wandern meine Gedanken ins Weite. Zuerst zu ihm, zu ihm, und dann zu Dir. Und dann kehren sie zurück in mein Inneres, da quälen mich so viele Gedanken. Deine lieben Briefe und Luise helfen mir, auch Gerty tut's unbewußt mit ihren Fragen und Zweifeln.
Gestern sagte sie plötzlich, als wir nach unserem einfachen Nachtessen beieinandersaßen und strickten:
»Wie denkst du eigentlich über Gott, Hannele? Weißt du, seit der Konfirmation habe ich eigentlich nie mehr über solche Dinge nachgedacht. Dann habe ich allerhand gelesen, die monistischen Schriften und Vorträge, jetzt bin ich so verwirrt, ich komme nicht zurecht. Du hast so was Einfaches, Hannele.«
»Gerty, darauf kann ich dir nicht antworten, weißt du, ich will an Vaterle schreiben, er soll uns das erklären, er findet immer die rechten Worte.«
»So, schreibst du deinem Vater über solche Sachen?«
»Ich schreib' meinem Vater alles, alles.«
»Das muß schön sein,« sagte Gerty und blieb still.
Und so bitt' ich Dich, schreibe uns über diese Fragen, Du wirst auch Gerty auf den rechten Weg führen.
Ich danke Dir schon im voraus für Deine Antwort.
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1. November.
Heut kam Vaterles Antwort:
»Um mit Faust zu reden, den Du mit solcher Begeisterung an Ostern mit mir gelesen hast: »nenn's Liebe, Gott oder Natur« – eine große Allmacht über uns gibt es, daran glaube, wir wollen sie ruhig Gott nennen, mein Kind.
Laß Dich zuerst erfüllen von der Allgegenwart Gottes, die alles durchdringt, was auf der Erde lebt. Wie die Sonnenstrahlen alles umspielen, so glüht in jedem Wesen der göttliche Funke. Wir Menschenkinder sollen ihn auf unserem Lebensweg zur starken Flamme schüren durch Arbeit und Gebet.
Arbeit, indem wir unsere Kräfte ausnützen zu einem guten, edlen Leben, und Gebet, indem wir uns in unser eignes Ich versenken, lauschen auf die innere Stimme, die uns Gut und Böse unterscheiden läßt.
Alles, was die Bibel so wunderbar kündet, alles, was die großen Dichter sagen, ist für uns bildlich zu erfassen. Jeder Mensch muß seine eigene Religion erleben, seinen Gott selber suchen. Du bist noch so jung, Hannele, aber Du fühlst an Dir selber, je mehr Du betest und arbeitest, in dem Sinne, den ich vorhin aussprach, je heißer fühlst du den göttlichen Funken glühen, je näher bist Du Gott.«
Gerty saß ganz ergriffen da, als ich vorlas.
»Dein Vater hat recht. Seit ich so Schweres erlebt habe, drängt es mich zu denken und zu prüfen, besser zu machen, also zu beten in seinem Sinne. Und auch zu arbeiten, und dann werde ich ruhig und komme mir gebessert vor.«
»So geht mir's auch, wenn ich auch nicht alles verstehe! Wenn wir's nur ernst nehmen mit unserem Glauben in Wort und Taten, gell, Gerty?«
»Ja, Hannele,« sagte sie, und gab mir einen Gutenachtkuß.
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5. November.
Heute kam Ilse Berend am Nachmittag. Sie war schlicht gekleidet und sehr ernst. Sie erkundigte sich lieb nach den Kindern und meinem Leben, ich merkte aber gleich, daß sie etwas auf dem Herzen hatte.
Plötzlich fragte sie:
»Fräulein Hannele, haben Sie vielleicht etwas Näheres über den Tod des Leutnants Wittinghaus gehört? Es ist ja so traurig, daß er gefallen ist.«
»Herr Hauptmann Wartenberg hat ganz begeistert von ihm erzählt. Er ist gefallen bei einem Überfall, als er sich schützend vor seinen Major stellte. Er schrie auf, als ihn die Kugel traf. Da fragte der Major:
»Na, Wittinghaus, hat's denn weh getan?«
»Verzeihung, Herr Major, nein gar nicht,« sagte Wittinghaus, indem er sich zu seiner gewohnten, straffen Haltung zusammenriß – und fiel tot um.
So starb er.«
Ilse Berend saß ganz still da, die Augen voll Tränen.
»Er war ein Idealmensch, der nur lebte fürs Vaterland, nun starb er dafür,« sagte sie leise. »Es muß also doch so etwas geben. Vaterland war bis jetzt für mich so etwas Unbestimmtes, ein wenig Sentimentales, aber jetzt fange ich an, daran zu glauben.«
»Gott sei Dank!« rief ich, »wie wäre Wittinghaus glücklich, wenn er Sie so reden hörte.«
»Glauben Sie?« fragte sie leise. »Ich danke Ihnen, Fräulein Hannele.«
Und dann ging sie.
Nachdenklich tat ich meine Arbeit und dann, ja dann kam mein liebstes Tagewerk, mein Brief an ihn. Gott schütze ihn!
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10. November.
Liebes Vaterle! Dein schöner, langer Brief hat mich so beglückt, auch Gerty dankt Dir herzlich dafür.
Und dann bin ich ganz beschämt, daß der liebe Sanitätsrat mich so gelobt hat bei Dir. Wenn ich eine ruhige, geschickte Hand hab', so ist das doch nicht mein Verdienst, sondern halt ein Erbstück von Dir, also gilt das Lob eigentlich Dir.
Von ihm hab' ich einen langen Brief, schön und voll Liebe, aber mit der ernsten Nachricht, daß sein ältester Bruder, der wegen allerhand unrechten Handlungen vor zwei Jahren nach Amerika gegangen war, gefallen sei, und zwar mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Er schreibt:
»Nun kann ich wieder stolz auf meinen Bruder sein. Gereinigt, geläutert, hat er sein Leben fürs Vaterland hingegeben. Wie herrlich ist doch der Krieg, indem er manchem verfehlten Leben im schönsten Tode die Sühne verleiht.«
Aber nun muß Fritz nach dem Krieg das Gut übernehmen, Dein Hannele geht aber mit ihm, wohin es sein muß, gell Vaterle, das verstehst Du?
Gott gebe, daß er glücklich heimkehrt, mehr wage ich noch nicht zu bitten. Immer Dein Kind.«
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18. November.
Liebes Vaterle! Heut hat mich wieder einmal das Heimweh nach der heimatlichen Natur gepackt. Es hat zum erstenmal geschneit, aber der Schnee blieb nicht liegen, im Straßenschmutz verschwanden die reinen, weißen Flocken, da mußte ich an meine Berge daheim denken, so herrlich verschneit und rein.
Aber lange konnte ich nicht meinen Gedanken nachhängen, denn Luise kam herüber, ernst und schmerzlich bewegt. Hauptmann Wartenberg ist wieder an der Front!
»O, der zweite Abschied,« sagte Luise, und ihre Stimme war noch voll Tränen. »Er ist viel, viel schwerer als der erste – so namenlos schwer – aber er muß getragen sein.«
Ich fiel ihr um den Hals und küßte sie.
»Ich bin schon wieder tapfer. Es waren ja geschenkte Tage, so schön, so reich, ich will dankbar sein.«
O, Vaterle, sie ist eine herrliche Frau.
Wir sprachen noch viel liebe und ernste Dinge, auch von Dir, ich zeigte ihr Deine Briefe.
»Was hast Du für einen Vater, du glückliches Kind.«
Ja, Vaterle, das weiß ich und ich küsse Dich in inniger Dankbarkeit als Dein treues Kind.«
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24. November.
Mein liebes Vaterle! Man merkt hier immer weniger vom Krieg. Luise kam ganz traurig heut aus der Stadt.
»Ich will mich nicht so groß hinstellen, wie wenn ich immer ans große Vaterland, ans ganze Heer dächte, ich denke an ihn, an meinen lieben Mann, der draußen kämpft in Gefahr, er ist für mich das Vaterland. Es haben aber doch fast alle Menschen einen ihrer Lieben draußen, da müßte doch jeder so denken und die allgemeine Stimmung wäre dadurch eine ernstere. So viel Trödel wird noch getrieben, die Kinos sind besucht, die Operetten! Wer hat dafür Sinn! Schöne Musik, ernste Dramen, das erhebt und lenkt ab, das kann ich verstehen.«
Ist's bei Euch auch so, Vaterle? Ich merke nichts von alledem, ich lebe still mit den Kindern. Sie sitzen beide stramm und aufrecht und jedes hat schon vier Zähnle.
Sie schicken dem Großpapa recht liebe Grüße, aber am liebsten grüßt Dich doch
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30. November.
Ich ging heut zu Luise.
»Luise, du kriegst Konkurrenz, Vaterle ist auch unter die Dichter gegangen. Hör zu:
›Der erste Schnee ist gefallen drunten im Tale, in der großen Stadt. Die reinen, weißen Flocken sind in den Straßenschmutz gefallen und versunken. Aber droben auf dem Berge, da stehen die königlichen Tannen und recken ihre Arme und empfangen und bewahren die reine Himmelsgabe. Erst wenn im Tal der Boden hart gefroren, kann er sich schmücken mit dem Schnee der Höhen.
›So geht es auch mit dem großen göttlichen Gedanken.
›In den Niederungen des Alltags versinken sie, aber die Menschen der Höhe fassen und bewahren sie, und erst wenn das Leben des Alltags durch den Schein der Höhe erleuchtet wird, finden die göttlichen Gedanken dort ihre Stätte. So geht's auch mit dem Erfassen des Kriegs, lieb's Hannele!‹
»Wie schön sagt das dein Vater.«
»Und auf den Gedanken hab' ich ihn im letzten Briefe gebracht,« sagte ich stolz. –
Luise ist mir wie eine liebe Schwester. Wir harren beide wieder sehnsüchtig auf Nachricht, und all das gemeinsame Sorgen und Denken schmiedet uns eng zusammen.
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Am Abend.
Ein herrlicher Brief von ihm. Ich habe gleich geantwortet, drum kommst du zu kurz, mein Tagebuch. –
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6. Dezember.
Ein so lieber Brief vom Sonnenberg! Ich bin gleich zu Luise hinübergesprungen.
»Luise, Luise hör'! Vaterle hat seinen Weihnachtswunsch geschrieben, er geht auch dich an.
Er wünscht sich die sichere Vorfreude auf unser Kommen. Ich soll am 1. Januar die Wohnung kündigen, und so um den 1. März herum mit den Kindern und Ricke kommen. Dann sind die Buben ein Jahr alt, da können sie die große Reise vertragen. Und du, Luise, sollst mit deinen Dreien mitkommen, bis der Krieg aus ist! Ich soll dich dringend bitten. Ist das nicht herrlich! Ach, das wird so schön, wir alle bei Vaterle auf dem Sonnenberg! Dort läßt sich das Warten und Sorgen besser ertragen! O, Luise, sag' ja, bitte, bitte.«
Luise war ganz betäubt, sie nahm den Brief und als sie gelesen hatte, war sie ganz gerührt.
»Den Kindern würde das Landleben sicher gut tun,« sagte sie langsam.
»Und dir auch, Luise.«
»Verzeih', Hannele, daß ich nicht voll Jubel einstimme. Aber schau', für dich liegt dort die Heimat, für mich liegt sie hier, trotz Großstadt und Mietshaus. Hier bin ich umgeben von allem, was mich an ihn erinnert, die Räume atmen seinen Geist, er sieht mich draußen im Feld in unserm Heim, er kann sich alles so gut vorstellen! – Ich will ihm schreiben, denn für die Kinder wäre es ein Segen.«
»Ich versteh' dich so gut, Luise.«
»Ich glaube doch, daß ich mitkomme,« sagte sie nach einer Pause, indem sie sich übers Haar strich; »Fritz ist ja bei mir, wo ich bin, und wie schön, wenn ich ihm die Kinder strahlend vor Gesundheit entgegenbringen kann, wenn er heimkehrt. Ich werde deinem lieben Vater selber schreiben, ich bin ihm ja so dankbar, nicht wahr, das weißt du!«
»O, Luise, du kommst mit, das wird herrlich,« damit eilte ich heim.
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6. Dezember.
Liebes Vaterle! Dein Brief hat mich so glücklich gemacht. Nun ist die Trennung nimmer endlos, ein bestimmter, leuchtender Tag steht vor mir, der 1. März. Dann rüsten wir uns und reisen gen Süden, o, wie ich mich freu! Luise will Dir selber schreiben, sie kommt gewiß mit. Diese Aussicht ist auch mein liebstes Weihnachtsgeschenk. Sonst hab' ich nur den einen, einzigen Wunsch, und ich möcht' ihn am liebsten auf einem Wunschzettel fürs Christkindle vors Fenster legen: Seine Gesundheit, seine Sicherheit! Ich kann nur immer beten; Gott schütze ihn und behüte ihn! Du schriebst neulich: ›Jetzt wird der Mensch wieder einfach und groß, wieder einfach und kindlich.‹ Deine Briefe beglücken mich, an Deinem Geist wachse ich seinem Wert entgegen.
Auch er ist glücklich über Deine Briefe, o, ich wußte ja, daß ihr Euch liebhaben würdet. –
Bei uns türmt sich die Arbeit. Luise und ich stricken und nähen bis tief in die Nacht für die Weihnachtssendungen. Wir haben sechs Kriegerfrauen aufgenommen mit ihren Kindern für den ganzen Tag. Sie nähen drüben bei Luise auf unsere Kosten Liebesgaben. Die Kinder sind bei mir im Gartenzimmer. Isy Braun beaufsichtigt sie. Ricke und ich kochen für die 25 Menschen, die wir zusammen sind. Um 7 Uhr abends ziehen sie zufrieden heim. So helfen wir halt auch ein bißle im kleinen am großen Werk.
Leb' wohl für heut!
Dein getreues Hannele.«
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15. Dezember.
Unser Leben ist reichlich mit Arbeit ausgefüllt. Gottlob! da bleibt wenig Zeit für schwere Gedanken. Neben all der Sorge und Angst um sein geliebtes Leben packt mich auch oft wieder Heimweh nach Vaterle und dem lieben Sonnenberg. Ich darf mir ja gar nicht ausmalen, wie schön die Vorweihnachtstage immer waren.
Nein, nein, ich will tapfer sein. Ich hab' ja so viel Glück, als in dieser Zeit nur möglich ist. Seine Briefe sind mein höchstes Gut. Gestern schrieb er: »Sieh, Hannele, was mich so ruhig sein läßt in diesem blutigen Krieg: ich kämpfe aus Liebe zu meinem Vaterland, und nicht aus Haßgefühl gegen den Feind. Aber wenn mich jetzt der Haß manchmal packt, so fühle ich, er ist gerecht, denn die Niedrigkeit des Feindes hat ihn mir aufgezwungen.«
Und so liebe, zärtliche Worte findet er, zu schön zum Sagen. Mit seinen Briefen im Herzen kann ich die bitteren Stunden der einsamen Weihnacht überwinden. –
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21. Dezember.
Mein liebes Vaterle! Weihnachten ist vor der Tür, alle Arbeit ist getan. Nun flüchte ich mich zu Dir. Still und feierlich wollen wir den Tag verleben und doch voll Glaube und Zuversicht.
Frau Luise hat ihrem Mann ein paar Gedichte geschickt, ich bat sie herzlich, sie für Dich abschreiben zu dürfen.
Die Kerzen brennen am Weihnachtsbaum –
Was sind die Kerzen für mich?
Sie sind meiner Sehnsucht leuchtendes Weh
Und brennen und brennen für dich!
Die Glocken läuten zur Weihenacht –
Was sind die Glocken für mich?
Sie sind meiner Hoffnung heiliger Sang
Und klingen und klingen für dich!
Die Kinder jauchzen in Weihnachtslust –
Was ist ihr Jauchzen für mich?
Es ist unsrer Zukunft frohe Gewähr –
Sie jauchzen und jauchzen für dich!
Ich hab' in deine Augen geschaut –
Als aus dem Krieg du gekommen –
Ich ahne, was ihrem leuchtenden Schein
Den hellen Frohsinn genommen.
Ich hab' in deine Augen geschaut –
Sie schauten so ernst ins Weite,
Wie wenn vor deinem innern Blick
Das Schicksal sich dir entbreite.
Sie schauten hinab in des Abgrunds Nacht
Wo Greuel und Grauen sich paaren,
Wo Kampf und Verderben, wo Elend und Not
Sich um die Kriegsfurie scharen.
Sie schauten hinauf zu den lichten Höh'n,
Wo Kraft und Tatendrang blühen,
Wo von dem herrlichsten Heldentum
Der Krieger Wangen erglühen.
Sie schauten hinein ins heilige Land,
Wo Leben und Tod sich grüßen,
Wo lachende Jugend und ernster Tod
Die Hände sich geben müssen.
Sie schauten – und haben die Bilder bewahrt
Und können den Alltag nicht fassen –
O, möge mein liebender Frauenblick
Deine Augen vergessen lassen. –
Ich kann meine Gedanken nicht in so schöne Worte kleiden. Was ich fühl' und denk', wird er auch in einfachen Worten versteh'n – und Du auch, mein Vaterle.
Weihnachten, das Fest des Gebens. Ich geb' Dir meine dankbare Kindesliebe, mehr hab' ich nicht und es ist Dir genug.
Viel Worte kann ich heut nicht schreiben – es sind halt doch ein paar ›Weinbeerle‹ drin.
Ich küsse Dich mit dankbarer, inniger Liebe
als Dein, Dein Hannele.«
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27. Dezember.
Liebes Vaterle! Still und ernst waren die Feiertage und doch so schön. Seine Briefe, die wie Gebete sind, trug ich auf dem Herzen, innig umschlungen standen Luise und ich unter dem brennenden Baum, während die Kinder ahnungslos jauchzten. Mäxle und Hermännle krähten mit Klein-Luisle um die Wette, Kurt und Fritz sangen mit ihren hellen Stimmen: »Stille Nacht, heilige Nacht – «
Um 7 Uhr kam Deine liebe Sendung. Wie heimelig mich das anmutete, die lieben Gutsele: Springerle, Butterteigle, Kleiebrödle, von der lieben Nanett' gebacken. Der Tannenzweig und die Efeuranken aus dem Garten, das schöne Buch von Deiner Hand eingewickelt, und Dein lieber, lieber Brief. Innigen Dank!
Luise hat mir ein Kunstblatt geschenkt nach der Statue im hiesigen Dom: Die Gestalt des Apostels, der die Kanzel auf seinen Schultern trägt. Und darunter die Verse:
Auch im harten Norden gibt's Kunst voll Größe und Kraft –
Und wann wäre Kraft und Größe
Höher zu werten als jetzt?
Sieh, die Gestalt will ein Sinnbild mir scheinen:
Kraftvoll trägt der Mann auf den Schultern
Des Glaubens Hort.
Alle Männer da draußen,
Auch sie tragen auf kraftvollen Schultern
Den Hort unsres Glaubens –
Den Glauben zum Sieg! –
So sinnig sind alle Geschenke, die Luise macht.
Der Abend verging still und froh, wenn auch die Sehnsucht uns ganz erfüllte.
Luise ist mir wie eine ältere Schwester, Du wirst sie liebhaben.
Am ersten Feiertag hatten wir große Bescherung für unsre sechs Frauen mit den vierzehn Kindern. Luise sprach so gute Worte zu ihnen, ich hatte das Gefühl, sie haben nicht nur Geschenke mit den Händen empfangen, das beste Geschenk, Mut und Zuversicht, trugen sie im Herzen fort. Wie schön ist das Wort: »Geben ist seliger denn nehmen.«
Laß dich umarmen von
Deinem dankbaren Hannele.«
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27. Dezember.
Die Weihnachtstage habe ich ausführlich beschrieben in meinen Briefen, nur eine frohe Nachricht muß ich noch eintragen. Isy, meine liebe Isy, die so tätig ist, überall hilft, unsre Kriegskinder hütet, ihren Bruder rührend pflegt, ist glücklich. Hauptmann Kampe hat gesprochen, oder vielmehr geschrieben und Isy hat ihm ihr Jawort gegeben. Gestern, nachdem die Bescherung vorbei war, hat sie es uns anvertraut. Und da hab' ich mich herzlich über Gerty gefreut. Neidlos gönnt sie uns alles, sie geht auf in ihrer Arbeit, und mit ihrem Vater hat sie sich ebenso innig verstanden. Die Menschen sind halt doch im Grunde alle gut und es ist schön zu leben. –
Als Isy und ich einmal ungestört waren, sagte sie:
»Wissen Sie, Hannele, daß Sie mir auch ein wenig zu meinem Glück verholfen haben?«
»Wieso, Isy?«
»Herbert, so heißt Hauptmann Kampe, schrieb mir, daß ein Gespräch mit Ihnen ihm die letzten Zweifel gebannt hätte. Was haben Sie denn alles von mir gesagt, Sie liebe Heiratsstifterin?«
»O, jetzt weiß ich's wieder,« rief ich ganz glücklich. »Es war bei Wartenbergs an einem Sonntag, da erzählte ich von Ihnen, wie lieb ich Sie hätte, wie ich Sie bewunderte, wie Sie aufgingen in Ihrer Kunst.«
Da rief er:
»Ja, ich glaube, Fräulein Isy geht ganz auf in ihrer Malerei, sie hat keinen Sinn für Haushaltung und Familienleben. Sehen Sie, gnädiges Fräulein, die malenden Damen haben so oft etwas Unharmonisches. Da schwelgen sie in Schönheit, in Farbenharmonie und laufen herum als abschreckende Malweiblein. Daheim Unordnung, oft Verwahrlosung, draußen auffallendes Zurschautragen ihrer Extravaganzen. Und was sie im Durchschnitt leisten, ist doch nur mittelmäßig.«
»So ist aber Isy ganz und gar nicht,« rief ich empört.
»Nein, nein, um Gotteswillen, ich meinte ja auch Fräulein Isy nicht damit, aber sie kommt doch mit diesen Mädchen in Verkehr.«
»Ich will Ihnen sagen, wie Isy ist,« sagte ich energisch, »sie ist das beste, liebste Mädel auf der Welt, voll Lebensfreude und Schönheitsdrang. Sie ist die Seele der ganzen Familie, sie erfüllt sie mit Freude, mit Sonne, und ihr Schönheitsdrang, der betätigt sich nicht nur in ihrer Kunst, nein, auch im täglichen Leben.«
Da rief der Hauptmann Wartenberg dazwischen: »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Fräulein Hannele. Ihre Freundin wirkt auf uns alle so liebenswert, weil sie harmonisch ihre Worte, ihr Streben in Taten umzusetzen sucht. Sie ist nicht nur ein Malweiblein, sondern sie bringt ihr künstlerisches Schönheitsgefühl in den Alltag hinein.« So haben wir geredet, Isy, und Hauptmann Kampe nickte nur und strahlte.«
»Und das haben Sie mir nie erzählt?«
»Ach Isy, es kam ja so unendlich viel zusammen in dieser Zeit. Oft, oft hab' ich an Sie gedacht und gewünscht, daß es so kommen möge, wie es ja kam, gottlob!«
»Ja, gottlob, ich bin sehr, sehr glücklich,« sagte Isy schlicht. »Glücklich in dieser Zeit, es klingt merkwürdig, aber es ist ja ein anderes Glück wie im lachenden Frieden, es ist ein ernstes, tränenschweres Glück, aber doch unendlich schön.«
»Ja Isy, ja, so fühle ich's auch.« Wir strahlten beide, und doch liefen uns die Tränen über die Backen, als wir uns küßten. –
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29. Dezember, nachts.
Mein Gott, wie kann ich die Fülle des Glückes fassen. –
Er ist da, er ist da. Ich bin an seiner Brust gelegen, ich hab' ihn geküßt, seine ernsten, guten Augen, seinen lieben Mund. Und die schwere Wunde, die ihn heimgebracht hat, hab' ich mit heimlicher Ehrfurcht gestreichelt.
Er wird die linke Hand verlieren, ach, was tut's, er lebt, er ist da, ich hab' ihn, ich darf ihn behalten. O, diese Seligkeit!
Ich hab' ja zwei Hände, ihm gehören sie, er soll die eine, die er dem Vaterlande hingab, nie vermissen.
Mein Gott, ich danke dir! –
□
30. Dezember.
Mein geliebtes Vaterle! Du hast das Telegramm bekommen, Du weißt schon wie namenlos glücklich ich bin. Laß mich versuchen, Dir ausführlich zu berichten: Vorgestern morgen, als ich grad die Buben angezogen hatte, kam Luise herüber mit strahlendem Gesicht:
»Hannele, Hannele, eine große Freude! Fritz von Raven ist in Hannover –,« ich fing an zu zittern, halb Glück, halb Angst überfiel mich.
»Er ist verwundet an der Hand und bittet, ob wir ihn nicht abholen wollten. Er ist mit einem Lazarettzug in Hannover angekommen, möchte aber natürlich hier sein. Hannele, ich hab' schon alles befolgt Der gute Sanitätsrat nimmt ihn in seine Privatklinik, Onkel Ernst schickt uns in einer Stunde das Auto. Hoffentlich kann er mit uns zurück, sonst fahren wir mit ihm im Zug morgen her. Bist du zufrieden?«
Ganz schmerzhaft war das Glücksbewußtsein über mich gekommen, ich fiel Luise um den Hals und schluchzte vor Freude. Sie ließ mich ruhig weinen.
»O Luise, ist's wahr, ist's kein Traum?«
»Nein, nein, 's ist Wahrheit.«
»Und er ist nicht gefährlich verwundet?«
»Die Verwundung an der Hand ist sicher nicht lebensgefährlich.«
»Zeig' mir das Telegramm.«
Ich verschlang die Worte. Ja, es ist wahr!
Wie ich mich zur Reise richtete, weiß ich nimmer. Isy kam und wollte die Kinder hüten, solang wir fort waren, Luise hatte an alles gedacht.
Und dann waren wir in Hannover, ich stand an seinem Bett und sah ihn vor mir, am Leben, bei mir, für mich! O Vaterle, es war fast zu schön. Wohl sah er arg blaß aus, aber seine Augen strahlten und: »Hannele, Hannele!« rief er.
Da beugte ich mich ganz selbstverständlich nieder und küßte ihn, Worte waren nimmer nötig. Was wir uns nachher sagten, das kann ich halt nicht schreiben, das gehört nicht auf so kaltes, hartes Papier. –
Da unser Auto so vorzüglich gefedert und ganz mildes Wetter war, so erlaubte der Arzt die Fahrt.
Er wurde auf einer Tragbahre hineingelegt, ich hatte grad noch ein Winkele zum Sitzen, Luise setzte sich vorn zum Fahrer, rührend wie sie immer ist. Stumm verging die Fahrt, denn Fritz hatte doch starke Schmerzen. Gottlob! hat sie ihm nicht geschadet, der liebe Sanitätsrat ist zufrieden mit ihm.
Die linke Hand wird er verlieren, aber seit ich ihm sagte, daß er ja meine beiden Hände fürs Leben bekommt, trägt er's ruhiger, sein einziger Schmerz ist, daß er nicht mehr dienstfähig wird. Sonst ist er glücklich.
Und ich auch. Ich hab' ihn. Er ist da, o Vaterle! Er läßt Dich innig grüßen und Dir danken für sein Lebensglück.
Und ich bin so aufgelöst in Glücksgefühl, daß ich meinen Kopf in Gedanken stumm an Deine Brust lege.
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31. Dezember.
Mein geliebtes Vaterle! Am letzten Tag im Jahr kommen wir noch einmal brieflich zu Dir, Fritz und ich, Deine Kinder. Voll Dank, voll Liebe, voll Zuversicht. Bald kommen wir ja persönlich zu Dir, bald können wir Dir alles mündlich sagen. Bald stehen wir gemeinsam auf Deinem Sonnenberg.
Der unsrige ist droben im Norden, weit fort, und doch so nah bei Dir. So nah wie heut nacht unsere Gedanken, wenn die Glocken läuten, bei Dir sind. Sie formen sich zu dem einen Gelübde: Wir sind und bleiben in treuer Liebe Deine dankbaren Kinder
Hannele und Fritz.«
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31. Dezember.
Drei Tage des Glückes, mögen sie Vorboten meines Lebens sein im Neuen Jahr!
Ich bin ruhiger und will ruhig berichten und dann dir Lebewohl sagen, mein liebes Tagebuch, noch im Alten Jahr.
Er ist ja jetzt mein Vertrauter, er, mein Fritz, mein Held!
Noch sitze ich meist stumm an seinem Bett, oder knie davor und lege meinen Kopf neben den seinen und er streichelt mein Haar, das er so liebt.
»Ich glaube, ich habe mich zuerst in dein Goldhaar, in deine Locken verliebt,« gestand er mir.
»Weißt du noch, wie du mit gelösten Locken auf dem Ruhebett lagst, als du den Fuß verstaucht hattest?«
»Weißt du noch, weißt du noch,« das ist der Anfang all unserer Reden.
Er hat mir auch erzählt, daß er schon im Juni Gerty offen geschrieben hatte, aber Gerty antwortete, sie hätte keine Veranlassung, ihn früher freizugeben, als, am 1. August. Nun fiel mir die Bemerkung über den Fisch an der Angel ein. – Aber all das ist versunken, vergessen. – Gerty freut sich neidlos an unserem Glück, sie ist ja so verwandelt.
Er darf noch nicht viel reden, so erzähl' ich ihm halt alles, alles von mir. Gestern hab' ich ihm dies Buch gegeben. Er gab es mir mit glücklichem Dankeslächeln zurück.
»Ich danke dir, mein Lieb, aber ich habe eigentlich nichts Neues daraus gelesen. Deine Seele lag ja vom ersten Tag an ganz offen vor mir. Aber daß du so lieb erzählen kannst, hat mir Freude gemacht.«
Und dann zog er mich mit der gesunden Hand zu sich und flüsterte:
»Und deinen Sonnenberg willst du bei mir im hohen Norden aufbauen, und willst mich einhüllen in die Strahlen deiner Liebe! O, du mein Lieb! Aber ich will dir es danken mein Leben lang.«
O, wie bin ich glücklich.
So sollen denn meine letzten Worte Glück und Dank heißen. Glück über meine Liebe und Dank dem lieben Gott, der alles so gefügt hat. – –
Doch nein, als ich schließen will, überkommt mich das Gefühl der Selbstsucht. Nur an mich und an mein Glück denke ich und mein Vaterle hat mich doch gelehrt, in den Feierstunden des Lebens auch über sein eignes Ich hinauszudenken. Und so bitte ich den lieben Gott: gib unserem Vaterland bald Sieg und Frieden im Neuen Jahr! – –
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Stunden um Stunden waren vergangen. Draußen war's langsam heller und heller geworden, das Morgenlicht drang herein und kämpfte mit dem Schein der Lampe. Lächelnd schaute der Geheimrat Hohenzell auf. Er hatte geendet. Und die Nacht war dahin. Wie viele Nächte hatte er, der Arzt, geopfert, durchwacht in ernsten Leidensstunden am Krankenbett. Es war wohl der Mühe wert, als Vater eine Nacht zu opfern, um miterleben zu dürfen, wie ein junges Menschenkind, sein Kind, seinen eigenen Sonnenberg baute!
Gott segne dich, Hannele!
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