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Ida Boy-Ed
Annas Ehe
Ida Boy-Ed

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Der Tag, an dem Anna es so eilig gehabt hatte, ihrer Heimat zu entrinnen, und doch noch einmal blutend zurückgebracht worden war über die Schwelle ihres Vaterhauses, dieser Tag lag nun schon zwei Monate hinter ihr.

Mit einer sehr erstaunlichen Sicherheit hatte sie sich in ihr neues Leben gefunden. Zwar kam es der Gräfin Herdeke vor, als wäre diese äußere Sicherheit eigentlich nur ein abwartendes Beobachten. Weder Menschen noch Dinge raubten der jungen Frau jemals die stolze Haltung, das verbindliche Lächeln.

Es war zuweilen leer, dies Lächeln. Das sah Herdeke wohl. Aber sie fand es klug, daß Anna ein gelegentliches Nichtverstehen oder gar Gelangweiltsein doch hinter einer konventionellen Verbindlichkeit verbarg.

Sie wird Burchard niemals kompromittieren, sagte Herdeke sich bald. – Und das war immerhin viel für einen Mann in seiner Stellung.

Glücklich schien er auch, sehr glücklich.

Herdeke wollte aber nicht indiskret sein, und intimere Beobachtungen nach dieser Richtung hin lagen ihr fern. Sie verwies solche auch Renaten und ging auf keinerlei bezügliche Gespräche ein. Denn Renate hatte eine wirklich wenig zarte Art, Fragen und Bemerkungen zu machen.

»Findest du nicht, daß ihr Verhältnis zueinander einen zu abgeklärten Eindruck macht?« – »Sie streiten nie. Ich fände es natürlicher, wenn sie einmal stritten. Charaktere müssen sich doch aneinander abschleifen.« – »Ich finde, daß Burchard zärtlicher gegen sie ist, als sie gegen ihn.« – »Ich finde, sie nimmt den Luxus hin, als sei sie von jeher daran gewöhnt gewesen.« – »Ich finde, das deutet auf einen Mangel an Wärme und Dankbarkeit.«

»Wenn Burchard ahnte, wie viel du ›findest‹, würde er eine Indiskretion gegen seine junge Frau darin erblicken, uns mit ihr unter demselben Dach leben zu lassen,« sprach einmal Herdeke unwillig.

»Mein Gott – wie überzart! Sie ist doch nun unser Familienmitglied. Die Gattin des Oberhauptes –«

»Da ginge es uns nur an, wenn sie etwa diese Stellung nicht auszufüllen vermöchte und dem Namen Geyer keine Ehre machte. Und ich denke denn doch ... An Großartigkeit und Würde fehlt es ihr nicht, trotz der Jugend.«

Renate zuckte nur die Achseln.

Die beiden alten Komtessen hatten früher einige Zimmer des zweiten Stockwerkes innegehabt. Das Geyersche Palais in der Alsenstraße war keineswegs ein großer Prunkbau mit unübersehbaren weitläufigen Räumen. Graf Burchard hatte es gekauft und vor einigen Jahren für seine Bedürfnisse als Junggeselle umbauen lassen. Und wenn auch sein Junggesellenleben große und bequeme Formen gehabt hatte, eine glänzende, repräsentative Geselligkeit war von ihm in Berlin nicht gepflegt worden. Er beschränkte sich darauf, jede Woche einmal ein Herrendiner mit einem Dutzend Tischgenossen zu geben.

Hierzu genügten die fünf großen Räume des ersten Stockwerks überreichlich.

Oben empfingen Herdeke und Renate ihre Freunde und Freundinnen zum Tee, zuweilen gaben sie auch ein Frühstück. Das war alles.

Die große Gastlichkeit entfalteten die Geyers auf ihren Gütern, wo keine parlamentarischen Geschäfte den Hausherrn in Anspruch nahmen.

Eine angenehme kleine Parterrewohnung im Palais war bisher an einen dem Grafen Burchard befreundeten, unverheirateten Legationsrat vermietet gewesen. Diese hatten nun die beiden alten Komtessen bezogen, als Graf Burchard Anfang Februar auch den zweiten Stock für sich beanspruchen mußte.

Renate konnte sich nicht in den Wechsel finden, und behauptete, ungebührlich beengt zu sein, weil sie ein Zimmer weniger hatten. Sie trug das Anna nach, denn die war die Ursache dieser ungünstigen Veränderung. Herdeke lobte den neuen Zustand jeden Tag; die gute Lisbeth Landsehr hatte es nun bequemer und kam öfter, und der liebe alte General selbst freute sich auch, daß ihm die Treppen erspart blieben. Da Landsehrs Herdekes Freunde waren, so sprach Renate ärgerlich: »Sie kommen einfach viel zu oft jetzt. Das ist der Erfolg.«

Der Zuschnitt im Hause Geyer war so, daß die junge Frau sich im Grunde genommen gar nicht von den alten Schwägerinnen belästigt fühlen konnte. Man sah sich nur bei Tisch, oder wenn Burchard und Anna besonders baten, die Damen möchten ihnen eine Abendstunde schenken. Oft forderte Anna ihre Schwägerin Herdeke auf, mit ihr in ein Konzert oder in das Theater zu fahren. Graf Burchard hatte selten Zeit dazu, wünschte aber ausdrücklich, daß Anna auf diesen Gebieten alles kennenlerne, wonach sie Lust habe.

Daß die junge Frau gar nicht daran dachte, in ihren Einladungen zu wechseln, sondern ganz wie selbstverständlich immer nur Herdeke bat, erbitterte Renate noch mehr gegen die Schwägerin.

Das hatte Anna längst gemerkt. Es machte ihr ein wenig Spaß. Zwar, es war nur die im Grunde genommen ihr so ganz gleichgültige Renate – aber es reizte Anna doch, diese um ihretwillen in einer ständigen kleinen Gemütsbewegung zu wissen. –

Nun war es der erste April. Anna saß oben am Fenster. Nicht in den Prunkräumen des ersten Stocks. Oben, neben ihren Schlaf- und Ankleidezimmern, lagen nach vorn zwei Räume, in denen sie ihr erstes Frühstück nahmen, und wo Anna sich ihr eigentliches Wohnzimmer eingerichtet hatte.

Es stürmte draußen. Ein weicher West brauste durch die Luft. Man sah aber nichts von der gewaltigen Arbeit des Sturmes. Die Straßen waren trocken, sauber, hellgrau. Der eine oder andre Mensch hielt seinen Hut fest; dem flatterte der Havelock nach rückwärts; jenem, der mit dem Wind ging, schlug er fest gegen die Kniebeugen und Ellbogen.

Ein Sturm, den man aus Anzeichen erraten mußte.

Anna dachte an daheim. Da rauschte es gewiß durch die Lüfte und die kahlen Wipfel im Park schlugen knallend, knirschend aneinander. Auf den braunschwarzen Koppeln zitterte die grünrötliche junge Wintersaat, und zwischen den Feldern, in den schmalen Entwässerungsgräben lag noch schmutzig der letzte Schnee. Und über der kahlen Weite stand noch weiter, noch unendlicher der hellblaue Himmel, an dem die Wolken in rasender Eile hinsegelten.

Das hatte Anna immer gern beobachtet oder vielmehr gern gehört; denn ihr Auge war nicht sehr empfänglich, und wenn etwas zu ihr sprechen sollte, mußte es schon laute Töne haben. Der Sturm war ihr wie ein Mensch, der den Willen und die Kraft hat, alles um sich in Bewegung zu setzen.

Herrische Macht haben und sie zu fühlen – das war ihr von jeher als etwas Begehrenswertes vorgekommen. Aber sie hatte nur unklare Vorstellungen davon gehabt, wie man sich solch Begehren erfüllen könne. Kindische Prinzessinnenträume hatten sie einst stark beschäftigt.

Aber seit sie größer geworden war und klüger, sagte sie sich: Nur erst in die Welt hinaus – dann muß man sehen, wie es ist! Als Graf Burchard ihr begegnete, besann sie sich keinen Augenblick, seine Hand anzunehmen. Er war der erste Mann, der ihr so sehr imponierte, daß sie voll Bewunderung zu ihm emporsah.

Und in ihrem Herzen war noch eine tief verborgene Bitterkeit. Einer, der ihr zwar nicht imponiert hatte wie Graf Burchard, der ihr aber anziehend erschienen war wie zuvor noch kein Mensch, einer war ganz achtlos an ihr vorübergegangen.

Welche qualvollen Zweifel hatten sie damals gemartert! Zweifel an ihrer Schönheit und dem Wert und Reiz ihrer ganzen Persönlichkeit. Wenn es möglich war, daß ein Mann sie so ganz gleichgültig übersah ... Und noch dazu ein Mann in bescheidener Stellung – ein Mann, dem sie mit Blick und Lächeln leise, leise entgegengekommen war ...

Wie sättigte es dann ihr Selbstgefühl mit Beruhigung, als der reife bedeutende Mann um sie warb – einer der Ersten des Landes! – Und seine Reife, seine Bedeutendheit brauchte sie nicht zu drücken. Denn er liebte sie ja. Und Anna hatte es so oft gelesen und gehört, daß eine junge Frau mit einem älteren Manne alles anfangen könne, was sie wolle.

Noch keinen Augenblick hatte sie seither etwas andres empfunden, als ein fast vollkommenes Glücksgefühl. Die Liebe ihres Gatten, seine ritterliche Zärtlichkeit, die immer geschmackvoll blieb, tat ihr wohl und erhob sie gleichsam auf einen Thron. Da saß sie nun in Erwartung und beobachtete alles und alle. Es schien ja, als sähe es in der Welt unbewegter, einförmiger, langweiliger aus, als Anna sich gedacht hatte. Aber gewiß schien es nur so. Man war in diesen ersten beiden Monaten natürlich viel für sich gewesen. Erst vierzehn Tage in Paris. Dann seit sechs Wochen hier in Berlin, wo Graf Burchard sich gleich sehr eifrig seinen parlamentarischen Geschäften widmete und von einer besonderen Geselligkeit noch keine Rede war. Bei Hof sollte Anna auch erst im nächsten Winter vorgestellt werden.

Einmal hatte sie den Reichstag besucht, als Graf Burchard eine Rede zum Forstgesetz hielt, das gerade verhandelt wurde. Er sagte ihr zwar, daß sie bei dieser Gelegenheit keine »große« Rede von ihm hören werde, aber es freute ihn doch, daß sie den Schauplatz seiner parlamentarischen Tätigkeit kennenlernen wollte.

Mit ihrem Erfolg konnte sie zufrieden sein: die Aufmerksamkeit des ganzen Hauses wandte sich der schönen Frau zu, die in einer köstlichen Pariser Toilette und einem großartigen Hut da auf der Tribüne saß und tat, als bemerkte sie nichts von den auf sie gerichteten, bewaffneten und unbewaffneten Blicken.

Bei ihrem Besuch im Herrenhause war es ähnlich gewesen. Burchard hatte ihr damals im Foyer auch viele Herren vorgestellt.

Aber das war kein Gesellschaftstreiben. Wie sollte sie da schon Gelegenheit gehabt haben, in ihrem Kreise Intriguen zu beobachten, heimliche Romane zu wittern, von feurigen Kavalieren aus ehrfürchtiger Ferne heiß angebetet zu werden! Das kam nun noch alles. Ganz gewiß! Wenn die »große Welt« ein harmloses Kaffeekränzchen wäre, wie konnte es denn geschehen, daß zuweilen durch die Gesellschaft eine Art zitternde Erschütterung ging, die man sogar bis draußen aufs Land hinaus noch spürte? Woher denn dies Geflüster von zerbrochenen Existenzen? Dies verlegene Verstummen bei diesem oder jenem Namen?

Und was hatte Nadine Hammerriff nicht alles gewußt und der ungläubig mit offenem Mund hörenden Ursche und der unbeweglich lauschenden Anna erzählt? Ehescheidungs-, Entführungs- und Duellgeschichten dutzendweise!

Anna hatte dann jedesmal, besonders um Nadine Hammerriff moralisch niederzudrücken, gesagt, daß solche Geschichten außerhalb ihres Kreises und Interesses lägen. Aber sie sagte es stets erst nach den Erzählungen und vergaß von keiner ein Wort.

Nächsten Winter werde ich die Welt sehen – nächsten Winter, dachte sie voll Zuversicht und schaute auf die saubere Straße hinab und auf die Menschen, die gegen den Wind kämpften oder von ihm geschoben wurden. –

Auf dem Tischchen vor dem Kamin war heute alles zu einem Tee vorbereitet. Es war ein modernes Tischchen mit allerlei Etagen und Brettchen, die an ganz unmotivierten Stellen herausragten. Renate hatte es geschenkt und schwärmte dafür, weil einfach alles, was man zum Fünfuhrtee brauchte, zierlich und abwechslungsvoll darauf angeordnet werden konnte. Herdeke haßte solche Gestelle, die sie an einen Buchbinderladen mahnten, und zog einen soliden Sofatisch vor, alt und altmodisch, wie sie nun einmal sei.

Die beiden alten Damen sollten jetzt kommen. Es gab allerlei wegen der bevorstehenden Übersiedelung nach Sommerhagen zu besprechen. Besonders auch, wer dahin zu Ostern, das dies Jahr sehr spät fiel, eingeladen werden sollte. Anna wußte ja im voraus: Wolf und Ursula Weber v. Pallau mußten zu oberst auf der Liste stehen. Burchard und seine Schwestern bildeten sich zweifellos ein, es werde für die junge Frau eine Riesenfreude sein, die Jugendgenossen bei sich zu sehen. Und ihr lag so gar nichts daran! Aber das konnte sie nicht sagen. Man würde es nicht verstanden haben. Anna begriff es ja selbst nicht recht – aber sie mochte gar nicht an ihre Jugend erinnert sein. Sie hatte sich dieser Jugend ja nicht zu schämen. In geordneten Verhältnissen, in alter guter Familie war sie erwachsen. Die intimen Einzelheiten der Öde ihres Vaterhauses brachten wohl seelische Leiden mit sich. Aber von denen wußten nur die Nächsten.

Dies seltsame Begehren, ein ganz neues Leben als ganz neuer Mensch zu führen, war gerade noch so stark in ihr wie am Hochzeitstag. – Wer kritisiert uns schärfer als die, die uns jung kannten? Wir ändern uns und wachsen in neue Formen hinein. Jene Kritik der Jugendgenossen ändert sich nicht. Sie ist nicht entwicklungs- und wandlungsfähig. Sie nagelt den Menschen immer auf seine Aussprüche, Fehler, Unvollkommenheiten der Jugend fest.

Anna schloß jetzt ihre Gedankenreihe ab. Denn der Diener meldete die beiden Komtessen.

Anna machte selbst den Tee und bediente die Damen. So dauerte es noch einige Minuten, bis man in Ruhe zu dritt um das Tischchen vor dem Kamin saß.

Ein riesengroßer Holzklotz verschwälte darin. An seinem schwarzkohligen Leibe entlang lief zuweilen ein feuriger Funkenbrand und verlosch. Der Rest von Glut war nicht stark genug, das klobige Holzstück zu lichterlohen Flammen zu entzünden, sie konnten nicht entbrennen, aber auch nicht ganz ersterben. Manchmal zuckte ein gelbes Zünglein unter dem schwarzen Klotz heraus.

Herdeke war sich bewußt, daß die zu besprechenden Fragen mit großem Takt zu behandeln seien. Die junge Frau war nun doch einmal die Herrin. Sie hatte zu befehlen. Sie durfte nie denken, daß ihr die alten Schwägerinnen ins Regiment pfuschen wollten.

Aber Anna suchte wirklich nicht den Reiz ihrer Stellung darin, eifersüchtig auf ihre Hausfrauenrechte zu pochen.

»Ich weiß ja gar nicht Bescheid. Ich bin noch nicht auf Sommerhagen gewesen. Haltet es nur, wie es immer gehalten worden ist. Und wenn ich Einladungen unterschreiben muß – legt sie mir nur vor. Aber lieber ist es mir, Burchard tut es selbst,« erklärte sie.

»Diesmal sind aber auch deine Verwandten und Freunde zu berücksichtigen, und zwar in erster Reihe sollte dein Vater ...«

Mit einer Handbewegung unterbrach Anna die älteste Schwägerin. »Papa kann einmal kommen, wenn wir allein sind.«

»Und dein Bruder?«

»Ich werde an Donat schreiben, ob er Ostern kommen will.«

»Und natürlich Wolf und Ursche Weber v. Pallau. Burchard hat mich besonders daran erinnert,« sagte Herdeke, »er hat sie sehr gern und ist Wolf ja auch noch innig dankbar.«

»Ihr tut Wolf keinen Gefallen, wenn ihr ihn mit der Gloriole meines Lebensretters umgebt.«

»Nun, das geschieht ja auch nicht. Es soll ja nicht übertrieben werden. Vielleicht hätten sich die Pferde von selbst matt gelaufen, oder du hättest herausspringen können. Immerhin riskierte er viel, als er sich so entschlossen den Füchsen in den Weg stellte.«

»Gut, also Wolf und Ursche. Sie werden mit Jubelgeschrei anrücken.«

»Ja, eine herzerquickend naive Familie,« schaltete Renate ein, aber in einem Ton, der ihr einen scharfen Blick von Herdeke eintrug. Anna ging darüber hin.

»Und dann?« fragte sie.

Herdeke nannte zwei Familien, die mit den Geyers verschwägert waren, und erläuterte jede. Sie schloß: »Das wären alle.«

»Und Stephan?« fragte Renate.

»Gott, ja Stephan – das ist so eine Frage!« sprach Herdeke zögernd.

War Anna darauf vorbereitet, daß der Name fallen würde? Oder hab ich mich damals getäuscht? Sie zuckt nicht mit der Wimper. Übrigens hat sie das Licht im Rücken, dachte Renate.

Laut sagte sie: »Warum ist das denn auf einmal so eine Frage geworden? Er war doch sonst immer da?«

Was bedeutet dies? dachte Anna. Sie saß sehr aufrecht und starrte hinab in die Kaminöffnung und auf den Holzklotz, der nicht brennen konnte und nicht erlöschen wollte. Sie hielt ihr Hände unbeweglich im Schoß gefaltet. Sie waren eiskalt.

Herdeke wollte ihre geheimen Gründe, aus denen sie Stephan Normann nicht eingeladen zu sehen wünschte, nicht preisgeben. Vor Anna – ja, wenn es sich einmal so machen sollte, daß man unter vier Augen darauf vertraulich zu sprechen kam. Vor Renate – nie; denn das hieße, dem lieben Jungen, für den Herdeke eine ausgesprochene Schwäche hatte, das Leben sauer machen. Zögernd sprach sie: »Freilich – wenn man hoffen könnte, daß der Junge sich in Ursula v. Pallau verliebte – oder wenigstens einsähe, was für 'ne famose Frau das für ihn gäbe ... Und ihr hab' ich's so halb und halb zugesagt ...«

»Wenn du ›halb und halb‹ was zusagst, so heißt es auf deutsch, daß du es taktloserweise heilig versprochen hast –«

»Renate!«

»Herdeke!«

»Ja, liebe Renate, du mußt auch Herdeke nicht immer so reizen,« sagte Anna.

Renate stand auf und warf den Kopf zurück.

»Das ist stark! Eine junge Dame, die meine Tochter sein könnte, gestattet sich, mir Lehren zu geben.«

»Das wollte ich mir nicht erlauben,« sprach Anna.

»Genug. Ich liebe keinen Streit.«

Und sie ging mit rauschender Schleppe und hoheitsvoll erhobenem Haupt hinaus, ihre langgestielte Lorgnette in der Hand haltend, als sei sie ein Zepter.

»Mein Gott,« sagte Anna bestürzt.

»Beruhige dich nur,« sagte Herdeke lachend; »unter dem Vorgeben, daß sie keinen Streit liebe, ficht Renate sich durchs Leben. Menschen und Völker, die viel von ihrer Friedensliebe reden – die haben meist die schärfsten Waffen. Kannst du dir merken, wenn du willst.«

Es war Anna aber doch sehr unangenehm.

Und zu ihrem eigenen grenzenlosen Erstaunen bemerkte sie, daß sie sich ein wenig vor ihrem Gatten ängstigte wegen dieses Vorfalls.

»Wenn Burchard nun glaubt, ich sei kleinlich und zänkisch gewesen?! Es wäre zu beschämend für mich,« sprach sie.

Und dann mußte sie lachen – ein wenig nervös und unfrei ...

»Nein – es sieht ja beinahe aus, als hätt' ich Angst vor Burchard,« rief sie.

»Angst nicht. Aber gottlob! offenbar den Respekt, den er wie von selbst herausfordert. Wer möchte sich deshalb schämen!« sagte Herdeke und umarmte die junge Frau. »Aber du hast ja keine Schuld, und Burchard kennt Renate.«

Sie setzte sich wieder, nahm ihre Tasse und malte lachend aus, wie Renate nun hinter den Vorhängen laure, bis Burchard angefahren komme, um ihn dann sogleich für einen Augenblick in ihr Zimmer zu bitten, wo sie ihm vorlamentieren werde, daß seine junge Frau sich unter Herdekens Einfluß habe hinreißen lassen, ihr weise Lehren zu erteilen, und wie Burchard dann seelenruhig antworten werde, sie solle nur ein Brausepulver nehmen.

Nachdem sie dies alles herausgesprudelt und in der Nachahmung von Renatens Majestät nicht sparsam gewesen war, fiel ihr wieder Stephan Normann ein. Von dem war man ja ganz abgekommen.

»Du hast im Hochsommer damals Stephan Normann intim kennen gelernt ...«

»Intim?« unterbrach Anna sie, »ich bin ihm einigemal und sehr förmlich begegnet.«

»Na – zu meinen Zeiten wurden wir mit den Leutnants intim befreundet, wenn sie acht Tage bei uns in Quartier waren. Acht Manövertage – ist mehr, als ein Dutzend Jahre auf Bällen und Diners sich treffen. Gott – Landsehr und ich sprechen noch manchmal davon, wie er damals auf Sommerhagen in Quartier lag! Und verliebt waren wir ineinander! Einfach rasend. Natürlich – es war nur so 'ne Sommerliebe, mit Lachen ohne Tränen. Und in einer Woche überwunden. Aber die heutige Jugend hat eben zu viel Selbstbeobachtung und Zügel. Was aber kein Tadel sein soll ... Ja, aber um nicht immer und immer wieder von Stephan abzukommen: du hast ihn und Ursche doch genug zusammen gesehen, um beurteilen zu können ...«

»Bei Ursche ist das auch nur so 'ne Sommerliebe gewesen,« sprach Anna kalt.

»Nein, da irrst du nun. Ihr Vater deutete an ... ihre eigenen Tränen ... kurz und gut: wenn's was würde, wär's mir lieb. Stephan sollte heiraten. Und Ursche ist aus allerbester Familie – und dann ist Ursche, was man so nennt: ein guter Kerl. Ehrlich, beste Seele, gewiß famose Hausfrau, und Mitgift auf der Höhe der Weber v. Pallau. Annehmbar – mehr sogar: erwünscht in jeder Beziehung.«

Nun hatte Herdeke sich so hineingesteigert in den Plan und die Möglichkeit seiner Erfüllung, daß sie alle ihre geheimen Bedenken gegen Stephans Anwesenheit auf Sommerhagen als grundlos ansah, und nun schloß: »Also wir laden Stephan ein und spielen ein bißchen Vorsehung, damit er und Ursula sozusagen immer wieder sich nebeneinander finden.«

Mit einer seltsamen, fast harten Entschiedenheit sprach aber die junge Frau jetzt schroff: »Dazu leihe ich meine Hand nicht. Mag Herr Leutnant Normann eingeladen werden. Gut. Aber Ursche ist die letzte, die für ihn paßt. Sie ist nicht hübsch und nicht graziös genug, und er kann ganz andre Ansprüche machen. Ich werde nichts dazu tun, ihm meine Freundin anzuhängen.«

Wie feindselig sie spricht, dachte Herdeke und stand vor einem Rätsel. So ein bißchen Ehestiften unter zwei lieben Menschen, die sehr vernünftig zueinander passen würden – das war doch immer vergnüglich und hier besonders dankenswert. Annas Schlußworte gaben ihr dann die Idee, daß die junge Frau vielleicht aus Feingefühl nicht eingreifen wollte, weil sich's eben um ihre nächste Freundin handelte. Das verstand Herdeke schon. Und sie beschloß, ihrerseits desto umsichtiger Vorsehung zu spielen.

Einen Tag nach diesem Gespräch reisten die beiden alten Damen schon ab. Graf Burchard hatte sie darum gebeten. Es war das erstemal, daß Anna den Stammsitz der Familie betreten würde. Er wünschte deshalb festliche Vorbereitungen, die nicht etwa dem Inspektor oder gar der Dienerschaft überlassen bleiben sollten. –

Und abermals einige Tage später, an dem Freitag vor Palmsonntag, fuhr Graf Burchard Geyer mit seiner jungen Frau in frühester Morgenstunde zum Bahnhof.

Sie mußten den Schnellzug nach Stralsund nehmen und dachten von dort ohne Aufenthalt ihre Reise nach Sommerhagen fortzusetzen. Die Geyers waren ein Rügensches Geschlecht, und ihr Stammsitz lag im Nordosten der Insel. Graf Burchard pflegte den Frühling und Sommer dort zu verleben und begab sich erst zum Herbst nach Ostrau, dem Gut, welches den natürlichen Mittelpunkt der Geyerschen Besitzungen in der Neumark und Vorpommern bildete.

Es war eine herbe Feuchtigkeit in der Luft. Sie schien vom Straßendamm aufzusteigen, der, dunkel und naß vom nächtlichen Regen, sich zwischen den hellen Mauern der Häuserfronten hinzog. Und am Ende jeder Straßenzeile stand bläulicher Dunst und verschleierte das Stückchen Ausschnitt vom Stadtbild, das da sonst sichtbar gewesen wäre. Anna fror, und diese frühe Abreisestunde war ihr schrecklich. Sie hatte sich fest vorgenommen gehabt, ihrem Gatten klar zu machen, daß ihr diese Reise eine Last sei, und ihn zu bestimmen, zwei Tage daran zu wenden.

Nun saß sie im Wagen und war ärgerlich über sich selbst. Es war nicht zu glauben: sie hatte einfach ihren Wunsch nicht laut werden lassen mögen. Graf Burchard hatte ihr den Reiseplan so bestimmt, so heiter, so liebevoll mitgeteilt. Ihr Verstand sagte ihr ja auch, daß es so richtig sei.

Und ganz unerklärlicherweise fehlte ihr die Courage, ihre Laune zu äußern. Er hatte so eine Art ... man würde sich geniert haben, nur seinen erstaunten Blick auf sich zu fühlen.

Nun, dachte Anna, in Kleinigkeiten sich schweigend fügen, ist auch gewiß klug.

Es war Mittagszeit, als sie auf der großen Dampffähre saßen, die von Stralsund nach Rügen hinüberging.

Mimi, die Jungfer, Campell, des Grafen Kammerdiener, reisten mit der Herrschaft. Sie hatten all das Handgepäck zwischen sich und plauderten, in sicherer Hörweite von ihrer Herrschaft, leise miteinander. Werner war erst seit zwei Monaten in Geyerschen Diensten und noch nicht mit auf Sommerhagen gewesen, dessen Reize und Schrecken ihm seine Dienstkollegen nun beschrieben.

»Es ist halbe Verbannung,« sagte Campell, »man ist von jedem gebildeten Verkehr abgeschnitten.«

»Das ist nicht wahr. Wir haben Besuch in Hülle und Fülle.«

»Wir! Das heißt die Herrschaft. Und das heißt Arbeit. In Berlin kann man sich in seinen Mußestunden doch als Mensch fühlen ... auf Sommerhagen ist man immer ›Dienerschaft‹.«

»Ja, als Sportsmann und nobler Lord kann man sich da freilich nicht aufspielen. Und die kleinen Damen vom Zirkusballett muß man da auch entbehren,« sagte Mimi anzüglich; »in den Dörfern der Gegend weiß man eben, wer wir sind.«

Über des Kammerdieners glattrasiertes Britengesicht mit den großen, hellen, kalten Augen ging ein hochmütiger Zug. »Man hat nicht nötig, sich als Lord auszugeben, wenn man das Aussehen und die Allüren eines Gentleman besitzt,« sprach er stolz.

»Den Jang und die Haltung von unserm Jrafen kriegen Se doch nich 'raus,« spottete Mimi.

»Und Sie nicht die Manier von der Gräfin, einen so von oben her anzugucken.«

»Dazu wäre Fräulein Mimi ja auch zu zierlich,« meinte Werner, auf dessen ebenfalls rasiertem Gesicht man die dunklen Schatten der Bartveranlagung sah.

»Gott,« sagte Mimi und blickte etwas kokett mit ihren wasserblauen Augen in die braunen Werners, »Sie nehmen mich immer so nett in Schutz; dafür lob' ich Sie auch bei der Gnädigen, wenn Gelegenheit ist, bis über die Puppen.«

»Tun Sie doch nicht, als hätten Sie Gelegenheit. Die Gräfin spricht mit unsereinem nur, was sein muß. Und dabei ...«

»Nun, Campell? Und dabei?« fragte Mimi scharf.

»Man tut, als sei man von Geburt eine königliche Prinzessin, und dabei weiß alle Welt, daß bei ihr zu Haus nicht viel los war. Keine standesgemäße Lebensführung und auch kein imponierendes Vermögen. Und wenn ich bedenke, daß wir die Prinzessin v. Bergenwalde hätten haben können! Eine Reichsunmittelbare!«

»Die häßlich und alte Jungfer war,« sagte Mimi, »während meine Gräfin die schönste Frau der Welt ist! Und welch ein Paar! – guckt mal bloß 'rüber!«

»Ob sie ihm wohl treu bleibt?« fragte Werner.

»Die?« rief Mimi begeistert, »die ist so stolz und unnahbar, wie sie schön ist!«

»Na, na, na,« machte Campell; »die Hauptsache ist, er wird so klug sein und aufpassen und zu verhüten wissen, daß sie zu jungen Kavalieren hinüberschielt.«

»Und dabei denk' ich, es werden mehrere junge Herren bei uns erwartet,« sagte Werner.

»Bloß zwei. Die zählen nicht. Der eine ist, wie ich so aus den Gesprächen bei Tisch erriet, brüderlicher Jugendfreund der Gräfin und hat ihr so halb und halb das Leben gerettet. Der andre ist ja aber unser Leutnant Normann.«

»Warum zählt denn der nicht?« fragte Werner.

»Unser Herr ist sein Pflegevater. Der Leutnant Normann hängt pekuniär vom Grafen ab. Das wäre freilich kein Hindernis ... im Gegenteil! Aber was andres: der Leutnant hat 'ne Liebe! 'ne ganz dramatische!«

»Unsinn!« sagte Mimi.

»Wahr ist es doch,« sagte Campell. »Ich hab' ihn selbst mal gesehen – im Walde mit der Sophie Schüler – und ich glaube, unsre Komteß Herdeke ist auch dahinter gekommen. Na, unser Graf würde schöne Augen machen, wenn er das wüßte! Dieses Fräulein Schüler ist die Tochter von einem Arzt, der sich aus der Welt zurückgezogen hat, weil irgend was auf seinem Namen sitzt. Jedenfalls lebt der Mann einsam und pauvre. Wenn der Leutnant da ernsthaft ans Heiraten denkt ... oje, das kann was geben.«

»Da würde unser Herr ihn wohl enterben,« meinte Werner.

»Leutnant Normann hat nichts vom Grafen zu erben,« belehrte Campell seinen Kollegen, »stammt von einer Geyer, welche die letzte einer Nebenlinie war. Was der Graf tut, ist freies Geschenk. Und so weit würde ja wohl die Großmut nicht gehen, daß er dem Leutnant noch ein Kommißvermögen in die Tasche steckte, wenn der ein armes Mädchen ohne Familie heiraten wollte!«

Während die Dienerschaft so die Angelegenheiten und Lebensverhältnisse ihrer Herrschaft durchsprach, ging die Dampferfähre in schwer keuchender Fahrt weiter und weiter.

Rückwärts stand, vor dem blassen, klaren Frühlingshimmel, das rotbraune, altertümliche Stadtbild von Stralsund. Die vielkantigen Kirchtürme mit ihren gotischen Dächern erhoben sich würdig und väterlich aus dem unruhigen Gehocke der Häuser. Sie sahen darüber hin und auf den breiten Meeresarm hinaus, der sich blank, dunkel, in großschuppiger Bewegung zwischen Stadt und Insel drängte. Sie hatten schon die Schwedenzeit gesehen. Jahrhunderte und Leben gingen an ihnen vorbei, als wären sie nichts. Was da unten herum zu ihren Füßen auch wechselte und sich änderte: sie, die Kirchen, blieben. Und ihr Nachbar, das Meer, blieb.

»Sieh zurück,« bat Graf Burchard seine junge Frau, »ich sage es nicht aus einseitigem Heimatgefühl, aber wenig landschaftliche Bilder in Deutschland kommen diesem gleich.«

Anna hatte ein wunderbares Gefühl dafür, wenn eine zustimmende Antwort von ihr erwartet wurde. Und so sagte sie denn auch jetzt: »Sehr schön, wirklich sehr schön.«

Und sie blieb so sitzen, daß ihr Gesicht dem Bilde zugewandt war, das nun langsam ferner rückte und kleiner ward und dadurch nur noch an Reiz gewann, weil die Ganzheit des Eindrucks nicht mehr durch diese und jene moderne Einzelheit des Vordergrundes gestört ward.

»Sehr schön,« sagte sie noch einmal und hielt vielleicht auch das flüchtige Wohlgefallen, welches ihr das Küstenbild eine Sekunde lang gewährte, für einen »Eindruck«.

»Ich hoffe,« sprach Graf Burchard, »daß du dich von unserm Besitz in deinen Erwartungen nicht enttäuscht findest.«

»Es ist dein Stammsitz, du bist dort geboren, du liebst den Platz. Dies genügt, ihn mir wichtig zu machen,« sagte Anna mit liebenswürdigem Lächeln.

Er drückte ihr dankbar die Hand.

Sie hatte nicht gelogen. Es erregte wirklich ihr großes Interesse. Dort auf Sommerhagen waren alle Familienbilder der Geyers, dort redeten alle Wände, das ganze Schloß Familiengeschichte. Und während Anna mit ihrer Phantasie immer erwartend herumschweifte und von all den Erlebnissen träumte, die ihr das Leben in der großen Stadt bringen sollte, fühlte sie sich doch zugleich ganz und gar als eine Geyer. Ihr ging es, wie es Fürstentöchtern gehen mag, die mit der Heirat ihr Vaterland wechseln und dann mit allen ihren Gesinnungen, ja sogar mit ihrer Sprache in das neue Lager überlaufen müssen, aber dennoch tief im geheimen ihr eigentlichstes Wesen unveränderlich bewahren.

Es galt nun noch, für den Grafen Burchard und seine junge Frau, eine Fahrt von anderthalb Stunden im Eisenbahnzuge zu machen. An der Station Sagard auf Jasmund, dem nordöstlichen Fetzen des vielzerrissenen Rügen, erwarteten die Wagen sie; ein Landauer die Herrschaft, ein Break die Dienerschaft und das Gepäck. Die Sonne schien klar und bleich. Es war keine rechte Kraft in ihren Strahlen, weil der frische östliche Wind sie kühlte.

Über Bodensenkungen hinab, hinauf an steigendem Gelände ging wechselvoll die Fahrstraße. Ebereschenbäume standen zuweilen an ihrem Rain. Die fahlgrünlichen Knospen der Blatthüllen an ihrem Gezweig waren zum Zerspringen geschwellt. Ihre Kronen schienen vom ewig streichenden Wind zurechtgeformt, und viele von ihnen glichen schlecht gebundenen Reiserbesen, die auseinanderzufallen drohten.

Und vom hohen, gebuckelten Land der Insel sah man hinab auf das links und fern in der Tiefe schimmernde metallische Blau des Boddens.

»Von Sommerhagen aus, das auf einem der höchsten Punkte von Jasmund liegt, wirst du beides sehen: den Bodden und das offene Meer,« erzählte Graf Burchard.

Anna aber dachte schon an die Empfangsfeierlichkeiten; denn sie nahm an, daß ihr Gatte diesen Einzug nicht klanglos vorübergehen lassen werde.

Wenn nur niemand auf die unglückliche Idee mit Böllerschüssen kam. In diesem Punkt war Anna nervös geworden. Obschon sie damals nach zwei Tagen reisefähig gewesen und keinen Schaden davongetragen hatte, außer einer kleinen Stirnnarbe, die sich vom Haar verstecken ließ, mochte sie nicht an jenen Vorfall an ihrem Hochzeitstag erinnert sein.

Nun führte der Weg durch einen Wald. Es war ein Buchenwald, und in seiner Tiefe war ein warmer rötlicher Farbenschimmer von den schwellenden Knospen. Hie und da im Unterholz leuchtete grünes Gesprenkel – da hatte irgend ein Buschwerk voreilig schon Blättchen entfaltet, oder das kletternde und hängende Gaisblatt zeigte sein junges Laub. Moos und Rasen aber hatten schon leuchtende grüne Töne voll saftigen Glanzes, wo die Sonne ihre Lichtflecken hinwarf.

Die Straße stieg wieder mehr. Graf Burchard und Anna waren beide still.

Er hielt, innerlich bewegter, als er sich gestatten wollte zu zeigen, die Hand der jungen Frau. Er fühlte es in diesem Augenblick so klar: sein Glück, seine Hoffnung, die Zukunft seines Hauses saß an seiner Seite – verkörpert gleichsam in dieser schönen jungen Frau.

Er bildete sich nicht ein, sie schon ganz zu kennen. Sie war verschlossener, als er gewähnt hatte. Sie verstand zu sprechen, ohne sich mitzuteilen. Aber jeder Zug, den er bis jetzt hatte beobachten können, schien ihm vornehm, beherrscht, weiblich gewesen zu sein.

Er war zu lange dem Verkehr mit jungen Frauen und Mädchen entwachsen und hatte seit Jahren keine Erfahrungen mehr in dieser Richtung gesammelt. Bei seinen verheirateten Freunden sah er Ehen, die schon aus allen Gärungsperioden sich in den Zustand reinen Glücks oder stiller Resignation hinübergekämpft hatten.

So fiel es ihm niemals auf, daß Anna sich nicht eigensinnig, unverträglich, launisch zeigte. Daß sie gar nichts von den gelegentlichen Torheiten des noch werdenden Charakters an den Tag legte, nahm er vielmehr als ein Zeichen ihrer harmonischen Veranlagung.

Von ihrer geistigen Regsamkeit durfte er befriedigt sein. Sie zeigte durch Fragen über politische Persönlichkeiten und Verhältnisse eine zielbewußte Lernbegier. Sie war offenbar bestrebt, seine Tätigkeit zu begreifen und noch viel mehr: das Leben der Gegenwart zu verstehen. Aber Graf Burchard fragte sich manchmal, ob sie rechte tiefe Wärme habe.

Er empfand, daß es in ihrem Wesen letzte und geheime Dinge gab, zu deren Erkenntnis er noch nicht vorgedrungen war.

Vielleicht war das, was er für Kühle hielt, nur der Zwang, den das Leben mit den drei um so vieles älteren Menschen unwillkürlich ausübte.

Deshalb freute Graf Burchard sich, daß Anna bald ihre Jugendgenossen, sowie ihren Bruder und seinen Neffen Stephan um sich haben werde.

Im Verkehr mit der Jugend würde sie sich freier entfalten. Und was an ihrem Wesen noch kühl und geheimnisvoll schien, würde sich enthüllen – hoffentlich und vielleicht nur als eine unbewußt vorgenommene Maske, die sie der neuen und so würdigen Stellung schuldig zu sein geglaubt.

Nun zeigte sich das Dorf Niepmerow. Kurz vor den ersten Häusern bog ein Fahrweg rechts ab. Über den rötlichen, braunen Wipfeln der knospenden Buchen hin erhob sich die weißgraue Krönung eines Turmes. Sein Mauerzackenrand stand in säuberlich regelmäßigen Ausschnitten vor dem blauen Himmel.

»Nun fährst du in dein Königreich ein,« sagte Graf Burchard scherzend.

Zehn Schritt voraus überbog eine Ehrenpforte den Weg. Sie war von Tannengirlanden umwunden. Neben ihren beiden Pfeilern standen Pfannen auf niederen, dreifußartigen, mit Tannengrün verkleideten Untergestellen. Trotzdem es lichter Tag war, brannten Pechfeuer in diesen, alten Opferschalen nicht unähnlichen Pfannen. Der Wind jagte die Rauchsäulen seitwärts und zerfaserte sie dann. Das war stimmungsvoll und malerisch.

Neben der Ehrenpforte stand auch eine Handvoll Männer: Ackerknechte und Tagelöhner.

Und als der Wagen nun im Schritt unter dem grünen Bogen hinfuhr, während Graf Burchard den Hut lüftete und Anna sich lächelnd verneigte, um auf die »Hurras« zu antworten, knallte plötzlich ein Schuß, dann noch einer und noch einer.

Der Kutscher war darauf vorbereitet gewesen; von seinem hohen Sitz ersah er auch den Moment, wo die zwei Männer, die weiter zurück am Waldsaum standen, die kleinen Böller abschießen wollten.

Er hatte eine feste Faust, und die beiden Rappen zuckten kaum.

Dennoch aber stieß Anna einen Schrei aus.

Und im Weiterfahren sagte sie heftig: »Das ist eine üble Vorbedeutung.«

»Aber Anna!«

»Ja, seit meinem Hochzeitstage bin ich abergläubisch.«

»Ich bitte dich, Anna! Das war ein Unfall, hervorgerufen durch Donats Ungeschick. Dieser Unfall hat nicht die geringsten Folgen gehabt...

»Das können wir noch nicht übersehen. Wer weiß das! Unheil schleicht im Finstern. Und nun wieder diese Schießerei!«

Graf Burchard sah ihre ernstliche Verstimmung. Er selbst war aus seiner Heiterkeit und schönen Gemütsbewegung gerissen.

So sollten sie in Sommerhagen einfahren?

»Komm, Anna, laß uns die letzten hundert Schritte gehen.«

»Mit Freuden,« sagte sie.

Der Weg zog sich am Waldessaum hin. Graf Burchard führte Anna an seinem Arm und erklärte ihr, daß das Schloß mit den es umgebenden Anlagen sich auf einem halbinselähnlichen Platz erhebe, der sich in den Wald hinein erstreckte. Daher sehe man das Gebäude erst, sobald man an diesem Platze hinschreite. Anna sah eifrig voraus, um womöglich durch den Wald hindurch Mauern schimmern zu sehen. Aber die dicken weißgrauen Buchenstämme standen in ihrem Hinter- und Durcheinander als noch undurchdringliche Schranke davor. Vorn, zwischen ihnen, bewegte sich eine Gestalt. Diese kam näher. Der schmale Pfad, auf dem sie zu schreiten schien, mündete auf den Weg am Waldsaum.

»Eine junge Dame,« sagte Anna.

Da das gräfliche Paar und die Dame einander entgegenkamen, indem jedes seinen Weg verfolgte, konnte Anna sich die einsame Spaziergängerin ansehen und tat es mit großem Interesse, weil Burchard ihr zugeflüstert hatte: »Sieh sie dir an, ich sag' dir nachher, wer es ist.«

Die junge Dame war schlank und mittelgroß. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Blusenkleid und ein schwarzes Matrosenhütchen von Stroh. Trotz der Kühle des Apriltages hatte sie keine Jacke an. In ihrer Hand hielt sie einen großen Strauß von Osterblumen und Primeln. Ihr Gesicht war länglich, zart von Schnitt, fast bleich von Farbe. Dunkelblaue, etwas schwermütige Augen standen darin. Das dunkelblonde Haar schien sehr reich zu sein.

Graf Burchard grüßte. Die junge Dame erwiderte den Gruß und errötete sehr tief.

»Eine wunderschöne Person,« flüsterte Anna, »aber wie seltsam, so zu erröten! Und vor dir! Was bedeutet das?«

»Das bedeutet nicht etwa,« sprach Graf Burchard, »daß Fräulein Sophie Schüler sich in irgend einer Weise vor mir oder vor sonst jemand speziell zu genieren brauchte. Der Vater von Fräulein Schüler ist aber ein Mann in unfreier Lebenslage, ein Mensch, der gleichsam in unsicherer Beleuchtung vor den Augen seiner Mitmenschen dasteht, und obenein mit sich zerfallen. Und ich glaube, daher kommt dem braven, schönen Kinde immer das Erröten. Vielleicht geniert sie sich vor aller Welt.«

»Ah,« sagte Anna interessiert, »ein Roman? Konflikte? Eine Schuld?«

»Schuld oder Unglück,« sagte ihr Gatte ernst, »das ist wohl bei den meisten tragischen Verwicklungen im Menschenleben die tiefe Frage. Oft ist sie nicht zu beantworten. Ja, ich möchte sagen, fast nie ganz klar. Denn wer kann in alle seelischen Untergründe blicken, wer die Einflüsse von Veranlagungen ermessen! Das sind keine greifbaren Dinge. Wie oft geht ein Mensch neben dem andern her, glaubt ihn genau zu kennen und ahnt doch nicht, wie viel geheime Instinkte zum Frevelhaften in ihm schlummern.«

Anna fühlte sich durch diese Worte seltsam berührt. Sie verwirrten sie, machten sie fast verlegen. In Gedankenschnelle huschte die Frage durch ihr Hirn, ob das, was sie alles manchmal denke und zusammenphantasiere, auch am Ende etwas »Frevelhaftes« sei. Ihr Herz klopfte. Wenn Burchard diese ihre Träumereien ahnte – erkannte – tadelnd scharf verurteilte? Nur das nicht – nein, nie! Die Vorstellung, daß dieser Mann sie gering schätzen könne, war ihr unerträglich.

»Was ist denn mit dem Vater des Fräuleins?« fragte sie.

»Es ist eine erschütternde Geschichte. Eine Berufstragödie, wenn du so willst,« sagte er, »Doktor Schüler hat, während er in einer kleinen märkischen Stadt seine Praxis ausübte, vor einigen Jahren einem kranken Kinde eine Dosis Opium verordnet. Das Kind starb, und es erhob sich an seiner Leiche die Streitfrage, ob es am Opium oder an seinen Brechdurchfällen gestorben sei. Die Eltern klagten. Eine ungeheure Fülle von sachverständigen Urteilen wurde für und wider abgegeben. Doktor Schüler wurde verurteilt, legte Revision ein und ward abermals verurteilt. Aber eine Gruppe von Ärzten, unter denen Kapazitäten ersten Ranges waren, reichten für ihn ein Gnadengesuch ein, weil sie dabei blieben: die Dosis Opium habe keine Schuld an dem Tode des Kindes. Dem Gnadengesuch wurde Folge gegeben. Doktor Schüler blieb straffrei. Aber was half es! Das Leben des Mannes war zerbrochen. Er zog sich hierher zurück. Er kennt fast nur ein Gespräch, einen Gedanken: den Tod jenes Kindes. Hab' ich es getötet, starb es an seiner Krankheit? Diese Frage verfolgt ihn Tag und Nacht; denn durch alle jene Sachverständigen ward er irre an sich. Und da er zuweilen den Ruf ausstößt: ich bin doch ein Mörder! kannst du dir denken, daß sich selbst, hier eine Art Kluft zwischen ihm und den andern Menschen bildete. Welch eine bittere Jugend seine einzige Tochter hat, magst du dir vorstellen.«

»Aber greifst du da nicht ein? Deiner Autorität sollte es doch gelingen, dem Mann wieder eine klare Stellung zu geben.«

»Das könnte er nur aus sich selbst heraus. Wem es an innerer Klarheit und Festigkeit fehlt, den kann man hinstellen, wohin man will, er wird sich nicht behaupten. Der Tochter hat sich indessen Herdeke ein wenig angenommen und sie zuweilen zu uns gebeten.«

Nun war man vor dem Schloß angekommen, und die Schicksale fremder Menschen versanken als gleichgültig hinter diesem bedeutungsvollen Moment.

»Meiner Väter Heim. Hoffentlich dereinst das meiner Kinder,« sprach Graf Burchard bewegt.

Anna stand auf seinen Arm gelehnt und sah sich das stolze Bild an.

Von der bräunlichen Wand des noch unbelaubten Buchenwaldes im weiten Halbrund umgeben, lag der Platz da, in dessen Mitte sich das Stammschloß der Geyers erhob.

Es war ein Feudalbau, in großen sehr einfachen Linien, von grauweißem Gemäuer. Der sechseckige Turm, dessen Krönung von Mauerzacken schon vorher über die Buchenwipfel hin zu sehen gewesen, stand inmitten der Fassade. Er trat mit zwei Kanten aus ihr hervor und erhob sich dann aus der Linie des flachen Daches frei und stolz noch zu stattlicher Höhe. Auch das flache Dach umgab die Reihe der gleichmäßigen Mauerzacken, über den hohen Parterrefenstern glänzten noch die Fenster von zwei Stockwerken schwarzblank aus der Mauer. Die Sonne schien gerade auf das Schloß, und auf allen Glasscheiben brannten strahlensprühende Reflexlichter.

Am Portal führte eine Anfahrt vorbei, die sich, leise steigend, ein wenig über der Fläche der vorderen Anlagen erhob. Eine niedere Futtermauer stützte die Steigung und Senkung dieser Anfahrt. Und an dieser Mauer prangte ein bunter Blumenflor, der im Sommer dort immer blühte, heute aber, der einziehenden Herrin zu Ehren, von Topfpflanzen gestellt war. Um das Portal zog sich eine Girlande.

Es war geöffnet. Auf der Schwelle warteten die beiden alten Schwestern des Grafen.

»Zu Fuß?« rief Herdeke, »wie viel traulicher!«

»In solchen Momenten wahrt man die Form,« sprach Renate tadelnd.

Graf Burchard aber führte seine junge Frau langsam auf die Schwelle zu. Herdeke kam ihnen entgegen und umarmte sie beide mit Freudentränen.

»Möchte euer Leben hier Glück und Frieden sein!« wünschte sie heißen Tones.

Frieden? dachte Anna, lebt man das Leben, wenn man den hat? Wir hatten ihn, daheim, bei Vater. Mutter ist darin verkommen. Glück? Vielleicht ist Glück Bewegung. Vielleicht gibt es auch gar kein eigentliches Glück.

Unter diesen Gedanken schritt sie über die Schwelle, stumm, fast der Anwesenden vergessend.

Und Graf Burchard, enttäuscht und erstaunt, daß sein Weib in diesem Augenblick weder ein Wort, noch eine Träne hatte, sah in ihren Augen jenen harten, dunklen Glanz, der ihn zuweilen mehr ängstigte, als er sich gestehen mochte.

Denn gerade diese Blicke, die sich so seltsam leuchtend in unbestimmte Fernen zu richten schienen, gaben ihm tausend Rätsel auf.

Richtig kamen sie mit Freudengeschrei an. Wenigstens Ursula. Und Donat, der immer eine Art innerer Verpflichtung fühlte, nachzumachen, was sie tat, schwenkte gleichfalls mit einem »Hurra« den Hut. Graf Burchard hatte die jungen Reisenden selbst von der Station geholt. Er wollte seiner Frau damit eine Aufmerksamkeit erweisen; kamen doch ihr Bruder und ihre Jugendgenossen zum ersten Male zu ihr zum Besuch. Anna wartete auf sie in der großen Halle. Nun hing Ursche an ihrem Hals und küßte sie heftig.

Und Wolf stand dabei, ganz entfärbt und beinahe verlegen. Er wußte gar nicht, wie ihm ward. Wieder ebensolches Herzklopfen bekam er wie damals, als er Anna blutend aus dem Schlitten hob. Man gehörte doch eben sehr eng zusammen, wenn man so miteinander aufgewachsen war. – –

Früher hatte er immer geglaubt, Jugendfreundschaft, das sei nur so ein phlegmatisches Gewohnheitsgefühl. Daß man sich so bis zur Fassungslosigkeit, so unsinnig freuen könne, wenn man eine Jugendfreundin wiedersieht, das hätte er gar nicht für möglich gehalten. Er mußte sich alle Mühe geben, daß ihm keine Tränen in die Augen stiegen.

Denn bei aller unsinnigen Freude empfand er doch zugleich einen sonderbaren Schmerz. Er begriff, nun da er Anna wiedersah, warum die letzten zwei Monate daheim so schrecklich öde und langweilig gewesen waren.

Aber das ist ja alles ganz natürlich, dachte er, indem er Ruhe zu gewinnen suchte, bis zum Tage, wo Anna heiratete, haben wir eben alle vier zusammengehört, sie und Ursche und Donat und ich.

Endlich ließen Ursche und Donat die junge Frau los, und Wolf kam dazu, ihr die Hand zu drücken.

Da sah er sie erst so recht an.

»Gott – Anna,« brachte er heraus, »du hast dich ja fabelhaft verändert.«

»Das macht nur die Haartracht. Die hab' ich so, damit die kleine Narbe oberhalb der Schläfe versteckt wird,« sagte sie lächelnd.

»Und ich finde, diese Botticelli-Scheitel stehen unserer Anna großartig,« meinte Graf Burchard, »sie passen zu ihrer stilvollen Schönheit.«

»Haar so – oder Haar so – das kann es nicht sein – dafür hab' ich gar keinen Blick,« sprach Wolf immer noch staunend, »ach, Anna – du kommst mir mit einem Male wie eine große, fremde Dame vor.«

»Und du kannst es hoffentlich nachträglich deshalb gar nicht fassen, daß du mich mal geprügelt hast, weil Ursche und ich dein Eichkätzchen ausgelassen hatten,« sagte sie fröhlich.

Und wirklich, es kam Wolf unglaublich vor, daß er dieser schönen, hoheitsvollen Frau einmal derbe und dreist eine Ohrfeige gegeben haben sollte.

»Hier ist es aber schön!« rief Donat.

»Feudal!« schrie Ursche. »Nicht, Donat? – das ist was anderes, als unsre Halle auf Pallau mit Vaters Prunknummern von hundert Jagden. Bloß Geweihe und Gehörne und ausgestopfte Vögel. Hier ist Kunst!«

»Es freut mich, daß es Ihnen gefällt,« sprach Graf Burchard, dem das Herz warm und fröhlich ward mit diesen ehrlichen guten jungen Menschen.

Die Nachmittagssonne kam durch die beiden großen bunten Fenster herein, die rechts und links vom Portal standen. So war der gewaltige Raum, im Bereich des Lichtstromes, von rötlichen und lila und grünen leuchtenden Flecken wie überstreut, was die Wärme und den Glanz des Eindrucks noch erhöhte.

An der Hauptwand links befand sich ein Kamin, so groß und tief, daß man Stühle in ihn hätte hineinstellen können, und sein Sims war zu hoch, als daß sich jemand daran hätte stützen können. Es brannte ein helles Holzfeuer in seinem Grunde. Über dem Sims erhob sich ein großes Gemälde, so breit, wie der Kamin und bis zum Plafond hinaufreichend. Es stellte das Schloß in seiner älteren Bauform dar, wie es von einer Schar von schwedischen Seeräubern beraubt wurde. Diese beiden monumentalen Gegenstände, Kamin und Gemälde, bildeten eine Art Ruhepunkt für das Auge. Im übrigen waren die Wände von Bildern, ausländischen Waffen, alten bunten Stoffen farbig und mannigfaltig bedeckt. Von der holzgetäfelten Decke hing ein enormer Kirchenleuchter herab. Vor dem Kamin, inmitten des Raumes, und vor beiden Fenstern befanden sich die bequemsten Sitzgelegenheiten. Tiefe Lehnsessel und gepolsterte Bänke, die mit ihren hohen Wänden an Kirchenstühle erinnerten, standen da.

»Wenn du zu langweilig wirst, kannst du vor dem rechten Fenster sitzen, und ich sitze vor dem linken,« sagte Ursula.

»Ursche, du hast versprochen, mich hier anständig zu behandeln,« ermahnte Donat.

»Dies reut mich. Glauben Sie mir, Graf, Donat muß noch lange schlecht behandelt werden. Dann kann noch was aus ihm werden.«

»Ich bin immer mehr für Erziehung durch Liebe und Milde – wenn denn überhaupt unser Donat der Erziehung noch bedürfte, was ich zu bezweifeln mir gestatte,« bemerkte Graf Burchard lächelnd.

»Hörst du,« sprach Donat und richtete seine lange, dünne, vornüberhängende Gestalt stolzer auf.

»Ich höre,« sagte Ursula, »und ich nehme gern Lehren an. Mit Liebe – das ist nich. Aber mit Milde: wollen wir mal versuchen.«

Dann wurden die jungen Gäste die Treppe hinaufgeleitet. Das Treppenhaus lag hinter der Halle; man gelangte durch eine mächtige Flügeltür hinein. Der Lärm der hellen jugendlichen Stimmen verhallte nach oben. Mimi begleitete Fräulein Weber v. Pallau in ihr Zimmer, Werner führte Herrn v. Linstow und Herrn Weber v. Pallau in die beiden für sie bestimmten, nebeneinander liegenden Räume.

Unten in der Halle aber saß Anna und dachte darüber nach, wie seltsam Wolf sich benommen hatte. Er, der immer etwas von einem lachenden Kraftmenschen an sich gehabt hatte, er war fast scheu gewesen. Und sehr erregt. Machte ihre Frauenwürde ihn verlegen? Benahm ihn die Pracht der Umgebung, in der er sie fand?

Aber die Pallaus waren doch von einer großartigen Unbefangenheit, sie regten sich ja nicht einmal um Seine Königliche Hoheit den Prinzen Gustav auf, wenn der sich zur Fuchsjagd nach Pallau einlud. Was hatte dieses so sonderbar veränderte Wesen Wolfs zu bedeuten?

Graf Burchard, der die Gäste bis ins Treppenhaus begleitet hatte, kam zurück.

»Die bringen Leben ins Haus,« sprach er wohlgefällig.

»Ist Ursula dir nicht zu derbe?« fragte Anna.

»Aber gar nicht. Man muß jedem das Recht seiner Art zugestehen, wenn es eine gesunde Art ist.«

»Das ist sie. Und Donat kann von Glück sagen, wenn er sie zur Frau bekommt,« sagte Anna, indem sie ein Modeblatt nahm, das auf dem Tisch neben ihr lag.

»Donat und Ursche? Aber sie würde ihn total unter dem Pantoffel haben.«

»Das wäre eben sein Glück. Er ist beanlagt wie unser Vater. Und Vater hatte eine weiche, unselbständige Frau, die einen Herrscher, einen Halt gebraucht hätte. Das konnte er nicht sein,« sprach Anna; »Ursche wird seinen Ehrgeiz anstacheln und wird ihn immer in Bewegung halten.«

Graf Burchard sah seine junge Frau in wachsendem Erstaunen an.

»Das alles hast du beobachtet – du, so jung ...«

»Ich habe zu Hause viel Zeit gehabt zu denken und zu beobachten.«

»Armes Kind ...«

»Arm? –« Sie erhob das Haupt und sah ihn fragend an.

»Ja. Kinder müssen blind sein, ihren Eltern gegenüber. Können sie es nicht, verlieren Kinderseelen die Jugend.«

Anna zuckte die Achseln.

Nach einer kleinen Pause begann Graf Burchard wieder: »Aber soviel Herdeke mir andeutete, denkt Ursche an ganz jemand anders als an deinen Bruder.«

»Das ist totaler Unsinn,« sprach Anna und legte mit zitternder Hand das Modejournal auf den Tisch zurück. »Das wird Ursche sich schon ausreden lassen. Das muß sie überwinden. Sie soll Donat heiraten.«

Graf Burchard hörte aus diesen hastig hervorgestoßenen Worten nur die einseitige Schwesterliebe, die dem Bruder die für ihn glückverheißende Partie nicht entgehen lassen wollte. Aber auch das erschreckte ihn.

»Anna,« sprach er in liebevollem Ernst, »welches Recht hättest du wohl, mit dem Herzen und dem Leben eines guten Menschenkindes so nach deinen Zwecken zu experimentieren? Ist das eine Neigung zur Herrschsucht, zum Egoismus? Über dergleichen Feinde in ihrem Innern wird meine Anna wachen und sie nicht groß werden lassen.«

Er hatte sich erhoben und war zu ihr getreten; denn sie stand auf, erglüht, bebend – von seinem milden Tadel wie von einem Peitschenhieb getroffen.

Er legte ihr blondes Haupt an seine Brust und hielt sie still.

Eine Seele, die man getadelt hat, hat man in Aufruhr versetzt. Sie bedarf der Stille, um sich zu sammeln. Sie bedarf der keuschen Schonung, um über die Beschämung hinwegzukommen. Sonst wird der Tadel nicht zur Saat des Guten, sondern zu der des bösen Trotzes.

So dachte Graf Burchard, als er das junge Weib an seiner Brust hielt. Bei aller tiefen, heißen Liebe, wie sie mit so schmerzlicher Gewalt nur ein ganz gereifter Mensch empfinden kann, blieb er allzeit klar seiner Pflicht eingedenk, dies junge Wesen, das sich ihm anvertraut hatte, leiten und führen zu müssen. Die Leidenschaft hatte keinen Toren aus ihm gemacht.

Und Anna dankte ihm dies zarte Schweigen. Sie hätte nichts zu sagen gewußt, kein einziges, armes Wort. In ihr war ein ganzes Chaos von durcheinanderwirbelnden Empfindungen. Sie fühlte die Macht dieses Mannes. Sie begriff, wie hoch er über ihr stand. Sie wollte seine Liebe und seine Achtung. Zugleich aber wollte sie auch ihr geheimes Denken und Handeln sich frei bewahren.

Ihr Begriff von der Ehe war auch in diesem Augenblick noch ein ganz äußerlicher. Daß sie ihr die Pflicht auferlege, zu diesem Mann emporzuwachsen, erfaßte sie nicht.

An dem selben Tage wie die Pallaus und Donat kamen noch der Baron und die Baronin Greti Wenderoth als Gäste auf Sommerhagen an. Sie war eine Cousine der Geyers und hatte das verwandtschaftliche Verhältnis stets mit Lebhaftigkeit unterhalten. Ihre beiden Söhne konnten eine hübsche Erbschaft brauchen. Und da Graf Burchard offenbar nicht ans Heiraten dachte, der nächste Agnat zum Geyerschen Fideikommiß ihm aber sehr fern stand, so konnte man nicht wissen, wie er nebst seinen Schwestern über das Barvermögen und die Güter in der Neumark verfügen würde.

Aber es fiel ihr deshalb nicht ein, sich nun vorurteilsvoll feindlich gegen die junge Gräfin zu stellen. Dazu war sie zu umsichtig. Wer wußte, ob da Kinder kämen? Und wenn nicht – dann hätte man sich durch Feindseligkeit gegen die junge Frau nur unnütz was verspielt.

Übrigens sah die Baronin Wenderoth mehr aus wie eine dicke Bäckersfrau denn wie eine geborene Gräfin Geyer. Sie trug auf ihrem glattgescheitelten dunkelblonden Haar kein Häubchen; ein spärlicher Zopf war am Hinterkopf zu einer flachen Spirale gelegt, die ein schon altersblinder Schildpattkamm stützte. Sie hatte eine Kopfbewegung ähnlich derjenigen der Puterhähne: sie bekam ein faltenreiches Doppelkinn, wenn sie ihr Haupt steif zurücklegte. An ihrem goldgefaßten Kneifer hing ein goldenes Kettchen, und er war, wenn er nicht benutzt wurde, mit einem Haken mitten auf der linken Seite des mächtigen Busens befestigt. Ihre Kleider waren immer schwarz und von dem unscheinbarsten Schnitt. Um ihr Papageiennäschen lag ein sehr hochmütiger Zug.

Ihren Gemahl hatte die Baronin Wenderoth dereinst um seiner Schönheit willen geheiratet. Vielleicht leitete er daraus die Verpflichtung ab, auch im Alter noch als schöner Mann gelten zu müssen. Seine schmächtige, zierliche Gestalt – er war im Laufe der Zeit etwas kleiner geworden als seine Frau – steckte in den elegantesten Anzügen. Er würde geglaubt haben, sich auf dem Gipfel der Unkultur zu befinden, wenn er nicht dreimal am Tag die Kleidung gewechselt hätte. Sein etwas eingeschrumpftes Hidalgogesichtchen zierte ein schwarzer Schnurrbart und ein kleiner Henriquatre. Sein Haar glänzte dunkel und schien üppig, daß aber sein Wirbel eine »Atzel« trug, deren Locken sich mit seinen eigenen mischten, sah man wohl.

Greti Wenderoth war noch immer sehr eitel auf ihn und sprach viel davon, daß die Frau eines schönen Mannes es nie leicht habe.

An diesem Abend war zu dem um sieben Uhr stattfindenden Diner auch der Verwalter von Sommerhagen mit seiner Frau eingeladen.

Wenn man vom Schloß aus noch hundert Schritt weiter am Waldsaum entlang schritt, kam man an die Grenze des mehr tiefen als breiten Buchenschlages. Dann begann der Gutshof von Sommerhagen, den mächtige Ställe und Scheunen einsäumten. Da stand auch das Haus des Verwalters.

Er hieß v. Braunau und war mit allzu bescheidenen Mitteln und, wie man sagte, dank der unpraktischen, unordentlichen Frau auf dem eigenen Gütchen gescheitert. Graf Burchard hatte ihm anfangs das kleine Meilendorf, eines seiner neumärkischen Güter, zur Verwaltung anvertraut und dann, nachdem Braunau sich bewährt hatte, ihn auf Sommerhagen eingesetzt.

Er war ein schweigsamer Mann, schwer und breit von Gestalt, mit einem wetterbraunen, unfrohen Gesicht, darin kluge, wachsame Augen standen. Die Frau zeigte Spuren einstiger großer Schönheit. Sie sah nervös, verärgert und abgehetzt aus.

Als sie Anna vorgestellt worden war, unterhielt diese sich einige Minuten mit ihr. Graf Burchard hatte vorher ja besonders darum gebeten, weil die Frau immer wachsam auf etwaige Vernachlässigungen lauere, um nachher ihrem Manne Szenen darüber zu machen.

»Wenn die Herrschaften kommen, das ist immer ein Lichtblick für mich,« sagte Frau v. Braunau. »Sonst versauert man hier rein. Mir ist es ja auch nicht vorher bestimmt gewesen, als Frau eines einfachen Verwalters einmal dazustehen.«

Sie rückte Anna näher; ihre blassen, verschleierten Augen hatten bei den letzten Worten einen pathetischen Blick gen Himmel getan. Mit weitausholenden Gestikulationen ihre Rede begleitend und bei besonders wichtig betonten Worten Annas Arm mit ihrer Hand antippend, fuhr sie fort: »Frau Gräfin haben wohl gehört – ich bin eine geborene v. Schulmann aus dem Hause Grubin – eine alte Familie. Aber das Leben bringt Enttäuschungen. Oh, ich hätte auch wohl eine Stellung auszufüllen vermocht, wie diejenige, welche Frau Gräfin einnehmen.«

Anna hielt geduldig den Klagen stand, die sich noch ein Weilchen in derselben taktlosen Form fortspannen.

Und während sie halb befremdet, halb mitleidig zuhörte, bemerkte sie, daß an dem Kleid der Frau ein Knopf fehlte, daß ihr das dunkle Haar seltsam unordentlich um ihren Kopf mehr hing als geordnet lag und daß der kleine Kragen oben am Hals von mehr als zweifelhafter Reinlichkeit war.

Herdeke erlöste die junge Frau von den aufgeregten Redereien der Braunau.

Und Renate sagte zu Anna: »Ängstige dich nur nicht, daß wir dir die Braunau oft vorsetzen. Wir können die hysterische und ewig unzufriedene, vor Neid auf alles und alle sich verzehrende Cäcilie Braunau selbst nicht vertragen. Mir ist es allein schon fatal, daß sie einem immer mit ihren Händen so vor dem Gesicht herumfuchtelt und daß sie immer tut, als sei sie zu Gott weiß welchen hohen Schicksalen bestimmt gewesen, während sie Braunau nahm, weil er tatsächlich ihr erster und einziger Antrag war. Ihre Eltern sollen ganz verschrobene Leute gewesen sein und sie selbst in ihren ersten Mädchenjahren zu prätentiös. Deshalb traute sich keiner an sie heran. Sie wird sich an dich zu drängen versuchen. Halt sie dir nur fern; denn sie ist obenein auch noch klatschhaft. Das kommt ja wohl vom Neid. Der macht die Menschen immer gesprächig.«

Ursche gab sich vergnügt mit dem Baron Wenderoth ab, was die Baronin veranlaßte, den Kneifer auf ihr Papageiennäschen zu setzen, die beiden einige Minuten genau und ungeniert anzusehen und dann Renate einen Blick zuzuwerfen, der sagen sollte: Schon wieder eine, die mit ihm kokettiert. Nach dieser Inspektion nahm sie den Kneifer ab und befestigte ihn wieder umständlich und mit ruhevollen Bewegungen auf seinem mächtigen Polsterlager. Ursche war wirklich wie außer Rand und Band und ließ all ihre Lustigkeit an dem komischen kleinen Mann aus, der ihr vorkam, wie eine angemalte Nippfigur von Ton. Morgen kam ja »Er«. Und eine Ahnung, die sie mit fieberhafter Unruhe erfüllte, sagte ihr, daß sie Sommerhagen als Braut verlassen werde.

Auch Wolf war fröhlich und scherzte mit Herdeke. Er hatte seine ganze Unbefangenheit wiedergefunden und konnte gar nicht begreifen, weshalb er eigentlich so erregt gewesen beim Wiedersehen. Nur daß er nicht neben Anna saß, tat ihm leid. Er sah immerfort hinüber zu ihr und trank ihr oft zu. Und sie lächelte ...

Nein, so ein Lächeln hatte sie früher doch nicht gehabt. So konnte weder Ursche, noch Nadine Hammerriff, noch seine Mutter, noch sonst irgend ein Mensch lächeln.

Das sollten schöne Zeiten werden hier auf Rügen. G'rad' so lustig wollten sie sein, wie in Kindertagen. »Prost, Anna!« Und seine Augen strahlten sie an. –

In dieser Nacht lag Anna fast schlaflos.

Das stille, dämmernde Halblicht, das die Nachtlampe durch den Raum hin wirken ließ, gab allen Linien und Farben eine sanfte Unklarheit. Sie konnte keine Ruhe finden. Ihr war, als stehe sie vor dem Beginn großer Kämpfe...

Aber das hatte sie ja immer ersehnt – das war ja »Leben« nach ihrer Vorstellung. Nun schien es aber, als stünde wachsam jemand neben ihr und fragte sie: Handelst du recht? Denkst du rein? Und dieser jemand war ihr Gatte.

Und weiter schien es, als nähmen die ernsten, großen und doch so liebevollen Blicke dieses Mannes ihr alle Freiheit.

Dagegen bäumte sich alles in ihr auf.

Sie erkannte natürlich nicht, daß neben den Kämpfen, die sie witterte, die sie ersehnt hatte, in denen sie heimlich Schicksalsgöttin zu spielen dachte, ein Kampf sich entspinnen könne von ehernem Ernst: der zwischen der edlen und abgeklärten Natur ihres Mannes und ihrer eigenen romantischen, von unedlen Instinkten beunruhigten Art. Sie hatte nur das Gefühl, sich wehren zu wollen, sich verstecken zu müssen. Ich will bleiben, wie ich bin, und ich will etwas vom Leben haben, dachte sie.

Und am andern Nachmittag trafen denn die Reinbecks ein und mit ihnen Stephan Normann.

Draußen fuhr ein rauschender, brausender Frühlingswind mit warmen Regengüssen durch die Luft, deshalb saßen die Schloßbewohner fast vollzählig in der Halle beim Nachmittagstee. Ursula machte den Tee und bediente alle Welt mit Brötchen und Kuchen. Die Baronin Wenderoth war inzwischen von Herdeke in den Plan »Ursula und Stephan Normann« eingeweiht worden und billigte diesen Plan durchaus. Die peinliche Heirat von Stephans Mutter – Stephanie Geyer war Greti Wenderoths direkte Cousine gewesen – konnte nie genug verwischt werden. Eine Weber v. Pallau, ja, das würde höchst annehmbar sein. Nun gönnte die Baronin beim Tee der eifrigen, dienstfreudigen Ursula mehr als ein freundliches Wort und streichelte ihr sogar einmal die Wangen, was Ursula, als von »seiner« Tante kommend, beglückt mit einem Handkuß beantwortete.

Der Baron spielte mit dem Grafen Burchard Schach.

Wolf las unaufmerksam die Zeitung, denn er unterhielt sich zwischendurch alle Augenblick mit Komteß Herdeke oder sah nach der Tür, die in Annas Salon führte. Warum saß sie hier nicht gemütlich mit den andern beim Feuer? Es war ja nur halb so nett ohne sie. Wenn sie auch nicht viel sprach.

Nun fuhr der Wagen vor. Ursula blieb wie versteinert neben dem Ständer stehen, an dem der Wasserkessel über der hochleckenden Spintusstamme hing. Alle übrigen drängten sich erwartend zur Tür.

Zuerst huschte Frau v. Reinbeck über die Schwelle.

Ihre zierliche dunkle kleine Person schüttelte sich wie ein Vögelchen, dem Wassertropfen aufs Gefieder gekommen sind. Und dabei lachte sie, gab dann dem Grafen Burchard beide Hände und begrüßte nach der Reihe die Anwesenden, mit ihren schwarzbraunen Funkelaugen jeden anblitzend.

Ihr Gatte trat nach ihr ein. Er war ein großer Mann mit einer offenbaren Neigung zum Starkwerden. Sein Gesicht war verhauen, die rötlichen Linien der Mensurnarben liefen über die sehr frischgefärbten Wangen, das energische Kinn und die breite Stirn. Die hellen Augen des Herrn v. Reinbeck waren mit einem Kneifer bewaffnet. Die ganze Erscheinung des Mannes hatte zugleich etwas Joviales und Kampflustiges.

Reinbeck war ein Parteigenosse und Freund des um zehn Jahre älteren Grafen Burchard. Daß ihre beiden Frauen sich ebenfalls befreunden möchten, war der Wunsch beider Männer. In Berlin war noch keine Gelegenheit dazu gewesen, denn Lucile Reinbeck reiste gerade, nachdem man die ersten Besuche gewechselt, zu ihrer Mutter nach Brüssel.

Und endlich, endlich kam auch der Leutnant Normann.

Graf Burchard hatte schon gefragt: »Wo bleibt denn Stephan?« Ursula verstand nicht, was Frau v. Reinbeck antwortete. Es schien, sie hatte ihn gebeten, an ihrem Gepäck irgend etwas Besonderes zu bewachen.

Da trat er über die Schwelle – im Reisezivil, das seiner schlanken Gestalt sehr gut stand. Er umarmte den Grafen Burchard und küßte den Komtessen, sowie der Baronin Wenderoth, seinen drei Tanten, respektvoll die Hand.

Nun stand er vor Ursula. Sie gab ihm die Hand. Ihr Gesicht war dunkelrot. Vor Aufregung wußte sie nichts zu sagen.

Über sein hübsches, männliches Gesicht ging ein freundliches Lächeln. »Wer hätte das gedacht, gnädiges Fräulein, als wir bei Ihrem Herrn Papa in Quartier lagen, daß wir uns noch einmal auf Sommerhagen treffen würden! Es geht Ihrem verehrten Herrn Papa und Ihrer Mama – wie war sie fürsorglich! – es geht gut?«

Es waren die gegebenen, landläufigen Worte. Ursula klangen sie wie Musik. Der freundliche Blick der goldbraunen Augen überwältigte sie. Und wie seine roten Lippen unter dem dunklen Schnurrbart lächelten!

Zum Glück trat geräuschvoll und freudig Wolf hinzu, schlug Normann herzhaft auf die Schulter und meinte, hier hätten sie nun noch mehr Zeit und Gelegenheit, sich miteinander anzufreunden; damals sei der Dienst oft zum Störenfried bei vergnüglich sich anlassenden Stunden geworden.

»Wo bleibt denn Anna? Wo ist denn Donat?« fragte irgend jemand.

»Donat schläft,« sagte Ursula, die immer wußte, wo Donat war und was er tat. Alle lachten.

Da tat sich die Tür auf, die aus Annas Salon in die Halle führte, und Anna erschien. Langsam, ein wenig bleich, kühl lächelnd, sehr hoch aufgerichtet, kam sie.

Wieder mal zu viel Form, zu viel Beherrschung für zwanzig Jahr, dachte Renate und beobachtete scharf.

Aber sie sah nur, daß Anna die Reinbecks mit vollendeter Liebenswürdigkeit begrüßte und dann Normann die Hand gab, ihm flüchtig, aber freundlich sagend, daß sie sich freue, ihn als quasi Verwandten wieder zu sehen, nachdem man sich damals auf Pallau in fröhlicher Manöverzeit begegnet sei.

Stephan Normann verbeugte sich tief und ehrfurchtsvoll.

Innerlich bedeutete diese Begrüßung eine gewisse Erleichterung für ihn.

Die junge Gräfin war unendlich hoheitsvoll, fast – er gestand es sich, als er dann in sein Zimmer ging – ein ganz klein wenig hochfahrend in ihrem Gebaren. Aber so kühl, so sicher, so unbewegt! Und er hatte eine ferne, leise Furcht vor dieser Begegnung gehabt; eine Furcht, die er kaum in deutliche Gedanken zu kleiden wagte.

Damals, im Sommer, in jenen Manövertagen, hatte es ihm manchmal so scheinen wollen, als ob in den blauen Augen der schönen Anna v. Linstow ein besonderes Leuchten erwache, wenn er zu ihr sprach ... Und als ob in ihrem Lächeln ein Locken sei und in ihrer Stimme ein Beben ...

Fast mit Angst, fast rauh hatte er sich damals ungeselliger gezeigt, als er war. Denn es deuchte ihm ein Verbrechen, mit Mädchenherzen zu spielen. Er wollte auch nicht den flüchtigsten Schein einer Hoffnung erwecken, wo er nichts erfüllen konnte ...

Nun, als er in seinem altgewohnten Zimmer seine Sachen auspackte, nun schüttelte er den Kopf.

Nach dieser Begrüßung Annas war er ganz und gar geneigt, seine damaligen Eindrücke für Einbildung zu nehmen.

Mit dem Bedürfnis nach Ordnung und Behaglichkeit, das ihm inne wohnte, räumte er seine Sachen zurecht. Es war nun schon bald das fünfzehnte Jahr, daß er dies Zimmer als das seinige auf Sommerhagen betrachten durfte. Von dem Tag an, wo Graf Burchard ihn sozusagen von den Gräbern seiner Eltern fortgeführt hatte, war das Heim des gütigen Mannes auch seine Heimat geworden. Von der Schule her, von der Fähnrichspresse aus und dann in allen Urlaubswochen kehrte Stephan auf Sommerhagen oder in Berlin oder in Ostrau ein. Er durfte immer das Gefühl haben, im Grafen Burchard den liebevollsten Pflegevater zu besitzen, dessen Güte er umso höher bewerten mußte, als eine äußerliche Verpflichtung, sie zu erweisen, gewiß nicht vorhanden war. Die Wenderoths standen ihm im Verwandtschaftsgrad viel näher. Aber es war diesen niemals eingefallen, sich um ihn zu kümmern. Sie nahmen es zum Vorwand, daß sie die Vorgeschichte von Stephanie Geyers Heirat nicht vergessen und verzeihen könnten, um kein Geld für deren Sohn ausgeben zu müssen.

Erst nachdem sie sahen, daß Graf Burkhard ein für allemal der Beschützer und Versorger des jungen Stephan geworden, entdeckten sie ihre verwandtschaftlichen Gefühle, die sich bei der Baronin ausschließlich in guten Ratschlägen äußerten. Bei jedem Zusammentreffen mit Stephan auf Sommerhagen hatte sie, seit er ihr heiratsfähig schien, eine reiche Partie für ihn in Vorschlag zu bringen; oder sie wollte kürzlich Gelegenheit genommen haben, sehr warm über ihn mit Exzellenz Hülsen-Häseler oder sonst einer Persönlichkeit aus dem Militärkabinett zu sprechen.

An dies alles dachte jetzt Stephan, als er sich zum Diner umkleidete. Der heiße Dank, der sein Herz für den Grafen Burchard erfüllte, war nicht drückend, nicht demütigend. Er sah zu dem Manne mit unendlicher Verehrung empor. Und er war auch entschlossen, diesmal Sommerhagen nicht zu verlassen, ohne, so oder so, sich dem väterlichen Freund anvertraut zu haben.

Als er fertig war, sah er nach der Uhr. Eben sechs.

So blieb noch Zeit, den Brief zu schreiben, der ihm auf der Seele brannte. Der Schreibtisch stand am Fenster. Es war ein aufsatzloser Diplomatentisch, und über ihn hinweg sah man durch das Glas weit hinaus auf das Meer.

Die steil abfallende Küste war von hier nicht sichtbar. Die höchste Linie des sich wellenförmig hebenden Geländes schnitt für das Auge scheinbar alles Land jäh ab. Hinter dieser Linie, die grün war, weil sie an einer Koppel mit Wintersaat sich hinschwang, streckte sich unvermittelt das grenzenlose Meer.

Eisengrau und glanzlos schien seine Fläche, schweres Gewölk stand über ihm am Himmel, und gerade strich aus einer rauchgrauen, bizarr zusammengeballten Wolke ein dichter Regen herab. Es sah aus, als seien Meer und Gewölk durch einen etwas schräg hängenden, glattbeschnittenen grauen Schleierstreifen miteinander verbunden. Und da die Regenwolke vor dem Winde herzog, schob sich der Schleierstreifen immer mit.

Noch weit vor ihm kroch ein Dampfer, klein wie ein Spielzeug anzusehen, über die eisengraue Fläche. Aber der Schleierstreifen kam ihm nach, rückte ihm näher und strich endlich über ihn hin, um ihn dann hinter sich zu lassen.

Stephan sah, in tiefe, schwere Gedanken versunken, diesem Schauspiel eine Weile zu. Dann nahm er die Feder: »Einzig Geliebte! Nun bin ich wieder in Deiner Nähe. Mein Herz schlägt in heißer Sehnsucht dem Augenblick entgegen, wo ich Dich wiedersehen werde. Ich flehe Dich an, sei morgen nachmittag drei Uhr an der bekannten Stelle. Wir werden uns nicht lange mehr heimlich zu sehen brauchen. Ganz und gar bin ich mir bewußt, was ich meiner künftigen Gattin schulde. Ich werde diesmal Sommerhagen nicht verlassen, ohne bei Deinem Vater um Dich angehalten, ohne dem Grafen Burchard die Wahrheit gestanden zu haben. Zwei Jahre schon dauert dieser, Deiner und meiner gleich unwürdige Zustand. Er soll ein Ende nehmen.

Aber Du Liebe, Vertrauende, Geduldige weißt, daß weder Feigheit noch Mangel an Liebe die Schuld daran tragen, daß ich Dich seit zwei Jahren immer wieder bitten mußte: warte, hoffe!

Von dem Augenblick an, wo sich unsre Herzen fanden, habe ich rastlos gestrebt, mir eine Existenz zu verschaffen, die mir gestattet, ein Weib zu ernähren. Den bunten Rock auszuziehen, bevor eine andre Stellung gefunden war, hatte keinen Sinn und hätte unsre Lage nur noch mehr erschwert. Im Gegenteil weiß ich, daß ein noch aktiver Offizier viel eher Chancen hat, sich irgendwie zu lancieren, als einer zur Disposition. Kein Schritt ist unversucht geblieben. Alles war umsonst.

Ein bescheidener Infanterieoffizier hat es eben zu schwer, wenn er ohne Protektion etwas will. Es gibt zu viele, die, gleich mir, aus Liebes- und Finanzgründen den Beruf wechseln möchten. Bei Krupp, auf den großen Schiffswerften, in großen Geschütz- und Gewehrfabriken und bei allen verwandten Unternehmungen werden die Offiziere der ›wissenschaftlichen Waffen‹, Artilleristen und Pioniere, bevorzugt. Auf großen Gütern, an Gestüten stellt man lieber Kavalleristen an.

Auch mein letzter Versuch, als Instrukteur ins Ausland berufen zu werden, von welchem Plan ich Dir schrieb und der mir Dein beglückendes Versprechen eintrug, mir über allhin folgen zu wollen – auch dieser ist gescheitert.

Ich kann nun aber Onkel Burchard sagen, fest und geradeaus, wie ein Mann zum andern spricht: Zwei Jahre habe ich versucht, durch eigene Bemühung eine mich und mein Weib ernährende Stellung zu finden; es ist mir nicht geglückt, ich kann leider nicht mit Tatsachen vor Dich hintreten, die Dir meinen heiligen Ernst ohne weiteres bewiesen hätten. Ich kann Dich jetzt nur fragen: willst Du mir durch Deinen weitreichenden Einfluß helfen, eine Stellung zu finden?

Geliebte, ich bin der Sohn meiner Mutter, und meine Mutter ist ihrem Herzen gefolgt. Alle Hindernisse hat sie überwunden, um meines Vaters Gattin zu werden.

Ich habe ihre Leidenschaft und ihre Festigkeit geerbt.

Ihre Lage war insofern günstiger, als ein ausreichendes Vermögen und eine völlige Unabhängigkeit in gesetzlicher Beziehung meiner verwaisten und bereits mündigen Mutter alle Entschlüsse ausführbar machten. Sie hatte nur mit Standesvorurteilen und moralischer Engherzigkeit zu kämpfen.

Ich habe nichts. Meinen Zuschuß, den ich als Offizier brauche, erhalte ich von der Güte eines Verwandten. Dieser Zuschuß kann mir jeden Augenblick entzogen werden, wenn ich etwas tue, was mein Wohltäter für vollkommene Torheit hält.

Graf Burchard ist ein guter und kluger, ein großmütiger Mann. Verweigert er mir seine Protektion, durch die ich so leicht eine auskömmliche Stellung fände, verweigert er mir seinen Segen, so bleibt mir nur eins: mich scheinbar schweigend zu fügen, heimlich meine Versuche fortzusetzen und, haben sie nie Erfolg, zu warten, bis ich Hauptmann erster Klasse bin, um Dich heimzuführen.

Dieser letzte Gedanke ist so verzweifelt, daß ich ihn nicht fassen will. Noch fünf, sechs Jahre warten – – nein, nein!

Verzeih, daß ich Dir das alles noch einmal, immer wieder schreibe – – aber diese Fragen sind der Inhalt meiner Tage und Nächte.

Geliebte, ich küsse im Geist Deine traurigen Augen, die schon so viel geweint haben. Aber morgen, nicht wahr, morgen werden sie doch ein wenig lächeln, wenn sie mich sehen?

Also um drei Uhr am bekannten Platz.

Immer und ewig

Dein Stephan.«

Eben hatte er den Brief geschlossen, als der hohle, langgezogene, dumpfe Ton des Gong durch das Haus zog: das erste Zeichen zu Tisch. Es hieß, sich in wenig Minuten unten in der Halle zu zeigen.

Stephan steckte den Brief in die Brusttasche seines Fracks.

Er hoffte, nach dem Essen sich einmal unbemerkt entfernen und den Brief nach dem Postkasten tragen zu können, der sich am Verwalterhause befand. Sein Schreiben dem Behälter anzuvertrauen, der in der Halle die Korrespondenzen der Schloßbewohner aufnahm, war ihm zu gewagt.

Auf der Treppe vom ersten Stock nach unten holte er Gräfin Herdeke ein. Zierlich, grau, in Atlas und Spitzen, heiter und frisch schritt sie die Stufen hinab.

»Gut, mein lieber Junge, daß ich dich treffe. Nicht wahr, du wirst Ursche v. Pallau zu Tisch führen. Du bist da so riesig nett aufgenommen gewesen bei den Pallaus...«

Damit hängte sie sich selbst in seinen Arm.

»Aber selbstredend,« sagte er.

Unten befanden sich schon die Reinbecks und Ursula, diese in einem etwas zu reichlich besetzten hellblauen Seidenkleid. Auch Wenderoths saßen wartend umher, und Herr v. Reinbeck ging mit dem Grafen Burchard, in ein politisches Gespräch vertieft, auf und ab. Die Baronin Wenderoth gab Stephan einen Wink. Artig setzte er sich neben sie in den Kirchenstuhl am Fenster links. Sie saß wegen ihrer Körperfülle immer etwas breitbeinig und hatte die Angewohnheit, ihre Hände auf die Knie zu legen. In dieser Stellung beharrend, neigte sie sich zugleich ein wenig nach rechts zu Stephan.

»Lieber Stephan, willst du nicht Fräulein v. Pallau zu Tisch führen? Es ist ein ausgezeichnetes Mädchen. Halte dich nur dazu. Der beste Rat, den man dir geben kann.«

Stephan wechselte die Farbe. Der Hinweis Herdekens war ihm natürlich und unverdächtig erschienen. Nun auf einmal begriff er ... Welche peinliche Verlegenheit! Nein, viel mehr als das! Eine Gefahr! Denn wenn sich hier alle Tanten einig waren, daß Ursula v. Pallau die passende Frau für ihn sei, so mußten diese alten Damen sich notwendig feindlich gegen seine Wahl auflehnen. Erstens vertragen die wenigsten Menschen eine Durchkreuzung ihrer Pläne und sind leichter zu Bundesgenossen zu gewinnen, wenn sie überhaupt noch keine eigenen Pläne hatten, und zweitens sagte es ja der gesunde Menschenverstand, daß Ursula die vernünftigere Partie bedeutete ... Wenn es in diesen Fragen nach dem Menschenverstand ginge ...

Und um Ursulas selbst willen war es ihm schrecklich! Wenn man ihr etwas in den Kopf setzte! Das brave, liebe Ding könnte beunruhigt werden. Von ihrer heißen Schwärmerei für ihn hatte er nichts gemerkt. Seine Gedanken waren eben zu sehr von der Geliebten erfüllt. Nur Annas auffallende Schönheit und ihre Art, ihm zu begegnen, hatte ihn ein wenig beschäftigt. Von Ursula bekam er damals den Eindruck, daß sie ein besonders tüchtiges Mädchen sei. Mehr nicht.

Jedenfalls aber war sie viel zu gut, um irregeführt zu werden.

Er nahm sich vor, gleich bei Tisch in einer sehr, sehr zarten Form ihr anzudeuten, daß sein Herz nicht frei sei. Diese Form mußte ein günstiger Augenblick finden lassen.

»Nun,« fragte Greti Wenderoth ungeduldig, »du antwortest nicht?«

»Selbstverständlich werde ich Fräulein v. Pallau zu Tisch führen,« antwortete er kurz.

Sein Ton mißfiel der Baronin in hohem Grade.

In diesem Augenblick kam, vom Treppenhaus her, Anna in die Halle. Mit ihr erschienen Wolf und Donat und – – Stephan fühlte, daß er vor Überraschung erblich. Er bemerkte nicht, daß der Blick der Komteß Herdeke kummervoll und beobachtend auf sein Gesicht gerichtet war. Er war beinahe fassungslos und mußte sich stark zusammennehmen. Denn neben Anna stand die Geliebte ... sie, an die er eben den langen Brief voll Hingebung und Sehnsucht geschrieben hatte, diesen Brief, den er noch bei sich trug.

Daß Sophie Schüler hier zuweilen freundschaftlich aufgenommen ward, wußte er ja. Er hatte sie hier in eben dieser Halle zuerst gesehen und kennengelernt. Aber daß die junge Gräfin so bald nach ihrer Ankunft schon Zeit und Stimmung finden werde, sich um die Tochter des unglücklichen Mannes zu kümmern, hatte er nicht vermutet.

In seinem Herzen schwoll eine wahre Hochflut von glückseligen Hoffnungen an. Wie warm und gut mußte Graf Burchard dem geliebten Mädchen gesonnen sein, wenn er schon in den ersten Tagen auf Sommerhagen seine Gattin mit ihrem Dasein und ihren Schicksalen bekannt gemacht und ihr liebevolles Interesse dafür erregt hatte. Daß umgekehrt Graf Burchard davon überrascht gewesen war, von Anna einfach zu hören: »ich habe Fräulein Schüler zum Essen bitten lassen«, ahnte Stephan nicht. Graf Burchard nahm diese Handlungsweise als eine Probe von Herzensgüte, und deshalb erfreute sie ihn.

Komteß Herdeke aber erschrak. Da hatte Anna ahnungslos eine Dummheit gemacht. Wie war sie nur darauf gekommen? So impulsive, gutherzige Einfälle sahen ihr nicht gleich.

Und lebhaft, wie Herdeke war, ging sie gleich auf die eintretende Gruppe zu. Mit ihr Stephan, welcher der jungen Gräfin die Hand küßte.

»Fräulein Schüler, mit der wir schon ein Viertelstündchen oben in meinem Wohnzimmer verplaudert haben, brauche ich wohl niemand mehr vorzustellen. Auch Sie haben schon das Vergnügen, lieber Normann?« fragte Anna.

Er verneigte sich zustimmend.

In Herdeke siegte die natürliche Herzensgüte. Das schlanke Mädchen in dem einfachen weißen Wollkleid sah doch rührend schön aus. So ein paar liebe, traurige große Augen. Und das herrliche Haar. Und die feine Kopfform.

»Daß du schon Fräulein Schüler kennst!« sagte sie, »guten Tag, liebes Kind, was macht der Papa? Leidlich?«

»Im Frühling ist es ja immer etwas schlimmer mit ihm,« sprach Sophie Schüler leise.

»Lieber Normann,« hob Anna in ihrer kühlen, etwas herrischen Art an, »Sie werden Fräulein Schüler den Arm zu Tisch geben.«

»Aber Anna – pardon, liebes Fräulein – wir hatten Normann schon für Ursche ...«

Das Wort stockte Komteß Herdeke auf den Lippen. Ein so flammender und doch harter Blick traf sie aus den Augen ihrer Schwägerin.

Ihr Herz erschrak. Feindseligkeit in Annas Augen gegen sie, die sich von Anna geliebt glaubte ...

Aber weltgewandt und gefaßt lächelte sie und sprach: »Unsre liebe Hausherrin hat zu bestimmen.«

Da Herdeke aus Anlage und Vorsatz alles immer zum Besten auslegte, kam sie schnell mit dem kleinen Zwischenfall ins reine: Anna will ja wohl durchaus nicht das Odium der Gelegenheitsmacherin und Ehestifterin auf sich laden. So dachte sie und fand noch einen vornehmen Zug darin.

In Stephan aber jubelte alles auf. Gewiß, der holde Zauber des geliebten Mädchens mußte ihr alle Herzen gewinnen. Und während Sophie an seinem Arm angstvoll zitterte, sah er ihren und seinen Sieg voraus.

Ursula aber war starr und stumm vor Enttäuschung. Wie abscheulich von Anna!

Zwar hatte sie, weil zu entfernt stehend, nicht gehört, daß Anna ausdrücklich diese Tischordnung anbefohlen. Aber es lag doch einfach in Annas Macht, zu bestimmen, daß Stephan sie – Ursche – führen sollte. Und daß die Freundin daran nicht umsichtig gedacht hatte, kam ihr wie Verrat vor.

Nicht einmal sehen konnte sie »ihn«. Sie saßen in der gleichen Reihe. Schlechter konnte man es nicht einrichten.

Anna aber saß, schön und triumphierend, in wahrhaft fürstlicher Haltung am Tisch.

Das warme, flimmernde Licht der Kerzen spielte über die Gesichter aller Tischgenossen hin. Anna sah nach der Reihe alle an. Sie war in einer seltsamen Stimmung. Es kam ihr vor, als habe sie über alle diese zu herrschen. Über die holdselige Erscheinung der jungen Sophie Schüler ging ihr Blick nur flüchtig hin.

In einer Aufwallung von Mitleid, in die sich aber eine starke Neugier mischte, hatte sie das junge Mädchen einladen lassen. Anna fühlte immer eine brennende Neugier Menschen gegenüber, die gerade ein »Schicksal« hatten. Als halbwüchsiges Mädchen schon sah sie forschend und durchdringend die Leute an, die etwa durch einen erschütternden Todesfall in ihrer Familie oder durch ein sonstiges Unglück betroffen worden waren. Sie hätte immer zu gern wissen mögen, wie es in den Seelen solcher Leute nun aussähe.

Im übrigen aber war ihr diese Sophie Schüler ein Nichts. Als Tochter eines armen, gescheiterten Mannes, der sogar mit dem Strafgesetzbuch in Berührung gekommen war, kam sie als »Dame« gar nicht in Betracht. Nur gerade auf der Treppe fiel es Anna ein, daß sie ja heute das Fräulein zwischen Stephan und Ursula schieben und verhindern könne, daß er Ursula zu Tisch führe.

Vielleicht hatte sie Stephan sogar gedemütigt, als sie ihm anbefohlen, anstatt des Fräulein Weber v. Pallau dies armselige kleine Ding zu führen.

Desto besser. Er sollte es spüren, wie sie über ihm stand – die er einst zu übersehen sich erlaubt hatte!


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