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In diesem Augenblick jagten zwei Cowboys durch die schmale Nebenstraße auf die Hauptstraße zu, und der dicke O'Shay erhob ein schreckliches Geschrei, um seinen Freund zurückzuhalten. Es war vergebens. So stürmte O'Shay in die Staubwolken, und als der Nebel sich lichtete, sah er, daß Templar nicht zerstampft auf der Erde lag, sondern verschwunden war. O'Shay eilte weiter.
Templar hatte sich durch die Menge hindurchgeduckt, war in einen schmalen Torweg geschlüpft und über eine Treppe hinaufgeschossen – so schnell, daß die Stufen kaum Zeit hatten, unter seinen Füßen zu knarren. Er riß eine Tür auf, sah eine leere Bettstatt, verknäuelte Bettücher, einen alten Reisesack in der Ecke. Er riß eine zweite Tür auf; ebenfalls leer. Eine dritte – »Wen, zum Teufel, suchen Sie denn?«
Er zog sich zurück und probierte eine vierte Tür, und als er an der Klinke zog und das Schloß nicht nachgab, glaubte er in dem Zimmer ein Geräusch zu hören wie das Rascheln eines fernen Windes, der in den Baumwipfeln flüstert und gute Nachricht aus einem unbekannten Lande bringt. Oder war es das Rascheln von Seide?
Er zerrte abermals an der Klinke; der billige Riegel des Schlosses drehte und krümmte sich wie nichts unter seiner eisernen Kraft. Templar riß die Tür auf und schritt über die Schwelle. Auch dieses Zimmer war leer!
Er zögerte unschlüssig. Er konnte weitergehen und auch die anderen Räume durchsuchen oder aber die Sache aufgeben. Last Luck war ein schreckliches Labyrinth. Ein Elefant hätte sich in diesem Städtchen verbergen können, ganz zu schweigen von einem so flinken, schlanken, kräftigen, leichten Geschöpf wie Hongkong.
Er ließ seine Blicke durch den leeren Raum wandern, musterte die Reisetasche in der Ecke, die dicke weiße Staubschicht, die unter der Bettstatt glänzte, das zerwühlte, verknäuelte Kissenzeug auf dem Bett.
Widerwille erfüllte Templar, und er ging schon auf die Tür zu, als ihn plötzlich etwas zum Stehen brachte, wie die Berührung einer Hand. Er hielt inne und drehte den Kopf.
So blieb Templar stehen, und das Licht glitzerte in seinen Augen, denn er hatte einen zarten Lavendelduft gerochen, wie er in einem altmodischen Gemach zu Hause sein würde, in einem Gemach, das mit züchtigem Linnen und verblaßter, geblümter Seide drapiert und mit fadenscheinigen Teppichen ausgelegt ist ...
Aber hier in Last Luck, am Saum der Wildnis und der Wüste?
Rasch blickte er um sich. Als er sich der Tür näherte, verschwand der Duft. Als er sich ins Zimmer zurückwandte, war er abermals da, dünn wie ein Seidenfaden, der im Tageslicht aufglänzt und verschwindet. Etwas, das man eher ahnt als weiß!
Wo konnte das herkommen?
Er langte nachlässig nach dem Bettzeug und schlug es zurück. Und da lag sie, schlau zusammengekrümmt, so daß sie sich gleichsam in die Falten dieser Tücher verkrochen hatte!
»Du kleine Schlange«, sagte Templar nachdenklich. »Du könntest dich in einer Nußschale verstecken, wenn du wolltest! Steh auf, Hongkong!«
Wenn sie die Worte nicht verstand, verstand sie zumindest seine Gebärde, und sie glitt vom Bett herab und stand vor ihm, ihr schwarzes Haar glättend, bis es wie blankes Metall in der Sonne glänzte.
»Komm mit!« sagte er. »Dem Sheriff wird es großen Spaß machen, dein hübsches Gesicht zu sehen, Hongkong. Vorwärts, komm mit!«
Mit leeren, verständnislosen Blicken betrachtete sie seine Hand, die auf ihrem Arm lag.
»Ich werde hier keine Zeit mit Erklärungen verschwenden«, sagte Templar. »Ich weiß, du kapierst, was ich sage –«
»Nicht kapieren, Mister«, sagte das Mädchen.
Sie blickte endlich zu ihm auf.
Er packte ihren Arm fester.
»Damit kommst du nicht durch«, sagte er. »Du verstehst mich genau so gut wie ich mich selber. Einmal hast du einen Schwachkopf aus mir gemacht, aber glaube nicht, daß dir das noch einmal gelingt! Hongkong, vorwärts, marsch! Los!«
Er zog sie einen Schritt vorwärts, aber während sie diesen Schritt machte, schien alle Stärke von ihr zu weichen, und sie sank in die Knie.
Verzweifelte schwarze Augen blickten zu Templar auf.
»Nicht gern, arme Hongkong!« sagte sie.
»Na, na«, sagte Templar. »Das ist nicht anständig. Ich spiele ein ehrliches Spiel mit dir, Hongkong. Es ist nicht recht von dir, die Komödie so weit zu treiben. Steh jetzt auf und komm mit! Sonst hebe ich dich auf und trage dich!«
Und er machte sein Versprechen wahr. Er fühlte Kraft ihre Glieder durchfluten. Er hielt sie so, wie man eine Wildkatze halten würde, von der man weiß, daß sie sich jeden Augenblick in ein gefährlich strampelndes Geschöpf verwandeln könne. Aber Hongkong sank schlaff in seinem Arm zusammen. Sie erschauerte. Sie legte ihre kraftlosen Arme um seinen Hals, schmiegte ihr Gesicht in die Höhlung seiner Schulter und begann zu weinen. Solch ein Schluchzen hatte er noch nie gehört. Es ähnelte nicht dem Weinen irgendeines Menschen, den er je hatte weinen hören. Es klang hoch und schrill, und in der Stimme des Mädchens lag ein dünner, stöhnender, trauriger Klang.
»Nicht, nicht, Hongkong!« stieß er hervor. »Ich kann dich so nicht hinuntertragen. Die Leute würden mich erschlagen, wenn sie mich eine weinende Frau schleppen sähen – und wenn es bloß eine gelbe ist. Bei Gott, das weißt du, es ist bloß eine List von dir! Hongkong, du kleine Hexe, hör auf!«
Er ließ sie auf das Bett fallen. Sie kauerte sich matt an das Kopfende der Bettstatt und schlug die Hände vors Gesicht.
Hilflos schluchzte sie vor sich hin; sie wehrte sich nicht, ihre Hände sanken schlaff herab, ihr Kopf fiel zur Seite, und die Tränen strömten ihr über die Wangen.
Templar nahm sein Taschentuch und begann grob und heftig ihre Wangen zu scheuern. Dann starrte er das Tuch an. Keine Spur von Gelb!
»Bei Gott! Bei Gott!« murmelte er. »Du bist ja doch eine Chinesin, und es ist wirklich keine Schminke!«
Er hob beide Hände, um sie zu beschwichtigen, und schritt rücklings zur Tür. Aber ihr Weinen wurde immer heftiger. Sie hatte sich vornüber auf das Bett geworfen, drehte aber das Gesicht nach der Seite, und das hemmungslose Gejammer tönte anschwellend durch den Raum.
Templar floh. Gesicht und Hals mit kaltem Schweiß bedeckt, stürzte er den Korridor entlang, stolperte die Treppe hinunter und lief zu dem dicken O'Shay, der immer noch wartend an der Ecke stand.
»Danny«, rief er, »komm schnell! Ich habe sie!«
»Was hast du?« fragte der fühllose O'Shay.
»Ich habe die Chinesin Hongkong, die goldgelbe Hexe – hörst du? Steh nicht da wie ein Mehlsack! Komm mit, ja?«
Danny O'Shay ließ sich langsam in Gang bringen. »Du hast sie gefunden? Wo ist sie denn jetzt?«
»Hier oben!«
O'Shay stieg die Treppe hinauf. In seiner linken Hand hielt er schußbereit einen Revolver. In seiner rechten Hand hatte er nichts. Diese geballte Faust war seiner Meinung nach besser als jede Waffe.
»Wie viele hat sie bei sich?« keuchte O'Shay. »Ist es ein Kampf auf Leben und Tod, Söhnchen? Haben wir das Gesetz hinter uns?«
»Es ist niemand bei ihr«, sagte Templar. »Da sind wir!« Er riß die Tür auf; jetzt war das Zimmer wirklich leer.
»Aber das ist doch nicht möglich!« jammerte Templar. »Ich sage dir, sie war hier, hilflos, konnte sich nicht rühren und weinte sich die Augen aus!«
»Warte mal«, rief der Riese. »Sie war hier – allein – mit dir?«
»Ja. Und jetzt –«
»Warum, zum Teufel, hast du sie dann nicht selber heruntergebracht?«
»Sie fing zu weinen an, Danny – es war schrecklich. Ich wurde da ganz schwach. Dann stell dir vor, daß uns jemand gesehen hätte. Eine weinende Frau – der rohe Mann – du verstehst mich, Danny? Aber wo ist sie denn jetzt? Ich muß sie finden!«
»Was hast du denn für ein Interesse an ihr?« fragte der Dicke langsam. »Willst du sie an den Galgen liefern?«
»An den Galgen?« wiederholte Templar entgeistert.
»Oder«, fuhr Danny O'Shay grimmig fort, »bist du in sie verliebt?«
»Danny, du Holzkopf, sie ist doch eine Gelbe!«
»Was zum Teufel, eine Gelbe?« sagte Danny O'Shay. »Sie ist ein Weib!«