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Alles, was hier an den Kindern geschah, mußte zum größten Teil als weggeworfen betrachtet werden, wenn man nicht Einblick in ihre häuslichen Verhältnisse gewann. Da war ein Junge, der hatte keine heilen Stiefel, aber Geld für Kinobesuche in der Tasche und war mürrisch, nun von seinem Vergnügen abgehalten zu sein. Ein anderer erzählte unbefangen, daß seine Mutter nicht kochen könne; sie bekamen immer nur Kaffee und Schmalzbrot mittags oder Pellkartoffeln und Suppe von Suppenwürfeln. Ein dritter lehnte das zusammengekochte Essen ab und hatte sich gedacht, es gäbe immer Braten und Schokolade. Der vierte trug stolz ein ganz neues Wams, von der Dame sei es geschenkt, wo seine Mutter wusch. Als Katharina ihn fragte, wo das etwas zerrissene und unsaubere von gestern geblieben sei, das man flicken und waschen könne, sagte er, das habe seine Mutter weggeworfen, zum Flicken habe sie keine Zeit. Und so taten sich fast bei allen Kindern ganz überraschende Umstände auf. Sie wollte nach und nach all diese Mütter aufsuchen, auch Frau Marta schicken, die in der Hauptsache die Arbeiten und Spiele der Kinder leiten sollte.
›Ich muß mit Rüdener darüber sprechen‹, dachte sie. ›Diese Unwirtschaftlichkeit der Frauen des Volkes muß besser erkannt, ihr muß abgeholfen werden.‹
Und sie schrieb ihm. Sie brauche Rat, Belehrung, Hilfe. Freilich nicht für ihre Person, sondern für eine soziale Angelegenheit.
Am nächsten Abend kam er. Und diese erste Wiederbegegnung nach dem Tode ihres Gatten ward für ihn zu einem Wunder. In ihrem schlichten schwarzen Kleid erschien sie älter als sonst. Der Ausdruck ihrer Züge war der gleiche wie immer. Nur ihre Gesichtsfarbe war sehr matt.
Die Unbefangenheit, mit der sie ihm die Hand reichte, empfand er als etwas Edles. Als er fragte, ob sie Näheres über den Heldentod ihres Gatten schon erfahren habe, antwortete sie:
»Noch nicht. Mir ist aber eine große Wohltat widerfahren. Die letzten Worte, die Adams Vater mir schrieb, waren voll Würde und voll heldenhaften Sinnes.«
Er hatte auf der Stelle das Gefühl, daß sie diese Worte als Abschluß sprach und auch wie eine Schranke aufrichtete. Niemals würde sie über den Dahingegangenen klagen, nie vertraulich von ihrer Ehe sprechen. Von dem Gefallenen sollte nichts leben als das gute Andenken, das ihre kurze Mitteilung ihm errichtete. Er wandte sich ab, um eine aufwallende Rührung zu verbergen. »Dieser Krieg«, sprach sie noch, »ist ja eine völkergeschichtliche Notwendigkeit zur Erfüllung von Entwicklungsgesetzen. Das sagte Papa Leuckmer, und man muß es denken. Sonst ginge es gegen göttliches Walten und menschliches Begreifen. Aber für jeden einzelnen ist es nun so unheimlich. Immer hat man von Zufall reden gehört als von etwas Törichtem, in der Kunst, scheint mir, war er verachtet, und ein Ziegel, der vom Dache fiele und den Helden tötete, das wäre da unmöglich. Und nun ist der grauenvolle, bizarre Zustand da. Und der Zufall regiert fast jedes persönliche Schicksal. Ob eine Kugel trifft oder vorbeisaust. Man darf nicht zu sehr darüber nachdenken. Ja, dem dämonischen Zufall sind wir einzelnen preisgegeben...«
»Damit das Ganze kraftvoll und für alle Zukunft unangetastet bestehe«, vollendete er.
Und dann lenkte sie hinüber zu den Fragen, die sie mit ihm besprechen wollte. Ganz sachlich vertieft in ihr wichtiges Gespräch saßen sie. Er war überrascht durch ihr starkes soziales Empfinden und ihre Einsicht in die hauswirtschaftlichen Fehler der armen Familien. Sie erklärte es ihm, sie sei vom Lande. Auf den großen Gütern gäbe es für die Töchter und Frauen der Besitzer immer viele und ernste Aufgaben.
Und er hatte das Gefühl: Mit ihr arbeiten, sich ergänzen dürfen, einander Kenntnisse vermitteln von bisher aus falschem Gesichtswinkel gesehenen Stücken des Lebens. Herrlich mußte das beglücken. Welch segensvolles Wirken konnte das werden.
Er war auch erstaunt über die Einfachheit all der Räume. Wohl gab es alte, solide Möbelstücke da und dort an den Wänden. Aber nirgends irgendein Zeichen von Pracht. Das Zimmer im ersten Stock, wo sie ihre Unterredung führten, konnte wohl ihr eigenstes Bereich sein. Aber spielerische Eleganz fehlte auch hier. Auf der breiten Chaiselongue lag eine dunkelbunte Decke und allerlei Kissen. Da war ein hübscher Schreibtisch mit einigen Photographien bestellt und einem Schreibzeug von Silber. Eine Ecke mit Sofa, Tisch und Stühlen. Irgendwo an der Wand noch ein Zierschrank. Das war, was er unwillkürlich bemerkte und als Bild von ihrem Zimmer mit hinwegnahm. Behagen ohne Prunk, doch voll Anmut.
Erst als er sich verabschiedete, fragte sie nach seinem Knaben. Er gestand, daß er noch nicht wisse, wie für Jürgen das Leben einzurichten sei, wenn er ins Feld müsse. Die alte Frau, die ihm jetzt ihre kleine Wohnung in Ordnung halte, könne unmöglich zur alleinigen Erzieherin Jürgens bestellt werden. Es sprachen auch Geldfragen mit. Seine Ersparnisse waren natürlich nur bescheiden, denn die Einnahmen hatten nur in glücklichen Ausnahmefällen über das Nötige hinaus gereicht. Es kam dem Kinde eine Kriegsunterstützung zu. Dies Sümmchen reichte kaum, ihn dafür in irgendeiner kinderreichen Arbeiterfamilie unterzubringen. Aber vielleicht, daß einer seiner Freunde Jürgen in seinem Familienkreis aufnähme. Er mußte sich bemühen, hatte schon leise angeklopft, freundliche Bereitwilligkeit gefunden. Aber da, wo er sie finden sollte, gab es gesundheitliche Umstände zu bedenken, eine tuberkulöse Hausfrau. Es war recht schwer. Aber ganz gewiß: Irgendeine Lösung würde sich finden.
In ihr wallte ein Wunsch auf.
»Geben Sie mir Ihr Kind!« wollte sie sagen. Aber sie hielt dies rasche Wort zurück. Wie durfte sie es sprechen, ehe sie wußte, ob ihre Lage ihr wirtschaftliche Selbständigkeit erlauben würde? Und war es nicht zuviel gefordert? Würde er ihr dies Zutrauen schenken? »Ja, ja!« rief eine Stimme in ihr.
Aber dennoch, sie fühlte, heute, in diesem Augenblick durfte sie es nicht sagen ...
Ihre Blicke hatten sich unwillkürlich getroffen. Und er glaubte in ihren Augen das zu lesen, was ihr Mund noch nicht zu sprechen wagte.
Dieser ihr Gedanke, so flüchtig er sein mochte und wenn sie ihm niemals Worte geben sollte, er beschenkte den Mann.
Als er ging, hatte er versprochen, Sonntagnachmittag mit Jürgen zu kommen.
»Sie müssen doch endlich meinen Schwiegervater kennenlernen. Seine Daseinsform wird Ihnen unbegreiflich sein. Er hat nie wirklich gearbeitet, ich meine mit Nutzen für andere, war immer zu zart. Aber doch ist sein Leben kein unnützliches. Er ist die Friedfertigkeit in Person und wirkt auf alle mildernd«, erklärte sie ihm.
Noch einige Tage, und Guda und ihr Vater kamen aus Berlin zurück. Sie schienen abgespannt und brachten allerlei Auskünfte mit, die beklemmend lauteten. Das Gericht, bei welchem Tante Jennys Testament hinterlegt war, würde dem kleinen Adam keinen Erbschein ausstellen, auch nicht wenn die Vormundschaftsangelegenheit geordnet sein werde. Es müßte ein Totenschein oder ein ihm gleichwertiges Dokument beigebracht werden, welches das Ableben des Grafen Bertold Leuckmer und die genaue Stunde dieses Todes gerichtsnotorisch machte.
Die junge Frau war darüber bekümmert. Wer konnte wissen, was für Schwierigkeiten, langwierige Verfahren und gar Prozesse mit den adeligen Fräuleins des Stifts sich noch ergäben. Vielleicht kam man in Besitz des Kapitals, wenn es ganz gleichgültig war, ob man es habe oder nicht. Jetzt, jetzt, in diesen Tagen, wo man immer deutlicher erkannte, welche Anforderungen der Krieg stellte, jetzt brauchte man es. Viele Not war zu stillen, mancher Kummer zu lindern, indem man die Folgen des Todes in dürftigen Familien erleichterte. Und man las von der Kriegsanleihe, der ersten. Sie hatte schon gehofft, von ihres Knaben Vermögen viel dem Vaterlande darbringen zu können. Und sie sagte, sie sei neidisch auf Papa Leuckmer, er könne einen stattlichen Posten zeichnen ...
Graf Leuckmer lächelte ein wenig künstlich. Er wechselte einen Blick mit Guda. Ach, heucheln und mit rascher Entschlossenheit glaubhafte Ausreden finden, war nie seine Sache gewesen.
»Das Geld, was ich zurückbehielt, ist ein zu kleines Kapital, als daß ich es angreifen und festlegen darf. Es muß zu unserm Lebensunterhalt dienen.«
»Aber ich dachte doch ...« Sie war etwas betroffen. Eine ziemlich stattliche Zahl klang in ihrem Gedächtnis. Sie mochte sie nicht aussprechen. Und dann, am ersten November waren doch die Zinsen aus England fällig? Die füllten die Kasse mit kräftigen Summen.
Wie hätte sie sonst, als erwählte Vorsteherin des Hauses, alles so reichlich einrichten dürfen: eine teure Wohnung, eine breit angelegte Kriegshilfe.
Der Blick zwischen Vater und Tochter fiel ihr auf. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre gehörte nicht viel Phantasie dazu, in ihr einen Schreckensgedanken erstehen zu lassen.
»Bertold?« fragte sie. »Immer wieder, noch jetzt?«
Guda umarmte sie schweigend und küßte zärtlich ihre Wange. Und der Vater sprach leise, fragend, in jedem Wort klang eine Bitte um Vergebung mit ...
»Es scheint ja, er sah Tante Jenny ihrem Ende zugehen, sah die Erbschaft schon förmlich in seinen Händen, da hat er im letzten Vierteljahr wohl ungewöhnlich ... Es war recht viel zu ordnen. An die Erbschaft konnten wir nicht heran. Sie hängt ganz in der Luft, vielleicht geht sie verloren. Ja, sag', sollte ich da nicht eintreten? Und wenn noch mehr draufgegangen wäre? Sollten Flecken auf seinem Namen bleiben?«
»Du hast recht gehandelt«, sagte sie mit ganz spröder Stimme. Und dann, nach einer Pause, die ihr ihre heiße Erregung aufzwang, gewann sie die Festigkeit, zu bitten:
»Laßt uns alles vergesse«, vergeben. Sein Heldentod löscht alles aus.«
Sie fragte nach keinen Einzelheiten, nicht heute und nicht später. Und dafür war ihr das Herz des Vaters dankbar. Er hätte peinvolle Dinge beim Namen nennen müssen: Spiel; ein Weib, das ihn für unverheiratet gehalten hatte; Rechnungen für Luxus aller Art.
Aber wie er auch gelebt hatte – groß zu sterben wußte er. Und der Schwung seiner letzten Tage und das lodernde Feuer seines Mutes schenkten ihnen den Toten zurück.
Nun rannen die Tage mit all ihrem Inhalt, den mit Kopf und Herz zu fassen, zu bewältigen, oft unmöglich schien. Von den Schlachtfeldern des Ostens und Westens hallten die Siegesnachrichten herein ins Land, und Flaggentuch blähte sich im Winde, und von den Kirchtürmen wallten die runden, pomphaften Glockentöne durch die Luft. Und hart neben dem dankbaren Jubel stöhnte das Leid auf, das so wahllos, so unberechenbar herabfiel auf die Frauen. War es nicht, als kreise das Schicksal hoch oben im blauen Äther gleich einem Flugzeug, das Bomben abwarf? Nicht mehr aus inneren Gesetzen, aus der Art der Charaktere heraus entwickelte sich der Lebensgang. Und die Gerechtigkeit schien aus den Fugen. Wenn die Kräfte einer Erregung erlagen, peitschte eine neue sie wieder auf. Die Zeit verlor ihr gewohntes Maß. Acht Tage schienen oft eine kaum mehr zu überdenkende Spanne.
Als Katharina vom Oberst von Bärwaldtstein Antwort bekam, es mochten zwei Wochen vergangen sein, seit sie ihn um Auskunft gebeten hatte, konnte sie es gar nicht fassen, daß der Tod Bertolds erst so kurze Zeit zurückläge. Waren es denn nicht schon Jahre? Freundliche Worte fand der Oberst, wie die Heiterkeit und der tapfere Schneid Bertolds im Regiment gewürdigt worden seien, wie schmerzlich man seinen Verlust beklage. Einen Tag vor der Einnahme der Forts von Namur habe Oberleutnant Graf Leuckmer einen Rekognoszierungsritt auszuführen gehabt, zu dem er sich freiwillig meldete, gleich den sechs Leuten, die mit ihm waren. Leider seien sie von einer großen Übermacht belgischer Infanterie erst aus dem Hinterhalt beschossen und dann angegriffen worden. Ein bald nachher anrückendes Regiment deutscher schwerer Artillerie fand den Oberleutnant Graf Leuckmer und vier seiner Leute tot, einer der beiden Überlebenden konnte noch den Bericht geben und starb dann auf dem Transport zum Feldlazarett. Der letzte Überlebende der Patrouille Leuckmer läge im Kriegslazarett zu Lüttich schwer darnieder. Er allein könne Auskunft über die genaue Todesstunde geben. Der ungefähr bemessene Zeitraum sei zwischen ein Uhr mittags und sechs Uhr abends am 26. August. Der Name des Ulanen sei: Heinrich Stieve. »Ja«, dachte die junge Frau, »die Menschenlose sind in einen ungeheuren Würfelbecher geraten. Die Riesenfaust des Krieges schüttelt ihn.«
Ein Ulan, der in Lüttich schwer darniederlag, dessen Aussage entschied nun über die ganze zukünftige Lebensgestaltung ihres Knaben. Und es gab gar keine Gewißheit, daß das Gedächtnis dieses Mannes, der durch furchtbare Verwundungen gelitten hakte, dessen Gedanken verwirrt sein mußten, auch zuverlässig sei ...
Würde sie Erlaubnis bekommen, hinzureisen? »Ihr Schwiegervater wäre nicht der Mann, dem man solche Fahrt zumuten durfte. Ihre Brüder? Im Felde. Ihr Vater mit der heiligsten Arbeit beschäftigt: Brot zu säen. Der Gedanke an den Freund drängte sich ihr auf. Würde Rüdener Urlaub bekommen zu solcher Reise? Man mußte es versuchen.
Gerade an diesem Tage, mit der gleichen Feldpost vom Westen, kam endlich auch die Antwort von Thomas Steinmann.
»Ohne Bedenken«, schrieb er, »von Herzen gern nehme ich an, was Sie mir geben wollen: Pflege und Ruhe in Ihrem Heim. Meine Hüftwunden bestehen nur aus ein paar zerfetzten Muskeln. Ich denke, bald am Stock herumhumpeln und in wenig Wochen wieder gut gehen zu können. Aber mit dem linken Arm kann es wohl Monate dauern. Die Wunden waren unrein. Phlegmone kam dazu, die Lebensgefahr ist überwunden. Doch bin ich verzweifelt, nicht bald wieder ins Feld zu können. Heute noch werde ich nach einem Reserve-Lazarett nach Aachen überführt. Sobald ich mich leidlich allein bewegen kann, komme ich nach Hamburg. Man ist so hilflos, ist wie ein Kind, das macht ungeduldig, erträgt sich schwerer als die Schmerzen. Ausgeschaltet sein aus der Reihe der Tätigen.
Daß Graf Leuckmer in Unruhe ist, zeigte mir sein Brief, der mich auf allerlei Umwegen erst vor einigen Tagen erreichte, zugleich mit dem Ihren – der so wohl tat, liebe Gräfin – so wohl. Als hätte meine Mutter inn geschrieben. – Sagen Sie doch dem Grafen: Wenn ich jetzt auch nur ein elender Krüppel bin, der Kopf ist wieder leidlich wach und klar. Ich kann mit ihm über alles sprechen. Aber beruhigen Sie ihn nur, bitte, gleich über den einen Punkt. Anklagen oder auch nur Peinlichkeiten werden ihm nicht daraus erwachsen, daß er seiner Tochter Kapital, dessen Nießbrauch ihm zusteht, in England anlegte. Da dies mehrere Monate vor dem Kriege geschah, ist es natürlich keine landesverräterische Handlung. Daß es dazu dient, Heeres- und Flottenbedarf des Feindes zu finanzieren, ist ein Schmerz für ihn. Wie ihm zumute ist, kann ich mir wohl vorstellen! – Recht gespannt bin ich, wie die Lightstones sich zur Pflicht der Zinszahlung stellen werden. Da können noch große Ärgernisse im Hintergrunde lauern. Mir kam ein englisches Zeitungsblatt heute in die Hand. Es ist im Werke, daß England Auszahlungen an deutsche Gläubiger verbietet.«
Kein Wort schrieb er über die Wendung in Gudas Leben. – Von dem Eindruck, den ihr Entschluß, die Hochzeit bis nach dem Kriege aufzuschieben, auf ihn gemacht haben mußte, schwieg er völlig ... Es mußte ihn tief bewegen.
Die letzten Zeilen seines Briefes beunruhigten sie so sehr, daß sie zu den Ihren davon nicht zu sprechen wagte. Ihre Gedanken aber waren sorgenvoll. Schien es nicht, als griffe der Krieg von allen Seiten an die Grundlagen ihres Lebens? Sie dachte sich: »Über diese Dinge wird doch Herr van Straten eine Ansicht haben müssen.« Und am Abend ging sie hinüber in das befreundete Haus.
Der joviale, lebensfrohe Mann mit dem offenen Gesicht steckte die Hände in die Hosentaschen, und man hörte das leise, metallische Klirren, das seine in den kleinen silbernen Taschengerätschaften wühlenden Finger hervorriefen. Er ging auf und ab und war schrecklich verlegen. Er sprach allerlei davon, daß es noch unverbürgte Nachrichten seien; aber man sah ihm ohne weiteres an, daß er sie für zutreffend erachtete. Katharina sagte bedrückt, daß sie dann in böse Verlegenheiten kämen und sich beinahe in der Lage der Möhrings befänden, deren Haus sie gemietet hätten und die auch nicht mehr wüßten, ob sie reich oder arm seien, aber den Vorteil bescheidener Wirtschaft hätten, während sie sich nun sehr beluden.
Da endlich lachte van Straten schallend auf, was diesmal sogar seiner Frau lieb war, zu hören.
Kokosplantagen in der Südsee war 'ne andere Sache als anderthalb Millionen in den Lord Multonschen Unternehmungen haben. Und wenn die Zinsen ausblieben, würden sie einst nach dem Kriege mit Zins ausbezahlt – derweilen wäre ja er da, Graf Leuckmer habe hohen Kredit bei ihm. –
»Nun«, sagte Katharina, »das wäre bitter und unwürdig – alles in allem – wenn es so käme.«
Davon wollte ja nun van Straten nichts wissen. Er begriff durchaus nicht, was dabei für Bitterkeiten sein sollten. Wenn doch das Gesetz spräche – – –
Und er war auf dem besten Wege, die Geduld zu verlieren mit diesen unpraktischen Menschen, die keinen nötigen Standpunkt einzunehmen imstande waren, sobald nur von Geschäften die Rede ging. Er äußerte einige kräftige Worte.
Die junge Frau wollte recht scharfe Sachen antworten. All ihre ausgeglichene Ruhe kam ihr immer abhanden, wenn das Gespräch nur irgendwie an die Lightstones streifte. In ihnen verkörperte sich ihr ganz England. Und sie haßte es – und dachte manchmal: »Immer heißt es, ich hätte nicht viel Temperament – nun weiß ich, ich hab' es doch.« – War dieser Haß nicht beinahe erhebend? Sie kam sich stärker vor, als sie bisher gewesen. Dieser Haß war Kraft ... Sie war jetzt durchaus von der Lust ergriffen, Herrn van Straten, dem naturalisierten Engländer, zu erklären, daß eine unüberbrückbare Kluft ihn von ihr trenne.
Aber da kam Tiny herein. Und alle waren stumm vor Staunen. Wie sah sie denn aus? Auf dem braunen Scheitel lag, gleich einem schmalen Diadem, der weiße, steife Rand der schwarzen Schwesternhaube mit dem schleierartig herabhängenden Stück schwarzen Stoffes. Sie trug ein blau und weiß gestreiftes Kleid von Waschstoff und um den Hals einen weißen Kragen, den eine weiße Brosche mit rotem Kreuz schloß.
Als die Mutter ihr Kind nun zum erstenmal in dieser Tracht sah, brach sie in Tränen aus. Auch dem großen, breiten Mann wurden die Augen feucht. Wie sein Mädchen schön aussah! War es zu glauben? Noch einmal so schön wie in all dem Chiffon und Flitter, den seine Frau ihr sonst angehängt hatte. Und nun, in der neuen Tracht, war's auch klar: All die letzten Wochen dachte er oft: »Was denn? Hat sie sich verändert?« Ja, sie hatte sich verändert, und in ihrem Gesicht war allerlei Neues, was man nicht verstand. Aber Tiny blieb überraschend ruhig. Sie schien den Eindruck kaum zu bemerken, den sie hervorrief. Sie fragte nach Guda. Man hatte so viel zu tun – selten sähe man einander noch, trotzdem man sich gegenüberwohnte. – Und Gräfin Katharina sagte, daß sie aus Guda nicht mehr ganz klug werde. Morgens und nachmittags gehe sie in Ruhe und Pünktlichkeit zu ihrer Arbeit, und es läge so etwas wie verklärte Zufriedenheit über ihrem Wesen. Abends komme sie immer mit einem ganzen Packen englischer Zeitungen nach Hause. Und nach dem Abendessen wende sie Blatt um Blatt und überfliege diese langen Spalten, in denen man sich kaum zurechtfinden könne und deren schmale Streifen mit dem blassen, augenverderbenden Druck bedeckt seien. Und dabei gerate sie immer von neuem in kaum bezwingbare Erregung – das sähe man ihr wohl an. Wahrscheinlich, daß ihre arme Seele leide und sich noch härter getroffen fühle als alle anderen Menschen – wie Peitschenhiebe müßten doch gerade sie diese aufschäumende Wut der englischen Presse treffen, diese an Wahnwitz grenzenden Verleumdungen des Deutschtums. – Diese grauenvollen Lügengeschichten von den bluttriefenden Untaten deutscher Soldaten. – Diese pöbelhaften Abbildungen nie vorgefallener Grausamkeiten. –
»Ich hab' so 'ne Ahnung, was sie sucht; neulich traf ich sie gerade am Zeitungsstand auf der Brücke am Jungfernstieg – ich sagte ihr: ›Lies doch den ekelhaften Schmutz nicht‹ – da bekam sie ganz sonderbare Augen – blank und scharf, möcht' ich sagen – so was Fanatisches – und sagt zu mir: ›Oh, er wird auftreten und seinem Lande die Wahrheit über uns erklären‹«, erzählte Tiny. »Nun glaub' ich: sie sucht danach, daß er dergleichen unternimmt ...« »Wenn er das täte...« meinte die junge Frau zögernd – nachsinnend. –
Aber da lachte Herr van Straten wieder schallend auf – und das vertrieb sie – war ihr unerträglich – schnell verabschiedete sie sich. Tiny folgte ihr auf den Flur hinaus. – Da war jeder Schritt, als ginge man auf Moos, und um den dicken roten Teppich standen Spiegel und Riesenvasen an den Wänden. – Da sah man gleich, daß man zu sehr reichen Leuten kam ...
Mit ihren »naseweisen Ohren« hatte das Mädchen genau die Klangfarbe der Stimmen eingeschätzt und fühlte, daß Gräfin Katharina verstimmt gegen ihren Vater war.
»Denken Sie nur immer gut von Papa«, bat sie, »auch wenn Sie ihn mal nicht verstehen. Er ist die Herzensgüte selbst – und so wahr und klar. – Ich hab' ihn unmenschlich lieb, meinen prachtvollen Papa – aber wissen Sie – er hat sich 'raufgearbeitet – hart – und Geschäft ist Geschäft – ist ihm ganz was für sich – das ist ihm in England ja wohl so eingehämmert. Aber doch – ich schwör' drauf: Unredlichkeiten oder bloß was Unfaires – nein, das gibt's nicht bei ihm –«
Das rührte nun Katharina.
Mit einemmal fiel ihr Tiny aufschluchzend um den Hals.
»Na – na«, sagte die junge Frau voll wohlwollender Nachsicht und hielt der stürmischen Umarmung stand, »wieder aufgelöst vor Gram? Wer ist es denn diesmal? Immer noch der Arzt? Wie hieß er gleich noch?«
Das Mädchen ließ sie los. Auf der Stelle hörten die Tränen auf zu fließen. Und voll leidenschaftlicher Inbrunst sprach sie – glühend im wahrhaftigen Feuer einer erhebenden Neugeborenheit:
»Niemals mehr – ich flehe Sie an. Nicht wahr – nie mehr necken Sie mich mit meinen albernen Verliebtheiten. Oh, wie weit weg ist das. Ich bin heute zum erstenmal bei den Verwundeten gewesen – bloß als bescheidenste Handlangerin noch. Und da – ich weiß nicht – knien hätte ich mögen. All diese bleichen Männer – mit den wunderbar unirdischen Augen – da war einer ohne Hände, und er klagte nicht – und andere – Schrecken an Schrecken – grauenvolle Leiden. – Aber es war, als litten sie nicht – keine Klage – heiliger Mut. Und mir kam es so vor, als seien es keine Männer – verstehen Sie – Männer, die man so ansieht, ob sie anziehend sind, ob man ihnen gefällt – ob sie wohl verheiratet sind, ob man sie selbst möchte – Menschen waren sie nur. – Nein, auch nicht – Helden und Märtyrer ...«
Sie war außer sich, das Schluchzen und Weinen wollte sie durchaus nicht wieder über sich kommen lassen.
»Oh – hätt' ich verzehnfachte Kraft, zu helfen – könnt' ich ihnen die Qualen abnehmen – die zerstörte Zukunft. – Dienen will ich – nur dienen. – Ich danke Gott von ganzem Herzen, daß ich es darf ...«
Und nun brachen die Tränen doch wieder hervor. Und sie hielten sich wieder umfaßt – ergriffen und doch beglückt. – Denn sie fühlten es stark: Was sie erlebten, adelte sie und erhob. –
Und ohne daß sie es in klare Gedanken oder gar Worte zu fassen gewußt hätten, war in ihnen doch eine Empfindung davon, als trage diese gewaltige Zeit die Frau über ganze Strecken ihrer Entwicklung und ihrer Kämpfe hinweg – fort von irreführenden Wegen, vorbei an falschen Zielen – und erhebe sie wieder auf den Thron der reinen Weiblichkeit.
»Ja, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.«
Wie klangen ihm diese Verse Goethes in der Seele wieder ...
Und manches Mal während des Tages kam ihm sein Zustand ganz unglaubhaft vor. Fuhr er wirklich als Reisebegleiter der geliebten Frau durchs Land? Im wühlenden, unruhvollen Hinundherströmen von Feldgrauen, die von der Front kamen und dorthin strebten – in diesem dichtgedrängten Durcheinander von Menschen aller Art, die auf den Bahnsteigen wie eine Mauer standen, die einlaufende Wagenschlange erwartend, aus deren Türen dann neue Schwarm hervorquollen und die Mauer der Wartenden zu durchbrechen strebten. Soldaten, Schwestern, Frauen in schwarzen Schleiern, Reisende, ihren bürgerlichen Aufgaben und Zwecken ganz wie sonst nacheilend. – Mitten in all dem Gewoge wie Inseln der Festigkeit lange Tische, auf denen Kessel standen; ihrem offenen Rund entstieg Kaffeedampf. Und darum ein Herandrängen von Soldaten und Marinemannschaften, die von jungen Frauen und Mädchen mit einem Trunk erquickt wurden. An ihren Armen leuchtete das rote Kreuz auf weißer Binde. – Und dieses unaufhörliche Durcheinanderwühlen des kriegerischen Lebens und des Ablaufs gewohnten Reiseverkehrs gab dem Treiben auf den Bahnhöfen geradezu die Wucht des Symbolischen – stellte auf begrenztem Platz den neuen Zustand des Vaterlandes dar. Es war überall das gleiche Bild, umrauscht vom Chaos verschiedenster Geräusche. Das Knallen von Wagentüren, die die Schaffner zuwarfen, das dumpfe Puffen des Rauchs aus den Lokomotiven, das Rufen und Sprechen der Menge, das brausende Zeichen eines Zuges auf einem Nebengeleise – all dies Getön betäubte das Ohr, all dies beständige Verschieben der Bewegung quälte das Auge.
Und jedesmal, wenn der Zug wieder in Bewegung kam, wurden in seinen überfüllten Abteilen alle Menschen von dem Gefühl getäuscht: es sei Ruhe eingetreten. – Die Musik des Räderrollens, die Wohltat, einen Platz gefunden zu haben, gaben so etwas wie eine Sicherheit.
– Das Vorwärtskommen war erobert und konnte nicht mehr gefährdet werden. – Jeder Reisende hatte dann seinen stillen, kleinen Triumph. – Hemmnisse waren besiegt. – Der Kampf des einen mit der Masse war bestanden. – Der Genuß der Bewunderung kam über die glatte Entwirrung, die das scheinbar unauflösliche Durcheinander doch noch gefunden. –
Und inmitten dieses Trubels war er mit der Einzigen allein. –
Als sie ihn bat: »Wollen Sie nach Lüttich fahren und den Ulan Heinrich Stieve suchen, seine Aussagen von einem Notar aufnehmen lassen?« antwortete er freudig zustimmend. Aber er gehörte nicht mehr sich selbst an. Seine Freiheit hatte er geopfert, um die Freiheit des Vaterlandes erkämpfen zu helfen. Der schlichte Soldat hatte Vorgesetzte zu fragen. Eigene wichtige Angelegenheiten konnte er nicht als Grund eines Urlaubsgesuches angeben. Dem Feldwebel schien der militärische Wert der ganzen Kompanie in Frage gestellt, falls der Kriegsfreiwillige Rüdener mitten in den Schießübungen vier oder fünf Tage Urlaub bekäme. Erst als Rüdener sich beim Hauptmann meldete und die Notwendigkeit darlegte, die Todesstunde des Oberleutnants Graf Leuckmer festzustellen, wurde ihm seine Bitte gewährt. Graf Leuckner war nicht wenig erstaunt, als Katharina ihm mitteilte, daß Dr. Rüdener nach Lüttich zu reisen bereit sei und daß sie sich entschlossen habe, Thomas aus dem Reserve-Lazarett in Aachen zu holen. Beides ließ sich auf das günstigste verbinden. Von Hamburg nach Aachen konnten Rüdener und sie im gleichen Zuge fahren. Dann bliebe sie in Aachen zwei, drei Tage, bis Rüdener von Lüttich zurückkomme und ihr behilflich zu sein vermöge bei der Überführung des lieben Verwundeten. Er, Papa Leuckner, möge die Güte haben, Rüdener als Reisemarschall ihr zu bestellen und alles mit ihm zu besprechen. – Aber was sollte er dagegen haben? Er war glücklich über die Aussicht, daß Thomas ins Haus kommen sollte. Die ganze Anordnung war sehr wohl bedacht. Praktisch wie alles, was Katharina unternahm. Jetzt in Kriegszeiten konnte man nicht nach gesellschaftlichen Vorurteilen handeln, sondern nur der Forderung des Augenblicks gemäß. Über diesen Dr. Rüdener hatte er sich noch kein rechtes Urteil bilden können. Zweimal saß der Mann als Gast an seinem Tische ihm gegenüber, zwischen Katharina und Guda, und an Gesprächen fehlte es jetzt nie – Verbindungen stellten sich zwischen allen Menschen immer sogleich her, – Das waren Oberströmungen, die setzte der Krieg in Bewegung. – In der Tiefe konnte deswegen ja immer schwer und unverrückbar das Gewicht einer ganz anderen Weltanschauung liegen.
Aber das war für die gegenwärtige Lage völlig gleichgültig. Seine Schwiegertochter stellte den Mann offenbar hoch, mochte ihn in ihrer geistigen Nähe haben. Das mußte dem alten Herrn genug sein. Ihn drückte immer das Gefühl, daß er viel gutzumachen habe an der jungen Frau. – Der, dem dies heilige Aufgabe hätte sein oder werden müssen, schlief den ruhmvollen, ewigen Schlaf. –
So kam es, daß Graf Leuckmer selbst die Gräfin Katharina und den Dr. Rüdener an den Schnellzug brachte. Wenn auch das Gesetzbuch des Verkehrs, das Wunderbuch des Zeitalters, das Reichskursbuch noch nicht seine befehlshaberische Gewalt wiedergewonnen hatte, gab es doch zweimal am Tage eine gute und rasche Verbindung nach Köln. Man war etwa zwei Stunden länger unterwegs als in Friedenszeit und hatte sogar bald Anschluß nach Aachen. Dort wollte dann die junge Frau aussteigen, während Rüdener bis zur Grenze noch weiterzukommen hoffte. –
Sogleich als der Wirbel von Menschen und Lärm um sie her zog wie unwiderstehliche Flut, die alles auseinanderreißen wollte, kam ein Gefühl der Zusammengehörigkeit über sie, das sich in der Sorge äußerte, sich nur um Gottes willen nicht zu verlieren, nicht etwa getrennt und in verschiedene Wagen geschoben zu werden, wenn man einmal ausgestiegen war oder das Gebot eines Zugwechsels sie überraschte.
Und der Mann war, von einem Glücksgefühl getragen, dessen er sein Herz nicht für fähig gehalten hätte. Immer hatte er gedacht, es sei herbe geworden in den Leiden seiner Jugend, in der ersten und einzigen Erfahrung mit dem Weibe. Es hatte sich noch nicht einmal in voller Liebe seinem Knaben erschlossen. Noch war er mehr vom Gefühl für Vaterpflicht als von Vaterglück erfüllt.
Welche vollkommene Vertrautheit zwischen seiner Seele und der ihren. Ein Blick genügte dem Verständnis. Eine leise Handbewegung sagte dem anderen, was gemeint sei. Als habe man seit Jahren das Leben geteilt. Als seien Zusammenhänge da, unerklärlich, aus der Tiefe, aus verschleierten Vergangenheiten heraufgewachsen. –
»Ja, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau...«
Das klang ihm immer wieder durch die Gedanken.
Ihre vollkommene Unbefangenheit ergriff ihn. Sie war wie ein Gebot. Mahnte ihn fort und fort, sich nicht zu verraten – mit keinem Blick, keinem Lächeln die Hingebung aufleuchten zu lassen, in der sein ganzes Ich sich ihr schenkte. – Einmal drückte sie das blonde, mit einem schwarzen Schleier lose umschützte Haupt in die Ecke und schloß die Augen, etwas ermüdet vom gehetzten Eilen und der nervösen Beweglichkeit der Menge auf einem Bahnhof, den man wieder verließ, nachdem ein förmlicher Ansturm von Menschen auf den Trittbrettern emporgebrandet.
Wie wunderbar war der Ausdruck dieses Angesichts. Soviel klare Friedfertigkeit hatte er noch nie gesehen. Nur ein Mensch, der ganz mit sich im reinen war, konnte solche Züge haben. Welche Sicherheit in all ihren Handlungen. Woher kam ihr die? Er wußte doch: sie war nicht verwöhnt gewesen vom Glück. Ihre Ehe dauerte nur einige Monate und ward dann ein nur äußerlich sie fesselndes Band. Solche Art Verbundenheit ist die schwerste von allen. Er hatte auch allmählich, ohne daß sie je ausführlich und zusammenhängend davon erzählte, sich ein Bild ihres Jugendlebens im Elternhaus machen können. Wieviel Heiterkeit! Und wie einfach die Formen des Lebens dort, wieviel froh erfüllte Pflichten. Ja, der Grund, ans dem sie erwuchs, in dem ihr Wesen wurzelte – der hatte ihr die Gesundheit gegeben – die Natur – das Wissen, auf eigener, altererbter Scholle zu stehen – gut geboren – gut erzogen. –
Er dachte an seine eigene Jugend – verglich – aber ohne Bitterkeit – die hatte sie ihm entwunden. – Er begriff es. – Und eine heiße Dankbarkeit wallte in ihm auf. Nur wer ein Leben lang im Schatten stand, kann die Wonne des wärmenden Lichts ganz empfinden – dachte er. Gesegnet sollten alle Entbehrungen und Demütigungen seiner Jugend sein. Sie hatten sein Herz zum rechten Gefäß geschmiedet, nun als beseligenden Inhalt die Liebe aufzunehmen. –
»Und wenn ich es ihr niemals sagen darf!«...
Er fühlte: Liebe trägt ihr Glück in sich. Der von ihrer Glut erfüllt ist, wandert als ein unsichtbar Gesegneter zwischen Nüchternen. – Welch herrliches Wissen – zu lieben, zu lieben. –
Und während sie die Lider geschlossen hielt, sagten seine Blicke ihr leidenschaftliche Geständnisse. –
Diese Reise, die laut bis zur Brutalität, unruhig bis zur Erschöpfung war, während welcher man sich im Gedränge einer Volksversammlung auf Wanderschaft zu befinden schien, war für diese beiden Menschen ein heimliches Idyll.
Die junge Frau gab sich dem Glücksgefühl hin, ohne es zu prüfen, ohne davon bedrängt zu werden. Der Mann aber genoß jeden Augenblick mit heißer Seligkeit, die zu bändigen, vor ihr zu verbergen, nur seiner Ehrfurcht vor ihr möglich war. – Welch ein Tag – zehn Stunden – zehn Stunden war sie mit ihm, als zutrauliche, fügsame, zufriedene Gefährtin – fühlte kein Ungemach – weil er es mit ihr trug. –
Das ward ihm zur Gewißheit – gerade in ihrer Unbefangenheit verriet sie sich. – Und er saß zuweilen schweigsam, um auf den Schlag seines Herzens zu lauschen. – Es schlug dem Glück entgegen. –
Im Licht des Abends kam der Abschied.
Draußen die niederrheinische Landschaft mit ihren weiten Ebenen und dem verstreuten Heer der Fabrikschornsteine, die überall aus dem Flachland aufragten wie Wachtposten der Arbeit, lag schon im bläulichen Dämmer. Der Rauch aus Hüttenwerken und Essen durchwebte den Abenddunst mit seinen Schleiern. Man war an Schutt- und Gesteinhalden vorbeigekommen, hinter denen die Gerippe von Schwebebahnen sichtbar waren. Und nun fuhr man in die Bahnhofshalle von Aachen ein. Das elektrische Licht grellte über dem Menschengewoge. Die Strahlen schnitten durch die sich ineinanderkeilenden Schallwellen. –
Katharina wollte ein Wort des Dankes sagen. Da standen sie nun. Er hatte ihr noch einen Träger für ihren Handkoffer erkämpft. Er konnte jetzt nichts mehr für sie tun. Um sie war der Strom der Menge. Über ihnen das häßliche Licht. –
Aber das Wort wollte sich nicht finden. Er faßte nach ihrer Hand. Er hatte höfliche, freundschaftliche, sehr für den Augenblick des Abschieds geeignete Reden auf der Zunge – aber er vermochte nicht, sie vorzubringen. –
Ganz zäh waren sie beide von einer Vorstellung ergriffen – dieser Abschied für zwei, drei Tage war wie ein Vorspiel, war eine Probe für den wirklichen, großen, schweren Abschied, der kam, wenn er ins Feld zog. – Sie erlebten plötzlich die Stunde vorweg, die nach Wochen, nach Monaten kam, kommen mußte – von ihnen beiden voll Mut ersehnt war und dennoch das Herz beschwerte – der Abschied, der dann für ewig sein konnte. –
Sie sahen sich an...
Und aus seinen dunklen, fanatischen Augen flammte ihr die ganze Fülle seiner Liebe entgegen...
Ihr Gesicht veränderte sich – es wurde blaß – die Erschütterung, die sie durchlebte, spiegelte sich darauf wieder.
So schieden sie. Nur ein fester, fester Händedruck sagte, wofür sie keine Worte fanden. –
Jetzt floh die junge Frau nicht vor dem, was ihr wieder das Blut in den Adern schwer und die Knie unsicher machte, wie damals, als Sonnenglanz die reifenden Felder überflimmerte und die Welt in Sommerherrlichkeiten lachte. Langsam ging sie oder stand, geduldig wartend, wenn sie sich völlig zwischen Menschen eingepreßt sah, und kam dennoch vorwärts, dem Ausgang zu, fast ohne es zu merken – so ganz war sie erfüllt von einer gewaltigen Offenbarung. –
»Wir lieben uns – wir haben uns geliebt seit dem ersten Blick, den wir füreinander hatten.« –
Sie neigte ihr Haupt wie unter einem Segen. – Und ein feierlicher Ernst war in ihrem Herzen. –
Nun trugen sie die große, furchtbare Zeit zu zweien.
Welch ein reiches, erhebendes Wissen, im schweigenden Verstehen. –
Die Anforderungen der nächsten Stunden und des anderen Tages konnten ihre Andacht nicht zerstören. Die trug sie in sich herum, als geheimen Reichtum. –
Sie fand ein Unterkommen. Sie ging tapfer am anderen Morgen an die Stätte der Leiden und der segensvollen Hilfe. In ihrem mütterlichen Herzen hatte sie es wohl bedacht, daß in ihrer und des Freundes Geleitschaft der Verwundete die Reise viele Tage, ja vielleicht Wochen früher unternehmen könne, als es ihm allein möglich sein würde. Sie glaubte auch an die fördernden Kräfte, die aus einer vertrauten, liebevollen Umgebung zuwachsen können.
Der Beginn dieses Tages war von Jubel umbraust. Vor der machtvollen, hellgrauen Front des alten Rathauses schwangen sich Flaggen im schweren Faltenwurf an ihren Stangen hin und wieder im Winde. Auf dem viereckigen Kurplatz, der zwischen Mauern eingeklemmt lag und wo die Anlagen und Bäume vom Herbst angekränkelt waren, kreiste frohbewegtes Leben, und Verwundete schleppten sich mit strahlenden Augen durch Gruppen beglückter Menschen. Vom Dom, dem alten Kaiserdom, wo der steinerne Sessel Karls des Großen stand, schwangen sich Glockentöne wie Dankgesang: Antwerpen war gefallen – am neunten Oktober.
Und dann fand sie den lieben Menschen, der zu den Ihren gehörte, als sei er vom Blute der Familie.
Sie lächelte ihn an über seiner gesunden Hand, die sie, tief herabgebeugt, mit ihren beiden Händen umschlossen hielt. Und ihre Seele weinte.
War das Thomas, der junge, kraftvolle Mann, der in Gesundheit geblüht?
Aber er war guter Zuversicht. Er lag im gestreckten Stuhl, nun, wo sie ihn fand. Aber er konnte schon recht ordentlich herumhumpeln, war schon im Freien gewesen und im Dom, hatte den alten Kaiserstuhl gesehen, sprach mit heißen Tönen von dem tiefen Wunder, daß der erhalten sei, als ob er gewartet habe, daß einst ein anderer Kaiser wieder darauf throne, dessen Zepter auch weit, weit, weit reiche.
Und wenn er nun in das Haus der Freunde käme, würde es sehr schnell mit seiner Genesung vorwärts gehen. – Die Nerven vor allem – ja, die flatterten und wollten noch nicht sich wieder straff beherrschen lassen.
Nach Guda fragte er nicht. Nicht, ob sie noch liebe und leide, noch jenes Mannes Braut sei oder ihm für immer entsagt habe. – Er war ganz verändert – erregt – voll von innerer Unruhe – wünschte sofort, noch heute, noch in dieser Stunde abzureisen.
Sie sprach mit dem Arzt. Wenn für die Reise Handreichungen und alle Fürsorge gesichert seien, habe er nichts dagegen, daß der Oberleutnant Steinmann entlassen werde. Die militärischen Schritte zur Erlaubnis, die voraussichtlich lange Rekonvaleszenz in Hamburg abzuwarten, hatte Thomas schon gleich erwirkt, als er den Brief von ihr bekam.
Wie ein Kind wartete der Verwundete nun auf die Depesche aus Lüttich. Er rieb sich vor Ungeduld auf. Und Katharina fragte sich sorgenvoll: War das die heimliche Hoffnung, eine äußerlich und innerlich befreite Guda zu finden? Oder war sein ganzes Wesen vom Grauen des Krieges und den durchlittenen Schmerzen so erschüttert, daß es noch seine gewohnte Gefaßtheit nicht wiedergefunden hatte? – Vielleicht zitterte das alles zusammen durch seine Nerven hin, gleich einem elektrischen Strom, der ihn in ständigem Beben erhielt.
Der Arzt sprach ihrem Kummer Mut zu. Das ebbte langsam aus. – Es würden wieder Zustände der Beherrschung kommen. – Nur Geduld – die Wunden selbst seien oftmals das geringere Leiden. – Der Krieg hieb mit seiner Axt an Wurzeln – mehr als ein Tapferer sei geradeso schon umgesunken.
Es schien, als habe Thomas Steinmann mit seiner Ungeduld das Telegramm herbeigelockt. Es kam schon am zweiten Tage. Und es lautete sehr entmutigend. Dr. Rüdener meldete, daß er am nächsten Morgen in Aachen auf dem Bahnhof sein werde. Klare Nachrichten bringe er nicht mit.
Darüber erwachte der Jurist in Thomas. Er beschäftigte sich mit der Angelegenheit, warf ihre Möglichkeiten hin und her, brannte vor Verlangen, in die Sache einzugreifen. Fast als habe man einem kranken Kinde ein Spielzeug gegeben, über das er seine Zustände vergaß.
Die Heimreise ward dann kein geringeres Wunder, als die Herfahrt es gewesen war. Mit dem gleichen festen Druck wie beim Abschied fanden sich ihre Hände. – Oft in der nächsten Zeit fragte sich der Mann, ob er niemals mehr wagen dürfe, als dies Erfassen der lieben Hand – ob sie ihm niemals mehr schenken werde, als den aufleuchtenden Blick, der ihm sagte: Ich weiß es, daß wir eins sind. Jetzt sah er sie in all ihrer schwesterlichen Mütterlichkeit um den Verwundeten sich mühen.
Als er auf dem Bahnhof in Aachen stramm stand, er, der Musketier Rüdener, vor dem Oberleutnant Steinmann, lächelte sie. Er meldete sich als Bursche für diesen Tag beim Herrn Oberleutnant... Thomas stützte sich rechts auf ein krückenartiges Gestell. Neben seinem linken Arm, den er in der Binde trug, schritt die junge Frau und hielt ihren Arm schützend um ihn, damit kein Stoß ihn treffe. Und mitten im beklemmendsten Gewühl fanden die Menschen doch immer auf irgendeine Weise die Möglichkeit, voll Ehrfurcht den Verwundeten Platz zu machen. Es war immer, als hätten sie unsichtbare Schrittmacher, Schutzengel, die ihnen voranzogen und ihren Füßen den Weg bereiteten. So kam auch Thomas glücklich bis zu einem Sitz im Zuge, und als er sich, erschöpft von dem Überstandenen, zurücklegte, die Lider schließend, sah Katharina unter seinen Wimpern eine Träne hervorquellen. Das ergriff sie unbeschreiblich. Ob es nun eine Träne der Schwäche war, ob eine der Dankbarkeit über die Rückkehr ins Leben –, sie mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzuschluchzen. Ihr Blick suchte wieder den Freund. –
Lange sahen sie sich an. Gedanken an Tod und Qual waren in ihnen. Und sie fühlten über ihrer stummen Liebe das Flügelrauschen großer Schicksale.
Später kam etwas Frische über Thomas. Er sprach von einem jähen Fortschritt seiner Kräfte. Und sogleich gingen seine Gedanken mit den ernsten Sorgen um, die die Zukunft der jungen Frau und ihres Knaben bedrohten, Rüdener hatte den Ulan Heinrich Stieve gefunden. Aber der Mann war noch sehr schwach und verwirrt. Er hatte den Tag des Patrouillenrittes ganz anders angegeben als der Oberst von Bärwaldtstein und war der Ansicht, es müsse am 24. August im Morgengrauen gewesen sein. Es war Rüdener, dank seines Ausweises als Bevollmächtigter der gräflichen Familie Leuckmer, geglückt, auf der Kommandantur zu erfahren, daß der Oberst von Bärwaldtstein sich mit einer leichten Verwundung in einem belgischen Kloster befinde. Durch welchen Zufall man gerade davon wußte, blieb ihm verborgen. Aber er konnte an den Oberst depeschieren. Ihn selbst aufzusuchen reichte der knappe Urlaub nicht aus. Und der Oberst wiederholte die erste Angabe, verwies auf seinen Adjutanten und auf die Eintragungen in das Tagebuch des Regiments. Man mußte also an der Hand dieser unbedingt zutreffenden Aufzeichnungen später das Gedächtnis des Ulans Stieve stützen, der nun schon seit dem 26. August zwischen Leben und Tod sich hinquälte.
Thomas sagte, daß er bald so weit sein würde, diese Sache durchzufechten; daß Tante Jennys Geld dem kleinen Adam und seiner Mutter entgehe, wolle er nicht zulassen – der andere Mann dachte:
»Was soll ihr das Geld! Oh, wer für sie arbeiten dürfte! – Darf ich es einst? Wird sie mir je das Recht geben?«
Er wagte nicht, dieser Frage weiter nachzusinnen. Da türmten sich Schranken auf! Konnte diese neue Zeit – konnte große Liebe selbst all diese Schranken niederwerfen? –
Und dann hörte er, wie sie mit ganz energischen Worten von der Wichtigkeit dieses Geldes sprach, um das sie kämpfen wolle. – Er sah es: Es war gar keine Sentimentalität in ihr und gar kein Pathos. – Hatte denn er selbst vielleicht ein wenig davon in sich? – Wünschte er nicht im Grunde seines Herzens, sie möchte das Geld nie erlangen? Als risse es eine der vielen Schranken nieder, wenn sie arm bliebe. – Welche selbstsüchtige Torheit, das zu wünschen. – Und gab es ihrem Wesen nicht höchste Zuverlässigkeit, daß ihr Sentimentalität fehlte? Er wußte wohl, die weichen Reize, die sie geben kann, umstricken manchen Mann. Er aber – er konnte sich nur ein Weib als Gefährtin denken, das klar um sich und in sich hinein sah. –
Die beiden Männer schienen sich im Laufe des Tages näher zu kommen. Die selbstverständliche Fürsorge Rüdeners für den Verwundeten nahm dieser mit dankbarem Blick und gelegentlichem Lächeln hin – mit diesem belohnenden Lächeln, das Hilflose haben können. Rüdener erzählte von seinen Arbeiten im Vorstande seiner Partei, von seinen Studien und einer wissenschaftlichen Vorliebe für die Erforschung der altenglischen Hirtenliteratur – seine Doktorarbeit hatte einst in diesem Rahmen gelegen –, und wie verwunderlich es erscheinen möge, daß er eine solche Liebhaberei pflege und sich gelegentlich literarisch in ihr betätige, wo doch die umfangreiche volkswirtschaftliche Literatur, die er kennen müsse, so starke Ansprüche cm seine Zeit stelle. Aber er habe den Wahn – wenn es ein Wahn sei –, daß eine wissenschaftliche oder künstlerische Liebhaberei immer eine Quelle der Frische sei.
Er sprach eigentlich für sie – die Eine, damit sie sich ein immer deutlicheres Bild von seinem Leben mache. Sie fühlte es Wohl.
Wie flogen die Stunden – und wieder neigte sich der Tag, als man in Hamburg einfuhr. – Der Bahnhofsdienst der Sanitätsbeamten harrte des Zuges, in dem Thomas Steinmann nur einer von den vielen gewesen war. Als die angekommene Menge sich vom Bahnsteig wie ein Heerwurm treppan schob, zur großen Empfangshalle empor, und es vor den Wagen leerer wurde, sahen die Angekommenen auch den Grafen Leuckmer. Thomas streckte ihm mit einer leidenschaftlichen Gebärde schon von weitem den gesunden rechten Arm entgegen. – Rückkehr – Rückkehr – lebende, hoffnungsvolle Rückkehr, Geschenk Gottes! Für das Vaterland geblutet, aber leben dürfen, um für es zu wirken.
Das überwältigte ihn. Er schloß den Arm um den alten Mann, als sei der sein Vater.
Und der zarte alte Herr, der dem Dasein ja nur als ein Zagender gegenüberstand, war diesem Augenblick kaum gewachsen. Die Erinnerung an seinen Sohn überwältigte ihn auch, der niemals wiederkam, den er, Rätsel der Liebe, nun jeden Tag inniger als sein Blut empfand, in dem er noch einmal wieder all die Hoffnungen liebte, die die erste Jugend des Verlorenen einst erweckt, über dessen Sünden der Lorbeer lag und sie so tief zudeckte.
Sie fühlten es, was alles in diesem Wiedersehen, in dieser Heimkehr aus dem Felde einbeschlossen war. Geradeso weinten und jauchzten Tausende. Wer hatte noch ein Erlebnis für sich allein? Aber das war ja eines der Wunder der Zeit, daß Hunderttausende die gleichen Tränen weinten, Millionen in den gleichen Erhebungen sich emporrichteten.
Die junge Frau konnte dem Freunde noch sagen: »Morgen oder bald!« Dann glitt das Auto davon. Im vorbeihuschenden Licht, im Kampf zwischen Dämmer und jäher, scharfer Belichtung konnte man Thomas' Gesicht nicht genau beobachten. Es schien noch blasser und gefurchter als vorher. Und er war stumm. Sie ahnte, daß die Erwartung ihn ganz übermannte. Jede Sekunde brachte ihn dem Wiedersehen mit Guda näher. Und das plötzliche Halten des Gefährtes bedeutete für ihn Schreck.
Hände halfen und stützten. Aus einer Tür, zu der drei Stufen emporführten, quoll taghelles Licht. Im Flur standen Gestalten. Eine Dame, eine Schwester, eilte heraus, dem Verwundeten entgegen. Er sah sie nicht prüfend an, erkannte sie nicht. Viele Schwestern hatten sich im Laufe der letzten Zeit um ihn bemüht, von einer zart sorgenden Hand zu der anderen war er gekommen. Er versuchte nur immer dankbar zu lächeln.
Tiny spürte es wohl. Sie war unpersönlich geworden, auch sie, wie Ungezählte, die ihr ganzes Wesen dem Dienst des Krieges hingegeben. Ein leises Wehgefühl wallte auf in ihr wie ein letzter verlorener Klang fern verhallender Musik, die einst die Tage durchrauscht hatte. Aber schon war es überwunden. Und in ernster Gefaßtheit, das heiße Mitleid kraftvoll tief in sich verbergend, half sie dem Schatten dessen, der vor wenig Monaten der frische, mannhaft-stattliche Thomas Steinmann gewesen war... Sie konnte ihn nicht pflegen. Ihr Amt hielt sie in einem Lazarett fest. Aber für diese erste Stunde hatte sie gebeten, Hilfe leisten zu dürfen.
Und vor der Wand des Flurs stand Guda. Von einer unbegreiflichen Angst gefoltert. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und hielt die Hände vor sich gefaltet. Sie wagte kaum ihm entgegenzusehen. Wie kam er wieder! Und sie hatte ihn einst gehen lassen, ohne Wunsch, ohne ein Wort der Treue. Wenn er nun mit bitterem Vorwurf dessen gedachte? Wenn ihm die Erinnerung daran in diesem Augenblick käme, wo er sie wiedersah. Er, der auch für sie geblutet... Sie fühlte, als müsse sie sich ihm entgegenwerfen und vor ihm knien. Aufschreien: »Verzeih!« Aber das Entsetzen hielt sie gebändigt. Da kam an der Krücke und von Karen und Tiny gestützt ein alter Mann. Scharfe Furchen durchzogen sein graubleiches Angesicht. Auf seiner Brust warf das graue Tuch Falten. Gerade auch da, wo das schwarze, weiß gerandete Band durch das Knopfloch geschlungen war. Wie diese Falten seine Gestalt eingefallen, kümmerlich erscheinen ließen! Und was für Augen hatte er! Augen mit unirdischem Ausdruck. Furchtbarer Ernst war in ihnen und ein geheimnisvolles Licht. Augen, die das Entsetzen gesehen hatten und den Tod, vor denen immer noch gräßliche Bilder standen, deutlicher als alles, was das Leben ihnen wieder zeigen wollte.
Nun war er gerade bei ihr. Hielt auf seinem mühsamen Gange vor ihr inne. Sie handelte ganz mechanisch, streckte ihm die Hand hin. Er wollte sie nehmen, aber es schien, als wandle ihn plötzlich eine Schwäche an.
Er hatte den Ring an ihrem Finger gesehen.
Und als er endlich, schwer erschöpft von allen Anstrengungen und Erschütterungen der Reise, in einem köstlichen Bett lag, von Leinen und federleichten Seidendecken umhüllt, spürte er kaum den lindernden Genuß. Seine Lider waren geschlossen. Aber durch seine Gedanken blitzte immer das Gefunkel dieser Steine an ihrem Ring. Den hatte Percy Lightstone ihr gegeben, als sie seine Braut wurde. Der goldene Reif trug einen großen, rundgeschliffenen dunkelblauen Saphir, den Brillanten umgaben. Diese Steine lagen viel zu groß und schwer auf der zarten, schönen Hand.
Sie war noch jenes Mannes Braut! Nun wußte er es.
Und wußte auch, was ihn eigentlich hergetrieben.
Die Hoffnung zerbrach, Tränen rannen über seine Wangen. Er merkte es. Seltsam, wie leicht jetzt Männer weinten. Er hatte Wunderbares gesehen: Rasenden Mut in der Schlacht, Tod und Teufel entgegenlachend im siegreichen Bezwingerwillen. Und nachher Tränen der ergriffensten Weichheit, wenn der geliebte Führer zerschossen auf der Bahre lag oder teuren Kameraden ein Grab gegraben werden mußte. Lebten ihre Seelen nur noch in Gegensätzen?
Und ihn selbst riß es in diesem Augenblick aus heißem Schmerz empor zum Verlangen nach Genesung, Kraft, neuer Heldentat.
Tage gesunder Ordnung hoben an. Das Haus war wie erfüllt von dienender Arbeit. Das mit anzusehen ward dem Verwundeten bald die beste Medizin. Ein Arzt kam jeden Morgen und verband seine Wunden und erörterte die späteren Maßnahmen zur Anregung der Muskeltätigkeit der zerfleischt gewesenen Hüfte. Tiny, Schwester Albertine wie sie nun hieß, hatte den Mann empfohlen, mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln, denn es war der Arzt, für den sie während des theoretischen Kursus geschwärmt hatte. Zu diesem Dr. Fredenburg faßte Thomas gutes Zutrauen. Er war ein ansehnlicher Mann mit klugen Forscheraugen und einem ernsten, bärtigen Gesicht. Sein Besuch hinterließ jedesmal zuversichtliche Stimmung. Tiny selbst fand auch jeden Tag einige Minuten, Thomas zu besuchen. Er begriff es nicht so leicht, daß dies Wesen von freundlicher, gleichmäßiger Haltung Tiny van Straten sein sollte. Dann rührte es ihn. Ja, sie war doch ein ganzes, prächtiges Menschenkind, hatte all ihre triebmäßigen Geschmacklosigkeiten überwunden, als die große Stunde rief. Und herzlich-zutraulich ging er mit ihr um.
Die Aufsicht über sein Wohlbefinden am Tage führte Gräfin Karen selbst. Die Pflege bestand ausschließlich darin, durch pünktlichste und beste Ernährung die Kräfte zu heben. Als die Anstrengung der Reise überwunden war, durfte er auch kurze Spaziergänge wagen. Und es war rührend zu sehen, wie Graf Leuckmer den Verwundeten dabei geleitete und stützte. Niemand dachte, daß dieser Verwundete sehr bald in die Lage käme, seinen Begleiter wiederum seelisch zu stützen. Mit dem vorschreitenden Krieg wurde Graf Leuckmers Kummer um das Geld in England immer größer. Er hatte gelesen, daß in der Tat Auszahlungen in das feindliche Ausland hinaus dort untersagt worden waren. Sein feines Ehrgefühl lehnte immer noch ab, zu denken, daß die Lightstones die Zinsen zurückbehalten würden. Außer dieser traurigen Sache hatte der Graf die noch viel ernstere zu begrübeln, was geschehen werde, wenn sich Bertolds Todesstunde niemals genau feststellen ließe. Und wenn man es recht bedachte, konnte jede Unterredung mit dem Ulan Stieve, jeder Versuch, an der Hand der Aufzeichnungen des Regiments-Adjutanten das Gedächtnis dieses Mannes zu stärken, schon wie Beeinflussung wirken. Aber Thomas sprach ihm ermutigend zu. Er hoffte in drei, vier Wochen so beweglich zu sein, daß er, mit einem Heilgehilfen als Pfleger für den linken Arm neben sich, wohl den Dingen forschend und verhandelnd nachreisen könne.
In der ersten Nacht hatte er gefürchtet, daß Guda seine Pflege übernehmen würde. Furcht war das geworden, was auf der Herreise brennende, bezaubernde Hoffnung gewesen. Als er Dr. Rüdener und Gräfin Katharina von den »Kriegskindern« sprechen hörte, die ernährt, unterrichtet und in ihren häuslichen Verhältnissen gehoben werden sollten, dachte er: »So hat nur Guda Zeit, sich um mein Ergehen zu mühen!« Und vor ahnungsvoller Seligkeit konnte er kaum den Augenblick erwarten, wo er ihrer Fürsorge anheimgegeben sein werde.
Dann sah er den Ring. Und zitterte vor dem, was er ersehnt hatte.
Aber schon der nächste Tag belehrte ihn, daß Guda still und stetig, gleichförmig, nie endenden Pflichten nachging, mit einem gefaßten Mut dem eigenen Leid trotzte. Sie nahm auch teil an seinem Befinden auf eine scheue, bescheidene Art, als käme es ihr nicht zu, nach dem Schlaf seiner Nächte und den Schmerzen in seinen Wunden zu fragen. Sie schien immer beherrscht, wie sie es einst unter der Macht des geliebten Mannes gewesen war, der sie gelehrt hatte, sich vor den Blicken von Zeugen zu umhüllen mit Undurchdringlichkeit.
Nur am späten Abend, wenn man nach dem letzten, einfachen Mahl noch um den Tisch versammelt blieb und die Zeitungen las und besprach, dann fiel diese Maske der unbewegten Stille von ihr ab. Sie brachte jeden Abend viele englische Zeitungen mit. Und ihre schmalen, blassen Hände, blätterten ruhelos die großen Papierbogen um, wendeten sie, falteten sie wieder. Und ihre Wangen wurden heiß, und auf ihrer Stirn bildete sich eine Falte wie von bitterer Enttäuschung. Was mochte sie suchen? Den Namen des Geliebten? Gab es eine verabredete geheime Verständigung zwischen ihm und ihr durch die bedruckten Spalten?
Thomas haßte den Anblick dieser englischen Zeitungen!
Dr. Rüdener konnte sich nicht täglich zeigen. Sein Dienst war schwer, die Glieder abends müde, der Weg von der Kaserne weit. Aber Sonntags war er nun mit seinem Knaben der stets erwartete Gast. Und Thomas Steinmann, mit dem überfeinen Gefühl des hoffnungslos Liebenden, mit den noch empfindlichen Nerven und der wunden Seele, die von all den Eindrücken des Grauens noch bebte, er sah nun deutlich, was ihm auf der Reise entging, weil er zu erregt gewesen war. Die junge Frau und dieser Mann lebten füreinander in einem wundervollen, schweigenden Verstehen. Ihn wollte Mitleid ergreifen. Nahm die Tragik im Dasein der teuren, selbstlosen Frau nie ein Ende? Welche Hoffnungen konnten dieser Liebe blühen?
Wenn das Vermögen der verstorbenen alten Verwandten verlorenging, besaßen Katharina und ihr Knabe nichts, als was Graf Leuckmers und Gudas Güte ihnen gewähren würde. Das konnte sie aber nicht mehr nehmen, wenn sie Rüdeners Weib ward. Und wenn man das Vermögen zu retten vermochte, gehörte es doch immer dem kleinen Adam. Rüdener schien aber nicht der Mann, der von den Geldern eines Stiefsohnes hätte leben mögen. Und wie konnte er jemals mit seiner wissenschaftlichen oder parteipolitischen Schriftstellerei Weib und Kind ernähren, wenn dies Weib Katharina verwitwete Gräfin Leuckmer, geborene Freiin von Heinzenberg war? Und wer wußte, wie der Krieg die Überzeugungen des Mannes noch abwandeln mochte? Ob er, in noch gar nicht vorauszusehenden politischen Umgestaltungen seiner und vielleicht aller Parteien, rasch den von innerer Sicherheit getragenen Platz finden würde zum Wirken?
Aber fort mit diesen Gedanken! War jetzt die Stimmung des bürgerlichen Alltags, der immer genau den Holzvorrat bedenkt, ehe er das Herdfeuer entfacht?
Höhere Werte waren jetzt entscheidend, andere Maße wollte die Stunde.
Er hatte den Krieg erlebt, und seine Donner zitterten noch als drohender Nachhall in seinem Ohr. Er hatte das Stöhnen der Sterbenden gehört und den Ruf der Fiebernden nach Mutter oder Weib.
Heilig jede Stunde des Glückes, die in diesen Zeiten am Rande der Schlachtfelder für Herzen erblüht! Selig, wer liebt, geliebt wird!
Für die Vorurteile und Sorgen und Gesetze nüchterner Tage war jetzt kein Raum in einer Brust, die unter dem grauen Tuch atmete, denn der Tod war immer der unsichtbare Wandersmann, der neben dem Glücke ging.
Und der jungen Frau, die so schwesterlich für ihn sorgte, seinen heißen Dank zu beweisen, wußte er jetzt die rechte Art. Er brauchte nur dem Mann ihrer Liebe mit großer Herzlichkeit entgegenzukommen, förmlich um seine Freundschaft zu werben. Rüdener fühlte gleich, was ihm da erwachsen wollte. Seine Abgeschlossenheit zauderte leise. Aber um der geliebten Frau willen gab er sich dann gern.
Manchmal beschäftigte sich Thomas auch mit den beiden Knaben. Jürgen zeigte sich in allem vorgeschrittener als der kleine Adam: er war größer, selbständiger und unterrichteter, als die drei Vierteljahre, die er voraus hatte, erklären konnten. Derber in allem, klug und ein wenig vorlaut. Ihm fehlte die kindliche Poesie, die Adams lichte, kleine Gestalt so hold umfloß. Adam konnte noch nicht lesen; er hatte noch nichts gelernt. Aber er wußte von Feenländern und Märchenreichen viele geheimnisvolle Dinge und hatte mehr Phantasie als zehn Dichter zusammen und ahnte noch gar nichts davon, daß solche Phantasie soviel wie möglich später vom Leben totgeschlagen wird. Es war schön zu beobachten, wie Gräfin Katharina den klugen, unfrohen Knaben des Freundes mit leiser Hand zu einem kindlichen Glücksgefühl zu leiten suchte. Und es war merkwürdig, wie in diesem Knaben die Liebe zu dem Spielgefährten stärker und freudiger schien als die zu seinem Vater, dem ihm erst seit einem halben Jahr vertrauter Gewordenen.
Von seiner engsten Umwelt so immer und anregend beschäftigt, kamen seine Nerven nach und nach zur Ruhe. Und von da an zeigte sich auch die Wirkung der Pflege an seinem Körper. Seine Farbe wurde besser, die scharfen Furchen glätteten sich. Sein Angesicht gewann die Jugend zurück.
Draußen im Feld war man ein Teilchen der ungeheuren Kräfte gewesen, die in steter, zweckvoller Anspannung gegen ein gemeinsames Ziel vorwärts brandeten. Danach kam die Stille des Lazaretts, sobald man sich nur etwas zur Besinnung und zum Lebensgefühl zurückgefunden hatte, wie der Druck einer Verbannung über einen. Man war ausgeschlossen von der Tat.
Thomas hatte nicht gedacht, daß dieser Druck von ihm genommen werden könne, solange er noch unfähig zur Rückkehr ins Feld bleibe. Und doch war es nun der Fall. Er sah auch im Vaterlande selbst ungeheure Kräfte in äußerster Anspannung. Soweit sie der Kriegshilfe galten, waren sie wie ein einheitlicher Strom von unübersehbarer Gewalt. Aber daneben gab es noch andere Bewegungen. Ansätze, Keime, Vortasten, Versuche überall. Man spürte es in jedem gedruckten und gesprochenen Wort: Das Reich hatte seine Lehrjahre hinter sich und bestand nun eine Prüfung, dergleichen die Geschichte der Menschheit nicht gesehen.
»Ja«, sagte Rüdener ihm einmal, »tausend Fragen stehen auf. Man kann auf keine eingehen, ohne sogleich sich weitere aufwerfen zu sehen. Gräfin Leuckmer wollte nur zwölf Knaben speisen. Und schon sind ihr aus den Zuständen dieser Familien neue Erkenntnisse und Aufgaben zugewachsen. Wenn ihre Geldmittel es gestatten, will sie eine Haushaltungsschule für Arbeiterfrauen errichten. Und so geht es auf allen Gebieten. Oft hab' ich das Gefühl, wir leben gewissermaßen zwischen Titeln, zwischen Überschriften. Die Taten dazu können erst nach dem Kriege in Angriff genommen werden.«
»Welche Aufgaben harren dann auch Ihrer!«
Über das ernste Gesicht des anderen ging lächelnde Wehmut, wie ein Widerschein vollkommener Ergebenheit. »Ja«, sagte er, »stolze Lust wär's wohl, zu leben, zu wirken. Aber wunderlich...« Er schwieg ein paar Atemzüge lang und zitierte dann:
»Drüben am Grabenrand
Hocken zwei Dohlen,
Sterb' ich am Donaustrand?
Fall' ich in Polen?«
»Man muß an sein Glück glauben!« sagte Thomas mit starkem Ausdruck. –
Der Oktober ging zu Ende. Immer unruhiger wurden die Gedanken des Grafen Leuckmer, und auch Thomas Steinmann konnte sich einer peinigenden Spannung nicht erwehren. Wie würden sich die Lightstones verhalten? War es denkbar, daß sie den Termin der Zinszahlung schweigend übergingen? Lag hier nicht der Fall vor, wo die Übertretung eines Gesetzes anständiger ist als seine Erfüllung? Die Lightstones konnten immer durch van Straten eine Form und eine Möglichkeit finden, ihre Pflicht gegen den Grafen Leuckmer zu erfüllen. Hier handelte es sich nicht allein um Geld, sondern um sehr zarte Begleitumstände. Selbst eine Strafe, ihnen von ihrer Regierung etwa in schärfster und empfindlichster Art auferlegt, mußte ihnen die geringere Peinlichkeit bedeuten!
Manches Mal, erst an seiner Krücke, bald an seinem Stocke, bewegte Thomas sich über die Straße, um die van Stratens zu besuchen. Aber wenn er die Ansichten des Herrn van Straten hervorlocken wollte, traf er auf eine gewisse Hartnäckigkeit. Das Ehepaar war verstimmt gegen die Leuckmers, das heißt, gegen den Grafen und die Gräfin Katharina. Sie sei überspannt, sagte van Straten. Sie sei prosaisch und hetze wahrscheinlich Guda gegen die Lightstones auf, sagte Frau van Straten. Aber sie wagten diese weit auseinandergehenden Urteile nur, wenn ihre Tochter nicht zugegen war. Er sei ein redlicher Kerl, sagte van Straten von sich. Aber wenn geschäftsunkundige Menschen keine Einsicht annehmen wollten, käme man sich ja nachgerade vor, als sei man Hehler. Thomas spürte bald: Das war die Form seiner Verlegenheit.
Als er an einem der letzten Tage des Monats wieder einmal zur Nachmittagszeit hinüberkam, fand er das Ehepaar in einer bemerkbaren Unruhe. Das war sonst nicht die Stimmung des auf den gelassensten Lebensgenuß eingerichteten Paares. Der joviale Mann und die etwas derb zugeschnittene Frau gaben sich so deutlich dem Gefühl hin, im Hafen der Sorglosigkeit ihr Lebensschiff fest verankert zu wissen. Daß sie reiche Leute mit höchst sicherer Kapitalanlage seien, verkündigte nicht nur der Flur mit den moosdicken roten Teppichen und den dicken Goldrahmen um zu viel Spiegel. Das leuchtete beruhigend aus ihrem ganzen Wesen. – Sie saßen beim Kaffee, und Thomas konnte sich kaum des starken Trunkes und der noch stärkeren Zigarren erwehren, die man ihm aufdrangen wollte.
Ganz heimlich in seinem Herzen hatte van Straten gehofft, der Krieg würde sich in ein paar ungeheuren Gewittern entladen; die Deutschen würden eins-zwei-drei Paris und Calais nehmen und den Engländern mittels der »dicken Berta« einige gute Lehren über Bescheidenheit über den Kanal hinüberrufen, was ihnen, so sehr er sie sonst schätze, durchaus nur bekömmlich sein würde. Und nun – es sei verdammt – nun merke man: der Krieg werde lang und schwer. Was dann aus dem Handel werden solle? Und aus dem Hamburger Hafen? Ob Thomas schon dagewesen sei?
»Nein.« Er wolle aber nächster Tage mit Dr. Rüdener hinfahren.
Und van Straten schalt weiter. Diese Engländer fingen an, Deutsche und Österreicher zu internieren. Und man sah schon in deutschen Blättern das Verlangen auftauchen nach Gegenmaßregeln! Und wo er naturalisierter Engländer sei...
»Unsinn!« sagte seine Frau mit Entschiedenheit. »Für dich ist keine Gefahr. Wo du jeden Monat die fünfhundert Mark ans Rote Kreuz gibst und geben willst, solange der Krieg dauert – wo man deinen Namen in allen Listen der verschiedensten Arten Kriegshilfe findet – mit stattlichen Zahlen – dich internieren?! – Niemals!«
»Ich rate immerhin«, meinte Thomas, »die Hamburgische Staatsangehörigkeit eiligst zu erwerben.«
Aber Frau van Straten machte eine völlig wegwerfende Handbewegung, während man das leise Klirren der Taschengeräte hörte, in denen ihr Gatte nervös mit den Fingern wühlte.
Und nun fragte Thomas geradezu: »Werden die Lightstones übermorgen die Zinsen zahlen?«
»Weiß nicht!« antwortete van Straten und riß ein Streichholz an und vertiefte sich in das Anbrennen einer neuen Zigarre. Aber da Thomas Steinmann ganz einfach schwieg, fühlte er: Das war ein Warten auf mehr Auskunft, und wenn nicht auf Auskunft, so doch auf Ansichten. So mußte er wohl etwas sagen:
»Ein richtiger Engländer würde unter gar keinen Umständen die Anordnung seiner Regierung in dieser Sache übertreten. Er würde rechnen: Wenn ich praeter propter vierzigtausend Mark halbjährlicher Zinsen an eine Person in Deutschland zahle, stärke ich damit immerhin irgendwo und wie ein bißchen die feindliche Kraft. – Dies Geld wird sich zum größten Teil in Kriegshilfe umsetzen, bedeutet einer Handvoll Menschen wirtschaftliche Stütze. Also ist es gegen Englands Interesse! Es ist unpolitisch, auch nur einen einzigen Angehörigen des Feindes wirtschaftlich zu stützen oder ihm Mittel zur Kriegshilfe zu verschaffen. Ja, mein Bester – was wollen Sie? – Fabelhaft politisch geschultes Volk, die Engländer – erst mal England, dann die Ehre, oder was man so nennt – ist ja nich allemal das gleiche.
– Was nu aber Percy Lightstone anlangt – bei seiner dollen Leidenschaft für unser Komteßchen –« Er zuckte die Achseln. »Abwarten! Sie wissen ja selbst: Im Kontrakt ist ausgemacht, daß die Deutsche Bank die Auszahlung zu bewirken hat. Weiß nicht, ob die Lightstones ihr haben Order zukommen lassen. Hätte sich, auch bei Umgehung meiner, über Holland machen lassen. Aber wie immer: Verloren geht kein Pfund! Wird sich noch riesig vermehren, das Leuckmersche Geld. – Enormen Kriegsverdienst werden die Lightstones haben ... das steht bombenfest.«
»Ohne mich mit Graf Leuckmer darüber ausgesprochen zu haben, kann ich Ihnen für gewiß sagen, daß jeder Pfennig, der aus England später als Vermögenszuwachs ausgezahlt würde, keine Stunde in der Hand meines väterlichen Freundes bliebe! Die Hinterbliebenen unserer Helden – die armen Verstümmelten – sie würden – sie allein...«
»Gott, wie ist er doch schwach und leicht erregt«, dachte Frau van Straten zu diesem heftigen Ausbruch, der nicht zu Ende gesprochen wurde, weil die Stimme versagte.
Herr van Straten machte ein unglückliches Gesicht. Er verfluchte wieder einmal den Krieg mit so kräftigen Ausdrücken, daß er sie lieber nur in Gedanken sprach. Aber er mußte doch etwas eingestehen.
»Hatte heute durch Gelegenheit – geheim – na ja – also hatte Nachricht von Percy Lightstone – die Sache erwähnte er nicht – keinen Ton davon – nich 'ne Silbe. Er hat aber einen Brief für unser Komteßchen beigelegt. – Sei'n Sie so gut – Tiny hat heute Nachtwache – kommt abends nicht nach Hause –, nehmen Sie den Brief mit 'rüber.«
Mühsam stand Thomas auf. Mit blassen Lippen und mit spröder Stimme sprach er: »Den Liebesboten für Herrn Percy Lightstone zu machen, lehne ich denn doch ab...«
In van Straten kochte Ungeduld auf. Ja, ja, – es waren alles überspannte Leute – die Leuckmers samt ihren Freunden – famose Menschen, aber unbegreiflich! Warum, in aller Welt, konnte denn dieser Dr. Steinmann nicht einen Brief ihres erklärten Verlobten an Guda mitnehmen? Na, also denn nicht. Man schickte einen Dienstboten. Auch gut...
Und als Guda an diesem Abend mit ihrem Bündel englischer Zeitungen unter dem Arm, wie immer zu Fuß, im schlichten langen Paletot schnell und unangefochten die Straßen hinschritt, war ihr, als peitschte eine Ahnung sie zur Eile. Sie fühlte voraus: es wartete etwas auf sie. Gerade solche Ahnung hatte zwar gestern abend auch ihre Füße beflügelt. Das war vergessen. Einmal, einmal mußte doch wieder Nachricht von ihm kommen. Und dies war die Zeit. Sie wußte von den Zinsen, die fällig wurden. Das stand nur in ihrem Gedächtnis, weil die Gewißheit damit verbunden schien: Wenn nicht früher, findet er zum 1. November die Möglichkeit, zu mir zu sprechen. Ihre Ahnung war also aus den Umständen erwachsen, schwebte nicht in der Luft. Aber sie brannte und war wie im Fieber.
Und als Guda dann in ihr Zimmer kam und das Licht aufdrehte, sah sie in der jähen Helle nur einen einzigen Gegenstand. Alles ringsum verschwamm in Nebel und kreisenden Unklarheiten. Aber auf ihrem Tische lag der Brief!
Irgend etwas bändigte sie... Eine Angst? Der Wunsch, die schaurig-süße Ungeduld zu verlängern? Wunderlich war ihr zumute – rätselvoll war ihr der rasende Schlag ihres Herzens. Der Anblick seiner Schriftzüge zauberte die Erinnerung an seine Gegenwart herauf – sie sah sein schönes, stolzes Gesicht deutlich vor sich – fühlte seine Hände, von denen magnetische Gewalt auszugehen schien, wenn er langsam und zärtlich über den dünnen Stoff ihres Kleides strich. – Und doch – Furcht? Abwehr?
Endlich öffnete sie den Brief. –
»Süßes Herz! Mein Reh! Endlich, endlich kann ich Dir durch einen sicheren Boten schreiben, Dir Antwort geben auf Deine lieben, törichten Zeilen, die solche bitterliche Enttäuschung für mich brachten. Noch einmal beschwöre ich Dich: Komme nach dem Haag. Meine Arme sind Dir voll Verlangen entgegengestreckt – ich zittere vor Begierde, mein süßes Weib zu besitzen. Wir können in Holland verbunden werden! Ich rufe Dich dringend; denn der Krieg wird viel länger dauern, als wir ahnen konnten. Deutschland wehrt sich stark, bis unsere Verbündeten es überwältigen, nicht ohne Hilfe unsererseits, mögen noch Monate vergehen. Wollen wir so lange sehnsuchtsvoll schmachten? Nein! Ich erwarte Dich bestimmt. Herr van Straten kann Dich begleiten. Er wird es Dir nicht abschlagen. Süßes Herz – o komm!
Du batest mich in Deinem Briefe, den Lügen entgegenzutreten, die unsere wie auch die französische Presse verbreiten. Mein holdes Reh – solche Bitte konnte nur der bezauberndste Unverstand aussprechen. All diese Geschichten von deutscher Grausamkeit und Barbarei, von dem Blutdurst Seiner Majestät des Kaisers, von den Diebstählen und Ausschreitungen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit des Kronprinzen (ich hatte einmal die Ehre, mit Mildred ihm und seiner wunderlieblichen Gattin, der Kronprinzessin, vorgestellt zu werden; ein bezauberndes Paar. Mildred schwärmt für den Urenkel unserer Königin Viktoria) –, all diese Geschichten glaubt natürlich in der ersten Gesellschaft kein Mensch! Also sei ganz ruhig, mein süßes Herz. Solche Art Mittel sind politisch. Man kann sie nicht gut entbehren. Die Menge muß aufgestachelt werden. Wie könnte man Krieg führen ohne eine Parole! Kümmere Dich nicht um Politik.
Dein Reich ist die Liebe, die Anmut. Und in ihm bin ich Dein erster Diener – Dein Herr – wie es das süße Spiel der Leidenschaft will.
Eine Stelle hat mich aber ganz entsetzt in Deinem Briefe. Du erzählst mir, daß Du im Noten Kreuz arbeitest! Du pflegst doch keine Verwundeten? Der Gedanke ist mir furchtbar, daß Deine schönen Hände, die ich anbete, die Haut, das Fleisch irgendeines anderen Mannes berühren könnten! Aber bis zur Raserei könnte es mich bringen, wenn ich gar annehmen müßte, Du pflegst Gefangene. Ihr Deutschen seid immer so ›ethisch‹ – habt immer solchen Ballast von Gedanken über Menschlichkeit; vor Plaisier über Eure närrische Großmut kann man manchmal lachen. Ihr seid imstande und pflegt die Gefangenen und seht sie als Menschenbrüder an. Oh – ich meine nicht die gefangenen Engländer – jeder Engländer ist ein Gentleman und muß verlangen, so behandelt zu werden! Ich meine die farbigen Bestien, die Neger und die Inder. Es sind auch Gurkhas unterwegs, höre ich, oder sogar an der Front angelangt. – Das sind nur Tiere – niemals, unter keinen Umständen darf die Hand einer Dame diese Geschöpfe berühren – ich verbiete der künftigen Mrs. Percy Lightstone, solchen Bestien auch nur einen Blick zu gönnen.« –
Sie las nicht weiter. Sie sah wohl, da standen noch Zeilen – vielleicht Beschwörungen der Liebe – Flüsterworte der Leidenschaft – der Ruf: Komm! Sie las nicht weiter. –
»Das sind nur Tiere...«
Und sie sah ein fahles, von Leiden gefurchtes Angesicht – sie sah eine verfallene Gestalt – mühsam an einer Krücke auf sich zuwankend. – Und wenn es auch wieder jung und frisch geworden war, dies Angesicht eines deutschen Ehrenmannes – wenn auch seine Gestalt sich wieder aufzurichten begann –, sie vergaß nie – nie – nie jenen Augenblick, da ein lieber, teurer Mensch wie ein Schatten seiner selbst auf sie zugekommen war. –
»Das sind nur Tiere...«
»Aber ihr schämt euch nicht, sie auf deutsche Männer zu hetzen.«
Sie sagte es laut – ganz laut. Der Hall ihrer Stimme ging durch das Zimmer und kam zu ihr zurück. Sie erschauerte – wie vor etwas Gespenstischem. –
Ein Zwang war über ihr – sie mußte gehorchen – sie schrieb mit großen, festen Buchstaben unter den Brief: »Ihr aber schämt Euch nicht, diese Bestien auf deutsche Männer zu hetzen.«
Nicht mehr – kein Wort mehr.
Ganz langsam zog sie ihren Ring vom Finger und legte ihn auf den Brief. – Wie flimmerten die Steine und warfen Regenbogenbuntheit in verstreuten Funken auf das weiße Papier.
Ihre glühende Leidenschaft, die in ihrem Blute gebrannt – sie hatte sie in die Opferschale gelegt, die das Schicksal den Frauen hinhielt. – Strömte dafür aus jener Schale Segen zurück auf die Opfernde? Jetzt spürte sie ihn – als Gnade kam er über sie. – Die erste Entsagung forderte höchste Selbstüberwindung – ein Ersticken des stärksten Schreies, den die Natur hat. – Jetzt aber war ihr Herz fest und von einem ruhigen Stolz erfüllt.
Sie nahm den Brief und den Ring und ging treppab.
Da saß ihr Vater – da war Karen – da war auch Thomas –, wartend saßen sie, der vierten Teilnehmerin an der Abendmahlzeit entgegensehend.
»Hier«, sagte sie, »hier – schick den Ring und den Brief zurück – nach England.« –
»Kind!« rief ihr Vater. »Weißt du, was du tust?«
»Nur was ich muß!«
Thomas legte die Hand über die Augen – er hatte noch nicht die Kraft zu mannhafter Beherrschung. – Diese Erschütterung war noch zuviel – sie traf ihn zu unvorbereitet. – Und er wollte die Träne verbergen, die ihm die Blicke verdunkelte.