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Ein lautes, knisterndes Geräusch unterbrach die lastende Stille – Lister hatte eine Seite seines Buches umgewendet.
Condon feuchtete seine blassen Lippen an.
Eine nervöse Furcht würgte Templar im Hals. Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte geschrien, Tür und Fenster aufgerissen, einen Schuß abgefeuert ...
Warum eigentlich? Im Stallgebäude waren doch kräftige Männer, die man zu Hilfe rufen konnte. Ja, aber, wie Condon gesagt hatte, gerade unter ihnen könnte sich der gedungene Mörder befinden, bereit zur Tat. Und dieser Lister mit seinem verwünschten Buch! War es möglich, daß er die Spannung, die in der Luft lag, nicht merkte? Jetzt lächelte er. Templar war überzeugt, daß an diesem Lächeln nicht die Lektüre schuld sei – wer lächelt wohl, wenn er trockene juristische Lehrbücher liest? – nein, der junge Mann schien zu wissen, daß in diesem Zimmer etwas passieren sollte!
Ein anderer, viel schrecklicherer Gedanke schoß Templar durch den Kopf. Wieviel Nächte hatte wohl Condon in diesem Haus gesessen, furchtbare Todesangst im Herzen, die seine Nerven, seinen Verstand, seine Entschlußfähigkeit lähmte und ein versteinertes Bild der Furcht aus ihm machte?! ... Kein Wunder, daß sein Herz jedes menschliche Empfinden verloren hatte. Eine einzige solche Nacht, das fühlte Templar, würde auf ihn dieselbe Wirkung ausüben.
Doch warum saß Condon eigentlich hier? Es gab doch sicherlich viel besser geschützte Orte als gerade dieses einsame Gebirgstal. Gleichgültig, ob seine Feinde zahlreich waren, es war kaum möglich, einen Ort zu wählen, der für einen Angriff, für das Heranschleichen eines listigen Feindes geeigneter wäre als gerade dieses Haus. Es lag inmitten dichter, dunkler Wälder. Das undurchdringliche Gebirge ermöglichte es dem Verbrecher, sich, unerreichbar für jeden Verfolger, nach vollbrachter Tat sofort zu flüchten. Und da saß der Mann, der über Millionen gebot, und mußte die Qual überreizter Nerven ertragen ...
Auf einmal glaubte Templar, eine Erklärung gefunden zu haben. Er verwarf sie, doch der Gedanke kehrte wieder und ließ ihn nicht los. Condon wartete in diesem Haus, trotzte dem Tod, ertrug die höllischen Qualen der Furcht, weil er die Gefahr herbeisehnte, die Gefahr, an die er nicht denken konnte, ohne zu zittern. Er wappnete sich für die Krisis, weil er von ihrer Überwindung einen reichen Gewinn erhoffte! Wenn diese Ansicht stimmte, wurde auch manches andere begreiflich.
So konnten sicherlich zehn bewaffnete Männer jeden Mörder fernhalten, während einer, zum Beispiel Templar, vielleicht ein Helfer in der Gefahr sein, aber keinesfalls so kühne, gewandte, beherzte und unbeugsame Feinde, wie die seines Gast- und Arbeitgebers, würde fernhalten können.
Da glaubte Templar, ein ganz leises Knirschen unter dem Fußboden zu vernehmen. Auch Condon mußte es gehört haben, denn seinen zusammengepreßten Lippen entrang sich ein unterdrücktes: »Gott, steh mir bei!«
Dieser Ausruf schmolz Templars halb erstarrtes Herz, und sein Mitleid mit dem gequälten Mann betäubte seine Furcht vor dem Geheimnisvollen. Er beugte sich vor, um zu sagen: »Mann, dieses Leben muß Sie ja langsam umbringen!« als er etwas bemerkte – eine Kleinigkeit nur – nämlich: eine Falte des langen Vorhangs vor dem Fenster am anderen Ende des Zimmers bewegte sich. War's ein Luftzug? Aber nichts rührte sich in diesem Teil des Zimmers. Vielleicht drang ein Windhauch durch eine Spalte des Fensters, beruhigte er sich; und er wußte doch ganz genau, daß ein Mensch den Vorhang bewegt hatte.
Er beugte den Kopf vor und tat, als ob er den Fußboden beobachtete, während er seine Hand unter die Jacke steckte. Es sah genau so aus, als ob er in tiefe Gedanken versunken sei, während er scharf den Vorhang beobachtete, die rechte Hand fest am Griff des Revolvers. Der Erfinder der Schnappfeder, die den Revolver unter der Achselhöhle festhält, ist, wer es auch gewesen sein mag, entschieden ein gottbegnadeter Mann gewesen.
Auf einmal hörte er wieder das furchtbare Flüstern Condons: »Templar! – Um Gottes willen – Achtung!«
Es war gerade so, als hätte Condon Augen im Hinterkopf und könnte mit seinen überreizten Nerven alles sehen, was Templar mit seinen zwei richtigen Augen sah.
Der Vorhang bewegte sich beständig, aber kaum schneller – so schien es wenigstens Templar in seiner rasenden Aufregung – als der Minutenzeiger einer Uhr. Ein Luftzug konnte unmöglich den Vorhang so langsam und stetig bewegen. Nein, nein. Es war eine menschliche Hand, und zwar genau in der Höhe, in der ein Mensch den Vorhang anfassen würde. Templar beobachtete den Fleck mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Vorhang aus rötlichem, mit Silberfäden durchwirktem, brokatartigen Stoff fiel in schweren Falten herab und war eigentlich viel zu fein für ein Haus in der Wildnis.
Ein kleines Stückchen dieser Fäden glitzerte im Schein von Listers Tischlampe. Es war ungefähr in Brusthöhe und in der Mitte des Vorhangs. Wenn man auf einen Knopf zu zielen pflegt, weil er gerade über dem Herzen sitzt, warum sollte man nicht ein so wundervolles Ziel wählen, wie es dieser glitzernde Brokat war?
Da bewegte sich plötzlich, wenn auch kaum merklich, der ganze Vorhang. Blitzschnell zog Templar seinen Revolver und feuerte mit weitaufgerissenen Augen, steif den Arm, mit aller Willensmacht die Kugel nach dem Ziel jagend.
Er sah, wie Lister zurückfuhr und die Hand vors Gesicht hielt, während Condon kopfüber von seinem Stuhl zu Boden fiel.
Vom Fenster her ertönte ein halb unterdrückter Aufschrei. Der Vorhang wurde heruntergerissen, und Templar sah einen Mann, einen blanken Revolver in der Hand, vorwärts taumeln. Er lief nicht, nein, er fiel, und dem Fallenden spie Templars Revolver sein Feuer entgegen. Zwei Kugeln erreichten ihr Ziel: die eine traf die Brust, die andere saß zwischen Schulter und Genick. Es war grausame Arbeit, aber Templar war kein Weichling. Angst und Schrecken sind die Ursachen jeder Metzelei, und Templar hatte wirklich Angst.
Die beiden letzten Schüsse – hämmernd, schmetternd, Bleiklumpen vom Kaliber 45 – hatten den stürzenden Körper etwas zurückgetrieben. Jetzt fiel er auf die linke Seite und rollte bis dicht an die Wand.
Templar sprang aus seiner gebückten Stellung, wie er vom Stuhl aufgestanden war, zurück und stellte sich flach gegen die Wand. In jeder Hand einen Revolver haltend, beobachtete er das Zimmer.
Aber niemand kam, nichts zeigte sich; und doch war Templar überzeugt, daß dieser Mann einen solchen Angriff nicht allein unternommen hatte.
Lister murmelte irgend etwas und wiederholte immer wieder: »Sie haben Onkel Andrew ermordet – Sie haben Onkel Andrew ermordet!«
Tatsächlich lag Condon, das Gesicht nach unten, mit ausgestreckten Armen noch genau so da, wie er vom Stuhl gefallen war, und rührte sich nicht.
»Zum Teufel mit Onkel Andrew!« schnauzte Templar und stürmte vorwärts.
Der gefallene Mann drehte sich langsam auf den Rücken, sah Templar mit großen, hellen Augen an und sagte: »Bravo, mein Junge, bravo – – –« Dann erlosch das Licht in seinen Augen, und er war tot.
Lister kniete neben seinem Onkel am Kamin.
»Weg da!« schrie Templar.
Lister sprang zurück und taumelte gegen die Wand.
»Weg!« wiederholte Templar. »Untersteh dich, ihm noch einmal so nahe zu kommen, du Hund, solange ich hier bin! Condon – hören Sie mich?«
Er wartete. Sollte Condon tot sein?
Nein, er drehte sich auf dem Fußboden um wie ein Boxer, der nach einem Niederschlag zu sich kommt. Allmählich richtete er sich auf und taumelte durch das Zimmer. Seine Nerven, nicht seine Muskeln hielten ihn aufrecht.
»Welcher von ihnen war es?« stammelte er. Als er den Toten sah, fiel er neben ihm auf die Knie und stierte ihm forschend ins Gesicht.
»Larry!« rief er aus. »Larry!« Und dann: »Oh, mein Gott, mein Gott, er mußte es sein!«