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Ida Boy-Ed
Annas Ehe
Ida Boy-Ed

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Zwei, drei Tage flohen hin, ohne daß es Stephan möglich gewesen wäre, mit dem Grafen Burchard eine Unterredung zu haben. Sie sollte ja unauffällig sein, diese Unterredung, sie sollte, nach Sophiens ausdrücklichem Wunsch, nur den Charakter eines Aushorchens haben. Das herrliche Wetter war die Veranlassung, daß man beständig Ausflüge machte, die sich zu ganzen Tagestouren erweiterten. Die Gesellschaft fuhr zu Wagen nach Breege und nach Arcona. Einen Tag nahm man das zweite Frühstück in Saßnitz und fuhr von dort mit der Bahn nach Putbus. Bei der Heimkehr war es Nacht. Der dritte Tag verzettelte sich in kleineren Unternehmungen. Wolf und Ursula hatten einen unbezähmbaren Eifer auf eine Segelpartie, es war ihnen beiden ein noch völlig unbekanntes Vergnügen. Alle andern Gäste rieten ihnen ab, es sei dazu noch zu früh im Jahr, sie würden auch seekrank werden. Es half aber nichts. Und Graf Burchard, in seiner ausgesprochenen Vorliebe für das Geschwisterpaar, mochte es nicht ansehen, daß ihnen ein ersehntes Vergnügen versagt blieb. Er bat Stephan, vorauszugehen und ein Fischerboot unten am Strand instand setzen zu lassen. Er selbst kam mit den beiden Pallaus dann nach.

Anna fand das zu gutmütig von ihrem Mann. Er verzog die Pallaus zu sehr. Und Ursula hatte nun gar noch den Triumph, mit Stephan lange zusammensein zu können, ohne daß ihr jemand das zu stören vermochte.

Aber dieser Triumph nahm ein schnelles Ende.

Kaum schoß das Boot, bei einem durchsonnten Südost frisch vor dem Winde laufend, weiter hinaus auf das Meer und verließ den Schutz der Küste, so wurde Ursula sehr elend.

Sie begriff erst nicht, was ihr war. Sie hatte sich unter Seekrankheit eigentlich nur »Erbrechen« vorgestellt, und da sie in ihrem ganzen Leben noch niemals dazu genötigt gewesen war, nahm sie an, ihr könnte überhaupt nichts passieren. Nun saß sie auf der Bank im Segelboot, ihr gegenüber der so heiß angeschwärmte Mann. Sie war anfangs außer sich vor Glück. Und wie schön das Bild! Wolf hatte wohl recht, stumm und andächtig dazusitzen. Aus den blauen, schimmernden Breiten und Weiten der Wogen, auf denen Silbergefunkel blitzte, stieg wie ein riesengroßer Zauberbau das schroffe weiße Kalkgestein des Insellandes heraus.

Aber sehr schnell verkehrte sich Ursulas Glücksgefühl in eine große Zerschlagenheit. Ihr Lieben war ja doch hoffnungslos! Und was war überhaupt das Leben? Alles traurig und grau – der Gedanke machte Kopfweh ... er saß in der Stirn über der Nasenwurzel, dieser Kopfschmerz, und tat so weh ... wie jämmerlich ... ach, von all dem Kummer litt ihre Gesundheit ... Stephan sah sie so aufmerksam, so beobachtend an ... Ein Liebesblick war das nicht ...

Das war zum Weinen. Nie, nie würde sein Auge ihr leuchten! Gewiß hatte Anna sie bei ihm so schlecht gemacht! Wer hätte gedacht, daß Anna sich so benähme – sich in der Freundin so getäuscht zu haben, tat weh – es war zum Weinen!... Wie sonderbar die Insel hin und her schwankte, als machte ein Erdbeben sie taumeln ... ja, es war schlecht von Anna; denn nur sie allein hielt Stephan davon zurück, sich mit Ursula mehr zu beschäftigen ... Und nun konnte Ursula ihre Tränen nicht mehr beherrschen. Sie weinte vor sich hin, leise – elend ...

»Ich glaube, es ist besser, wir kehren um,« sagte Stephan. Graf Burchard hatte gerade auch schon die bläuliche Farbe um Ursulas Nase bemerkt und die Kalkweiße der Nase selbst.

»Nanu – Ursche – du wirst doch nicht seekrank?« fragte Wolf.

»Nein ...« hauchte sie und sank in halber Ohnmacht zurück, von Stephans Arm aufgefangen und gehalten. Aber sie hatte kein Bewußtsein davon, daß er es war; es wäre ihr in diesem Augenblick auch egal gewesen ...

Zwei, drei Tage gingen so vorüber. Nein, das war zu viel. Stephan ertrug es nicht mehr. War dies kluge Warten nicht verzweifelt mit einer Feigheit verwandt?

So unerträglich hatte sich ihm im vorigen Jahr der Aufenthalt hier nicht gestattet. Damals bot das Geheimnis seiner Liebe doch mehr Reiz als Qual. Graf Burchard, noch Junggesell, hatte außer seinen Schwestern und den Wenderoths keine Gäste für längere Zeit bei sich gehabt. Es kamen und gingen nur ein paar Freunde des Grafen. Allnachmittäglich sah sich Stephan als freien Herrn über seine Zeit und konnte die Geliebte treffen oder im Hause ihres Vaters besuchen. Jetzt war das Leben ganz anders geworden. Er, damals der einzig Junge des Kreises, fand nun hier vier Altersgenossen, an der Spitze dieser die Hausfrau selbst. Und um dieser Jugend willen, um ihr die ganze Gegend zu zeigen, befand man sich in einer steten Unruhe. Niemals konnte er am Morgen beurteilen, ob es ihm am Nachmittag möglich sein werde, die Geliebte zu besuchen.

Voriges Jahr war auch ihre Lage noch anders gewesen. Zahllose Hoffnungen winkten noch. Da schienen noch ein Dutzend Wege offen zu stehen, die man beschreiten konnte. Und gerade damals, als er seinen Frühlingsurlaub hier verlebte, stand er in Unterhandlungen mit einem russischen Grandseigneur, auf dessen Gütern er eine Vertrauensstellung zu erringen hoffte. Es ließ sich so an, als würde es etwas werden. Jene Stellung hätte ihn ganz unabhängig gemacht und ihm gestattet, seine Sophie sofort heimzuführen.

Seitdem hatten sich alle Hoffnungen zerschlagen, jeder Weg war beschritten, keiner führte zu einem glücklichen Ziel.

Stephan fühlte es: er stand an dem Punkt, wo er handeln mußte, wenn er als ein Ehrenmann vor sich selbst und vor dem vertrauenden Mädchen bestehen wollte.

In diesen qualvollen Tagen fing er an, alle vernünftigen Erwägungen schlechthin als unmännlich einzuschätzen.

Der heiße Wunsch, sich stolz und frei zu seiner Liebe zu bekennen, besiegte alle Bedenklichkeiten. Und am vierten Tag nach jenem Besuch Annas bei dem Doktor Schüler ging Stephan den Weg, der für sein Gefühl unabweisbar geworden war.

Es war jene Nachmittagsstunde, in der sich Stille über das ganze Schloß zu senken pflegte.

Natürlich saß aber wieder jemand in der Halle. Diesmal war es Donat, der Zigaretten rauchte und in übler Laune nachdachte. Ursula war hier ja rein wie besessen. So unruhig! So weinerlich! Und gestern abend war sie sogar in ihrem Zimmer geblieben. Wolf hatte ihm verraten, warum. Sie glaubte sich totschämen zu müssen, weil Stephan Normann sie seekrank gesehen hatte. Was für'n Unsinn! Als ob an dem Leutnant was läge!

»Wohin?« fragte Donat mit der harmlosen Neugier, die gedankenarme Leute stets für das Tun und Lassen anderer haben.

Es war wohl etwas knabenhaft, daß es Stephan eine Art von Befriedigung gewährte, laut zu sagen: »Zu Herrn Doktor Schüler.«

Zwanzig Minuten später öffnete er die niedrige grüne Gittertür zum Garten des Doktorhauses.

Er hatte Sophie am Fenster sitzen sehen. Hinter den Blumentöpfen erschien ihr Profil vor dem dunklen Hintergrund des Zimmers. Der feine, edle Kopf war geneigt – wahrscheinlich über die Nähmaschine. Mußte nicht allein ihr rastloser Fleiß beim Grafen Burchard zum Fürsprecher werden – bei dem Manne, der die Arbeit so hoch einschätzte?

Reiche Leute haben selten eine richtige Taxe für das, was eine bescheidene Lebensführung kostet. Sie schlagen eine unwahrscheinlich geringe Summe an. Sie glauben, mit dem Fortfall des Luxus vermindere sich der Verbrauch sogleich zum Minimum; von einem Stück Geld, das sie an einem Tag für ein Fest ausgeben, meinen sie, es reiche in der Hand des Ärmlichen für lange, lange Zeit bequem zum täglichen Groschen. Graf Burchard sah aber urteilsfähig mit klugen Augen auf die Verhältnisse anderer. Das wußte Stephan. Und der Gedanke beruhigte ihn, daß der Graf es werde ermessen können, welche Leistung das von Sophie war, mit der kleinen Rente doch ihr Leben so einzurichten, daß sie und ihr Vater nicht aus ihrem Stand als hochgebildete Menschen herabsanken zu unwürdiger Daseinsführung.

Als er die Haustür öffnete, kam auf das Bimmeln der kleinen altmodischen Glocke hin sogleich Sophie aus der Stube auf den Flur.

»Oh ...« sagte sie bestürzt. Sie hatte ihn nicht kommen sehen.

»Sophie,« sprach er und zog sie gleich an sich, »vier Tage sahen wir uns nicht. Und nicht einmal geschrieben habe ich! Was hast du gedacht?«

»Still!« flüsterte sie, »Vater ist im Zimmer. Er hört dich ...«

»Er soll es. Komm!« Sophie sah sehr blaß ans. Diese vier Tage, die so stumm dahingeschlichen waren, hatten sie sehr gequält.

Nur ein Ende – nur ein Ende! dachte sie oft.

Und sie kam sich so feige vor, so charakterlos, weil sie trotz aller ihrer heiligen Vorsätze, zu entsagen, immer wieder hoffte.

Das beschlich sie gleichsam, ohne daß sie es merkte, sie konnte gar nicht davor auf der Hut sein: mit einem Male war sie wieder da, die süße, törichte Hoffnung, daß doch noch alles gut werden könne ...

»Wenn zwei sich lieben mit Gottesflammen,
Geschieht ein Wunder und führt sie zusammen.«

Das zog oft durch ihre Gedanken.

Aber sie wehrte sich dagegen. Es geschehen keine Wunder. Arme Leute werden nicht plötzlich reich. Abhängige nicht plötzlich unabhängig.

Doktor Schüler saß in einem Lehnstuhl am Tisch, vor dem leeren Sofa. Das Kaffeegeschirr stand vor ihm, alles Dazugehörige eng beisammen auf dem Brett. Sophiens Tasse stand zwischen Zeugflicken auf dem Fenstersims.

»Guten Tag, Herr Leutnant!« sagte Doktor Schüler.

»Bitte, sitzen bleiben!« bat Stephan, ihm die Hand schüttelnd.

»Sophie, noch eine Tasse. Ja so – die Kanne ist schon leer.«

»Soll ich schnell ...« fragte Sophie, die ein heißes Gesicht bekommen hatte von der Erregung des Wiedersehens.

»Bitte, nein ... wenn ich mich zu Ihnen setzen darf ...«

Und er nahm im zweiten Lehnstuhl, an der andern Tischseite Platz. Doktor Schüler fragte nach dem Befinden der Gräfin, erwähnte die fast beschämende Sendung eines allzu üppig gepackten Korbes mit Delikatessen und sprach seine Befriedigung aus, an der Seite des Grafen Burchard eine Gattin zu sehen, die diesem auserlesenen Manne durchaus gleichartig scheine.

Bei dem Gespräch konnte keine Wärme und Ungezwungenheit aufkommen. Da sagte Doktor Schüler, dem es schon recht mühsam war, so viel sprechen zu müssen: »Im vorigen Jahr haben Sie uns häufiger besucht, Herr Leutnant.«

»Die Verhältnisse im Schloß liegen diesmal anders,« antwortete Stephan, »wenn ich auf mein Herz hören dürfte, wäre ich täglich hier. Und ich bin heute gekommen, mir dies Herzensrecht zu erbitten.«

Er stand auf.

»O Gott ...« flüsterte Sophie und faltete die Hände in Angst und Freude.

»Herr Leutnant ... ich weiß nicht, was Ihre Worte ...« Der alte Mann stand ganz ratlos dem jungen gegenüber.

»Lieber Herr Doktor,« sprach Stephan mit fester Stimme, »ich bin mir vollkommen meiner geringen Qualitäten als Freier bewußt: ich bin ein armer Offizier, der seine Zulage von der Großmut eines Verwandten erhält. Ich kann Sie nur bitten: vertrauen Sie ein wenig dem Mann! Er wird in redlichem Kampf versuchen, für Ihr geliebtes Kind eine gesicherte Zukunft zu erobern.«

Sophie sprang auf und fiel ihrem Vater um den Hals. Sie weinte leidenschaftlich.

Und der Mann, der um sie geworben hatte, stand nun blaß und erregt.

Das war kein freudiges Werben. Die bitterliche Sorge nahm dem Augenblick die Weihe und den Stolz. »Wir lieben uns, Vater – es ist wahr. Aber ich habe Stephan gesagt, daß ich verzichten will ... ich habe ihn angefleht, zu schweigen ...«

»Wir lieben uns seit zwei Jahren. In all dieser verflossenen Zeit habe ich nach einer Stellung gesucht, um sowohl Ihnen, wie meiner Familie gleich sagen zu können: Ich liebe Sophie, ich kann ihr auch eine Zukunft bieten. Bis jetzt habe ich keinen Ausweg gefunden. Aber meine Hochachtung vor derjenigen, die mein Weib werden soll, verbietet es mir, mein Verlöbnis mit ihr länger zu verheimlichen,« sprach Stephan fest.

Der alte Mann hatte gehört, wie einer, der erst langsam begreift. Nun seufzte er tief auf und drückte sein weinendes Kind fester an sich.

»Sie haben keine Antwort für mich?« fragte Stephan. Sein Gesicht wurde düster.

»Was soll ich Ihnen sagen,« sprach Doktor Schüler leise, immer auf sein Kind niederschauend und den dunklen Kopf zart streichelnd, »was hülfe es, wenn ich Ihnen sagte: Sie sind mir lieb. Ich schätze Sie. Ich vertraue Ihnen. Alle herzlichen Empfindungen, die mich zu Ihnen ziehen, löschen ja die Tatsache nicht aus, daß eure Sache hoffnungslos ist – – ganz hoffnungslos, meine armen Kinder.«

»Ich wollte mir Ihren väterlichen Segen holen. Dann wollte ich offen mit Onkel Burchard sprechen.«

Der alte Mann, der so oft unter der krankhaften Einbildung litt, infolge seines Unglücks von niemand mehr als ganz vollwertiger Mensch genommen zu werden, sah Stephan groß an.

»Mein Segen,« murmelte er, »mein Segen ... was liegt an einem unnützen alten Mann ... der der Fluch seiner Tochter ist ...!«

»Vater!« schrie Sophie.

»An diesem Segen liegt mir alles. Er wird mir den Mut geben, jeden Kampf aufzunehmen. Achten Sie mich genug, mir Ihr herrliches Kind anzuvertrauen, so scheue ich nicht davor zurück, selbst mit meiner Familie zu brechen,« sprach Stephan.

Der alte Mann ward von Rührung überwältigt. Er streckte Stephan die Rechte hin. Sein Gesicht neigte er tief auf das Haar seiner Tochter.

So standen sie lange in stummer Ergriffenheit.

»Sophie!« flüsterte der junge Mann endlich.

Da ließ sie von ihrem Vater und schmiegte sich an den Geliebten.

Mit schweren Schritten ging der Alte im Zimmer hin und her, von den erwartenden Blicken der beiden Jungen verfolgt. Was würde er sagen?

»Ihr Onkel ist großmütig,« begann er. »Aber wie wenig wahrscheinlich ist es, daß er Ihnen das Geld geben wird zu einer solchen Heirat! Ja, wenn meine Sophie bloß arm wäre! Aber sie ist das Kind eines Mannes, der nur durch einen Gnadenakt vor zwei Jahren Gefängnis bewahrt wurde. Es kann sein, daß weder Ihr Oberst noch die andern Offiziere des Regimentes sich daran stoßen; es kann aber auch ebenso wohl geschehen, daß Sie sich wegen der Heirat versetzen lassen müssen oder gar den Abschied zu nehmen haben. Um eines Weibes willen seinen Beruf zu verlassen ... das trägt keinen Segen in sich. Und wie schwer es ist, in einem bürgerlichen Beruf festen Fuß zu fassen, haben Sie schon erfahren. Sie sagen es selbst, zwei Jahre suchen Sie schon vergebens.«

»Aber durch die Protektion des Grafen Geyer würde es leicht werden,« warf Stephan ein.

»Und wenn er Ihnen nun sagt: Nein, ich will, daß du Offizier bleibst, ich will nicht alle die verflossenen Jahre mein Geld fortgeworfen haben. Was werden Sie antworten können? Graf Geyer ist nicht nur gut. Er ist auch klug und klar. Einer ausgezeichneten militärischen Karriere ist er für Sie sicher. Er weiß, daß ein Berufswechsel leicht etwas von Entgleisung an sich hat. Er wird vielleicht fürchten, daß auf der Grundlage von so viel Opfern ein rechtes Glück nicht erblühen könne. Und dann wird er Ihnen sagen: Lieber jetzt für dich und Sophie den harten Schmerz des Verzichts als das graue Elend eines unerquicklichen Lebenskampfes.«

Sie schwiegen beide. Die Worte des Vaters trafen sie wie Keulenschläge. Die schweren Befürchtungen, die harten Wahrheiten, die sie sich selbst oft genug gesagt, wirkten noch vernichtender, weil nun ein anderer Mund sie aussprach.

Und dennoch, in all der Hoffnungslosigkeit, die nur noch deutlicher geworden war, weil jetzt auch der Vater sie kannte und teilte, hatte Stephan ein starkes, mannhaftes Gefühl. Daß von seiner Liebe der Schleier des Geheimnisses genommen war, befriedigte ihn, war die Quelle dieses mannhaften, starken Gefühles.

Es gab nun einen Mitwisser, den wichtigsten und würdigsten von allen: den Vater der Geliebten.

Stephan und Sophie hatten beide unter der Heimlichkeit gelitten, die ihre Liebe zu entadeln schien; sie konnte ihr, wurde sie unzeitig aufgedeckt, den Verdacht des Abenteuerlichen, Unlauteren anheften.

Lange sprachen sie noch hin und her. Der Vater bat Stephan, morgen, wenn er es könne, wiederzukommen. Den alten Mann hatte diese Frage so plötzlich überfallen. Sie überwältigte ihn fast mit allen den Rückblicken und Ausblicken, zu denen sie ihn nötigte. Man konnte morgen weiter sprechen. Er wollte sich sammeln – nachdenken. –

Stephan hatte fast Furcht. Ihm schien es, als würden Vater und Tochter sich in Klugheit, Stolz und Selbstlosigkeit gegen ihn verbinden. Sophiens aufopfernder Vorsatz, zu entsagen, könnte Rückhalt an ihrem Vater finden ... zumal der Alte auch immer wieder darauf zurückkam, daß ihm der Gedanke furchtbar sei, Graf Geyers Güte mit scheinbarem Undank zu lohnen; denn wenn er es nicht sage, die Gräfin Renate sage es gewiß: Das haben wir nun davon, daß wir gut gegen diese Schülers waren – der Doktor versucht, seine Tochter in unsre Familie zu schmuggeln.

Als Stephan endlich ging, nahm er von Sophie einen Abschied, als stünde ihnen eine lange, harte Trennung bevor.

Auf dem kleinen, mit roten Ziegeln gepflasterten Flur standen sie, aneinandergeklammert, in den Schmerzen und Sorgen ihrer Liebe.

Es war so still ringsum. Ein breiter Sonnenstrahl kam zum Fenster hinten im Flur herein, entzündete auf dem Glasbassin der Petroleumlampe auf dem Tisch einen Reflex, der aus seinem Lichtkern ein Sonnenrad vielfarbiger Strahlen entließ, und legte sich als orangefarbiges Band auf den roten Ziegelboden.

»Alles ist unsicher um uns und vor uns,« sprach er, »nur eins ist gewiß: unsre Liebe! Nicht wahr – die ist ewig ...«

»Ewig ...« flüsterte sie zurück.

Es klang wie ein Schwur.

Und der Nachhall ihres heißen Versprechens lag in seinem Ohr und in seinem Herzen, als er dann heimwärts ging. –

Gerade um dieselbe Zeit kehrte auch Anna von ihrem Besuch bei Frau v. Braunau zurück.

Sie benutzte die erste freie Stunde, die ihr seit der Unterredung mit ihrem Gatten sich bot, seinem geäußerten Wunsch zu entsprechen. Er sollte niemals in die Lage kommen, zweimal einen Wunsch auszusprechen – das hatte Anna sich vorgenommen.

Er sollte das Gefühl haben, sich ganz auf sie verlassen zu können. Sie hatte auch mit Herdeke schon die Übernahme aller Hausfrauengeschäfte verabredet. Sie war sogar entschlossen, sich fortan von etwaigen Vormittagspartien auszuschließen, um sich in ihre Pflichten einzuleben.

Der Gedanke daran befriedigte sie ungemein. Sie wollte den Leuten schon zeigen, daß sie trotz ihrer Jugend alles zu leiten verstehe. Und am lebhaftesten genoß sie es vorweg, daß sie ihrem Gatten imponieren würde.

Schon am gestrigen Vormittag, während der Segelpartie Ursulas, und heute vormittag hatte sie viele Stunden mit Herdeke zusammen teils vor den Büchern, teils in den Vorratsräumen verbracht.

Und Herdeke sagte nachher zu ihrem Bruder: »Sie ist von einem außerordentlich raschen, sicheren Begriffsvermögen. Die geborene Herrschernatur.«

Er hörte es mit glücklichem Lächeln an.

Später sagte er ein lobendes Wort über Annas Eifer, und sie errötete vor Freude.

Der Besuch bei der Braunau war ihr recht lästig.

Wie vorauszusehen gewesen, wirkte ihr Erscheinen vorerst schreckhaft. Ein Dienstmädchen nötigte sie in ein Zimmer und bat zu warten. Draußen gingen Türen, huschten Schritte, wurden Flüsterzurufe vernehmlich. Offenbar zog Frau v. Braunau sich erst um, ehe sie vor das Auge der Gräfin Geyer trat.

Anna sah sich unterdes im Zimmer die mannigfachen Spuren von Unsauberkeit und Unordnung an.

Endlich erschien denn Cäcilie Braunau, mit ihrem wirren Haar und ihren blassen, verschleierten Augen, nervöser und abgehetzter als je.

Halb erfreut, halb zerstreut begrüßte sie Anna.

»Frau Gräfin müssen verzeihen – es ist hier schlecht aufgeräumt – es fehlt mir eben an Dienerschaft – das eine Mädchen und ich, wir können nicht alles. Mehr Bedienung kann ich mir ja nicht leisten – in der Lage sind wir nicht.«

»Man muß zufrieden sein. Viele können sich gar kein Mädchen halten,« sagte Anna, aus Verlegenheit – was hätte sie antworten können? Das reizte aber die Frau.

»Damen wie Frau Gräfin haben es ja leicht. Vielleicht fände auch ich mich leichter in alles, wenn ich es in meiner Jugend nicht so anders gewöhnt gewesen wäre – ich bin doch eine v. Schulmann aus dem Hause Grubin,« schloß sie, zur Beweisführung beide Hände gestikulierend vor Annas Gesicht schüttelnd.

Anna fuhr zurück – etwas mehr als nötig – um der andern zu verstehen zu geben, daß man nicht so lebhafte Gesten mache.

Aber die Frau hatte keine Ahnung von der hysterischen Übertriebenheit ihrer Art und Weise. Sie hielt sich vielmehr für vollkommen erzogen.

»Liebe Frau v. Braunau,« sprach Anna, »Sie haben doch einen braven, tüchtigen Mann. Sie haben Ihr Brot. Was sollte denn zum Beispiel Fräulein Schüler sagen! Die plagt sich ohne jede Bedienung ab und hat eine so traurige Jugend.«

»Oh, Sophie Schüler wird schon dafür sorgen, daß sie wieder obenauf kommt!« sagte die Frau. Der Neid auf Sophie Schüler kochte förmlich in ihr empor und saß ihr so gallenbitter auf den Lippen, daß sich ihr Gesicht verzerrte. Aus den blassen Augen kam ein stechendes Licht.

Wie megärenhaft! dachte Anna. Noch nie hatte sie so deutlich den Ausdruck des Neides auf einem Gesicht gesehen, wie auf dem dieser Cäcilie Braunau.

»Wie sollte das arme Fräulein Schüler das ...«

»Oh, die hat Talent dazu!«

»Nun, ich möchte es ihr gönnen,« sagte Anna, nur aus Widerspruch gegen die Frau viel wärmer, als ihre eigentlichen Gedanken für Sophie Schüler waren.

Aber damit ließ sie den Neid überschäumen. Daß Sophie Schüler häufiger aufs Schloß geladen ward als sie, dort gern gesehen wurde, vergiftete ja der Braunau jeden Aufenthalt der Herrschaften hier.

»Auch das, daß sie zu ihrem Versuch, ein gutes Glück zu machen, sich ein Mitglied Ihrer Familie aussucht?«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Anna schroffen Tones. Sie fand gar keinen Sinn und Verstand in der Bemerkung. »Ein Mitglied meiner Familie –« es huschte ihr so durch den Kopf ...: Donat? Den kennt sie ja kaum. –

Aber schon sprach die Braunau triumphierend: »Ob Ihr Herr Gemahl wohl sehr entzückt davon wäre, wenn er wüßte, daß Leutnant Normann ein heimliches Liebesverhältnis mit Sophie Schüler hat? Mit diesen meinen eigenen Augen,« hier erhob sie ihre beiden Hände zur Augenhöhe und schüttelte sie ein wenig in einiger Entfernung vor ihrem Gesicht, »mit diesen meinen eigenen Augen habe ich sie im Wald, gesehen, wie sie auf einer Bank saßen und sich küßten. Oh – ja – und so eine versteht es, sich bei den gräflichen Damen lieb' Kind zu machen.«

Anna saß steif und aufrecht. Sie war leichenblaß geworden. In ihre Augen trat der kalte harte Glanz ...

»Wirklich ...« sagte sie im Ton des Zweifels. Und das entlockte aus dem Mund der andern einen Wortschwall.

Sie erzählte, wie sie schon vorigen Frühling Verdacht geschöpft, als sie ein paarmal gesehen hatte, daß der Leutnant Normann immer bald den Weg zum Wald einschlug, wenn kurz vorher Fräulein Schüler auch dahin gegangen war. Sie hatte auch manchmal versucht, die beiden zu beschleichen, aber sie sah sie damals immer nebeneinander gehen. Das war kein Beweis. Liebesblicke kann man nicht zu Protokoll nehmen. Aber neulich, den Tag, wie das Unwetter war, da begünstigte endlich das Glück ihre Beobachtungen.

»Ich hoffe, Herr Graf wird es mir nicht als Indiskretion auslegen, daß ich Ihnen dies berichte. Es scheint mir im Gegenteil, daß ich nur meine Pflicht erfülle. Meine Ergebenheit für die gräfliche Familie ... man kann es doch nicht mit ansehen, wenn eine solche Person versucht, sich an einen jungen Mann zu hängen, dem gewiß eine große Zukunft bevorsteht. Und Leutnant Normann verdankt doch alles der Güte des Grafen.«

Bei dem Wort »alles« streckte sie ihre Hand weit über den Tisch vor.

Anna stand auf, in kühler, hochmütiger Haltung.

»Sie nehmen das viel zu wichtig. Ein Leutnant! Und auf dem Lande! Er wird wohl denken: warum soll ich die hübschen Mädchen nicht küssen, wenn sie sich küssen lassen wollen?«

Frau v. Braunau war sehr unzufrieden, daß ihre Mitteilungen keiner ernsteren Auffassung begegneten. Daß gerade diese die vernichtendste für Sophie Schüler war, kam ihr nicht zum Bewußtsein. Sie hatte erwartet, Anna würde über Undank, Verrat und Schlechtigkeit lamentieren und sie – Cäcilie Braunau – ihres ewigen Dankes für die empfangenen Aufklärungen versichern.

Rasenden Zorn im Herzen ging Anna von dannen.

Deshalb also, weil seine Gedanken bei diesem armseligen kleinen Mädchen waren, deshalb ging er damals blind an ihr vorüber!

Wer war denn jene? Und wer war sie selbst?

Diese kleine Person, die schuldbewußt erröten müßte – oh, Anna erinnerte sich genau, wie ihr bei der allerersten Begegnung dies Erröten aufgefallen war – diese kleine Person mit dem schlechten Gewissen war siegreicher gewesen als Anna!

So also mußte man sein, aussehen und daherkommen, wenn man der Beachtung des Herrn Normann wert sein wollte! Verschüchtert, gesellschaftlich unsicher war diese Sophie, ihre Hände verarbeitet ... es kam Anna vor, als röche sie wieder den Petroleumdunst, der an jenem Morgen Sophie umschwebt hatte.

Wie kleinbürgerlich alles! Und dann dieser Vater mit der gescheiterten Existenz!

Und diese Augen mit dem Ausdruck des stillen Duldertums – wie die logen! Das war alles Koketterie. Anna erinnerte sich, wie hochmütig diese selben Augen sie angeblitzt hatten, als sie leutselig ein paar teilnehmende Worte gesagt.

Diese ganze scheue Mädchenhaftigkeit Maske! Unerhört! Heimlich ließ sie sich im Walde von einem Manne küssen. Noch dazu von einem, der sie ja gar nicht heiraten konnte!

Daß er es wollen würde, bezweifelte Anna keinen Augenblick. Nur ein ernstes Gefühl macht einen Mann so blind gegen andre Frauen. Eine Liebelei würde ihm die innere Freiheit gelassen haben, Anna und Ursula zu bemerken; würde ihn nicht so gleichgültig gegenüber Ursulas Geld lassen. Auch hatte Anna ihn nun schon genug beobachtet, um seinen Charakter beurteilen zu können. Stephan Normann war eines leichtsinnigen Spiels nicht fähig!

Und gerade deshalb empörte sich ihr Selbstgefühl bis aufs äußerste. Oh, wie schämte sie sich, daß sie einmal diesem Mann warm zugelächelt hatte! Gewiß hatte er es nicht bemerkt und ahnte nichts davon. Aber es demütigte sie noch jetzt vor sich selbst, daß sie einst diesen jungen Menschen ihrer heimlichen Gedanken für wert gehalten hatte. Sie – die dann von einem Burchard Geyer umworben ward! Sie – die nun des auserlesensten Mannes Gattin war!

In ihr war keine Liebe. Deshalb fehlte ihr auch alle einfache Weisheit der Liebe.

Sie wußte nicht, daß Liebeswahl sich nicht von äußeren Dingen bestimmen läßt und daß ein Bettler imstande sein kann, eine Prinzessin zu verschmähen um eines armen Kindes willen.

Ihr Stolz auf ihren Gatten stieg in diesen Augenblicken ins Ungemessene. Aber es war keine reine Empfindung. Es mischte sich Hohn hinein gegen den andern, der sie keiner Beachtung gewürdigt. Ein Rachegefühl mischte sich hinein.

Und in der seltsamen Logik solcher Zorngedanken kam es ihr vor, als habe Stephan Normann auch ihren Gatten in ihr beleidigt. Ja, sie machte plötzlich gemeinsame Sache auch mit Ursula.

Er wagte, die Hingebung dieses guten, tüchtigen, reichen Mädchens aus edlem Hause zu übersehen – und küßte sich mit Sophie Schüler im Walde! Er, der hätte Gott danken sollen, wenn er eine solche Heirat fand, wie die mit Ursula gewesen wäre! Die Eifersucht ihrer Eigenliebe Ursula gegenüber schwieg ganz. Sie hatte plötzlich nichts, gar nichts mehr gegen eine Vereinigung Ursulas mit dem Manne. Sie war ja nicht um Ursulas willen zurückgesetzt worden!

Jede sollte er heiraten – jede. Nur gerade nicht die eine, um derentwillen er eine Anna v. Linstow einst übersehen hatte!

Er würde natürlich versuchen, seinen Willen durchzusetzen; denn er war wohl der echte Sohn seiner Mutter.

Zum zweitenmal sollte die Familie Geyer aber das Schauspiel einer skandalösen Heirat bei einem der Ihren nicht erleben. Anna war nun auch eine Geyer. Sie wollte das schon verhindern. Und hoch erhobenen Hauptes, ihres Sieges ganz sicher, ging sie durch die Anlagen vor dem Schloß und betrat die Halle.

Da stand noch gerade Leutnant Normann, der eben von Schülers zurückgekommen war.

»Lieber Stephan,« sagte Anna mit einem Lächeln, »gut, daß ich Sie treffe. Ich wünsche, daß Sie sich heute nachmittag und abend Fräulein v. Pallau ganz besonders widmen. Meine liebe Ursche glaubt sich genieren zu müssen, weil Sie sie seekrank sahen. Machen Sie ihr mit allem Nachdruck, dessen ein preußischer Leutnant fähig ist, den Hof!«

Und ohne seine Antwort auf ihren Befehl abzuwarten, ging sie weiter.

Stephan stand bestürzt. Er biß sich auf die Lippen.

Was war das? Und welch seltsames Lächeln? So überlegen! Ja – fast feindselig!

Er hatte wohl herausgefühlt gehabt, daß Anna an dem Plan der andern Damen, ihn mit Ursula zusammen zu bringen, nicht beteiligt war. Immer wußte Anna es zu verhindern, daß er bei Tisch, im Wagen oder auf Spaziergängen Ursulas Partner wurde. Er war dafür herzlich dankbar gewesen; denn er glaubte darin eine kluge und liebevolle Absicht zu erkennen. Gewiß wollte Anna die Freundin vor Enttäuschungen bewahren, wollte verhüten, daß törichte Hoffnungen in ihr wuchsen.

Und nun auf einmal dieser Befehl, lächelnd und voll eisiger Kälte – und so entschieden – als habe er nur blind zu gehorchen – –

Nein! schrie alles in ihm, nein!

Äußerlich mußte er sich fügen – heute vielleicht noch –

Aber er war ein Mann. Er wollte für seine Freiheit und seine Liebe jeden Kampf aufnehmen.

Daß seiner Sache aber eine Feindin entstanden war, sicher die gefährlichste von allen, das sagte ihm ein deutliches Gefühl. –

Oben in ihrem Zimmer, während sie sich zum Nachmittagstee ein Hausgewand überwarf, sagte Anna zu Ursche, die sie sich hatte herbeiholen lassen: »Ich hab's gemerkt, Ursche, du warst wütend auf mich. Aber siehst du – ich mußte mir den Mann doch erst mal genau angucken, ehe ich mir klar war: ist er auch gut genug für meine Ursche. Na und nun – – –«

»Und nun?« fragte Ursche atemlos.

»Meinen Segen hast du – und was ich dazu kann, daß es was wird, soll fortan geschehen.«

Ursula fiel der Freundin aufjubelnd um den Hals.

Beredter noch als die Liebe ist der Zorn. Und Anna hatte für ihre Beredsamkeit die mächtigsten Hilfstruppen, nämlich die Tatsachen selbst, die gerade den Unwillen eines Mannes, wie Graf Burchard, im höchsten Maße erwecken mußten.

Als das Ehepaar sich am Abend zurückzog, saß es noch, wie stets, plaudernd ein wenig beisammen in Annas kleinem Wohnzimmer. Graf Burchard liebte es, noch eine Zigarette zu rauchen und seiner Frau einige Mitteilungen zu machen von dem, was die Post ihm heute zugetragen, oder was sich in der Wirtschaft etwa begeben hatte.

An diesem Abend nun brachte er gleich etwas zur Sprache, was ihm sehr aufgefallen war.

»Liebste Anna – ich bemerkte mit Erstaunen, daß du den ganzen Nachmittag und Abend fortwährend unsern Stephan mit Ursula zusammenzubringen verstandest.«

Sie wurde rot.

»Dazu habe ich meine Gründe. Er soll sie heiraten. Es wäre sein Glück. Stell' es ihm bitte vor!«

»Ich denke nicht daran, mich in derlei zu mischen,« sprach er ernst. »Herzlich würde ich mich ja freuen, wenn die beiden sich fänden. Aber nicht auf Befehl soll er sie suchen. Und du, Anna – auf einmal hast du deine Haltung und Meinung in der Sache ganz geändert?«

»Ja,« sagte sie, und ihre Augen blitzten, »er soll Ursche heiraten!«

»Und neulich sollte er nicht? Und neulich tatest du Ursche weh, indem du ihr mit harter Absicht den Mann fernhieltest? Und nun willst du ihr mit einem Male die Hoffnung aufbauen? Mein liebes Kind – wer gibt dir das Recht, so nach deiner Willkür mit Menschen umzuspringen? Machst du dir die ungeheure Verantwortung nicht klar, die du auf dich lädst? Wie denn, wenn Ursula, die mit der Hoffnungslosigkeit vielleicht rasch fertig geworden wäre, nun in Elend und Leid kommt, nachdem du ihr die Einbildung erregt hast, der Mann werde sie doch wählen?«

Er sah sie sehr ernst an.

»Ich bin zur Erkenntnis gekommen,« erwiderte Anna, »daß Stephan am besten durch eine standesgemäße Heirat vor Torheiten gerettet wird, deren Ausgang unabsehbar ist.«

»Was für Torheiten?«

Und nun sprach sie. Alles, was Frau v. Braunau ihr berichtet hatte, erzählte sie wieder. Und da ihre Phantasie sich seitdem unausgesetzt mit dieser Sache beschäftigt gehabt hatte, so färbte sie unwillkürlich alles noch stärker. Aus Sophie Schüler wurde eine berechnende Person, die mit großer Kunst es verstanden hatte, den jungen Offizier, den sie vielleicht für eine gute Partie hielt, an sich zu ziehen. Aus Stephan Normann wurde ein Düpierter, der sich in der Langweile des Landlebens hatte einfangen lassen.

Mit der Wirkung ihrer langausgesponnenen Mitteilung konnte Anna zufrieden sein, wenigstens zunächst. Und Graf Burchard sah noch ganz andre Seiten an der Sache. Die waren ihr entgangen. Oder vielmehr, sie wäre nie darauf gekommen. Was ging sie der Doktor Schüler an, nachdem sie ihn kennen gelernt und gar nicht unheimlich interessant gefunden hatte?

Graf Burchard aber verweilte gerade dabei am erregtesten.

Mit der Tochter eines so schwer geprüften Mannes eine Liebelei anzufangen! War denn dieser würdige, arme alte Herr noch nicht beraubt genug? Unbegreiflicher Leichtsinn wagte, ihm auch noch sein heiligstes Gut anzutasten!

Einer solchen Tat hatte Graf Burchard seinen Neffen doch nicht für fähig gehalten.

Daß es sich um eine frivole Spielerei handelte, schien dem Grafen Burchard allein schon durch die Heimlichkeit bewiesen.

Ehrliche Gefühle verstecken sich nicht!

Wenn diese Liebe schon voriges Jahr, vielleicht schon gar vor zwei Jahren bestanden hatte, weshalb sprach Stephan dann nicht offen? Gewiß, Graf Burchard hätte antworten müssen, daß das eine verlorene Sache sei; hätte Stephan vorstellen müssen, daß er als Offizier gar nicht daran denken könne, Sophie Schüler zu heiraten, abgesehen noch von ihrer beiderseitigen Mittellosigkeit. Aber es wäre redlich gewesen, zu sprechen, es hätte die reine Absicht bewiesen. Und man konnte es dann so einrichten, daß die beiden sich nicht wiedersähen.

Ein armes Mädchen zu betören! Es war schändlich! Für sie, die sich hatte betören lassen, gab es ja Entschuldigungsgründe genug. Ihr Leben war so freudlos. Vielleicht liebte sie Stephan auch wirklich. Vielleicht erkannte sie gar nicht die Kluft, die den Offizier, der in einem der angesehensten Regimenter stand, von der Tochter des Mannes trennte, den nur ein Gnadenakt vor dem Gefängnis bewahrt hatte. Sie hoffte vielleicht und glaubte an seine Ehrlichkeit!

Triumphierend saß Anna und hörte den Reden ihres Gatten zu. Und wenn sie eine milde Wendung zu nehmen schienen, warf sie ein Wort dazwischen, um seinen Zorn wach und auf der Höhe zu halten.

Graf Burchard schloß endlich damit, daß er den Vorsatz aussprach, morgen früh Stephan zur Rede zu stellen.

Anna war sich nicht ganz einig, ob das schädlich oder nützlich sein würde. Deshalb bat sie: »Schweige zu ihm davon. Drücke ihm einfach deinen bestimmten Wunsch aus, daß er Ursula v. Pallau heiraten solle.«

Graf Burchards Stirn umwölkte sich noch mehr. »Ich sagte dir schon, daß ich in dieser Beziehung nicht eingreifen will.«

»Du greifst doch auch in sein Leben, wenn du ihm das Verhältnis zu Sophie Schüler verbietest.«

Obschon Graf Burchard so etwas wie Ungeduld und Ärger in sich aufsteigen fühlte, nahm er Annas Hand.

»Liebes Kind,« fragte er mit Ernst und doch voll Zärtlichkeit, »siehst du denn da keinen Unterschied? Einen jungen Menschen von einer Torheit, vielleicht gar von einer Ehrlosigkeit zurückhatten, ist Pflicht. Ihn zu einer Ehe zwingen zu wollen, wäre Verbrechen, auch gegen Ursula, trotzdem sie in ihn verliebt ist. Wie könnte sie glücklich werden im erzwungenen Bündnis!«

Anna schwieg. Nein, sie sah keinen Unterschied. Sie sah nur, daß ihr Gatte die Macht, die er hatte, nicht ausnutzen wollte.

Graf Burchard ließ sich aber selten mit einem Schweigen abspeisen. Es war ihm nie darum zu tun, sich als Belehrer zu fühlen; er wollte überzeugen.

»Du schweigst. Siehst du nicht den Unterschied, fragte ich dich?«

Ihr kam sein Ton strenge vor.

»Ich sehe nur, daß du unglaublich milde bist. Besonders auch gegen diese Sophie Schüler,« rief sie so erbittert, daß er stutzig ward.

»Und du zeigst eine an Haß grenzende Strenge gegen das arme Mädchen. Wir müssen, ehe wir das Gegenteil wissen, mehr annehmen, daß sie verblendet und beklagenswert als daß sie schuldig ist.«

»Zu viel Nachsicht mit einer, die sich heimlich im Walde mit deinem Neffen trifft!«

»Anna!« rief er, nun wirklich streng.

Sie zuckte zusammen. In einem aus Zorn und Scham unentwirrbar gemischten Gefühl versteckte sie ihr Gesicht an der Sofalehne.

Graf Burchard neigte sich zu ihr, und indem er ihr Haar streichelte, sprach er: »Ich sagte dir schon einmal: das Leben bietet uns Schlachten an. Dem entgeht auch der Reinste nicht. Es kommt darauf an, wie wir den Kampf ausfechten. Können wir schon beurteilen, wie Sophie Schüler in diesen Kampf geriet? wie sie sich darin behauptet? Können wir von uns wissen, ob wir immer fleckenlos und fehlerlos uns durchs Leben schlagen werden? Hüte dich, Anna, jemals zu scharfes Gericht über andre zu halten. Das legt dir die Verpflichtung auf, auch gegen dich selbst unnachsichtig zu sein. Ach, und wie viel Geduld müssen wir oft mit uns selbst haben, bis wir möglichst reife Menschen werden!«

Er wartete noch einige Minuten. Anna aber blieb in ihrer Stellung – einer Weinenden gleich hielt sie ihr Gesicht an die Kissen der Sofalehne gedrückt. Sie weinte aber nicht, und das merkte Graf Burchard wohl.

Endlich stand er auf, traurig und unmutig.

Und seufzend ging er. Es war das erstemal, daß sie in ihrer Ehe das Gespenst einer schweren Verstimmung zwischen sich fühlten.

Am andern Morgen sah Graf Burchard es wohl: Anna konnte nicht viel geschlafen haben. Ihre Farben waren matt, um ihre Augen lagen Schatten. Ihr Wesen hatte etwas Ablehnendes. Aber er konnte nicht verstehen, ob es Trotz war oder die Verlegenheit der Beschämten.

Werde ich diese Frau je kennen lernen? dachte er seufzend.

Seine Schwestern, Herdeke mit dem Blick der Liebe, Renate mit dem immer wachen Blick des Argwohns, bemerkten sofort, daß zwischen dem Ehepaar nicht das freundliche Einvernehmen herrschte, wie sonst.

Natürlich, dachte Renate, nun fängt es an.

Aber sie verbargen ihre Beobachtung auch voreinander.

Über den Frühstückstisch hin sagte Graf Burchard: »Stephan, ich möchte dich gleich nachher sprechen.«

»Stehe zu Diensten,« erwiderte Stephan.

Er saß neben Ursula, die Donat an ihrer andern Seite hatte. Sie bereitete für beide Herren die Frühstücksbrötchen. Für Stephan mit besonderer Fürsorge, aber darüber ihren alten Freund Donat zu vernachlässigen, war ihr doch nicht möglich.

Anna wurde rot, stellte die Gräfin Renate bei sich fest, was hat sie rot zu werden, wenn Burchard sich den Jungen bestellt? Was will übrigens Burchard von Stephan?

Nach dem Frühstück ging Graf Burchard in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Er war sorgenvoll und traurig. Fast trat die Angelegenheit Stephans zurück vor den Gedanken, die immer und immer wieder zu seiner Frau zurückkehrten.

Er fand ihre Gehässigkeit gegen Sophie Schüler und ihre Feindseligkeit gegen Stephan so unerklärlich. Wäre es von der jungen Frau nicht natürlicher gewesen, wenn sie in unpraktischem Gefühlsüberschwang sich auf die Seite der Liebenden gestellt hätte? Will nicht ein junges Weib, das selbst glücklich ist, auch andre glücklich sehen?

Und die Art, wie sie über ihre Jugendgefährtin verfügte, sie hin und her schob wie eine Schachfigur, diese Art verletzte ihn tief. Eine Gefühlskälte schien aus alledem hervorzublicken, die ihn erschreckte.

Sie ist noch eine Werdende, dachte er inbrünstig, wenn ich nur ihre Fehler erst klar übersehe, wenn ich nur erst auf den Grund ihrer Seele blicke – dann will ich sie schon bilden helfen. Ein so begabtes, auserlesenes Menschenkind hat Feinde in sich – mehr als der Durchschnittsmensch...

Er sah draußen helle Gestalten. Sein Zimmer ging nach hinten hinaus. Da lag ein mächtiger Rasen, der, von einigen Anlagen umgeben, den Wald von der Nähe des Schlosses etwas fern hielt. Auf dem Rasen war ein großes Netz senkrecht aufgespannt; es schien, daß Donat und Ursche, sowie Wolf und Frau v. Reinbeck sich eben zu einer Tennispartie rüsteten.

Anna stand dabei; sie hatte einen Schlüsselkorb am Arm und ein Büchlein in der Hand. Dies zeigte an, daß sie ihren Rundgang durch die Wirtschaft antreten wollte und nur einige Augenblicke den Spielern schenkte. Wolf sprach gerade mit ihr. Welche Ergebenheit aus dem Gesicht dieses großen, blonden jungen Menschen strahlte! Es war gewiß, sie hatte ihre Jugendgefährten unbedingt beherrscht. Das mochte viel erklären...

Hinter ihm ward das Geräusch von Schritten hörbar. Er wendete sich vom Fenster ab, der Stube zu. Stephan war gekommen.

»Ich muß in einer ernsten Angelegenheit mit dir sprechen,« begann Graf Burchard und setzte sich vor seinen Diplomatentisch in den etwas zurückgeschobenen Stuhl. Dabei deutete er auf den andern Stuhl, der neben dem Schreibtisch stand und schon allein durch seine Stellung etwas vom Armsünderbänkchen an sich hatte.

»Auch ich habe dir etwas zu sagen, lieber Onkel. Aber selbstredend nach dir.«

Es war Stephan nicht sonderlich gut und frei ums Herz. Er wußte ja, daß die nächste halbe Stunde ihm viel Hoffnungen, die allerletzten, rauben konnte. Auf das, was sein Onkel ihm sagen wollte, war er nicht neugierig. Was konnte es groß sein? Die »ernsten Angelegenheiten« andrer Leute waren für Stephan zur Zeit von wenig Interesse.

Graf Burchard hatte eine Angewohnheit besonderer Art. Wenn er von seinem Schreibtischstuhl aus einen Vortrag hielt, sah er den, an welchen er sich richtete, nur immer mit kurzen, scharfen Blicken an. Meist hielt er die Lider gesenkt und schien das lange Papiermesser von Onyx zu betrachten, das er in der Linken hielt und an dem er mit dem Daumen der Rechten unablässig hinstrich, als wollte er die Schärfe der Schneide prüfen. Nun hob er an: »Niemals habe ich geglaubt, ein Gespräch dieser Art mit dir führen zu müssen. Mein Vertrauen in die Ehrenhaftigkeit deines Charakters war grenzenlos. Und nun...«

»Onkel!« rief Stephan erschrocken.

»Und nun höre ich Dinge ... du hast mein Haus beleidigt. Das tatest du, indem du ein Mädchen betörtest, das ihr armer alter Vater vertrauensvoll uns besuchen ließ. Er konnte nicht annehmen, daß sich unter den Gästen des Grafen Geyer jemand fände, der vergäße, daß er vor der Unschuld und dem Unglück Hochachtung zu zeigen hat.«

Stephan wurde leichenblaß. Er begriff auf der Stelle, in welche schiefe und verhängnisvolle Lage er gekommen war.

Wie anders wäre es gewesen, wenn er selbst das erste Wort gehabt hätte in seiner Sache. Anstatt sie zu verteidigen, für sie zu sprechen, mußte er nun erst sich verteidigen. Das war eine üble Vorbedingung.

Wer hatte Graf Burchard das gesagt?... sagen können?

Er hatte doch Sophie Schüler in der Zeit des diesmaligen Aufenthaltes nur ein einziges Mal heimlich gesehen, und an jenem Nachmittag waren alle Schloßbewohner und die Gäste ausnahmslos im Hause gewesen. Er erinnerte sich dessen genau. Aber plötzlich fiel ihm die Braunau ein, die sich damals im Walde gezeigt hatte ... Ja, von daher allein konnte es kommen: die gehässige und klatschhafte Frau hatte sie belauert.

Das huschte gedankenschnell durch sein Hirn.

Der scharfe Blick des Grafen Burchard blitzte über das fahle, bestürzte Gesicht des jungen Mannes.

»Du wirst nicht leugnen wollen, daß du mit Sophie Schüler ein Liebesverhältnis hast,« schloß er.

Da richtete Stephan sich auf, und indem er den Grafen fest und klar ansah, sprach er: »Ich bin mit ihr verlobt, lieber Onkel.«

»Verlobt, verlobt!« sagte der ungeduldig, »selbst wenn nicht der Augenblick dir das beschönigende Wort eingegeben haben sollte: man verlobt sich als mittelloser junger Offizier nicht mit einem armen Mädchen ohne gesellschaftliche Stellung.«

»Ich kann den bunten Rock ausziehen,« entgegnete der junge Mann.

»Du trägst ihn nicht gern?« fragte Graf Burchard stirnrunzelnd. »Männer, die den Beruf wechseln, sind mir in tiefster Seele zuwider. Jeder Beruf hat seine Schattenseiten. Man lernt sich in tapferer Selbstüberwindung mit diesen abfinden.«

»Das ist ja nicht eigentlich die Frage, die hier zur Diskussion steht,« sagte Stephan, über den nach und nach eine große Ruhe kam; »ich bin sehr gern Offizier. Aber als man es mich werden ließ, kannte ich das Leben noch recht wenig. Ich würde dich sonst gebeten haben: laß mich einen Beruf ergreifen, der mir eines Tages Selbständigkeit gibt. Damals freilich war ich entzückt von der Idee, Leutnant zu werden.«

»Ich habe als selbstverständlich angenommen, daß du, als begabter Mensch, mit vorzüglichen Familienverbindungen, eine glänzende Karriere machen werdest. Und die standesgemäße, wohlhabende Partie liegt für einen aussichtsreichen jungen Offizier immer sozusagen so sehr bereit, bietet sich ihm allerorten so wie von selbst dar, daß in den meisten Fällen Liebe und Klugheit kampflos zusammen die Wahl treffen können. Daß du eine Liebelei mit einem jungen Mädchen anfangen könntest, das außerhalb deiner Kreise steht, habe ich nicht erwartet.«

»Es ist keine Liebelei. Ich liebe Sophie mit heiligem Ernst und hoffe, sie zu erringen,« sprach Stephan.

»Diese Hoffnung ist eine weltfremde Phantasterei. An den Ernst glaube ich nicht. Die Heimlichkeit spricht dagegen. Ein Mann achtet im Mädchen sein künftiges Weib. Heimliche Rendezvous sind kein Achtungsbeweis ... von dir nicht für sie, von ihr nicht für sich selbst.«

»Was du sagst, ist sehr hart,« antwortete Stephan. »Aber wir haben durch die Leiden der Heimlichkeit, die nun gottlob beendet sind, nichts von der Achtung voreinander eingebüßt.«

»Es wäre anständiger gewesen, wenn du dich mir gleich anvertraut hättest.«

»Ich weiß es nicht, lieber Onkel. Vielleicht auch weniger männlich. Ich habe geglaubt, es sei kraftvoller, ohne Hilfe, allein und mutig den Kampf aufzunehmen. Seit zwei Jahren bin ich unablässig bemüht gewesen, mir eine bürgerliche auskömmliche Stellung zu erringen. Ich kann dir als Beweis meiner Bemühungen ganze Stöße von Briefen geben. Mir schien es immer, als wäre es meine Pflicht, von Sophie, deren Leben so wie so eine Kette von Demütigungen ist, die neue und schwerste Demütigung, den Widerspruch meiner Familie gegen unsern Bund, fernzuhalten. Das konnte ich aber nur, wenn ich vor dich hintrat mit einer guten Stellung in der Tasche, die mich von dir unabhängig machte. Es hat nicht sein sollen. Ich habe nichts gefunden.«

Graf Burchard hatte sein Papiermesser hingelegt. Er sah nun ruhig und forschend auf den jungen Mann. Er fühlte die Ehrlichkeit. Er glaubte an sie. Sein Groll begann sich zu erweichen. Ein leises Mitleid wurde wach. »Was du so sagst – es könnte scheinen. Noch männlicher wäre es gewesen, von Anfang an diese Neigung niederzukämpfen. Denn an eine Heirat ist nicht zu denken.«

»Das sagt auch Sophiens Vater.«

»Er weiß?« rief Graf Burchard überrascht und im tiefsten Grunde auch erfreut.

Der arme alte Mann hatte also sein Vaterrecht empfangen!

»Ich habe ihm gestern alles gesagt. Leider erst gestern. Auch dir würde ich mich schon am ersten Tage meiner Ankunft am liebsten eröffnet haben. Denn ich kam mit dem festen Vorsatz, daß die Heimlichkeit nicht länger andauern solle. Aber ich fand zu meinem Schrecken die Tanten offenkundig mit einem andern Heiratsplan für mich beschäftigt. Dies und Sophiens eigener Widerstand hielten mich noch zurück. Ich fürchte, Sophie will mir lieber entsagen, als mich in Konflikte bringen.«

»Braves Mädchen,« sagte Burchard; »sie hat gefehlt, daß sie sich in ein solches abenteuerliches Verlöbnis einließ,« er hob beschwichtigend die Hand, denn er sah, daß Stephan auffahren wollte, »aber sie macht es gut durch die einzige vernünftige Handlungsweise, die es gibt. Begreif doch die nüchterne Wahrheit: du kannst sie nicht heiraten, denn das Offizierkorps des Regiments würde sich vielleicht der Heirat widersetzen. In solchen Dingen ist ein ›vielleicht‹ schon genug. Und ich wäre ein Tor, wenn ich dir die Mittel gäbe zu einer Heirat, die dich aus deiner Karriere reißt, ohne dir eine andre zu eröffnen. Denn du hast nichts andres gelernt als dein Soldatenhandwerk. Obenein fühle ich jetzt, als verheirateter Mann, gar nicht das Recht in mir, einem Verwandten so entfernten Grades größere Vermögensteile zuzuwenden. Die Zulage bleibt dir bis zum Hauptmann erster Klasse gesichert. Das versteht sich.«

Der junge Mann überwand sich. Er bat. Es wurde ihm bitterlich schwer, jetzt noch zu bitten. »Wenn du mir durch deinen Einfluß und deine Verbindungen eine Stellung schafftest! Dir muß glücken, was mir mißlang. Ich flehe dich an ...«

»Unmöglich. Du bist jetzt neunundzwanzig Jahr. Willst du die Arbeit von zehn Lebensjahren fortwerfen? Auf neuer Basis von vorn anfangen? Und wie dann, wenn sich herausstellt, du hast kein Geschick für etwas andres? Soll ich die Hand dazu reichen, dein Leben zu verpfuschen? Und kannst du an die Möglichkeit von Glück glauben, wenn dein Weib sich täglich sagen muß: meinetwegen ist er in eine schiefe Lebenslage gekommen! Kannst du? Ich kann es nicht. Und gegen meine Einsicht helfe ich niemand. Selbst dir nicht.«

»Ist es dein letztes Wort, Onkel?« fragte Stephan mit blassen Lippen.

»Nein. Ich habe noch eins hinzuzufügen: Reise sofort ab!«

»Oh ...«

»Es tut dir weh, mein armer Junge,« sprach Graf Burchard voll Herzlichkeit, »aber es ist am besten so. Sieh' mal, die Weiber hier wollen dich durchaus verheiraten. Du hast's ja gespürt. Wir wollen selbst unter vier Augen den Namen des lieben Kindes nicht nennen, das sie dir aussuchten. Dies liebe Kind soll sich nicht erst Hoffnungen machen. Ich begreife ja nun, daß es dir unmöglich ist, einen Blick, ein Herz für die Vorzüge jenes Mädchens zu haben. Aber da ist es Ehrenpflicht, ihr aus dem Weg zu gehen. Nicht wahr, das versteht sich?«

»Gewiß, Onkel. Aber ich kann nicht abreisen. Ich kann es Sophiens wegen nicht!« rief er verzweifelt.

»Und gerade auch ihretwegen mußt du es. Eine Vereinigung zwischen euch ist unmöglich. Sie und ihr Vater fühlen das ja auch, wie du zugibst.«

»Ich kann nicht...«

Graf Burchard stand auf. Sehr ernst, nicht ohne Güte im Blick, sprach er: »Bin ich dir ein väterlicher Freund gewesen oder nicht? Wenn ich es war – findet meine erste Bitte so wenig Gehör? Hast du so wenig Vertrauen zu meiner besseren Einsicht, um mir den Gehorsam in dieser Sache aufzukündigen? Zwei Jahre hast du diese törichte Liebe mit törichten Hoffnungen genährt. Versuche es, ob sie stand hält vor der Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit.«

Stephan wußte nicht: meinte sein Onkel, daß er sich eine neue Prüfungszeit unter andern seelischen Bedingungen auferlegen sollte? Oder hoffte Graf Burchard, daß die Liebe absterben würde?

Da die erste Auffassung so etwas wie einen blassen Hoffnungsschimmer zuließ, klammerten sich die Gedanken des jungen Mannes an sie.

Er schwieg. Er wußte kein Wort zu finden. Zu deutlich stand es vor ihm, was alles er der Güte und väterlichen Fürsorge dieses klugen und großmütigen Mannes verdankte.

Er begriff, daß er ihm in diesem Augenblick seine Dankbarkeit nur durch Gehorsam zeigen könnte.

So weh er auch tat, dieser Gehorsam ...

»Am besten ist es, du nimmst den Zug um drei Uhr,« bestimmte Graf Burchard, »da kannst du noch am zweiten Frühstück teilnehmen und allen sagen, daß du plötzlich Befehl bekamst, zurückzukommen. Wenn ich nicht irre, hat der Zug in Stralsund für dich Anschluß.«

»Und Sophie ...« brachte Stephan hervor.

Graf Burchard klopfte ihn liebevoll auf die Schulter.

»Ich werde heut' nachmittag mit Doktor Schüler sprechen. In den Verdacht feiger Fahnenflucht sollst du nicht kommen. Und mein Wohlwollen bleibt den beiden. Darauf kannst du dich verlassen. Ich weiß zu unterscheiden, mein armer Junge ... Alle Hochachtung vor Vater und Tochter! Wären ihre und deine Lebensumstände anders geartet, hätte ich gern meinen Segen gegeben. Aber wir leben nun einmal in der Welt ...«

Stephan fühlte wohl die klare Überlegenheit und von aller Kleinlichkeit freie Art des reiferen Mannes. Aber er empfand vor allem doch nur, daß Graf Burchard ihm und Sophie nicht zur Vereinigung helfen wollte.

Er ließ sich umarmen.

Graf Burchard dachte nicht daran, in diesem Augenblick die alte warme Anhänglichkeit in Stephan zu finden, die konnte erst wiederkommen mit der Erkenntnis ...

»Besinne dich nur erst,« sagte er gütig, »und wenn du nach Wochen merkst, das Überwinden wird zu schwer – sei offen. Ich werde schon mit deinem Oberst sprechen – du kannst reisen – dich zerstreuen – –«

Ein Rundreisebillett als Ersatz für einen Heiratskontrakt! Fast hätte Stephan es gerufen. Aber er hielt das bittere Wort zurück. Und in aufwallendem Schmerz gelang es ihm, dem Grafen Burchard doch noch die Hand zu drücken – kurz, mit verzweifeltem Druck ...

Armer Junge, dachte der mitleidsvoll.

Stephan ging hinauf in sein Zimmer. Ehe er nur ein einziges Stück eingepackt hatte, schrieb er mit größter Hast an die Geliebte.

»Ich muß abreisen. Onkel Burchard will es. Man hat uns an ihn verraten. So kam ich um den Vorteil, meinerseits das Geständnis unsrer Liebe abzulegen. Onkel Burchard ist klug und liebevoll und gewiß weniger beeinflußbar, als hundert andre reife Männer es sein würden, die eine junge, geliebte Frau haben. Und dennoch – ohne sie, diese Anna, wäre alles anders gekommen. Der Weg, den diese Sache nahm, ist deutlich verfolgbar. Von der Braunau zur Gräfin Anna. Und sie hat es dem Grafen erzählt – häßlich gefärbt – ich spürte wohl, wie schlecht er dachte. Aber ich konnte ihn belehren. Das ist mir gelungen. Ich hoffe es bestimmt.

Unsern Bund billigt er trotzdem nicht und will ihn nicht fördern. Er hat mich geheißen, augenblicklich abzureisen. Und er ist einer von den Männern, die man am ehesten durch Gehorsam bezwingt. Ich gehorche also.

Geliebte! meine süße, einzige Sophie! Ich lasse nicht von Dir. Trennen soll uns niemand, auch Onkel Burchard nicht. Ich setze nun meine Bemühungen fort. Und finde ich nichts, immer wieder nichts, so warten wir, bis ich Hauptmann erster Klasse bin. Paßt meinem Regiment dann meine Heirat nicht, lasse ich mich einfach versetzen.

Ich lasse nicht von Dir. Und ich flehe Dich an, ebenso fest zu sein wie ich. Höre nicht auf die Stimmen, die Dir Entsagung anraten, ob die Stimmen nun von außen kommen oder in Dir selbst sprechen. Höre nicht auf sie!

Schreibe mir sofort.

Tausend Küsse

Dein Stephan.«


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