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Während nach beendeter geschäftlicher Unterredung der Rechtsanwalt Doktor Thomas Steinmann die Papiere in seine Aktenmappe legte, sprach Graf Leuckmer voll Zufriedenheit:
»Nun hätte man also seinen Lebensrest klar vor sich!«
›Klar?‹ dachte der jüngere Mann.
»Das kann so völlig nur jemand genießen, der's viele Jahre mühsam gehabt hat«, fuhr der Graf fort. »Und ohne Ihres Vaters klugen Rat wäre ich nicht immer durchgekommen.«
›Ja‹, dachte Steinmann weiter, ›und jetzt fehlt der Rat, und meiner ist nicht beeinflussend genug.‹
Graf Leuckmer lächelte. Das gab seinem bleichen, feingemeißelten Kopf einen Ausdruck von Güte und Überlegenheit.
»Es gibt Menschen, die sehr deutlich denken können«, sagte er.
Da mußte auch Thomas Steinmann ein wenig lächeln.
»Ich bin und bleibe nun einmal ein Gegner von ausländischer Kapitalanlage. Vor allem in diesem Fall, wo Sie nach vielen schweren Jahren endlich durch die Erbschaft ins Sorglose gekommen sind und schon aus Gesundheitsrücksichten das Gefühl der Sicherheit nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfte.«
Sein offenes, männliches Gesicht, die grauen Augen voll Lebhaftigkeit und Wärme, der ganze blonde Kopf machten ihn zu einer gewinnenden Erscheinung. Seine Gestalt war ziemlich groß und kraftvoll, und seine Freunde hatten früher von ihm gesagt, er habe etwas Siegfriedhaftes. Berufsernst und Jahre streiften den Jünglingszauber ab, aber eine gerade, herzliche Frische war seine Eigenart geblieben.
»Lieber Thomas«, sprach Graf Leuckmer, »begreifen Sie doch: Hier wird nichts aufs Spiel gesetzt. Das Kapital gehört meiner Tochter, und es ist in den Unternehmungen ihres künftigen Gatten angelegt, dem sie in wenig Wochen nach England folgt!«
»Aber der Zinsgenuß gehört bis zum letzten Tag Ihres Lebens Ihnen. Und mit den Zinsen haben Sie nicht nur die Instandhaltung dieses Besitzes, Sie haben auch fast völlig Ihre und der Ihren Lebenshaltung davon zu bestreiten. Von ganzem Herzen wünsche ich, daß das ängstliche Rechnen nun aufhört. Das hat Sie zuviel Nerven gekostet.«
Leuckmer seufzte ein wenig hinter den schweren Zeiten her. Seine reiche, ältere Stiefschwester, Komteß Jenny, hatte sie ihm wenigstens damit erleichtert, daß sie die Sorge für seinen Sohn ihm abnahm – eine Gunst mit sehr bitterem Beigeschmack war das gewesen und war es noch, bis auf den heutigen Tag. Eigentlich hatte er sich dadurch gehalten, daß er in Erwartung der sicheren Erbschaft von Onkel Leuckmer seinem eigenen kleinen Vermögen manchmal Aderlässe zumutete. Nun war es sehr erschöpft. Man konnte fast sagen, die Erbschaft sei noch in letzter Stunde gekommen. Für einen so zart empfindenden Mann war es auch peinlich gewesen, sich das hoffende Warten verbieten zu müssen.
Aber sein Rechtsanwalt und treuer Freund Steinmann wartete offen und mit kräftiger Ungeduld, daß der Lebensfaden des alten Onkel Leuckmer, der, seit Jahren schwer leidend, sich selbst nach Ruhe sehnte, abrisse. Die recht künstliche Mühe, das kleine Vermögen zu strecken und zu verwalten, und das deutliche Hoffen auf Onkel Leuckmers Tod hatte nun schon seit einigen Jahren Thomas Steinmann, der Sohn, übernommen. Und seit dem Herbst war endlich der schwere Druck vom Leben des allzu gebrechlichen Mannes gewichen, der mit einem hohen Rang und immer schwankender Gesundheit sich in einer ihm nicht gemäßen Lage zu behaupten gehabt hatte.
Der beinahe scheltende Ton rührte den Grafen. Er wußte, daß der Sohn Steinmann ihm ebenso herzlich ergeben war, wie es der Vater gewesen. Aber Ergebenheit ist noch kein Ersatz für Erfahrung. Gewichtiger Rat erwächst am sichersten aus dem Fundament der Lebensreife. Thomas, der kleine, wunderhübsche Junge, dem er den blonden Schopf gestreichelt; Thomas, der strahlende Jüngling, der in Studentenseligkeit durchs Dasein sang, liebelte, arbeitete, als seien sämtliche Möglichkeiten, Angelegenheiten und Pflichten des Lebens aus dem Handgelenk zu erledigen; Thomas, der erst seit fünf Jahren Doctor juris und Notar war – nein, dieser Herangewachsene konnte unmöglich mehr Einsicht haben als er selbst, der Vielgeprüfte.
Und Thomas wußte ganz genau, daß das Hochgefühl der Erfahrung sich manchmal gleich Scheuklappen an die Augen der Alten legt – daß für sie die Herangereiften ewig die Jungen bleiben. Vielleicht waren das tiefe Sachen. Allerlei barg sich darin von unbewußten Lebensenergien, die sich gegen die Nachkommenden wehren, um sich selbst noch länger zu behaupten.
Nun antwortete der Graf auf die letzten Äußerungen seines jungen Beraters und Freundes.
»Sie wissen genau, daß die Zinsen stets pünktlich bezahlt werden! Und daß sie höher sind, als ich bei Anlage des Kapitals in Deutschland je hätte erlangen können.«
»Das – ja...«
»Und haben wir es nicht gemacht wie in anrüchigen politischen Zeiten gewisse Minister? Die ihre dem Gegenspieler an die Fersen gehefteten Wächter wiederum überwachen ließen? Haben wir nicht noch Auskünfte über unsere Auskunftgeber eingeholt?«
»Haben wir!« gab Steinmann zu.
»Sie selbst haben mir die aus England eingelaufenen Berichte vorgelegt. Sie haben Herrn van Straten in Hamburg, der geradezu mit Nachdruck für die Lord Multonschen Unternehmungen eintrat, als einen unantastbaren Bürgen bezeichnet. Von ihm wissen wir auch, daß man Lord Multons zweitem Sohn, Gudas Verlobtem, eine große Begabung zuspricht. Er sei, sagt man, der geistige Leiter aller Geschäfte und verstehe es vor allem, die rechten Leute an den rechten Platz zu stellen – denn selbst pflegen diese Herren der englischen Oberklasse nicht in ihre Kontore hinabzusteigen – –«
»Sie zählen mir wie einen Vorwurf alles auf, was ich ja weiß und zugebe...«
»Nur um Ihnen auf den Kopf zuzusagen«, fiel ihm der alte Herr ins Wort, »daß Sie irgendeine Feindseligkeit gegen Percy Lightstone haben.«
Helles Rot überfärbte in jäher Aufwallung das freie Männergesicht. Er wünschte aber nicht höflich zu lügen, nicht mit einem unwahren »Nein« zu leugnen. Deshalb schwieg er und schloß mit besonderem Nachdruck seine Mappe. Das Knacken der Verschlußfeder klang durch die etwas peinliche Stille dieses Augenblicks.
Aber milde ging Graf Leuckmer darüberhin. ›Sympathien lassen sich nicht erzwingen‹, dachte er. Zwar würde Doktor Steinmann als sein Rechtsanwalt und dereinstiger Testamentsvollstrecker immer einmal mit Guda und ihrem Gatten zu tun bekommen; grundlose und versteckte Gegnerschaft würde indessen nie das klare und gerechte Verfahren beeinflussen. Die reinliche Geradheit von Thomas Steinmann ließ sich nicht von Abneigungen aus der Linie bringen. Das wußte der alte Mann.
Nun erhob er sich und trat ans Fenster, durch Blick und Geste lud er den jungen Freund neben sich. Sie sahen einige Minuten schweigend hinaus, wie von hoher Warte. Denn das Schlößchen lag in der Anmut seiner hellen Mauern und seiner gezahnten Turm- und Giebelkrönungen an steilem Hange. Der Park schien wohlbedacht gelichteter Wald, und Wald umdrängte die im Gebüsch verborgene Umzäunung. Über Wipfel hinweg, von schweren Baumgruppen rechts und links abgeschnitten, sah man, gleichsam in einem oben offenen Rahmen, eine reichgegliederte Aussicht unter ungeheurer Himmelsweite. Vor dem Horizont stand eine wunderbar geschweifte Mauer, fern und in den zartesten bläulichen Tönen, die ihre Felsenschwere in lauter Duft aufzulösen schienen. Kuppen und Hochtäler zogen ihre Linien in anmutsvollem Schwunge ineinander, und in ihrer ungleichen Reihe erhob sich der Gipfel des Wendelsteins klar und hoch vor der blauen Luft.
Vom Hange hier bis zum Gebirge breitete sich ein weites Tal voll Sommerfrieden. Über Wiesen von einem ganz starken, reinen Grasgrün, über blaugrau gleißende junge Ährenfelder lag windlos Sonnenglanz. Da und dort eine von tiefen Lindenschatten umdunkelte Häusergruppe, weiß, mit roten Dächern – und ein weißes, trauliches Kirchtürmchen mit schieferglänzendem Turmdach – manchmal ein einsamer Baum voll breiter Würde, als starke Note im Idyll des flachen, stillen Geländes. Ganz rechts drängte sich das heitere Häusergehocke von Aibling an den Hang, der zur moorigen Hochfläche emporführte. Stattlich, schon fast oben, thronten Kirche und malerische alte Giebelhäuser über dem Städtchen, das waldige Anlagen gegen das Tal zu umkränzten. Aus ihnen hervor strömte, von weißen Schaumwirbeln durchsetzt, der okerfarbige Mangfall, den der Sonnenschein so überblendete, daß er einem metallischen Bande glich. Er wand sich an den Fuß des Hanges heran und trieb weiter an ihm entlang, mit eiligem Rauschen die Wasser vom Tegernsee nach dem noch fernen Inn tragend.
»Es ist ein wenig spät, daß mir die Wohltat dieser Stätte kommt«, sprach Graf Leuckmer nachdenklich.
»Nicht zu spät«, widersprach Thomas ihm herzlich. »Sie werden sich völlig erholen und reiche Freude an Kindern und Enkel haben. Gerade Menschen, die nie ganz gesund waren, haben als Ausgleich von der Natur eine wunderbare Zähigkeit zum Geschenk erhalten.«
»Man hofft so gern. Wie manches Mal ist Hoffnung mein einziger Besitz gewesen. Viel hat sich mir nun erfüllt. Die Erbschaft hat mich von allen demütigenden Sorgen erlöst. Gudas Glück erscheint gesichert. Möchte ich's noch sehen, daß Karen und Bertold sich wieder zueinander finden. Ich dachte immer, daß der Kleine ... Aber Bertold ...«, seufzend brach er ab.
In der Familie Leuckmer gab es für Thomas Steinmann kaum Geheimnisse. Und er wußte, daß dieser Seufzer dem einzigen Sohn galt, der leichtsinnig und lebensgierig sich durchaus nicht zum Gatten und Vater eignete. Vielleicht war seine Frau zu wuchtig für ihn, zu sehr großer Stil. Er hatte einmal gesagt: »In 'ner Kirche kann man nicht wohnen, und um Katharina ist so'n bißchen was von Kirchenluft.« Graf Leuckmer, der Vater aber, und Guda, die Schwester, liebten Katharina, die sie Karen nannten, sehr innig. Ihr sechsjähriger Knabe war das Glück des Großvaters.
»Oft denke ich«, fuhr Graf Leuckmer fort, »daß Bertold mit sich selbst in festere Ordnung gekommen wäre, wenn nicht immer Jenny mit ihrer blinden Verliebtheit ihn in allen seinen Schwächen bestärkt hätte.«
»Wahrscheinlich«, gab Thomas Steinmann, doch mit inneren Vorbehalten, zu. Denn er dachte, daß ein rechtes Manneswesen auch durch die freigebigste Torheit einer alten Jungfer nicht aus dem Lot zu kommen braucht.
»Zuerst war es mir, bei meiner knappen Lage, ja angenehm, daß Jenny die Zulage für Bertold bestritt, vom Tage an, da er das Kadettenhaus verließ. Daß sie später auch oftmals Schulden für ihn bezahlt hat, erfuhr ich erst bei seiner Heirat. Er brauchte sie nur zu umarmen und sie stürmisch abzuküssen unter der Versicherung, daß sie die liebste, einzigste Tante von der Welt sei, und sie war noch selig, für ihn zahlen zu dürfen. Ich kann sagen: Es war fast ein widriges Schauspiel.«
Thomas lächelte vergnügt.
»Das ist ja nun eine der putzigsten Tatsachen, daß Verliebtheit ein Schauspiel ist, das nie Applaus erntet. Immerhin vertreibt es aber den Helden die Zeit. Komteß Jenny hat es ihr verbittertes Alter verschönt. Graf Bertold stand sich gut dabei. Nur die Gehässigkeit gegen Gräfin Katharina – die war von wirklich üblem Geschmack.«
»Eifersucht!« stellte Leuckmer fest. »In diesem Fall eine geradezu krankhafte Empfindung.« Sie dachten beide daran, in welchen triumphierenden Formen sich diese Eifersucht der alten Komteß bewiesen hatte. Dem jungen Ehegatten Bertold bezahlte sie seine Schulden nicht, solange Katharinas eingebrachtes Vermögen dazu reichte.
Es war nur ein bescheidenes Vermögen und ließ sich rasch genug aufzehren. Dann erst nahm sie den geliebten Neffen wieder in die für ihn so vorteilhafte Abhängigkeit.
Sie errichtete auch ein Testament, in welchem sie ihren Neffen Bertold zu ihrem alleinigen Erben ernannte. Das hätte man als gerechten Ausgleich zu Onkel Leuckmers Testament nehmen können, der seinerseits Bertold ganz ausgeschlossen hatte.
Aber die Bedingung, die Komteß Jenny anfügte, war eine Ohrfeige für Katharina. Wenn etwa Bertold vor ihr, der Erblasserin, stürbe, sollte das ganze Vermögen an ein adeliges Damenstift fallen. An Bertolds Söhnchen, das bei Abfassung dieses Testamentes schon lebte, dachte sie gar nicht – das Kind war ihr nur Blut der verhaßten jungen Frau.
»Eine lediglich papierne Ohrfeige«, hatte Thomas Steinmann damals tröstend gesagt, »denn da Komteß Jenny ein unheilbares Leiden hat, Graf Bertold aber vor Gesundheit strotzt, wird es ja doch mal im natürlichen Lauf der Dinge so kommen, daß Gräfin Karen und der kleine Adam die Behaglichkeiten dieses großen Vermögens mitgenießen dürfen. – Das heißt, solange bis Herr Bertold mit den offenen Händen es nicht verstreut hat«, setzte er noch in Gedanken hinzu. –
Übrigens hatte sich in den letzten Monaten das Verhältnis zwischen Komteß Jenny und ihrem vergötterten Neffen für diesen ins Mühselige gewendet. Sie lag sehr schwer leidend in einem Berliner Sanatorium und verlangte täglich mindestens zweimal nach den Besuchen ihres Lieblings. Der war gerade zu einem Garde-Infanterie-Regiment kommandiert, um als Kavallerist den Dienst der anderen Waffe kennenzulernen. Nun störte ihn diese Liebes- und Dankbarkeitspflicht erheblich in den Stunden, die er dem Genuß von Berlin zu widmen gedachte; und das waren ohnehin schändlich knappe. Denn es wurde haarsträubend gearbeitet, wie er übellaunig an seinen Vater schrieb. Aber eine Erbtante – na, das lag ja auf der Hand – glücklich, wer eine hat. Man fühlte ja auch als anständiger Kerl nicht ganz undankbar. –
Das Nachsinnen über all diese Dinge, die mit soviel peinlichen Nebenerscheinungen behängt waren, wehrte Graf Leuckmer mit plötzlichem Entschluß von sich.
Draußen wartete die liebenswürdigste Natur, die in ihren großen Linien eine so wunderbar beruhigende Stille ausatmete, daß sie recht gemacht war, Abgehetzten, Erschöpften den Frieden zurückzugeben. Die Sonne schien dazu und breitete ihren Glanz stetig und gelassen auf die Grünheit des weiten Geländes. Das gab eine Stimmung von Üppigkeit und das Vorgefühl reichen Erntesegens. Wald und Park durchwirkten die Luft mit kräuterigen Düften.
»Hinaus, hinaus!« mahnte er freudig sich selbst und seinen Besuch.
Die Geschäfte waren durchgesprochen. Nun kam das Freundschaftliche.
»Sie bleiben doch über Nacht? Ihr Zimmer wird bereit sein.«
»Ich bitte sehr, mich zu entschuldigen«, sagte Steinmann, »ich will mit dem nächsten Zug nach München und die Nacht hindurch nach Berlin zurück.« Der alte Herr hatte aber die Fahrpläne genau im Kopfe. Es war immer sein wichtiges kleines Vergnügen, damit seine Gäste und Familienmitglieder zu überstimmen. Mit dem Nachtzuge nach Berlin? Zehn Uhr fünfzehn. Das ließ sich höchst bequem erreichen, wenn man nicht über Holzkirchen, sondern über Rosenheim nach München zurückkehrte. Acht Uhr fünfundfünfzig. Das Auto fuhr ihn in kaum fünfzehn Minuten hin, also Zeit genug, noch am frühen Abendessen teilzunehmen. Thomas sah ein, es würde kein Ausweichen möglich sein, so umsichtig er sich auf ein solches gerüstet hatte; vor allem auch dadurch, daß er sein Gepäck in München zurückließ, um sich mit dem Mangel eines Abendanzuges entschuldigen zu können. »Als eiliger Reisender sind Sie selbst vor Miß Lightstone nicht strafbar, wenn Sie im Straßenanzuge am Abendtisch sitzen«, meinte Leuckmer lächelnd.
Thomas' Stirn zog sich ein wenig zusammen. Er fühlte, seine Stellung zu diesem Hause gestattete ihm nicht, sich in seinen verborgenen Empfindungen zu schotten. Es würde wohl noch manches Mal der Zwang kommen, mit verbindlichen und gleichmütigen Mienen den unerträglichen Schmerz zudecken zu müssen. – Wenn es nur erst ein Ende hätte – nach ihrer Heirat – wenn sie von diesem wunderschönen Mann, den er haßte, nur erst nach England entführt sein würde – dann, ja dann überwand sich das rascher. – Mußte sich überwinden lassen! Er verlangte das von sich. Er ertrug nichts, was immerfort zerstörerisch an seiner frischen Lebenszuversicht nagte. – Hoffnungsloser Liebesgram! Dagegen empörte sich sein ganzes Wesen. Er rang hart mit sich, um Sieger zu bleiben. Ein unbestimmter Zorn erfüllte ihn – Vielleicht gegen sich selbst, vielleicht gegen den vollkommenen Mann, dem Guda sich geben wollte. – Sie gingen nun in den Park. Durch das grüne Gedränge seiner Büsche wand sich, vom Fuße des Abhanges herauf, eine Fahrstraße, hell und glitzernd und fest gewalzt von den Gummireifen des Kraftwagens. Durch das steilabschüssige Gelände war eine stufenartige Anlage geboten gewesen; sie zog sich zu Füßen des Schlößchens hinab und stieg noch hinter ihm empor, bis zur Hochebene. Auf den schmalen Flächen dieser ziemlich kunstlosen Terrassen hatten Blumenbeete und Rasenstreifen Platz gefunden; durch Treppenwege oder steile, schräglaufende Pfade waren sie miteinander verbunden. Graf Leuckmer vermutete seine Töchter und Gäste auf der vorletzten Terrasse. Dort hatte man das fast allzu dichte, heraufreichende Gewipfel alter Bäume kräftig beschnitten, um denselben Blick genießen zu können, den man von den Frontfenstern des Hauses aus bewunderte.
Im Schreiten sprach der alte Herr von der Unerträglichkeit manchen vergangenen Sommers. Da hatte man drei Treppen hoch in einem nördlichen Teil der überlauten, trocken-dunstigen Weltstadt gewohnt – in einer Atmosphäre von merkwürdiger Feindseligkeit. Es war eine so auffallende Beobachtung: in einer Schicht, wo viele Existenzen von beschränkter wirtschaftlicher Lage nahe aneinandergedrängt leben müssen, wird der höhere Rang und Stand einer Familie Gegenstand von Spott, Mißtrauen, Gehässigkeit, solange man beobachtet, daß auch sie den Groschen in der Hand umzudrehen gezwungen ist. Eine zudringliche Vertraulichkeit pochte auf – gegen die man sich immer zu verteidigen hatte.
»Denken Sie nicht mehr daran!« bat Thomas. Er wußte von seinem Vater und aus eigener Beobachtung, wie gequält die edle Natur und der ästhetische Geschmack des nervösen Mannes sich von seiner Lage gefühlt hatten. »Vielleicht erinnere ich mich so lebhaft, um nur stärker zu genießen.«
Dieser erste Sommer im neuen, köstlichen Lebensrahmen schüttete auch eine solche Fülle von Schönheit aus, daß man ihr nur immer die Arme hätte entgegenbreiten mögen. In lächelndem Frieden sog die Natur all den Sonnenglanz ein und atmete ihn als würzigen Duft wieder aus.
›Ein Sommer, um glücklich zu sein‹, dachte Thomas Steinmann erbittert.
Sie – sie war natürlich glücklich – durchleuchtet wie von Glanz – wie getragen von heimlicher Wonne – oh, er hatte es gespürt, das eine Mal, als er sie mit ihrem Verlobten gesehen. – –
Er stieg hinter dem alten Herrn her. Und schon sahen sie auch die Gesellschaft auf dem vermuteten Platze. Ein schmaler Rasen zog sich auf dieser Terrasse hin, die ein abermals noch ansteigender, von rankendem Buschwerk überwucherter Hang rückwärts einschränkte. Den Rasenstreifen schloß an beiden Enden ein rundes Beet mit niedrigkriechenden Malmaisonrosen ab. Ihr matter Geruch, der an Hinwelken und Totenkränze erinnerte, erfüllte die Luft. Rechts drängte sich vor alten riesigen Ulmenstämmen rosablühendes Gebüsch von Zwergrosen an den umlaufenden knappen Weg; links war ein Halbrund laubenartig dem Hange abgewonnen, und Buchenzweige bedachten es. Von dort hatte man die schöne Aussicht, aber von denen, die um den Tisch saßen, kehrten ihr zwei den Rücken zu.
Das waren Guda und ihr Verlobter! Mit einem scharfen Blick erfaßte Thomas Steinmann schon im Näherschreiten von der ganzen kleinen Gruppe nur diese beiden. Guda und Percy Lightstone waren zum Tennisspiel angezogen. Oben auf der Krönung des ansteigenden Geländes hatte man erst vor kurzem einen Spielplatz anlegen lassen. – Wie das braunhaarige Mädchen in dem schmalen weißen Kleid fein und kindlich aussah! Wie voll Anmut trug der schlanke Hals den edelgeformten Kopf, unbeschreiblich reizvoll war der Haaransatz im Nacken und an den Schläfen. Und die Haut so zart. Ihre Augen waren eine Welt von Leben für sich. – Unerträglich, daß nun aus ihnen ein Glanz strahlte, wie vordem niemand und nichts darin hatte aufwecken können.
Wer hätte leugnen dürfen, daß der Mann ihrer Liebe eine Erscheinung von auffallender Auserlesenheit sei? Man sah es ihm wohl an: er stammte aus einem Herrengeschlecht, das seit Generationen keine Sorge gekannt und immer die Rasse gepflegt haben mochte. Sein Körperbau war hoch und von vollkommenem Ebenmaß. Stolz trug er sein schönes Haupt mit dem aschblonden, gewellten Haar und den Zügen von fast antiker Reinheit. Seine Augen waren sehr hell, mit einem schwarzen Ring um diese wasserblaue Iris – das machte seinen Blick dem des Seeadlers ähnlich: kalt und scharf. – Wenigstens fand Thomas das. – Er konnte sich in dieser Kleinlichkeit nicht überwinden: die überwältigende Schönheit des Engländers war ihm bis in den Grund der Seele zuwider – – obgleich er sich zugab: weibisch war sie nicht. Oder war es vielleicht doch keine Kleinlichkeit, sondern Instinkt der Liebe? Vorgefühl der Treue?
Er wußte genau: das Vorleben des Mannes ließ sich deutlich übersehen und war fleckenlos.
Also Eifersucht! Die bittere des heimlich Liebenden, der nicht dazu gekommen war, seine Liebe auch nur anzudeuten – denn so recht wurde er sich ihrer erst bewußt, als Graf Leuckmer ihm schrieb: »Meine Guda hat sich verlobt...«
Seine Blindheit für alle, außer für das Brautpaar, war so groß gewesen, daß er förmlich in Verwirrung geriet, als er nun die übrige Gesellschaft begrüßen müßte. Da war doch Gräfin Katharina in all ihrer ernsten und edlen Weiblichkeit, eine ins Schlanke herabgemilderte Germania, von der man sich ausgezeichnet fühlte, wenn sie einen gütig anlächelte. Und das da? Er wurde vorgestellt. Und man nannte ihm Miß Mildred Lightstone, Percys Schwester.
›Wenn ich der anderswo begegnet wäre, hätt' ich – was anderes gedacht...‹, sagte sich der junge Rechtsanwalt. Aber er wußte ja von dem außerordentlichen Schminkverbrauch englischer Damen. Miß Mildred war wie ein Wachskopf rosig und weiß bemalt, ihre Augenbrauen gefärbt und das Feuer ihrer großen, schönen Augen durch einen dunklen Strich unter den Wimpern noch gehoben. Das kastanienfarbige Haar zeigte durch seine Stumpfheit, daß es entweder auch gefärbt oder schlechtweg eine Perücke sei. Durch all diesen Aufwand von Kunst sah sie viel älter aus, als sie vermutlich war. Ihre ungemein schlanke Gestalt war ebenso kostbar wie phantastisch in Chiffon und Spitzen gehüllt; soviel Thomas davon verstand, entsprach die Form des Gewandes nicht der Mode, mochte also ein individueller Stil sein. Um den Hals hing ihr ein sehr auffallender Schmuck, von grünen, lila und roten Halbedelsteinen zusammengestellt, den man unschwer als die Nachahmung eines alten ägyptischen Frauenzierats erkannte. Miß Mildred konnte gewiß nie in der Menge unbemerkt verschwinden. Alles an ihr war betont. Mit ihrer allzu schlanken Gestalt lehnte sie in königlicher Haltung im Korbsessel, und das gesellige Zusammensein ertrug sie in einer gelassenen Art, von der man nicht recht wußte, ob sie Hochmut und Langeweile verbarg oder völlige Gleichgültigkeit und geistige Stille. Sie konnte kein Wort Deutsch und dachte nicht daran, auch nur ein einziges ihrer Schwägerin zuliebe zu lernen.
Gräfin Katharina hingegen stand mit der englischen Sprache auf gespanntem Fuß und fühlte trotz all ihrer wachen Intelligenz keine Begabung für dies Idiom.
Das Gespräch, um das auch Percy und Guda sich nur mäßig bemühten, wäre eine Qual geworden, wenn nicht Frau van Straten und ihre Tochter Tiny es auf das Mühlrad ihres Eifers geflochten und unablässig im Gange erhalten hätten. Die van Stratens fühlten sich fröhlich und wichtig in diesem Kreise. Denn ganz allein durch sie war doch das Verlöbnis zwischen Percy Lightstone und Gräfin Guda zustandegekommen. Geschmackvoll und neidlos ein wenig Gelegenheitsmacherei betrieben zu haben, erfüllte ihre gutmütigen Herzen mit großer Zufriedenheit.
Der Name des hier nicht mit anwesenden Gatten und Vaters van Straten war Thomas ja sehr wohl bekannt, aus seinem mannigfachen Briefwechsel über die Vertrauenswürdigkeit Percy Lightstones und der Lord Multonschen Unternehmungen. Er sagte deshalb der Frau mit ein paar verbindlichen Worten, daß er schon das Vergnügen gehabt habe, mit Herrn van Straten geschäftlich zu korrespondieren. Dergleichen nahm diese Dame nie ganz unbefangen hin. Sie dachte immer gleich: ›Ob er wohl weiß, daß mein Mann...‹ van Straten war nämlich ein Cuxhavener Junge, als solchem ging ihm der Sinn früh ins Weite. Nachdem er eine Lehrzeit bei einem Schiffshändler hinter sich hatte, fuhr er auf einem Schoner als Kombüsenmaat nach London, kam dort gleich in Verdienst, und mit friesischer Zähigkeit brachte er sich vorwärts. Aus Klugheitsgründen ließ er sich bald in England naturalisieren. Sein Wohlstand dehnte sich zum Reichtum aus, und als er in Birmingham sein Vermögen zu einem äußerst stattlichen abgerundet hatte, zog es ihn an die Elbe zurück. Um nicht müßig zu gehen, vertrat er in Hamburg die Lord Multonschen Unternehmungen, mit denen er schon in Birmingham geschäftlich verbunden gewesen war. Frau van Straten liebte ihren Mann auf das innigste. Daß er aber ein Selfmademan sei, war ihr immer peinlich. Sie trug auch still an ihrer eigenen einfachen Herkunft, und daß sowohl sie als ihr Mann noch Verwandtschaft in Hamburg besaßen, die gerade nicht auf dem Harvestehuder Weg wohnte. Außerdem ließ das Bewußtsein ihrer etwas grobknochigen Gestalt sie nicht zum reinen Lebensgenuß kommen. Sie bildete sich ein, all diese Umstände ins Vornehme auszugleichen, wenn sie sich als Engländerin gäbe. Der Mut, sich individuell zu kleiden, lag ihr fern; so war sie in dies knappe Röckchen der Tagesmode gehüllt, aus dessen Schlitz ein wuchtiger Fuß in seidenem Strumpf und hellem Schuh sich vorsetzte. Ihr dunkler Madonnenscheitel rahmte ein zwar etwas derbes, aber sehr angenehmes Gesicht ein, dessen braune Augen unwiderstehlich freundlich blickten. Alle ihre körperlichen und seelischen Anlagen drängten sie, sie mochte wollen oder nicht, zum behäbig Bürgerlichen, Gutherzigen. Aber sie machte sich immer wieder die Mühe, andere Färbungen anzunehmen.
Als Percy Lightstone dieses ihm wie seiner Familie schon seit Jahren bekannte Paar in Hamburg besuchte, war der Anlaß nicht nur geschäftlicher Natur. Ihm wie seinem Vater, dem Lord Multon, war der reizende Backfisch Tiny van Straten in deutlicher Erinnerung geblieben. Sie mußte in den vier Jahren, die seit der van Stratenschen Übersiedlung nach Hamburg vergangen waren, eine heiratsfähige Dame geworden sein. Und die sehr große Ziffer ihres väterlichen Vermögens war den Herren auch bekannt. Das Elternpaar van Straten erriet zwischen den Zeilen, die Percys Besuch ankündigten, ahnungsvoll den versteckten Hauptgrund. Und Frau van Straten genoß, da sie nicht ohne Phantasie und Beweglichkeit war, schon vorweg das Vergnügen, ihre Tiny als Schwiegertochter Lord Multons zu sehen. Sie warm ja einmal zum »week end«, das heißt von Sonnabend bis Montag, auf den Landsitz des Lords geladen gewesen, und da erst hatte Frau van Straten – ihrem oft ausgesprochenen Geständnis gemäß – begriffen, was Vornehmheit sei.
Aber es geschah, daß sich gerade um jene Zeit, Ende des letzten Winters, Komteß Guda Leuckmer bei ihrer Pensionsfreundin Tiny van Straten zum Besuch aufhielt. Graf Leuckmer hatte natürlich nicht die Mittel gehabt, seine Tochter Guda in einer Pension in Ouchy unterzubringen – das Geld dazu bewilligte damals Onkel Leuckmer seinem Patenkinde. Tiny und Guda hatten sich gut verstanden; Frau van Straten fand die Beziehung kleidsam und lud seitdem alljährlich einmal im März oder April Komteß Leuckmer ein.
Als Mutter van Straten aber schon am Tage von Percys Ankunft mit weiblichem Scharfblick erkannte, daß zwischen ihm und Guda fast auf den ersten Blick ein gespannter, erregend unfreier Zustand sich herstellte, verabschiedete sie ihre eigenen Hoffnungen, trotzdem Tiny selbst sich auf den eisten Blick hitzig in Percy Lightstone verliebt hatte. Aber sie fand, gleich ihrer Mutter, in der eifrigen Gutmütigkeit, das Glück anderer zu fördern, ihre Entschädigung. Auch war der Gedanke angenehm, sich zwei so vornehme Familien wie die Leuckmers und Lightstones auf das stärkste zu verpflichten. Nachdem Percy, der als zweiter Sohn bei seiner künftigen Gattin auch auf Geld sehen mußte, wie denn die Lightstones überhaupt nie arm heirateten, sich vertraulich mit seinem Geschäftsfreund van Straten ausgesprochen und erfahren hatte, daß Komteß Guda Leuckmer seit kurzem als wohlhabende Erbin zu betrachten sei, stand keinerlei Hindernis zwischen den Liebenden.
Frau van Straten erwähnte auch beiläufig in Gudas Gegenwart, daß Percy Lightstone als einer der schönsten und vornehmsten Männer sich Milliarden erheiraten könne. Aber er würde immer nur auf die Stimme seines Herzens hören.
Nach so außerordentlichen Verdiensten um die Liebenden war es selbstverständlich, daß die van Stratens eine Einladung nach Schloß Schönblick erhielten. Herr van Straten war aber durch Geschäfte in Hamburg zurückgehalten. Seine Frau wußte es: er konnte sich überhaupt keinen Daseinszustand ohne Geschäfte denken. Sie fürchtete immer, die Welt werde darin ein Zeichen seiner ursprünglichen plebejischen Herkunft sehen, wobei ihr selbst nicht klar war, wer ihr »die Welt« bedeutete.
Sie waren mit großer Wärme von der Familie Leuckmer empfangen worden. Ihre Gegenwart erwies sich auch als sehr angenehm, sie beherrschten beide Sprachen, und das machte sie manches Mal zu Mittlern im Gespräch.
Aber es ließ sich nicht leugnen: für Tiny war es ein wenig langweilig. Guda und Percy natürlich gaben nicht das Schauspiel eines zu verliebten Paares, sie verkehrten fast in kühlen Formen miteinander. Aber Tiny merkte es ja doch: wie hypnotisiert war ihre Freundin, tat alles mechanisch, sprach ohne echte Teilnahme und hatte nur einen Gedanken. Den an ihn! Dabei wurde Tiny allmählich recht sehnsuchtsvoll und unruhig zumute. Aber soviel sie auch herumsann – auf weiter Flur niemand, an den man seine Sehnsucht hätte hängen können.
Als nun Graf Leuckmer mit einem höchst stattlichen jungen Herrn herankam, belebte sich unbewußt ihre Munterkeit. Ihr Lachen und lebhaftes Wesen standen ihrem dunklen Kopf und ihren kecken Zügen gut an. Ihre Gestalt, schön gewachsen und mehr als mittelgroß, hatte etwas Federndes. Man merkte, daß starkes Temperament ihre Glieder regierte. Vielleicht war dieser neue Gast der vierte Mann zum Tennis, oder es ließ sich sonst doch irgend etwas Vernünftiges mit ihm anfangen.
Thomas mußte seine augenblickliche Unbrauchbarkeit eingestehen und bedauern, daß er schon ein Viertel nach acht Uhr wegzufahren habe. Ein Grund mehr für die entschlossene junge Dame, ihn durchaus in ihre Unterhaltung einzusperren. Wofür er ihr beinahe dankbar war. So brauchte er nicht mit dem wunderschönen Mann zu sprechen. Nicht zu beobachten, wie Guda unter der Maske ruhiger Haltung doch in starker innerer Erregung war, er fühlte, daß sie es war – obschon sie still und aufrecht dasaß – immer war ihm, als durchschaue er alles, was in ihrem Wesen vorging.
»Papa«, sagte Gräfin Katharina, »unser Brautpaar hat eben seinen Hochzeitstag festgesetzt. Am fünften August soll er sein.«
Sie sprach das in ihrem mühevollen Englisch aus.
Noch ehe Graf Leuckmer etwas antworten konnte, setzte Mildred höchst ruhevoll hinzu: »Ja, so paßt es mir gut. Ich habe Billette zu Bayreuth; Bruce und Maud haben auch Billette zu Bayreuth. Vom siebenten August: Parsifal, Meistersinger und nachher den letzten Ring.«
Bruce, der ältere Bruder Percys und künftige sechste Lord Multon, hatte sich der Politik zugewandt, war schon Mitglied des Unterhauses und in dieser Zeit, man erfuhr nicht, aus welchen Gründen, vorübergehend der englischen Botschaft in Wien zugeteilt. Er und seine Gattin Maud sollten die Familie Lightstone bei der Hochzeit vertreten. Das war dem Grafen Leuckmer schon bekannt. Die Art, wie Miß Mildred ihre Zeiteinteilung für den Hochzeitstermin durchaus in den Vordergrund stellte, fand er erstaunlich. Aber es war ihm nun einmal gemäß, milde über die Unbescheidenheit anderer Leute hinwegzusehen.
»Nun – wenn es auch dir recht ist«, sprach er zu seiner Schwiegertochter gewendet.
Denn ihr hatte er für diese ganze Zeit die Würde der Hausherrin und Ehrendame gegeben. Er betonte das gern bei jeder Gelegenheit.
»Ich bleibe von Mittwoch an bis zur Hochzeit in München«, erklärte Miß Mildred, »ich liebe es sehr; man trifft immer Bekannte.«
»Wird denn die Aussteuer bis dahin fertig?« fragte Graf Leuckmer sorglich. Er hatte durchaus keinen Verstand für solche Dinge und hielt sie für schwierig.
»Bequem«, versicherte Katharina, »es handelt sich ja nur um eine Wäsche und Kleiderausstattung. Alles andere soll in London angeschafft werden.«
»Davon bin ich beruhigt«, sagte Miß Mildred; »man hat keinen Geschmack in diesem Lande.«
»Oh...«, wehrte die blonde Frau verletzt ab. »Liebe Gräfin«, sprach Miß Mildred beinahe lebhaft, »Sie werden mir recht geben, sobald Sie später Guda bei uns besuchen.«
»Ich kann Miß Lightstone nur beipflichten«, bemerkte eifrig Frau van Straten.
Percy Lightstone sagte halblaut zu seiner Braut: »Wollen wir noch spielen?«
Guda stand auf. Beherrscht und freundlich nickte sie.
»Ja, sehr gern.«
Und dennoch war es ihr, als würden nun Ketten von ihr genommen. Man mußte sich aber immer halten. – Nie vor anderen Unruhe oder gar Zärtlichkeit zeigen – sich nicht durch Blicke und Lächeln verraten – das fand Percy schlechte Form. – Er hatte ihr das nie mit Worten gesagt – dies Wissen hatte sich ihr von selbst aus seinem Wesen übertragen – sie erriet ihn – beobachtete seine Art, paßte sich ihr an – ganz und gar verzehrt von dem einzigen Verlangen, ihm immer zu gefallen. –
Sie gingen langsam neben dem Rasenstreifen hin, den an jedem Ende ein niederes Beet von Malmaisonrosen abschloß. Sie hörten nicht mehr, daß Frau van Straten entzückt der Gräfin Katharina zuflüsterte: »Ein so schönes Menschenpaar sieht man nicht zum zweitenmal.« Sie stiegen das schmale, in den Hang eingelassene Treppchen empor, das zwischen den Zwergrosenbüschen und alten, rissigen Ulmenstämmen nach der höchsten Geländestufe des Parks führte. Da oben war ein ungelichtetes Stück Wald stehengeblieben, voll tiefer grüner Schatten und schweigenden Ernstes. Ein von vorjährigem Laub rostfarbiger Weg führte ziemlich geradeaus zur Gitterpforte in der Umzäunung, jenseits deren auf einem Wiesenstück der neue Tennisplatz angelegt war. Ein anderer Pfad, ungepflegt und von ranken Zweigen wuchernden Unterholzes manchmal gesperrt, leitete zu einem kleinen Weiher. Er füllte mit seinem stillen grünlichen Wasser den Grund eines merkwürdig tiefen, länglich runden Kessels. Ein mooriger Geruch stieg von ihm auf, und durch das ihn umgebende Dickicht kamen nur spärliche Sonnenlichter herein. Oben an seinem Ufer stand eine derbe weiße Gartenbank, von der aus man auf die düstere, kaum sich schuppende Wasserfläche herabschauen und zusehen konnte, wie gegenüber ein armes Quellchen in den Weiher, ihn speisend, sickerte, der irgendwo einen kümmerlichen Abfluß durch Holzröhren hatte.
Percy mit seinen großen, gelassenen Schritten nahm nicht den Weg, der unter den aufrechten alten Baumriesen hin zur Gitterpforte führte, sondern er schlug die Richtung zum Weiher ein und zerteilte das Unterholzgezweig im Schreiten. Guda folgte ihm, ohne daß er sich auch nur ein einziges Mal nach ihr umsah – wie ein gehorsamer Page seinem Herrn und Ritter nachzieht. – Als sie neben der Bank, dem verstecktesten Winkel des ganzen weiten Waldparks, angelangt waren, nahm er ihr das Rakett aus der Hand und legte es äußerst sorgfältig mit dem seinen zusammen in die eine Ecke der Bank. Dann erst streckte er seine Hände nach ihr aus. – Und schon lag sie in seinen Armen, ließ sich küssen – küßte wieder. – Sie vergingen sogleich in leidenschaftlicher Begierde nacheinander – mit kühnen, tastenden Händen erfaßte der Mann alle köstlichen Linien dieser holden, jungfräulichen Gestalt – genoß mit einem Rausch von Entzücken ihr Erbeben – spürte voll Triumph die Schauer, die durch ihre Glieder flogen. – Er preßte sie an sich, drängte sich gegen sie – erzitterte in zorniger Qual über den Zwang, noch letzte Zurückhaltung bewahren zu müssen. – Und mit keinem Flüsterwort, keiner Pause unterbrach er diesen Ausbruch einer wilden Leidenschaft, der das Blut des jungen Geschöpfes in Flammen setzte und sie mit seligem Fieber, mit süßer Besinnungslosigkeit betäubte.
Bis sie beide, für einen Augenblick erschlafft, atemlos voneinander abließen. Er zog sie auf die Bank neben sich, und dort legte sie, um auszuruhen, ihren Kopf an seine Schulter – ein Sturm war durch ihren Körper gegangen und hatte ihn ermattet.
»Fünf Wochen noch, ehe du ganz mein bist«, sprach er, »eine verflucht lange Zeit.«
Guda dachte, man hätte sie abkürzen können. Aber sie mochte es nicht sagen. Mildred setzte vor einigen Tagen auseinander, daß es nicht geschmackvoll sei, wenn Verlobte sehr eilig heirateten. Und bei den Lightstones sei es immer Sitte gewesen: vier Monate Brautstand.
Sie träumte jetzt einem anderen Wunsch nach – sie war jung – diese unerhörte Leidenschaft hatte all ihre heimlichen Phantasien von erster Liebe und zärtlichem Sehnen ausgelöscht – Offenbarungen gebracht, daß Liebe kein sanftes Glück, sondern eine rasende Gewalt voll schauriger Wonnen sei. Aber doch – ein ganz kleiner, törichter Mädchenwunsch wollte sich selbst von all der Glut nicht wegbrennen lassen.
»Ich möchte wohl – ja: eines! – Aber du mußt mich nicht auslachen«, flüsterte sie.
»Was denn, mein Liebling?«
»Einmal möcht' ich, du sagtest mir auf deutsch: ›Ich liebe dich‹.«
Er lachte gut gelaunt – lachte sie herzlich aus.
»Deutsch ist doch nicht meine Sprache. Und bald nicht mehr die deine.«
»Nicht mehr meine?« »Du wirst doch Engländerin! – Am fünften August – Liebling – am fünften August.« Er küßte ihr Ohrläppchen, indem er sich seitwärts über sie niederbeugte. Und Frösteln lief ihr über die Haut.
»Dann führe ich dich aus diesem armen kleinen Land, und du wirst eine stolze Engländerin. Das Lightstone-Haus war schon unter den Plantagenets gefürchtet.« –
Auch die Leuckmers waren ein uraltes Geschlecht, in Holstein ansässig gewesen seit Jahrhunderten, aber politisch waren sie zwischen Dänemark und Preußen geraten, und das war ihrem Vermögen übel bekommen. – Oh, Guda war sonst stolz auf ihren Namen, aber in diesem Augenblick fiel ihr etwas anderes noch mehr auf als sein hochfahrender Familienstolz, der sie im Grunde bezauberte, den sie balladenhaft fand, der sie an Fontanesche Gedichte und Löwesche Kompositionen erinnerte.
»Aus diesem armen kleinen Lande?« wiederholte sie staunend. Und eine Empfindung wallte in ihr auf, als habe man sie sehr gekränkt.
»Ja, das weiß Gott – hier ist keine Größe, wenig Geld. Ganz Deutschland ist wie eine Kleinbürgerwirtschaft, in der man immer an das Haushaltungsbuch denkt und ob auch alles eingeschrieben wird, damit die Rechnung stimmt. Allein wie die Leute hier arbeiten, auch die größten Industriellen und Kaufleute und Großgrundbesitzer! Wie Diener arbeiten sie und möchten am liebsten alles selbst machen. Wir aber lassen andere für uns arbeiten – wir sind keine Emporkömmlinge.«
Guda richtete sich auf. Was sagte er denn da? Und in welchem Ton? Das konnte doch unmöglich seine Absicht sein, ihr Land, ihr herrliches Vaterland herabzusetzen. Vor ihr, die er liebte.
»Aber Percy! Ich bildete mir ein, du kennst Deutschland – weil du ziemlich gut Deutsch sprichst – weil du Hamburg kennst und Berlin und München. Aber ich sehe, du kennst es doch nicht. Sonst wüßtest du, wie großartig alles ist.«
»Anfänge – Ansätze. Bei Gott, wir haben sie sich schon zu weit entwickeln lassen.«
»Ihr? Ihr?« Guda verstand durchaus nichts von dieser merkwürdigen Äußerung. Sie fühlte nur: Das war beleidigend. Das wollte sie nicht hören. Darüber mußte man sich doch gründlich aussprechen.
Ihre belebte Haltung, ihr aufflammendes Auge fand er entzückend.
»Aber Liebling! Wozu sitzen wir hier? Um auf Politik und Welthandelsverkehr zu kommen? Wozu sitzen wir hier?«
Und er riß sie an sich.
»Um uns zu küssen«, sagte er, seine Frage selbst beantwortend.
Und er wußte, wie man die Gedanken törichter holder Mädchen betäubt. Und der Wille, mit ihm zu streiten, zu verteidigen, was ihr so selbstverständlich teuer war wie das Leben selbst, entglitt ihr.
Wieder versanken ihre Wünsche ineinander, und mit gewaltiger Sinnlichkeit gingen seine Liebkosungen über ihre Keuschheit hin wie ein Feuerbrand über ein Blumenfeld. Die Begierde, die er in ihr entzündete, machte ihn selbst toll. Die Unmöglichkeit, sie schon völlig zu besitzen, steigerte ihm noch den quälenden Genuß der Zärtlichkeiten.
Da fuhr er auf – kamen Schritte? – War das ein Ruf? – Ja, nun ganz deutlich. Klingend rief eine Mädchenstimme: »Guda – Guda – Guda« – mit langgehaltenem Hellem »u« auf der ersten Silbe, um dann auf »da« den Ton sinken zu lassen – es klang wie ein anmutiges Signal durch die grüne Stille.
Der Mann wußte auf der Stelle um sein ganzes Wesen die undurchdringlichste Form der Selbstbeherrschung zu legen.
Guda aber fühlte die Glut in ihrem Gesicht, und ihr war, als müsse sie sich schämen und als würden Tiny und Thomas Steinmann es ihr ansehen, daß ihre Lippen brannten und wie zerwühlt waren von glühenden Küssen.
Denn es war Tiny, mit Thomas in ihrem Gefolge, die durch das Unterholz sich Bahn brach.
»Mein Gott, wo steckt ihr denn? Ich dachte, ihr wolltet Tennis spielen ...«
Trotz der unbewegten, vornehmen Ruhe in Percys schönem Gesicht würde Tiny ein spitzbübisch anzügliches Lächeln gewagt haben – sie hätte es in anderer Stimmung gewiß bemerkt, daß Guda »ziemlich aufgelöst« aussähe.
Aber eine unfaßliche, eine furchtbare Nachricht brannte auf ihren Lippen. Sie beachtete nicht, daß Percy höflich aufstand, um ihr mit einer Handbewegung seinen Platz anzubieten.
»Nein, denkt euch – mein Gott – man kann es gar nicht fassen, es ist furchtbar, unerhört«, brachte sie heraus. Sie war ganz bleich, und ihre dunklen Augen funkelten.
»Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau sind ermordet!« sagte Thomas, heiser fast vor Aufregung.
»Ah – –«
Der rasche, kurze Laut fuhr dem Mann über die Lippen.
Gudas Blick, der an diesem angebeteten marmornen Angesicht hing, weitete sich plötzlich, ihr Herzschlag begann zu rasen.
Solche Nachricht, solch Grauen. Und er? Er?! War das nicht, als gehe blitzgleich ein Schein von Genugtuung über seine Züge? Nein, unmöglich, ihr Blick irrte ab, huschte über Thomas' Gesicht, das ihr seit je vertraute, und sah, wie entstellt von Schmerz und Zorn es war, und suchte wieder den Geliebten.
Voller Ruhe sagte er nun:
»Das wird die Börse irritieren.«
»Wer denkt gleich daran!« schrie Tiny.
»Es ist eine furchtbare Nachricht. Sehr ernst, vielleicht auch für uns«, sprach Thomas. »Und menschlich unerhört, erschütternd.«
Guda brach in jammervolles Weinen aus.
»Aber Liebling, was geht es dich an?« sagte Percy erstaunt und mit einer ganz leise anklingenden Mißbilligung über einen solchen Ausbruch.
»Zwei Menschen, die sich so geliebt haben«, klagte sie, weiter weinend.
Und weinte doch vielleicht nicht allein um dies jammervolle Los.
Die rasende Erregung des Liebesrausches war so jäh zerrissen worden.
Und ihre Nerven bebten, und vor ihrer Seele stand dieser blitzschnelle, unfaßliche Ausdruck, der ihr, den Bruchteil einer Sekunde nur, sein Angesicht rätselvoll gemacht. Und in ihrem Ohr war sein erstes, kühles Wort – zu solcher Ungeheuerlichkeit – nur ein kühles Rechnerwort.
Mein Gott, wie schnitt das in ihr Herz, wie unbegreiflich war es.